Zur Mündung - Franz Hohler - E-Book

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Franz Hohler

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Beschreibung

In diesen 37 Erzählungen ist Franz Hohler unterwegs. Eines Morgens will er bis zur Mündung des Flusses wandern, der durch seine Heimatstadt fließt und landet vor dem dunklen Eingang zu einem Tunnel. Er besteigt den Eiger, und ihn überkommt, als er über eine Felskante hinwegspringen muss, ein eigentümlicher Schauer. Wäre es nur eine Katastrophe, wenn er abstürzen würde. Ihn beschäftigen Grenzen und wie sie sich überwinden lassen, und dabei gelangt er unversehens immer wieder bei der Grenze an, die unserem Leben gesetzt ist.

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Inhaltsverzeichnis

ZUR MÜNDUNGDER STERBENDECopyright

ZUR MÜNDUNG

Der Frühling ist da, zu früh eigentlich, aber deshalb heißt er wohl so, ich habe nichts abgemacht heute, und nach dem Morgenessen denke ich, wieso breche ich jetzt nicht einfach auf und gehe irgendwohin. Ich ziehe meine neuen Turnschuhe an, nehme meine Jacke vom Haken, setze meine Mütze auf und hinterlasse auf dem Küchentisch einen Zettel mit der Nachricht »Ich gehe der Glatt entlang, bis sie in einen größeren Fluß mündet«.

Wäre ich im Kanton Zürich zur Schule gegangen, wüßte ich wahrscheinlich, ob die Glatt in die Töß oder in den Rhein mündet, aber nun schaue ich auf keiner Karte nach, sondern beschließe, selbst nachschauen zu gehen, wo die Mündung der Glatt liegt.

Ich fahre mit dem Bus am Fernsehen vorbei, das am Leutschenbach liegt, die Haltestelle vor dem Hotel Ambassador heißt Katzenbach, dann wird man durch eine Sakrallandschaft aus marmornen Banktempeln gefahren, die Haltestelle ist wirklich mit »Bank Center« angeschrieben, und nicht etwa mit »Moosbächli« oder »Gibisnüd«, während die nächste gegenüber vom Verwaltungsgebäude der VISA liegt, das aussieht wie ein Stück eines Briefkopfs, ins Dreidimensionale aufgeschachtelt. Sie heißt »Unterriet«, und dort steige ich aus, gehe ein paar Schritte zurück und stehe nun am Ufer des Flusses, den ich bis zu seiner Selbstauflösung begleiten will. Es ist eher ein Flüßlein, dessen Böschungen beidseitig mit Steinbrocken befestigt sind und das auf weite Strecken schnurgerade verläuft, es muß irgendwann entkrümmt, entsumpft, entrietet, berichtigt und beschwichtigt worden sein. Wäre ich hier zur Schule gegangen, wüßte ich wohl auch darüber etwas oder wüßte, daß ich einmal etwas darüber gewußt hätte.

So weiß ich nur, daß ich jetzt diesem Flußlauf folgen will und mache mich auf den Weg.

Es ist Werktag, und fast niemand ist unterwegs, ich gehe durch lauter Grün, Grasgrün, Brennesselgrün, Bärlauchgrün, Buchengrün, Tannennadelgrün, und unter der Wasseroberfläche bewegen sich überall grüne Büschel eines Wasserkrauts, das hier üppig wächst, obwohl das Flüßlein etwas seifig riecht. Einmal mündet ein fast stehender Bach vom Flughafen her in die Glatt, und da sehe ich große Fische schwimmen, es ist also möglich, in diesem Wasser zu leben. Als ich über den Steg gehe, treibt sie mein Schatten zwischen die Wassergrasbüschel. Auch Enten gibt es viele hier, vielleicht brauchen sie nichts anderes zum Leben als diese Wasserpflanze, die ich in Gedanken »Nixenhaar« nenne.

Wilde Kirschbäume blühen, fast nie steht einer allein, sondern meistens haben sie sich den Schutz einer Birke oder eines Ahorns ausgesucht, und da ich mein Baumbüchlein nicht in die Tasche gesteckt habe, weiß ich nicht, wie der wunderbar blühende Baum heißt, der manchmal auch als Busch auftritt und dessen Blüten ein bißchen denen des Ligusters ähneln. Den Bäumen selbst dürfte es allerdings egal sein, wie sie heißen, sie blühen einfach.

Nicht wegen mir sollten die Enten erschrecken, sondern wegen der Flugzeuge, die so tief über mich hinwegfliegen, als seien sie noch gar nicht zum Überwinden der Schwerkraft entschlossen. Als ich hinter dem Ende der Westpiste durchgehe, sehe ich im Gebüsch keinen einzigen Vogel, aber wenig später wieder Spatzen, Finken, Meisen, Rotschwänzchen, Amseln, Stare, Elstern, Krähen, die ersten Schwalben auch, und dazwischen, oder hoch darüber immer wieder Raubvögel, die großen Geduldigen.

Ein Propellerflugzeug ist ungleich leiser als die Jets, es massiert die Luft geradezu mit seinem Surren. Aber es gibt kein Entrinnen vor dem Lärm. Immer wieder drängt sich die Überlandstraße in die Nähe des Flüßleins, überquert es einmal sogar auf einer enormen Brücke, Lieferwagen, Lastwagen, Zisternenwagen, Sattelschlepper ziehen als Karawane des Bruttosozialprodukts durch das Land, und wenn sie einen Radfahrer vor sich hertreiben, können sie ihn nicht überholen, solange auf der andern Spur andere Karawanen entgegenkommen, und es kommen fast immer welche entgegen, obwohl ein Teil der Waren, die es zu befördern gilt, in den unendlich langen Güterzügen stecken muß, die auf den nahen Geleisen der Linie Zürich-Schaffhausen daherrattern. Zu meinem Erstaunen sind zudem aus den Wohnsiedlungen bereits erste Rasenmäher zu hören. Derweil versinken hinter den Hecken auf der Hügelkuppe zur rechten viel zu große Flugzeuge gravitätisch und gedämpft, um sich gleich darauf aus dem Unsichtbaren mit dem gewaltigen Brüllen ihrer Schubumkehr zurückzumelden.

Ununterbrochen wird der Stille Gewalt angetan.

In Niederglatt esse ich im Restaurant Bahnhof den indonesischen Tagesteller, Java-Rindfleisch mit Nasi Goreng, und lese nachher im Neuen Bülacher Tagblatt einen Brandartikel gegen die rot-grüne Stadtregierung Zürichs, aber nicht lange, denn ich will meine Expedition zur Mündung der Glatt fortsetzen.

Am Nachmittag belebt sich der Uferweg, es sind nun Frauen mit Hunden und ältere Paare unterwegs, immer mehr bunt gekleidete Menschen mit Helmen fahren auf ihren Velos sirrend flußauf- oder -abwärts; wenn sie sich während des Fahrens miteinander unterhalten, bewegt sich ihre Sprache überraschend schnell auf mich zu und an mir vorbei. Bei den Entgegenkommenden frage ich mich, ob sie die Mündung der Glatt schon gesehen haben und nun vielleicht auf der Fahrt zur Quelle sind. Ab und zu mischt sich auch ein Rollschuhfahrer mit langen Gleitschritten unter die Radelnden.

Die Wegweiser beginnen nun Glattfelden anzukündigen, natürlich, denke ich, natürlich fließt durch Glattfelden die Glatt, und dahinter liegt, das weiß ich dann wieder, die Bahnstation Eglisau, aber ich kann mich einfach nicht erinnern, irgendwo einmal die Mündung der Glatt gesehen zu haben, in den 34 Jahren, die ich schon im Kanton Zürich wohne. Die Knie beginnen mich ein bißchen zu schmerzen, ich bin schon lang nicht mehr so weit zu Fuß gegangen, aber es steht für mich außer Zweifel, daß ich so lange diesem Wasser folge, bis es sich in den Rhein ergießt, denn dies ist mir inzwischen klar geworden, daß die Hügelzüge der Glatt keine Chance lassen, sich noch mit der Töß zusammenzutun. Die Gletscher in der letzten Eiszeit haben anders entschieden.

Vor Glattfelden stößt der Gottfried-Keller-Dichterweg zum Glattuferweg, und auf einer Tafel ist das Gedicht »Am Wasser« zu lesen, in dem mir das Wort »Weltenangesicht« besonders gefällt. Dieses glaubt der Dichter zu sehen, wenn er in die Wellen schaut, in denen sich der Himmel bricht. Gottfried Keller verbrachte als Kind jeweils den Sommer bei seiner Großmutter in Glattfelden, wer die Umgebung gut kennt, kann sie, glaube ich, im »Grünen Heinrich« wieder erkennen.

Immer wieder trifft man auf Zahlenreihen, die mitten in der Landschaft stehen und denen man an Sonntagen besser ausweicht, denn dann wird auf die Zahlen geschossen. Nach dem Dorf, das ich rechts hinter mir lasse, steigt meine Spannung, das Tal verengt sich wieder, das Flüßlein muß hier vor Jahrtausenden, als es noch ein Fluß war, gewaltig gearbeitet haben, um sich durchzufressen, durchzugurgeln, durchzustrudeln zum Vater Rhein hinüber, und auf einmal stehe ich neben einem Tunnel, oder ich wäre fast daran vorbeigegangen, denn Büsche am Wegrand verdecken die Sicht darauf, aber nun stehe ich und schaue darauf hinunter, mache sogar eine kleine Farbskizze in meinem Büchlein, das ich bei mir habe, und versuche nachzuzeichnen, wie das Wasser in einem dunklen Tor verschwindet, über welches Efeu-Girlanden fast bis zur Wasseroberfläche hinabhängen. Das Wasser zeichne ich blau, aus Verlegenheit, denn ich könnte nicht sagen, welche Farbe es wirklich hat, schwarz, grün oder braun, keiner meiner Farbstifte kann ein ernsthaftes Angebot machen. Kleine Gehsteige führen in den Tunnel hinein, sie wären über eine grün gestrichene Leiter neben dem Portal zu erreichen, doch ich wage nicht hinabzusteigen, und ich weiß nicht, was ich auf der andern Seite des Tunnels erwarten soll.

Ein paar Schritte hügelaufwärts, über die Aufschüttung, die wohl für den Tunnel gemacht wurde, und ich sehe es.

Die Wasser der Glatt ergießen sich nicht in den Rhein, sondern sie werden direkt in das Flußkraftwerk Rheinsfelden geleitet, oder vielleicht, das sehe ich von oben nicht genau, vielleicht noch in das Staubecken der vordersten Schleuse.

Ich bin enttäuscht. Die Mündung wurde annulliert. Es gibt keine Vereinigung des Flusses mit dem Strom, sondern nur eine Ankunft, die Glatt wird vom Rhein nicht empfangen und mitgerissen, sondern sie wird abgefertigt, runter durch die Röhren in die Turbinen, und dann unterhalb des Kraftwerks zur Weiterreise nach Holland entlassen.

Nach einer Weile gehe ich über den Fußgängersteg des Kraftwerks ans andere Ufer hinüber, setze meinen Fuß auf deutschen Boden, meine Turnschuhe melden keinen Unterschied, und gehe wieder zurück, auf die Schweizer Seite, wo das fensterreiche Kraftwerkschloß steht, rötlich und unwiderlegbar, eine Sommerresidenz für Königin Elektra, mit einem rätselhaft großen Tor, von dem Schienen zu einem Vorplatz hinunterführen und das wohl nur bei den großen Sommerfestspielen geöffnet wird, um im letzten Akt das Schiff langsam auf den Platz und von dort auf den Rhein hinunterzulassen, das Schiff, in dem sie alle stehen, die Königin, der König, der Prinz, die Prinzessin, umgeben von der Sehnsucht, der Langeweile, dem Heimweh, der Jungfrau, dem Kind, dem Greis, den Nixen mit ihren grünen Haaren, dem Flußgott, dem Mönch, dem Tod und dem Narr, und dann treiben sie langsam stromabwärts, mit einem Gesang, der nur einmal im Leben ertönt, die Wehmut spielt Trompete dazu, und sie werden in unsern Augen immer kleiner und in unserm Herz immer größer.

Ich schaue dem Sommerfestspielkahn nach, bis er im Glitzern des Flusses verschwunden ist, und gehe dann mit schmerzenden Knien zur Bahnstation Zweidlen, an der kein Zug mehr hält, sondern von wo man mit einem Postauto zum Bahnhof Glattfelden gebracht wird.

DER STERBENDE

Zum Entsetzen seiner Frau hat er in der kurzen Zeit, als ich an der Haustüre klingelte, eintrat, sie begrüßte und meinen Mantel auszog, sein Bett verlassen, ist ans Fenster getreten und will es öffnen. Sie bittet ihn, wieder ins Bett zu gehen, er läßt sich sofort überzeugen, und ich helfe ihr, ihn hinzulegen. Ganz leicht ist er geworden, der 88-jährige, und als er wieder daliegt, wie man das von einem Sterbenden erwartet und sogar seine kalten Hände über dem Leintuch gefaltet hat, erklärt er mir, warum er aufgestanden sei. Man müsse, sagt er, unbedingt zum Fenster hinausrufen: »Vivent les boules rouges – toutes allumées!« Ob ich das für ihn tun solle, frage ich ihn, und als er nickt, öffne ich das Fenster und rufe mit lauter Stimme in den Garten: »Vivent les boules rouges – toutes allumées!« Draußen herrscht, von seiner Frau und mir bisher unbemerkt, ein großer Betrieb. Auf dem Kanal führen jetzt, sagt der Sterbende, kräftige Burschen »mit ihrne Weidlig« hin und her, mit großen Booten also, die sie mit Stehrudern und Stangen bewegen. Es seien auch drei starke Männer dabei, einer davon sei der Schnetzelmann.

Ich habe einen großen sommerlichen Blumenstrauß mitgebracht. Als ich mit seiner Frau zusammen

2. Auflage

© 2000, 2003 für diese Ausgabe

Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagkonzeption und -gestaltung: R·M·E /Roland Eschlbeck unter Verwendung des Gemäldes Floating Leaves 1958, © Andrew Wyeth

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN:978-3-641-08082-2

www.luchterhand-literaturverlag.de

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