Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt - Dieter Forte - E-Book

Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt E-Book

Dieter Forte

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Beschreibung

Adolf Hitler – der deutsche Reichskanzler – und Peter Kürten – der Massenmörder aus Düsseldorf – sind die einander gegenüberstehenden, einander aber auch ergänzenden Protagonisten in Dieter Fortes Drama ›Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt‹. Forte bringt diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Gestalten zusammen auf die Bühne, und es enthüllen sich die geheimen Parallelen zwischen dem gewalttätigen Politiker und dem politikfernen Gewalttäter. Was die Taten Hitlers aus der Sphäre des bloßen individuellen Verbrechertums eines Kürten heraushebt, ist ihre Ästhetisierung, ihre Inszenierung als Politik. In beiden Fällen aber zeigt sich die Anfälligkeit der Massen für die Gewalttat und die Bewunderung für den Gewalttäter im großen Stil. Dieter Forte schreibt zu seinem Drama: »Ein Phantasiestück in piranesischer Manier über den ewigen Versuch, aus den carceri unseres Bewusstsein zu entfliehen in eine durch Kunst und falsche Mythen verwandelte ›bessere, schönere‹ Welt. Ein Nachtstück über das Innere von Menschen, die ihre Welt als Gefängnis inszenieren, gegen sie rebellieren, indem sie immer neue, größere Kerkerwelten errichten.«

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Seitenzahl: 129

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Dieter Forte

Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt

FISCHER E-Books

Ein Bühnenstück

Inhalt

[Widmung][Motti]PersonenPiranesi, Carceri, Blatt IIPiranesi, Ruine eines Skulpturensaals in der HadriansvillaPiranesi, Carceri, Blatt IIIPiranesi, Carceri, Blatt VIIPiranesi, Teilansicht eines prunkvollen großen HafensPiranesi, Carceri, Blatt XPiranesi, Carceri, Blatt XIVPiranesi, Antiker VestatempelPiranesi, Carceri, Blatt XVPiranesi, Ruinen des Tempels des Antoninus PiusPiranesi, JanusbogenPiranesi, Grabmal der Horazier und CuriazierPiranesi, Die Grundmauern des Hadrian-MausoleumsPiranesi, Carceri, Blatt IXBühne

Für Marianne

Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer.

Goya

wir sind von mythen umgeben, die sich auf uns niederlassen wollen, was tun?

eine bretterbühne errichten, um darauf die mythen zu tanzen, die uns martern, und aus ihnen wirkliche wesen machen, bevor man sie allen durch die samenmandragora des ideensamens aufdrängt.

Artaud

Ich dachte an ein Labyrinth aus Labyrinthen, an ein kurvenförmig zunehmendes Labyrinth, das die Vergangenheit umfaßte und die Zukunft und das auch die Sterne irgendwie mit einbezog.

Borges

Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, daß wir träumen.

Novalis

Personen:

Peter Kürten

Frau Kürten

Ede/Gefängniswärter

Hilde, Edes Frau

Hitler

Göring/Hausierer/Hauptmann

Goebbels/Abt/Kunstprofessor/Galerist

Himmler/Vater von Hitler/Vater von Kürten/

Gendarm/Aufseher

Heß/Heimdirektor/Militärarzt

Heydrich

Bankier/Bürgermeister/Oberst/Opernsänger/

Staatsanwalt

Jonny/Gefängnisdirektor

Martha, Jonnys Frau

Ältere Dame

Bürgerinnen/Bürger

 

 

Keine Zeit

Kein Ort

Eine Bühne

 

Die Schauspieler sollen die historischen Figuren nicht nachahmen, sie sollen sie spielen.

 

Rienzi-Zitate aus der gleichnamigen Oper von Richard Wagner.

Piranesi, Carceri, Blatt II

Hitler in Armeeuniform, Gewehr geschultert, geht auf und ab. Kürten in Arbeitskleidung trägt eine Gittertüre und setzt sie in ein Gitter ein.

Hitler hält unbeirrt seinen Wachgang ein.

Kürten probiert, ob die Türe gut schließt.

Er setzt sich, den Rücken an die Türe gelehnt, auf den Boden, holt aus seiner Jackentasche ein Stück Brot und ißt es.

Hitler setzt sich ebenfalls auf den Boden und lehnt den Kopf an sein Gewehr.

Ein Meßdiener mit einem Weihrauchfaß. Man hört einen Knabensopran, begleitet von einer Orgel. Ein Abt legt dem Meßdiener die Hand auf den Kopf.

ABT

Du hast eine schöne Stimme, mein Sohn. Dieses Lied haben gewiß die Engel gehört, dort oben im Himmel. Wie heißt du?

HITLER

Adolfus Hitler.

ABT

Adolfus, ein sehr alter Name. Adolfus heißt Edelwolf. Wir tragen auch sehr alte Namen, Theoderich Hagen hieß mein Vorgänger. Das ist unser Wappen. Er zeigt das Hakenkreuz auf seinem Umhang. In unserem Kloster siehst du es überall. Es ist das Wappen des Abts. Der Pater hat mir erzählt, daß es dein heiligster Wunsch ist, Abt zu werden, stimmt das?

HITLER

Ja.

Der Meßdiener verbeugt sich.

ABT

Sei ein guter Schüler, gehorche meinem Nachfolger, und wer weiß, vielleicht hat die Vorsehung es so gefügt, daß du einmal mein Wappen trägst. Als Abt unseres Benediktinerstiftes. Ab.

Der Vater in Zöllneruniform mit einer Hundepeitsche.

VATER

Der Herr Sohn will Abt werden.

HITLER

Ja.

VATER

Der junge Herr wird nicht Abt. Du verläßt sofort die Klosterschule. Du gehst in eine Schule wie alle anderen Kinder. Du wirst Zöllner wie dein Vater. Und damit du es dir merkst – Er schlägt mit der Hundepeitsche den Meßdiener, der mit gebücktem Rücken dasteht und die Schläge über sich ergehen läßt.

HITLER

Einsperren wollte er mich in seinen Staatskäfig, in dem die alten Herren wie die Affen aufeinanderhockten, der Herr Vater, der Herr Zollamtsoffizial. Schlag weiter, schlag zu, schlag zu. Ich geh nicht in den Käfig!

Vater und Meßdiener ab.

Ein Rheinschiffer geht über die Bühne, er trägt ein Kind über der Schulter, das in ein weißes Tuch gehüllt ist, nur der Kopf hängt heraus. Ein ärmlich gekleideter Junge geht hinterher und schaut in das Gesicht des Kindes. Der Vater torkelt in Arbeitskleidung auf die Bühne. Er fängt den Sohn ab.

VATER

Wo willst du hin?

Der Junge zeigt auf das Kind. Rheinschiffer ab.

VATER

Der ist ertrunken, oder man hat ihn ersäuft. Der ist tot.

KÜRTEN

Ich habe Angst, Vater.

VATER

Angst, mein Sohn hat Angst? Ich steck dich in den Keller, und da bleibst du so lange, bis du keine Angst mehr hast. Hast du gehört, Peter Kürten?

KÜRTEN

Nicht in den Keller.

VATER

Du willst nicht? Er zieht ein Klappmesser aus seiner Jacke. Ich schneide dir den Hals durch. Er versucht den Jungen zu fangen, der immer wieder ausweicht. Ich stech dich ab wie eine Sau. Ich laß dich ausbluten.

Der Junge läuft von der Bühne. Der Vater wirft mit dem Messer nach ihm.

Warte nur, Kerlchen, in der Fabrik steck ich dich in ein Loch, und das Loch wird zugestampft, daß nur noch der Kopf herausschaut, und heraus kommst du nur, wenn ich will. Der Vater torkelt von der Bühne.

KÜRTEN

Ich steck dich ins Loch. Ich steck dich in die Zwangserziehung. Du kommst in eine Anstalt. Du gehörst ins Gefängnis, du gehörst ins Zuchthaus. Den Kopf werden sie dir abhacken!

Ein Kunstprofessor.

PROFESSOR

Hitler Adolf!

HITLER

Jawoll.

Ein junger Mann, eine Zeichenmappe unter dem Arm, tritt vor den Professor.

PROFESSOR

Abgelehnt.

Der junge Mann läßt die Zeichenmappe fallen, Blätter fallen heraus, er sammelt sie wieder ein.

HITLER

Ich will Maler werden, Herr Professor.

PROFESSOR

Das wollen viele. Können, darauf kommt es an, und ob Sie etwas können, das entscheiden wir.

HITLER

Ich habe Talent.

PROFESSOR

Ob Sie Talent haben, entscheiden wir.

Der junge Mann hält ihm ein Blatt hin. Der Professor schaut es sich an.

Wir sind eine Kunstakademie und keine Dilettantenschule. Und Sie sind ein Dilettant. Porträtmalerei, ungenügend. An Akte haben Sie sich erst gar nicht herangetraut. Er gibt dem jungen Mann das Blatt zurück. Das ist Fassadenmalerei.

HITLER

Was soll ich machen?

PROFESSOR

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Versuchen Sie es mit Architektur.

Der Professor und der junge Mann ab.

Ein Gendarm mit einem jungen Mann, der mit Handschellen gefesselt ist. Bürger und Bürgerinnen im Sonntagsstaat kommen ihnen entgegen, sie lachen und bleiben stehen.

BÜRGERMEISTER

Nun, Herr Gendarm, was für einen Verbrecher haben Sie da am heiligen Sonntag gefangen?

GENDARM

Melde gehorsamst, Vorbestrafter auf dem Weg in die Haftanstalt.

BÜRGERMEISTER

Vorbestrafter, soso, Name?

KÜRTEN

Kürten Peter.

BÜRGERMEISTER

Was hat er verbrochen? Hat er gestohlen?

GENDARM

Übernachtung im Freien.

BÜRGERMEISTER

Klein fängt man an, und was nicht ist, kann noch werden. Warum hast du im Freien übernachtet?

KÜRTEN

Ich hatte kein Geld.

BÜRGERMEISTER

Und das Elternhaus? Er erhält keine Antwort. Verstockt ist er auch. Auf solche Kreaturen kann man nicht früh genug aufpassen. Strenge Haft wirkt da Wunder.

Der Gendarm geht mit dem Gefangenen ab. Die Bürgergruppe bummelt weiter zu einem Galeristen, der Bilder aufhängt.

BÜRGERMEISTER

Nun, Herr Galerist, was macht die Kunst?

GALERIST

Anschauen, Anschauung bildet.

BÜRGERMEISTER

betrachtet ein Bild Gar nicht übel.

GALERIST

Ein junges Talent.

BÜRGERMEISTER

Name?

GALERIST

Adolf Hitler.

BÜRGERMEISTER

Gefällt mir. Es macht Eindruck.

GALERIST

Das können Sie ungeniert ins Wohnzimmer hängen.

BÜRGERMEISTER

Der Sieg der Schönheit über das Häßliche und Vulgäre.

GALERIST

Ein unbestechlicher Blick, Herr Bürgermeister. Genau erkannt. Das Siegestor.

BÜRGERMEISTER

Man sieht gleich, daß das Kunst ist.

GALERIST

Nicht nur Sie sehen es, Herr Bürgermeister, Ihre Gäste auch. Das ist der Vorzug dieser Bilder. Sie sind meisterhaft gemalt und sehen aus wie alte Meister.

BÜRGERMEISTER

Gekauft.

Der Galerist verbeugt sich. Die Bürgergruppe setzt ihren Rundgang fort.

GALERIST

Nun kommen Sie doch, Herr Hitler! Seien Sie nicht immer so schüchtern.

Hitler legt Gewehr, Mütze und Mantel ab und geht im Zivilanzug zum Galeristen.

AUFSEHER

Kürten, bring deine Ketten!

Kürten springt auf, nimmt Ketten vom Gitter und läuft damit zum Aufseher. Er wird vom Aufseher mit einer Kettenstange, schweren Hals- und Armbändern vollständig gefesselt. Das Klirren der Ketten ist laut zuhören.

GALERIST

zu Hitler Das ist gar nicht so übel, was Sie da pinseln. Das kaufen die Leute. Die wollen ihr Siegestor wiedererkennen. Das Geschmiere, das da jetzt auf den Markt kommt, das ist doch etwas für Irrenanstalten. Sie sind auf dem richtigen Weg, Hitler. Die Käufer mit Bildung wollen so etwas. Ihre Welt im Goldrahmen. Wenn wir da auch preislich im Rahmen bleiben. Sie verstehen – Hitler nickt Also zehnmal Siegestor, Lieferung in vier Wochen.

Der Galerist geht ab. Ein Käfig senkt sich auf Hitler und seine Bilder. Er hängt ein Bild seiner Mutter auf. Gleichzeitig senkt sich ein Käfig auf den gefesselten Kürten. Die Bürgergruppe kommt auf ihrem Rundgang zu Kürten.

AUFSEHER

zu Kürten Gnade dir Gott, wenn du vor der Gefängniskommission das Maul aufmachst. Er meldet dem Bürgermeister. Häftling Kürten in Kettenhaft.

BÜRGERMEISTER

Der Grund?

AUFSEHER

Aufsässig und widerspenstig.

BÜRGERMEISTER

Auch bei strenger Fesselung?

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

Prügelstrafe?

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

Dunkelhaft?

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

Wasser und Brot?

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

Und unverbesserlich?

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

Selbst Brot und Wasser machen anscheinend noch übermütig. Versuchen Sie es mit Nahrungsentzug. Hungerstrafe.

AUFSEHER

Jawoll.

BÜRGERMEISTER

zu den Bürgern Nur strenge Erziehung erzeugt das Gute. Mit Güte richtet man gar nichts aus. Gnadenlose Strenge, das richtet den Charakter. Eine Frau fällt auf die Knie, greift Kürtens Hand, zieht sie zum Gitter und küßt die Ketten.

BÜRGERMEISTER

Wir erklären uns durch den Augenschein für befriedigt.

Die Bürgergruppe setzt ihren Rundgang fort. Kürten legt seine Fesseln ab.

AUFSEHER

Weiterarbeiten Ab.

Kürten arbeitet. Er reißt von einer mannshohen Tuchrolle weißen Seidenstoff ab und rollt die Streifen auf einem Tisch zusammen.

Der Direktor des Männerheims bringt einen jungen Hausierer in Hitlers Käfig.

DIREKTOR

Die Hausordnung. Halten Sie sich daran. Ein Obdachlosenasyl ist kein Tanzsaal. Der Hausierer unterschreibt. Der Direktor geht ab.

HAUSIERER

Sie haben vergessen abzuschließen! Er wirft sich auf sein Bett. Scheiß-Hausordnung.

HITLER

stapelt seine Bilder in eine Ecke, klappt sein Bett heraus und setzt sich darauf. Du hast die Hausordnung nicht durchgelesen.

HAUSIERER

Wozu?

HITLER

Ohne Disziplin ist kein Männerheim zu führen. Der Herr Direktor ist sehr korrekt und menschlich anständig. Aber er hat schließlich die Verantwortung.

HAUSIERER

Bist du mit ihm verwandt?

HITLER

Nein.

HAUSIERER

Ich dachte.

HITLER

Zucht und Ordnung hat noch keinem geschadet.

HAUSIERER

Du bist wohl schon sehr lange hier drin.

HITLER

Was machst du?

HAUSIERER

Hausierer. Schuhwichse, Schnürsenkel, Kämme, Sicherheitsnadeln. Und was machst du?

HITLER

Kunstmaler.

HAUSIERER

zeigt auf die gestapelten Bilder in der Ecke Sind das deine Bilder?

HITLER

Ja.

HAUSIERER

Kann man davon leben?

HITLER

Wenn man verkauft.

HAUSIERER

Verkaufst du?

HITLER

Es liegt mir nicht. Ich bin Künstler.

HAUSIERER

Mir liegts. Ich bin Hausierer.

HITLER

Damit kannst du nicht von Haustür zu Haustür gehen, damit mußt du zu Galeristen und Kunstsammlern.

HAUSIERER

Schreib mir die Adressen auf, alles andere überlaß mir. Du brauchst nur noch zu malen, ich kümmere mich um den Verkauf.

HITLER

Und das Honorar?

HAUSIERER

Halbehalbe, für jedes verkaufte Bild. Ich geh gleich morgen auf Tour. Das da oben verkauf ich zuerst.

HITLER

Das ist nicht verkäuflich. Das ist meine Mutter.

HAUSIERER

Entschuldige, konnt ich ja nicht wissen. Hast du schon Kundschaft?

HITLER

Ein paar reiche Juden. Willst du die Bilder mal sehen?

HAUSIERER

Was ist drauf?

HITLER

Triumphbögen, Theater, Staatsgebäude –

HAUSIERER

Nee, laß mal. Ich hab doch keine Ahnung davon.

Die Bürgergruppe kommt auf ihrem Rundgang zum Männerheim. Der Direktor tritt auf.

DIREKTOR

meldet dem Bürgermeister Männerheim. Zimmer 318 mit zwei Mann belegt.

BÜRGERMEISTER

Berufe?

DIREKTOR

Ein Kunstmaler, ein Hausierer.

BÜRGERMEISTER

Ein lobenswertes Unternehmen. Er wendet sich zu den anderen. Der Künstler, so schwer er es auch in der Gesellschaft hat, findet eine Bleibe und versinkt nicht in der Gosse. Und der Hausierer wird mit den edlen Zügen des künstlerisch tätigen Menschen vertraut und dadurch erhoben. Zum Direktor. Wir sind moralisch sehr befriedigt.

Die Bürgergruppe geht ab. Hitler und der Hausierer legen sich auf ihre Betten.

Kürten dreht sich in das weiße Seidentuch ein, das er von der Rolle abwickelt. Die Rolle läuft leer. Kürten steht unbeweglich.

AUFSEHER

Kürten! Kürten, du bist ja wahnsinnig.

KÜRTEN

Ein Kokon, ein Kokon. Aus mir wird bald ein Schmetterling, ein wunderschöner Schmetterling.

AUFSEHER

Du bist ein bekloppter Hund. Dir geb ich acht Tage Kerker. Da kannst du deine Schmetterlinge zählen. Wickel dich da wieder raus.

KÜRTEN

Geht nicht mehr. Ich bleib hier drin. Für immer.

Der Aufseher geht in den Käfig, zieht das Seidentuch von Kürtens Körper, eine lange, wehende Fahne.

Ein Kokon, ein Kokon, ein Kokon.

HITLER

im Schlaf Das Leichentuch, das Leichentuch, das Leichentuch weg, das Leichentuch weg!

HAUSIERER

He du, was ist?

HITLER

Ich habe geträumt. Das Leichentuch, meine Mutter lag unter dem Leichentuch.

HAUSIERER

Ist sie tot?

HITLER

Sie starb früh.

HAUSIERER

Du siehst ihr sehr ähnlich.

HITLER

Das letzte Bild von ihr. Sie hatte eine Geschwulst. Der Krebs zerfraß ihren Körper. Ihre Brust wurde amputiert. Dieser jüdische Arzt hat sie mit seinen Medikamenten vergiftet. Er hat sie gequält – sie hat geschrien. Ich saß an ihrem Bett. Das weiße Tuch um ihre Brust. Das weiße Bett. Sie starb im Winter. Die Erde war weiß vom Schnee, ein riesiges Leichentuch.

HAUSIERER

Aus Erde bist du, zu Erde wirst du, ob im Winter oder im Sommer, ob die Blumen blühen oder im Schnee. Bei den Toten in der Erde ist es dunkel, dunkel wie die Ewigkeit.

BÜRGERMEISTER

Krieg! Krieg! Krieg!

Die Käfige über Kürten und Hitler heben sich.

BÜRGER UND BÜRGERINNEN

Hurra! Siegheil!

HITLER

Auf in den Krieg! Auf in den Krieg!

Hitler umarmt die Bürger. Jeder umarmt jeden. Alle jubeln. Hitler nimmt das weiße Seidentuch, läuft damit um die Bürger herum Auf in den Krieg! Die Bürger heben ihn auf ihre Schultern, das weiße Tuch legt sich über sie. Hitler hält das weiße Tuch an einem Stock in die Höhe und schaut fasziniert auf die kreisende Spitze. Die Menschengruppe geht mit Hitler auf den Schultern jubelnd ab.

Zwei doppelstöckige Betten, in denen Tote liegen. Kürten und der Hausierer liegen in einem Bett. Der Hausierer hat die Decke über den Kopf gezogen. Kürten spielt auf einer Mundharmonika: ›In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn‹. Er wechselt die Melodie ›Heut gehn wir ins Maxim …‹

KÜRTEN

Ich war mal in einer Operette, das hat mir sehr gut gefallen. Er spielt weiter. Da war natürlich noch Ballett dabei. Er spielt weiter. Und alle Männer hatten einen Frack an und die Frauen Abendkleider. Sah aus, wie in einer Puppenstube. Er spielt weiter. Der kommt gleich mit dem Mittagessen.

HAUSIERER

Das stinkt hier wie die Pest. Das ist kein Gefängnis, das ist ein Leichenhaus. Schau dir mal den da oben an. Der ist so verdächtig still.

KÜRTEN

Der rührt sich nicht mehr. He du! Kaputt. Rechtzeitig zum Mittagessen. Mehr kann man nicht verlangen.

HAUSIERER

Ein Mittagessen mehr.

KÜRTEN

Geteilt durch zwei.

HAUSIERER

Nur noch zwei? Wieviel sind jetzt tot?

KÜRTEN

Vier Betten. Zwei Lebende, sechs Tote.

HAUSIERER

Acht Mittagessen für zwei Mann.

KÜRTEN

Wir werden nicht verhungern. Und bei dem Frost halten die sich.

HAUSIERER

Das stinkt bald durchs ganze Haus. Wenn die das merken, holen die uns alle auf einmal weg.

KÜRTEN

Also gut, wer zehn Tage tot ist, wird gemeldet.

HAUSIERER

Und einfach an die Tür gelegt.

KÜRTEN

Und wir melden uns freiwillig für den Leichentransport. Dafür gibt es fünfzig Gramm Brot extra. Da haben wir jetzt dreihundert Gramm Brot in Reserve.

HAUSIERER

Und heute für jeden vier Portionen.

KÜRTEN

singt Freunde, das Leben ist lebenswert – Achtung!

Der Aufseher schiebt einen Wagen mit acht Schüsseln in die Zelle.

KÜRTEN

Zelle 93 mit acht Mann belegt.

AUFSEHER

Bei euch stinkt es, nicht zum Aushalten. Das ist ja schlimmer als an der Front. Ihr suhlt euch hier im Gefängnis in eurem Dreck herum, wascht euch nicht, bescheißt euch von oben bis unten, während die anderen für euch kämpfen. Ihr solltet euch schämen.

HAUSIERER

Jawoll, wir schämen uns.

Der Aufseher geht ab.

KÜRTEN

Für mich kämpft keiner.

HAUSIERER