Schweigen oder sprechen - Dieter Forte - E-Book

Schweigen oder sprechen E-Book

Dieter Forte

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Beschreibung

Die Welt, in der man aufwächst, wird zum Maßstab für die ganze Welt, schreibt Dieter Forte. Doch was, wenn die Zeit, die über unser Leben entscheidet, geprägt ist von Zerstörung, von Verschwinden? Um diese Frage kreist Dieter Fortes epochale »Tetralogie der Erinnerung«, ein europäisches Familienepos in vier Romanen, das in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs seinen Fluchtpunkt findet. Volker Hage begleitet seit Jahren das Werk Fortes und führt in einem Vorwort in dessen epischen Weltentwurf ein. Ihm gab Forte als erstem in einem langen, hier abgedruckten Gespräch Auskunft über seine Arbeit, die das Unaus- und Unangesprochene unserer Vergangenheit berührt. Nicht W. G. Sebalds These, dass der Luftkrieg über Deutschland keine Literatur hervorgebracht habe, sondern die Unmöglichkeit, über diese Katastrophe zu sprechen, steht im Mittelpunkt aller Texte dieses Bandes.

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Seitenzahl: 92

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Dieter Forte

Schweigen oder sprechen

FISCHER E-Books

Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Volker Hage

Inhalt

Vorwort1.2.3.Schweigen oder sprechenNach einem BombenangriffIn einem Satz auf einen AtemLuftkrieg im LiteraturseminarErfolgsaussichten gleich Null»Alles Vorherige war nur ein Umweg«Schweigen oder sprechenWeggehen um anzukommenAbschiedNachweise

Vorwort

Die einzige Gewißheit, wie ein ewiges Licht in der Dunkelheit schimmernd, fand sich im ununterbrochenen Erzählen, im unaufhörlichen Weitererzählen über Tausende von Jahren, das irgendwann begann, als in einer Höhle oder an der Quelle einer Oase ein Mensch anfing zu erzählen, und das seitdem die Welt darstellte, wirklicher als die Wirklichkeit war, denn das alles existierte nur, solange es erzählt wurde, was nicht mehr erzählt wurde, war vergessen, existierte nicht.

Dieter Forte, Das Haus auf meinen Schultern

1.

Das erste Mal traf ich mit Dieter Forte im Oktober 1998 zusammen, auf der Frankfurter Buchmesse. Ich hatte ihn gerade erst als Prosaautor für mich entdeckt – er war mir vorher lediglich als Dramatiker bekannt gewesen, vor allem als Verfasser des 1970 in Basel uraufgeführten Erfolgsstücks Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung –, und ich wollte gern die Person kennenlernen, die hinter einer gewaltigen, ursprünglich in drei Bänden publizierten Romantrilogie stand, die gerade abgeschlossen war und heute, in einem Band zusammengefaßt, den Titel Das Haus auf meinen Schultern trägt. Wir saßen in einem ruhigen Raum des messenahen »Maritim«-Hotels, Forte, ein zarter, zurückhaltender Mann sprach mit leiser Stimme über sein Schreiben und Leben – vor allem über jene Erfahrungen, die er als Kind und Jugendlicher in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und danach gemacht und (in den letzten beiden Bänden der Trilogie) literarisch umgesetzt hat.

Das zentrale Motiv, das große Thema und persönliche Trauma sind die Bombennächte, die er als Knabe in Düsseldorf erlebte und durchlitt. »Ich habe nie mehr richtig geschlafen seitdem«, erzählt er ohne jeden dramatischen Unterton, »wache oft auf, höre Sirenen, habe auch lange gestottert, war in der ganzen Kindheit und Jugend schwerkrank, bin auch nicht mehr gesund geworden, bin eigentlich immer noch erfüllt mit Panik und Angst. Ich traue bis heute der Ordnung und Sicherheit nicht, die uns umgibt.« Seit den Tagen der Kindheit quält Forte ein Lungenleiden, gegen das es weder im Krieg noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit Medikamente gab. So konnte er auch später nie einen anderen Beruf ausüben als das Schreiben, was ihm ohnehin das Liebste war – und das Notwendigste. Denn schreibend konnte er das Erlebte noch einmal heraufholen und im Text bannen. Grausame Szenen aus dem Krieg finden sich im Mittelteil der Trilogie, einem Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung. »In der Wirklichkeit war es grausamer«, sagt er. »Ich habe einen Filter davorgeschaltet, den distanzierenden Erzähler, um es für mich überhaupt erzählbar, um es mitteilbar zu machen. Darunter gibt es eine Schicht von Angst und Grausamkeit, die ich für unbeschreibbar halte.«

Warum dieses Thema gerade jetzt, mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende? Auch Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen war kurz vor unserem Gespräch im Herbst 1998 erschienen, ein autobiographisch gefärbter Roman, der von Nazi- und Nachkriegszeit in einem kleinen Bodensee-Ort erzählt und Fortes aus Großstadtperspektive erzähltes Werk gewissermaßen aus der Provinz ergänzt. Oder umgekehrt: Während Walser merkwürdig distanzlos beschreibt, wie die Einheimischen damals befremdet auf die aus den Städten aufs Land geflüchteten Evakuierten und Ausgebombten reagierten, erinnert sich Forte an die Situation mit anderem Blick, sowohl in seinem Roman als auch im Gespräch – mit einem leisen Zorn: »Die Landbevölkerung lebte zum Teil wie im tiefsten Frieden, viele hielten Erzählungen von den Bombenangriffen für Übertreibungen. Die Leute glaubten, wir wollten uns ein schönes Leben machen. Die Mütter wurden in den süddeutschen Dörfern regelrecht gedemütigt.«

Warum also erst jetzt? »Ich habe das lange verdrängt«, sagt Forte. »Ich habe nie jemandem erzählt, was ich selbst im Krieg und danach erlebt habe, nicht einmal meiner Frau.« Am Schreibtisch dann, als er damit begonnen hatte, über seine Erfahrungen zu schreiben, sei alles wieder hochgekommen, »während des Schreibens, oder genauer, im Schreiben, in dem Moment, in dem die Erinnerung zu Sprache wurde« – und er selbst sei überrascht gewesen, »was da alles an detaillierter Erinnerung in der Sprache Gestalt annahm«. Die Erinnerungen hätten ihn beim Schreiben der letzten beiden Romanbände derart bedrängt, daß er mehrmals »abstürzte« und krank wurde. Dann habe er wieder wie im Fieber geschrieben, berichtet er: »Ich wußte natürlich, daß wir ausgebombt waren. Aber erst im Schreiben kamen die verdrängten Details: wie ich mich an meine Mutter geklammert habe und ähnliches. Ganz unmittelbar. Ich hätte vorher nicht geglaubt, daß so etwas möglich ist. Als wäre es gerade geschehen.« Es ist im Gespräch zu spüren, wie jene Ereignisse aus Kindheitstagen in Forte, der zurückgezogen in Basel lebt und im deutschen Literaturbetrieb nie eine große Rolle gespielt hat, immer noch nachhallen. »Die eigene Existenz ist nachhaltig beschädigt, man kommt nicht mehr zur Ruhe. Ich könnte mir zum Beispiel schwer vorstellen, jemals ein Haus zu kaufen.«

Geboren wurde Dieter Forte am 14. Juni 1935 in Düsseldorf, der Stadt, wo die Vorfahren, die aus Italien, Frankreich und Polen stammten, irgendwann zusammenfanden. »Düsseldorf ist meine Heimat«, hat er in der Prosaskizze Weggehen um anzukommen notiert, »die Straßen und Plätze eines bestimmten Quartiers mit seinen unverwechselbaren Menschen und ihren tausendundeinen Geschichten, ein Bildteppich voll unerschöpflicher Erinnerungen. Ich kenne das Düsseldorf der Kriegs- und Nachkriegszeit, das Düsseldorf des Wiederaufbaus, die wundersame Kö, die stillen Ecken der kleinen Altstadt, die Nächte in den Jazzkellern und die langen Tage am hellen Rhein.« Düsseldorf ist auch die Stadt, in der die Fäden der Romantrilogie zusammenlaufen, wo der größte Teil der Handlung stattfindet. Der Weg vom Theater zur Prosa war durch die Stoffmasse vorgezeichnet, die es zu verarbeiten galt. »Irgendwann wußte ich: das ist ein episches Thema«, erinnert sich Forte. »Was ich erzählen wollte, war nur in Prosa zu erzählen.«

2.

Zeit der Kinder: Die Ruinen sind ihre Welt, ihr Spielplatz, ihr Terrain. Da kennen sie sich aus, finden Schleichwege, von denen kein Erwachsener etwas ahnt, stoßen auf Türen, hinter denen gehamsterte Schätze liegen – oder Leichen. Die Kinder springen auf die Loren der Trümmerbahn und lassen sich bis zur nächsten Straßenecke fahren, sie klettern auf Steinbergen herum, hangeln sich an verbogenen Balkongittern entlang und stehen hoch oben in leeren Fensterhöhlen. Sie bilden Banden, weichen Blindgängern aus und sind vertraut mit den Geheimnissen des Schwarzmarkts. Kein Erwachsener, der ihnen etwas vormachen oder vorschreiben könnte. Keine Regeln, keine Kontrolle, keine Schule. Und als der Unterricht doch wieder beginnt und die Schulspeisung lockt, stehen die Lehrer auf reichlich verlorenem Posten. In ungeheizten und finsteren Klassenzimmern gehen Rechen- und Turnstunden ineinander über – damit sich niemand eine Lungenentzündung holt.

Bilder aus einer deutschen Großstadt vor gerade einmal fünfundfünfzig Jahren: Forte beschwört in seinem Roman In der Erinnerung (1998) eine gespensterhafte, heute nahezu irreal anmutende Trümmerlandschaft. Weit davon entfernt, die Nachkriegswelt zu verklären, gibt er den Kindern ihr Reich und ihr Recht: »Sie waren die freiesten und lebendigsten Menschen, an die er sich erinnern konnte. Sie waren es, die diese Totenwelt wieder ins Leben zurückschrien.« Zu falscher Gemütlichkeit hat dieser Autor ohnehin keinen Hang. Schon sein erstes und bis heute – mit mehr als fünfzig Inszenierungen in elf Ländern – erfolgreichstes Theaterstück Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung war eine historisch versierte intellektuelle Provokation.

Der Roman In der Erinnerung ist der letzte Band jener epischen Trilogie, in der Familiengeschichte als Parforceritt durch ein europäisches Jahrtausend inszeniert wird – zunächst fast eine Art Hetzjagd von Station zu Station, die schließlich, in den Trümmern des 20. Jahrhunderts, zum Stillstand kommt: stets illusionslos und zugleich mit inbrünstiger Menschenliebe erzählt. Das Muster (1992) ist der erste der beiden früheren Bände; der Titel des Folgebands lautete zunächst Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) und heißt nun Tagundnachtgleiche, nämlich in der 1999 erschienenen einbändigen Ausgabe der Trilogie: Das Haus auf meinen Schultern.

Es ist eine einzige große Geschichte, die Forte in immer neuen Anläufen und atemlosen Bildern fortspinnt, eine Geschichte, in der zahllose kleine Geschichten, Haupt- und Nebenfiguren durcheinanderwirbeln. Sie hebt in grauer Vorzeit an – in der freilich schon wunderschön leuchtende Seidenmuster gewebt werden. Die Jahreszahl 1133 ist die erste, die genannt wird: In Palermo entstand damals der Krönungsmantel von Kaiser Friedrich II. Die Weberfamilie Fontana muß bald nach dessen Regentschaft mit vielen anderen aus der Zunft Sizilien verlassen. Eine Irrfahrt durch Europa beginnt: Über Lucca und Florenz führt sie nach Lyon, von dort nach Basel und schließlich nach Düsseldorf – mal auf der Flucht vor religiösen Fanatikern und Mordgesindel, mal auf der Jagd nach ökonomischem Vorteil.

Nach der Ankunft in Deutschland und im 20. Jahrhundert verbinden sich die Fontanas mit der aus Polen stammenden Familie Lukacz, einem alten Bauerngeschlecht, das im Ruhrgebiet mit seinen Zechen Arbeit und Zuflucht gesucht hat. Der südländisch unbeschwerte Fontana-Sproß Friedrich und die schwerblütige, aber tatkräftige Maria heiraten 1933. Damit schließt der erste Romanband. Maria ist fortan die beherrschende Figur der Familie und einer der eindrücklichsten Charaktere der Familiensaga. Maria wird – im zweiten Band (der in der Zeit von 1933 bis 1945 spielt) – die Mutter des Helden, aus dessen Perspektive alles Folgende erzählt wird.

Forte versucht nicht, hinter »dem Jungen«, seinem Stellvertreter im Roman, unsichtbar zu bleiben, auch wenn er den namenlosen Jungen statt 1935 schon zwei Jahre früher zur Welt kommen läßt: rechtzeitig zum Aufdämmern der deutschen Barbarei. Der zweite und auch der abschließende dritte Teil der Trilogie führen die Folgen des Nazi-Wahns drastisch vor. Da ist zunächst die gerade im Düsseldorfer Arbeiterviertel, wo die Fontanas leben, spürbare Abschnürung jeder Individualität, dann die vom deutschen Angriffskrieg provozierte Bombardierung der Zivilbevölkerung, schließlich die städtischen und seelischen Trümmerlandschaften. Erzählt wird also nicht von der Front, sondern aus dem Erlebnishorizont eines Kindes, das daheim Zeuge – und mehrfach um ein Haar Opfer – jener bis dahin unbekannten Tötungsmaschinerie namens Luftkrieg wird; übrigens auch wacher Beobachter anderer mörderischer Vorgänge: Ein KZ-Außenlager befindet sich mitten im Viertel, und vor aller Augen werden die Häftlinge, bewacht und drangsaliert, nach den Bombardements zu Aufräumarbeiten und zum Bergen der Leichen eingesetzt.

Forte versucht dabei keineswegs, einen kindlich-naiven Standpunkt einzunehmen oder die Sprache eines zehn- bis zwölfjährigen Jungen nachzuahmen. Gezielt greift er auch hier auf den alten Chronistenton zurück, der sich mit ruhigen, klaren Sätzen wie ein Schutzglas über das pure Entsetzen legt: »Ein dunkles Halbwissen verbreitete sich, Furcht und Angst vor den ungewissen Dingen, die da im Verborgenen geschahen und die nach dem Krieg keinen wirklichen Frieden mehr zulassen würden.« Wie dieser Frieden konkret aussah, das zeigt dann eindrucksvoll der Band In der Erinnerung, der die Jahre 1945 bis 1948