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Adolf Hitler – der deutsche Reichskanzler – und Peter Kürten – der Massenmörder aus Düsseldorf – sind die einander gegenüberstehenden, einander aber auch ergänzenden Protagonisten in Dieter Fortes Drama ›Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt‹. Forte bringt diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Gestalten zusammen auf die Bühne, und es enthüllen sich die geheimen Parallelen zwischen dem gewalttätigen Politiker und dem politikfernen Gewalttäter. Was die Taten Hitlers aus der Sphäre des bloßen individuellen Verbrechertums eines Kürten heraushebt, ist ihre Ästhetisierung, ihre Inszenierung als Politik. In beiden Fällen aber zeigt sich die Anfälligkeit der Massen für die Gewalttat und die Bewunderung für den Gewalttäter im großen Stil. Dieter Forte schreibt zu seinem Drama: »Ein Phantasiestück in piranesischer Manier über den ewigen Versuch, aus den carceri unseres Bewusstsein zu entfliehen in eine durch Kunst und falsche Mythen verwandelte ›bessere, schönere‹ Welt. Ein Nachtstück über das Innere von Menschen, die ihre Welt als Gefängnis inszenieren, gegen sie rebellieren, indem sie immer neue, größere Kerkerwelten errichten.«
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Seitenzahl: 129
Dieter Forte
Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt
FISCHER E-Books
Ein Bühnenstück
Für Marianne
Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer.
Goya
wir sind von mythen umgeben, die sich auf uns niederlassen wollen, was tun?
eine bretterbühne errichten, um darauf die mythen zu tanzen, die uns martern, und aus ihnen wirkliche wesen machen, bevor man sie allen durch die samenmandragora des ideensamens aufdrängt.
Artaud
Ich dachte an ein Labyrinth aus Labyrinthen, an ein kurvenförmig zunehmendes Labyrinth, das die Vergangenheit umfaßte und die Zukunft und das auch die Sterne irgendwie mit einbezog.
Borges
Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, daß wir träumen.
Novalis
Peter Kürten
Frau Kürten
Ede/Gefängniswärter
Hilde, Edes Frau
Hitler
Göring/Hausierer/Hauptmann
Goebbels/Abt/Kunstprofessor/Galerist
Himmler/Vater von Hitler/Vater von Kürten/
Gendarm/Aufseher
Heß/Heimdirektor/Militärarzt
Heydrich
Bankier/Bürgermeister/Oberst/Opernsänger/
Staatsanwalt
Jonny/Gefängnisdirektor
Martha, Jonnys Frau
Ältere Dame
Bürgerinnen/Bürger
Keine Zeit
Kein Ort
Eine Bühne
Die Schauspieler sollen die historischen Figuren nicht nachahmen, sie sollen sie spielen.
Rienzi-Zitate aus der gleichnamigen Oper von Richard Wagner.
Hitler in Armeeuniform, Gewehr geschultert, geht auf und ab. Kürten in Arbeitskleidung trägt eine Gittertüre und setzt sie in ein Gitter ein.
Hitler hält unbeirrt seinen Wachgang ein.
Kürten probiert, ob die Türe gut schließt.
Er setzt sich, den Rücken an die Türe gelehnt, auf den Boden, holt aus seiner Jackentasche ein Stück Brot und ißt es.
Hitler setzt sich ebenfalls auf den Boden und lehnt den Kopf an sein Gewehr.
Ein Meßdiener mit einem Weihrauchfaß. Man hört einen Knabensopran, begleitet von einer Orgel. Ein Abt legt dem Meßdiener die Hand auf den Kopf.
ABT
Du hast eine schöne Stimme, mein Sohn. Dieses Lied haben gewiß die Engel gehört, dort oben im Himmel. Wie heißt du?
HITLER
Adolfus Hitler.
ABT
Adolfus, ein sehr alter Name. Adolfus heißt Edelwolf. Wir tragen auch sehr alte Namen, Theoderich Hagen hieß mein Vorgänger. Das ist unser Wappen. Er zeigt das Hakenkreuz auf seinem Umhang. In unserem Kloster siehst du es überall. Es ist das Wappen des Abts. Der Pater hat mir erzählt, daß es dein heiligster Wunsch ist, Abt zu werden, stimmt das?
HITLER
Ja.
Der Meßdiener verbeugt sich.
ABT
Sei ein guter Schüler, gehorche meinem Nachfolger, und wer weiß, vielleicht hat die Vorsehung es so gefügt, daß du einmal mein Wappen trägst. Als Abt unseres Benediktinerstiftes. Ab.
Der Vater in Zöllneruniform mit einer Hundepeitsche.
VATER
Der Herr Sohn will Abt werden.
HITLER
Ja.
VATER
Der junge Herr wird nicht Abt. Du verläßt sofort die Klosterschule. Du gehst in eine Schule wie alle anderen Kinder. Du wirst Zöllner wie dein Vater. Und damit du es dir merkst – Er schlägt mit der Hundepeitsche den Meßdiener, der mit gebücktem Rücken dasteht und die Schläge über sich ergehen läßt.
HITLER
Einsperren wollte er mich in seinen Staatskäfig, in dem die alten Herren wie die Affen aufeinanderhockten, der Herr Vater, der Herr Zollamtsoffizial. Schlag weiter, schlag zu, schlag zu. Ich geh nicht in den Käfig!
Vater und Meßdiener ab.
Ein Rheinschiffer geht über die Bühne, er trägt ein Kind über der Schulter, das in ein weißes Tuch gehüllt ist, nur der Kopf hängt heraus. Ein ärmlich gekleideter Junge geht hinterher und schaut in das Gesicht des Kindes. Der Vater torkelt in Arbeitskleidung auf die Bühne. Er fängt den Sohn ab.
VATER
Wo willst du hin?
Der Junge zeigt auf das Kind. Rheinschiffer ab.
VATER
Der ist ertrunken, oder man hat ihn ersäuft. Der ist tot.
KÜRTEN
Ich habe Angst, Vater.
VATER
Angst, mein Sohn hat Angst? Ich steck dich in den Keller, und da bleibst du so lange, bis du keine Angst mehr hast. Hast du gehört, Peter Kürten?
KÜRTEN
Nicht in den Keller.
VATER
Du willst nicht? Er zieht ein Klappmesser aus seiner Jacke. Ich schneide dir den Hals durch. Er versucht den Jungen zu fangen, der immer wieder ausweicht. Ich stech dich ab wie eine Sau. Ich laß dich ausbluten.
Der Junge läuft von der Bühne. Der Vater wirft mit dem Messer nach ihm.
Warte nur, Kerlchen, in der Fabrik steck ich dich in ein Loch, und das Loch wird zugestampft, daß nur noch der Kopf herausschaut, und heraus kommst du nur, wenn ich will. Der Vater torkelt von der Bühne.
KÜRTEN
Ich steck dich ins Loch. Ich steck dich in die Zwangserziehung. Du kommst in eine Anstalt. Du gehörst ins Gefängnis, du gehörst ins Zuchthaus. Den Kopf werden sie dir abhacken!
Ein Kunstprofessor.
PROFESSOR
Hitler Adolf!
HITLER
Jawoll.
Ein junger Mann, eine Zeichenmappe unter dem Arm, tritt vor den Professor.
PROFESSOR
Abgelehnt.
Der junge Mann läßt die Zeichenmappe fallen, Blätter fallen heraus, er sammelt sie wieder ein.
HITLER
Ich will Maler werden, Herr Professor.
PROFESSOR
Das wollen viele. Können, darauf kommt es an, und ob Sie etwas können, das entscheiden wir.
HITLER
Ich habe Talent.
PROFESSOR
Ob Sie Talent haben, entscheiden wir.
Der junge Mann hält ihm ein Blatt hin. Der Professor schaut es sich an.
Wir sind eine Kunstakademie und keine Dilettantenschule. Und Sie sind ein Dilettant. Porträtmalerei, ungenügend. An Akte haben Sie sich erst gar nicht herangetraut. Er gibt dem jungen Mann das Blatt zurück. Das ist Fassadenmalerei.
HITLER
Was soll ich machen?
PROFESSOR
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Versuchen Sie es mit Architektur.
Der Professor und der junge Mann ab.
Ein Gendarm mit einem jungen Mann, der mit Handschellen gefesselt ist. Bürger und Bürgerinnen im Sonntagsstaat kommen ihnen entgegen, sie lachen und bleiben stehen.
BÜRGERMEISTER
Nun, Herr Gendarm, was für einen Verbrecher haben Sie da am heiligen Sonntag gefangen?
GENDARM
Melde gehorsamst, Vorbestrafter auf dem Weg in die Haftanstalt.
BÜRGERMEISTER
Vorbestrafter, soso, Name?
KÜRTEN
Kürten Peter.
BÜRGERMEISTER
Was hat er verbrochen? Hat er gestohlen?
GENDARM
Übernachtung im Freien.
BÜRGERMEISTER
Klein fängt man an, und was nicht ist, kann noch werden. Warum hast du im Freien übernachtet?
KÜRTEN
Ich hatte kein Geld.
BÜRGERMEISTER
Und das Elternhaus? Er erhält keine Antwort. Verstockt ist er auch. Auf solche Kreaturen kann man nicht früh genug aufpassen. Strenge Haft wirkt da Wunder.
Der Gendarm geht mit dem Gefangenen ab. Die Bürgergruppe bummelt weiter zu einem Galeristen, der Bilder aufhängt.
BÜRGERMEISTER
Nun, Herr Galerist, was macht die Kunst?
GALERIST
Anschauen, Anschauung bildet.
BÜRGERMEISTER
betrachtet ein Bild Gar nicht übel.
GALERIST
Ein junges Talent.
BÜRGERMEISTER
Name?
GALERIST
Adolf Hitler.
BÜRGERMEISTER
Gefällt mir. Es macht Eindruck.
GALERIST
Das können Sie ungeniert ins Wohnzimmer hängen.
BÜRGERMEISTER
Der Sieg der Schönheit über das Häßliche und Vulgäre.
GALERIST
Ein unbestechlicher Blick, Herr Bürgermeister. Genau erkannt. Das Siegestor.
BÜRGERMEISTER
Man sieht gleich, daß das Kunst ist.
GALERIST
Nicht nur Sie sehen es, Herr Bürgermeister, Ihre Gäste auch. Das ist der Vorzug dieser Bilder. Sie sind meisterhaft gemalt und sehen aus wie alte Meister.
BÜRGERMEISTER
Gekauft.
Der Galerist verbeugt sich. Die Bürgergruppe setzt ihren Rundgang fort.
GALERIST
Nun kommen Sie doch, Herr Hitler! Seien Sie nicht immer so schüchtern.
Hitler legt Gewehr, Mütze und Mantel ab und geht im Zivilanzug zum Galeristen.
AUFSEHER
Kürten, bring deine Ketten!
Kürten springt auf, nimmt Ketten vom Gitter und läuft damit zum Aufseher. Er wird vom Aufseher mit einer Kettenstange, schweren Hals- und Armbändern vollständig gefesselt. Das Klirren der Ketten ist laut zuhören.
GALERIST
zu Hitler Das ist gar nicht so übel, was Sie da pinseln. Das kaufen die Leute. Die wollen ihr Siegestor wiedererkennen. Das Geschmiere, das da jetzt auf den Markt kommt, das ist doch etwas für Irrenanstalten. Sie sind auf dem richtigen Weg, Hitler. Die Käufer mit Bildung wollen so etwas. Ihre Welt im Goldrahmen. Wenn wir da auch preislich im Rahmen bleiben. Sie verstehen – Hitler nickt Also zehnmal Siegestor, Lieferung in vier Wochen.
Der Galerist geht ab. Ein Käfig senkt sich auf Hitler und seine Bilder. Er hängt ein Bild seiner Mutter auf. Gleichzeitig senkt sich ein Käfig auf den gefesselten Kürten. Die Bürgergruppe kommt auf ihrem Rundgang zu Kürten.
AUFSEHER
zu Kürten Gnade dir Gott, wenn du vor der Gefängniskommission das Maul aufmachst. Er meldet dem Bürgermeister. Häftling Kürten in Kettenhaft.
BÜRGERMEISTER
Der Grund?
AUFSEHER
Aufsässig und widerspenstig.
BÜRGERMEISTER
Auch bei strenger Fesselung?
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
Prügelstrafe?
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
Dunkelhaft?
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
Wasser und Brot?
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
Und unverbesserlich?
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
Selbst Brot und Wasser machen anscheinend noch übermütig. Versuchen Sie es mit Nahrungsentzug. Hungerstrafe.
AUFSEHER
Jawoll.
BÜRGERMEISTER
zu den Bürgern Nur strenge Erziehung erzeugt das Gute. Mit Güte richtet man gar nichts aus. Gnadenlose Strenge, das richtet den Charakter. Eine Frau fällt auf die Knie, greift Kürtens Hand, zieht sie zum Gitter und küßt die Ketten.
BÜRGERMEISTER
Wir erklären uns durch den Augenschein für befriedigt.
Die Bürgergruppe setzt ihren Rundgang fort. Kürten legt seine Fesseln ab.
AUFSEHER
Weiterarbeiten Ab.
Kürten arbeitet. Er reißt von einer mannshohen Tuchrolle weißen Seidenstoff ab und rollt die Streifen auf einem Tisch zusammen.
Der Direktor des Männerheims bringt einen jungen Hausierer in Hitlers Käfig.
DIREKTOR
Die Hausordnung. Halten Sie sich daran. Ein Obdachlosenasyl ist kein Tanzsaal. Der Hausierer unterschreibt. Der Direktor geht ab.
HAUSIERER
Sie haben vergessen abzuschließen! Er wirft sich auf sein Bett. Scheiß-Hausordnung.
HITLER
stapelt seine Bilder in eine Ecke, klappt sein Bett heraus und setzt sich darauf. Du hast die Hausordnung nicht durchgelesen.
HAUSIERER
Wozu?
HITLER
Ohne Disziplin ist kein Männerheim zu führen. Der Herr Direktor ist sehr korrekt und menschlich anständig. Aber er hat schließlich die Verantwortung.
HAUSIERER
Bist du mit ihm verwandt?
HITLER
Nein.
HAUSIERER
Ich dachte.
HITLER
Zucht und Ordnung hat noch keinem geschadet.
HAUSIERER
Du bist wohl schon sehr lange hier drin.
HITLER
Was machst du?
HAUSIERER
Hausierer. Schuhwichse, Schnürsenkel, Kämme, Sicherheitsnadeln. Und was machst du?
HITLER
Kunstmaler.
HAUSIERER
zeigt auf die gestapelten Bilder in der Ecke Sind das deine Bilder?
HITLER
Ja.
HAUSIERER
Kann man davon leben?
HITLER
Wenn man verkauft.
HAUSIERER
Verkaufst du?
HITLER
Es liegt mir nicht. Ich bin Künstler.
HAUSIERER
Mir liegts. Ich bin Hausierer.
HITLER
Damit kannst du nicht von Haustür zu Haustür gehen, damit mußt du zu Galeristen und Kunstsammlern.
HAUSIERER
Schreib mir die Adressen auf, alles andere überlaß mir. Du brauchst nur noch zu malen, ich kümmere mich um den Verkauf.
HITLER
Und das Honorar?
HAUSIERER
Halbehalbe, für jedes verkaufte Bild. Ich geh gleich morgen auf Tour. Das da oben verkauf ich zuerst.
HITLER
Das ist nicht verkäuflich. Das ist meine Mutter.
HAUSIERER
Entschuldige, konnt ich ja nicht wissen. Hast du schon Kundschaft?
HITLER
Ein paar reiche Juden. Willst du die Bilder mal sehen?
HAUSIERER
Was ist drauf?
HITLER
Triumphbögen, Theater, Staatsgebäude –
HAUSIERER
Nee, laß mal. Ich hab doch keine Ahnung davon.
Die Bürgergruppe kommt auf ihrem Rundgang zum Männerheim. Der Direktor tritt auf.
DIREKTOR
meldet dem Bürgermeister Männerheim. Zimmer 318 mit zwei Mann belegt.
BÜRGERMEISTER
Berufe?
DIREKTOR
Ein Kunstmaler, ein Hausierer.
BÜRGERMEISTER
Ein lobenswertes Unternehmen. Er wendet sich zu den anderen. Der Künstler, so schwer er es auch in der Gesellschaft hat, findet eine Bleibe und versinkt nicht in der Gosse. Und der Hausierer wird mit den edlen Zügen des künstlerisch tätigen Menschen vertraut und dadurch erhoben. Zum Direktor. Wir sind moralisch sehr befriedigt.
Die Bürgergruppe geht ab. Hitler und der Hausierer legen sich auf ihre Betten.
Kürten dreht sich in das weiße Seidentuch ein, das er von der Rolle abwickelt. Die Rolle läuft leer. Kürten steht unbeweglich.
AUFSEHER
Kürten! Kürten, du bist ja wahnsinnig.
KÜRTEN
Ein Kokon, ein Kokon. Aus mir wird bald ein Schmetterling, ein wunderschöner Schmetterling.
AUFSEHER
Du bist ein bekloppter Hund. Dir geb ich acht Tage Kerker. Da kannst du deine Schmetterlinge zählen. Wickel dich da wieder raus.
KÜRTEN
Geht nicht mehr. Ich bleib hier drin. Für immer.
Der Aufseher geht in den Käfig, zieht das Seidentuch von Kürtens Körper, eine lange, wehende Fahne.
Ein Kokon, ein Kokon, ein Kokon.
HITLER
im Schlaf Das Leichentuch, das Leichentuch, das Leichentuch weg, das Leichentuch weg!
HAUSIERER
He du, was ist?
HITLER
Ich habe geträumt. Das Leichentuch, meine Mutter lag unter dem Leichentuch.
HAUSIERER
Ist sie tot?
HITLER
Sie starb früh.
HAUSIERER
Du siehst ihr sehr ähnlich.
HITLER
Das letzte Bild von ihr. Sie hatte eine Geschwulst. Der Krebs zerfraß ihren Körper. Ihre Brust wurde amputiert. Dieser jüdische Arzt hat sie mit seinen Medikamenten vergiftet. Er hat sie gequält – sie hat geschrien. Ich saß an ihrem Bett. Das weiße Tuch um ihre Brust. Das weiße Bett. Sie starb im Winter. Die Erde war weiß vom Schnee, ein riesiges Leichentuch.
HAUSIERER
Aus Erde bist du, zu Erde wirst du, ob im Winter oder im Sommer, ob die Blumen blühen oder im Schnee. Bei den Toten in der Erde ist es dunkel, dunkel wie die Ewigkeit.
BÜRGERMEISTER
Krieg! Krieg! Krieg!
Die Käfige über Kürten und Hitler heben sich.
BÜRGER UND BÜRGERINNEN
Hurra! Siegheil!
HITLER
Auf in den Krieg! Auf in den Krieg!
Hitler umarmt die Bürger. Jeder umarmt jeden. Alle jubeln. Hitler nimmt das weiße Seidentuch, läuft damit um die Bürger herum Auf in den Krieg! Die Bürger heben ihn auf ihre Schultern, das weiße Tuch legt sich über sie. Hitler hält das weiße Tuch an einem Stock in die Höhe und schaut fasziniert auf die kreisende Spitze. Die Menschengruppe geht mit Hitler auf den Schultern jubelnd ab.
Zwei doppelstöckige Betten, in denen Tote liegen. Kürten und der Hausierer liegen in einem Bett. Der Hausierer hat die Decke über den Kopf gezogen. Kürten spielt auf einer Mundharmonika: ›In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn‹. Er wechselt die Melodie ›Heut gehn wir ins Maxim …‹
KÜRTEN
Ich war mal in einer Operette, das hat mir sehr gut gefallen. Er spielt weiter. Da war natürlich noch Ballett dabei. Er spielt weiter. Und alle Männer hatten einen Frack an und die Frauen Abendkleider. Sah aus, wie in einer Puppenstube. Er spielt weiter. Der kommt gleich mit dem Mittagessen.
HAUSIERER
Das stinkt hier wie die Pest. Das ist kein Gefängnis, das ist ein Leichenhaus. Schau dir mal den da oben an. Der ist so verdächtig still.
KÜRTEN
Der rührt sich nicht mehr. He du! Kaputt. Rechtzeitig zum Mittagessen. Mehr kann man nicht verlangen.
HAUSIERER
Ein Mittagessen mehr.
KÜRTEN
Geteilt durch zwei.
HAUSIERER
Nur noch zwei? Wieviel sind jetzt tot?
KÜRTEN
Vier Betten. Zwei Lebende, sechs Tote.
HAUSIERER
Acht Mittagessen für zwei Mann.
KÜRTEN
Wir werden nicht verhungern. Und bei dem Frost halten die sich.
HAUSIERER
Das stinkt bald durchs ganze Haus. Wenn die das merken, holen die uns alle auf einmal weg.
KÜRTEN
Also gut, wer zehn Tage tot ist, wird gemeldet.
HAUSIERER
Und einfach an die Tür gelegt.
KÜRTEN
Und wir melden uns freiwillig für den Leichentransport. Dafür gibt es fünfzig Gramm Brot extra. Da haben wir jetzt dreihundert Gramm Brot in Reserve.
HAUSIERER
Und heute für jeden vier Portionen.
KÜRTEN
singt Freunde, das Leben ist lebenswert – Achtung!
Der Aufseher schiebt einen Wagen mit acht Schüsseln in die Zelle.
KÜRTEN
Zelle 93 mit acht Mann belegt.
AUFSEHER
Bei euch stinkt es, nicht zum Aushalten. Das ist ja schlimmer als an der Front. Ihr suhlt euch hier im Gefängnis in eurem Dreck herum, wascht euch nicht, bescheißt euch von oben bis unten, während die anderen für euch kämpfen. Ihr solltet euch schämen.
HAUSIERER
Jawoll, wir schämen uns.
Der Aufseher geht ab.
KÜRTEN
Für mich kämpft keiner.
HAUSIERER