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Dieses Stück zeigt das Leben des Schweizer Geschäftsmanns und Humanisten Jean Henry Dunant, der ein guter Mensch sein wollte und dabei die Menschen kennenlernte. Es zeigt das Leben der Bürger und ihrer Geschäfte in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es zeigt den Aufstand der Commune in der Stadt Paris. Es ist das Porträt eines Einzelnen und einer Gesellschaft: hier die Bürger, die Fortschritt und Zivilisation sagen. Und dort die Arbeiter, die Freiheit und Revolution wollen. Dazwischen Dunant, der sich verheddert zwischen dem, was er fühlt, und dem, was er zu sagen gelernt hat. Der über einem grausamen Geschehen zerbricht, und im Alter nur noch Worte ohnmächtiger Wut hat. In einer großen Collage bringt Dieter Forte die Welt eines Jahrhunderts auf die Bühne: Bankiers und Generäle, Bischöfe und Industrielle, Kurtisanen und Journalisten, Fabrikarbeiter, Näherinnen und Buchdrucker, den Gouverneur der Bank von Frankreich, Bettler und Börsianer, Bürger und Communarden. Was in Fortes großem Schauspiel »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« angelegt war, setzt sich in der »Einführung der Zivilisation« fort: die Mathematisierung der Welt, die Herrschaft der Zahlen, die die Welt in einen unaufhörlichen Konflikt treibt.
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Seitenzahl: 226
Dieter Forte
Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation
Ein Schauspiel
FISCHER E-Books
Für Marianne
Die Ideen der Gerechtigkeit und der Solidarität müssen die Gesetze der Welt sein und sie werden es sein.
Commune, 21. Mai 1871
Die Sache der Gerechtigkeit, der Ordnung, der Humanität, der Zivilisation hat gesiegt.
Thiers, 22. Mai 1871
Ich will begraben werden wie ein Hund.
J. H. Dunant
DUNANT
MONSIEUR PAUL, Bankier
SCHNYDER, Großindustrieller
VON MORNAI, Parlamentspräsident
BLANCHE, Kurtisane
DAVID, Journalist
GENERAL
BISCHOF
LOUISE, Näherin
JEANNOT, ihr Vater, Tapezierer
PÉPÈRE, ihr Mann, Schlosser
SASCHA, ihr Sohn, Buchdrucker
Arbeiterin
1. Arbeiter
2. Arbeiter
3. Arbeiter
1. Bürger
2. Bürger
3. Bürger
1. Bürgerin
2. Bürgerin
3. Bürgerin
1. Delegierter der Commune
2. Delegierter der Commune
3. Delegierter der Commune
Gouverneur der Bank von Frankreich
Missionar
Kolonialoffizier
Nick, Geschäftsmann
Monsieur Pauls Frau
ein Kind
Hotelier
Würdiger Herr
Bettler
Börsianer
Bohnermeister
Aufseher
Agitator
Museumsführer
Feldprediger
1. deutscher Offizier
2. deutscher Offizier
3. deutscher Offizier
Bismarck
Napoleon III
Bürger, Arbeiter, Soldaten
Das Stück spielt von 1848–1871.
Hauptschauplätze sind Genf und Paris.
Auf der Bühne, in Mannshöhe, eine hufeisenförmige Empore auf schlanken Eisensäulen. Rechts und links an ihrem Ende an den Portalen je eine leicht gewundene Treppe.
In der Mitte hinten eine große, ausladende Haupttreppe, unten zweigeteilt, auf halber Höhe sich vereinigend, ein Zwischenpodest bildend auf einem pompösen, weit in den Raum ragenden Vorbau.
Unter der Empore, in einem kaum wahrnehmbaren Halbdunkel, stehen Maschinen.
Über dem Ganzen wölbt sich eine riesige Kuppel, eine Glas- und Eisenkonstruktion.
Börsenhandel auf der Empore. Herren in schwarzem Gehrock und schwarzer Hose gestikulieren wild, schreien Zahlen, dazwischen Worte: »an Sie, für mich, von Ihnen, ich geb, ich nehm, Geld, Brief. – Banque de France, Paris-Orléans, Straßburg-Basel, Générale, Nationale, Union.«
Dunant in schwarzem Gehrock und schwarzer Hose steht mit dem Rücken zum Publikum an der Rampe und schaut zu.
PAUL
über eine der Seitentreppen von der Empore herabsteigend Was kann ich für Sie tun? Ich habe wenig Zeit.
DUNANT
Wie ich hörte, suchen Sie einen jungen Mann für Ihr Bankgeschäft.
PAUL
Sind Sie versiert? Aktien, Börse?
DUNANT
Von der Börse verstehe ich leider nichts, auch nichts von Aktien.
PAUL
ruft den Börsenhändlern zu Bei mir Union 7 Geld, 7 Geld Union. Zu Dunant Sind Sie an der Stelle ernsthaft interessiert?
DUNANT
Selbstverständlich würde ich mir größte Mühe geben –
PAUL
zu den Börsenhändlern Hier 7 Union, 10000, von Ihnen an mich. Zu Dunant Was haben Sie bisher gemacht?
DUNANT
Ich habe meine Zeit bisher vorwiegend dem Schicksal meiner Mitmenschen gewidmet, den Schwachen und Bedürftigen –
PAUL
Sozialist?
DUNANT
Genfer Bürger. Ich bin Mitglied einer Almosengesellschaft.
PAUL
Aktiengesellschaft wär mir lieber.
DUNANT
Jedes Mitglied betreut eine Gruppe Arme und Kranke. Ich sorge für einige alte, gelähmte Frauen.
PAUL
zu den Börsenhändlern Von mir Union 9 Brief. Ich gebe Union 9 Brief.
DUNANT
Ich habe immer Anteil genommen am Unglück der einfachen Leute, der Unterdrückten, der Bedürftigen, der vom Leben Verletzten.
PAUL
Und dazu suchen Sie mich in der Börse auf? Nächstenliebe ein Haus weiter bitte. In der Kirche. Ich besitze ein Bankhaus. Meine Anteile müssen rentieren. Zu den Börsenhändlern10000 Union 9, von mir an Sie.
DUNANT
Hier ist ein Empfehlungsschreiben. Was würden Sie mir raten?
PAUL
überfliegt das Schreiben flüchtig Also zwei Minuten. Hören Sie zu. Für einen jungen Mann wie Sie, intelligent?
DUNANT
Ich denke.
PAUL
Aus bürgerlichem Haus?
DUNANT
Ja.
PAUL
Etwas Geld?
DUNANT
Ja, auch.
PAUL
Da gibt es fünf Möglichkeiten in Ihr Leben zu investieren. Erstens Sie werden Künstler. Darüber verlier ich kein Wort. Ein reines Verlustgeschäft. Zweitens Sie werfen sich in die Arme der Kirche. Eine seriöse Anlage, aber bescheidene Rendite. Drittens Sie marschieren in die Armee. Aber wozu wollen Sie General werden, wenn Sie intelligent sind. Viertens das Studium. Aber wozu Bildung, wenn Sie Geld haben. Fünftens das Geschäftsleben. Sie kommen aus einem bürgerlichen Haus. Sie sind intelligent. Sie haben Geld. Machen Sie Geschäfte.
DUNANT
Das machen alle.
PAUL
Eben. Das ist die Voraussetzung. Mit sich allein können Sie kein Geschäft machen. Sie brauchen einen anderen dazu, und so weiter und so weiter. Schauen Sie sich um. Wo Sie hinsehen Geschäfte. Auf der ganzen Welt, Tag und Nacht, nur Geschäfte Geschäfte Geschäfte. Wer da nicht mitmacht, ist entweder dumm oder faul oder unmoralisch oder alles zusammen.
Eine Uhr schlägt zwölf. Der Börsenlärm verstummt mit dem ersten Schlag. Die Börsenhändler gehen langsam ab.
PAUL
zieht seine Taschenuhr und vergleicht die Zeit Die bürgerliche Zeit! Das ist die Zukunft junger Mann. Der bürgerliche Tag. 24 gleichlange Stunden zu 60 gleichlangen Minuten und 60 gleichlangen Sekunden. Ein sauberes Limit. Ordnung und Fortschritt. Die Sonnenzeit ist vorbei. Zeit muß exakt sein und überall gleich. Die Fahrpläne müssen stimmen. Und wo wurde die bürgerliche Zeit eingeführt?
DUNANT
Bei uns in Genf.
PAUL
In unserem schönen Genf mit seinen schönen Uhren, nomen est omen. Wie war noch Ihr Name?
DUNANT
Jean Henry Dunant.
PAUL
Sie können gleich dableiben, Monsieur Dunant. Nehmen Sie Ihr Notizbuch und notieren Sie: 10000 Union zu 207 gekauft, dito zu 209 verkauft, Gewinn 20000. Während ich mich mit Ihnen unterhalten habe, mein Lieber. Was wollen Sie da mit Ihrer Almosengesellschaft. Bei so einem Geschäft bleibt auch noch etwas für die Armen übrig.
DUNANT
Jeder Mensch sollte Anteil nehmen –
PAUL
– an der Société anonyme. Ein sehr schöner Name für eine sehr schöne Sache. Eine Aktiengesellschaft gehört niemand, sie gehört dem Kapital. Aber, das ist das Grandiose daran, Sie dürfen Anteil nehmen. Und ein Aktionär ist ein Mensch, der Anteil nimmt. Und das Herz all dieser Wesen schlägt hier. In der Börse. Tag und Nacht ohne Pause rund um die Erde. Hier ist der Tempel der neuen Zeit. Hier ist jeder gleich. Jeder der Aktionär des anderen. Verstanden?
DUNANT
Ja.
PAUL
Hoffentlich.
Alle ab.
Mornai, Schnyder, General und Bischof auf der Empore, dazu festlich gekleidete Gäste. Ein Kind trägt ein Gedicht vor. Währenddessen versammelt sich eine Gruppe Arbeiter unterhalb der Treppe.
KIND
Abwerfen will der Mensch das Joch,
Zu langsam reifen ihm die Saaten,
Zu fern ist jede Nähe noch,
Damit die Bahn geebnet werde,
Rief man das Eisen aus der Erde.
Auch fangt die Luft und sperrt sie ein,
Muß ihre Schwungkraft uns verleih’n.
Gleich Donnerwolken rauscht es hin,
Es scheint ein schnaubend Ungeheuer.
Das freie, edle Pferd erschrickt,
Das einst der Reisende erblickt.
So geht’s zu Land und durch das Meer,
Die Rud’rer können ruhig bleiben,
Dampf muß wie Rad so Ruder treiben.
Und nun wohin? Kein Hindernis,
Zum Glücke tragen diese Schwingen,
Und nur wer schnell ist, kann’s erringen.
Beifall der Gäste.
MORNAI
Hochwürdigste Exzellenz, Herr Vorsitzender, sehr verehrte Gäste, liebe Arbeiter. Fortschritt, ruft der Menschengeist. Fortschritt ist sein Posaunenschall, dessen Echo widerhallt von Ost nach West, von Nord nach Süd. Nicht das Wohl einzelner, nicht der Aufschwung dieser oder jener Klasse, nein, die Wohlfahrt der gesamten Menschheit ist die Aufgabe, die sich der Menschengeist gestellt hat. Und wahrlich, wie ein zweiter Prometheus hat er das Feuer der Quelle entwandt durch die Erfindung der Dampfeisenbahn und der Dampfschiffahrt. Ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von Krieg, Teuerung und Hunger, Nationalhaß und Arbeitslosigkeit, Unwissenheit und Schlendrian. Als Vertreter der Pariser Regierung eröffne ich die neue Gußstahlfabrik und gebe das Wort weiter an den Gründer des Werkes.
SCHNYDER
Hochwürdigste Exzellenz, Herr Präsident, meine Damen und Herrn. Paris verwandelt sich in die modernste Hauptstadt der Welt. Prachtstraßen beseitigen die alten Elendsquartiere, Kanalisation, Wasserleitungen, öffentliche Bauten, Parkanlagen, Eisenbahnlinien, Bankinstitute, Warenhäuser befriedigen den Bedarf. Die neue Industriekultur schwelgt in Üppigkeit, wo man hinsieht, Elegance und Luxus. Die Menschheit ist bei ihrer letzten Etappe angelangt, eine bessere Gesellschaft unvorstellbar, der Siegeszug der Zivilisation unaufhaltbar. In diesem Sinne: An die Arbeit!
Beifall. Die Gesellschaft nimmt an einer festlich gedeckten Tafel auf der Empore Platz. Die Arbeiter gehen schweigend an die Maschinen, die jetzt in Betrieb genommen werden.
Zerlumpte Gestalten hocken unter der rechten Seitentreppe, einige schlafen sitzend an ein Seil gelehnt. Dunant trägt eifrig Suppenteller herbei.
Der erste Arbeiter, beinamputiert, steht an einer Säule und hat den Beinstumpf auf seine Krücke gelegt.
1. ARBEITER
in einem monotonen Singsang
Mein Bein, das hat die Maschin gefressen
Und hat sich nicht dran verschluckt.
Soviel Fleisch hab ich mein Lebtag nicht gessen,
Wie die Maschin da hat geschluckt.
ARBEITERIN
Wie bist reinkommen?
1. ARBEITER
Weil ich die Maschin hab putzen müssen,
Und weil der Chef es mir vom Lohn hat abziehn wolln,
Wenn die Maschin nicht weiterläuft.
Da hab ichs nicht abstellen könn,
Und die Maschin, die läuft noch heut.
Ein Bein wär nix, hat er gesagt,
Zwanzig Francs Abfindung wär reichlich, hat er gesagt,
Da wär ich ein freier Mann, hat er gesagt.
3. ARBEITER
A Maschin ist entschieden vorteilhafter als a Mensch.
A Mensch ist gegen a Maschin direkt a Mißgeburt.
2. ARBEITER
Ich hab immer gearbeit,
Mein Leben lang gearbeit,
Aber früher, das war anders.
Man hat es sich eingeteilt,
Man hatte ein Gespräch
Und Pausen,
Und der Meister, der war gut oder schlecht,
Je nachdem,
Aber ließ mit sich reden,
Und es war Sommer und Herbst
Und Winter und Frühjahr
Und Sonntage und Feiertage
Und auf Nacht hat man geschlafen
Und in der Früh ist man auf
Und Lohn zum Leben
Und die Frau war zuhaus und die Kinder
Und gessen habn wir
Brot und Kartoffeln und mal ein Fleisch
Und gefeiert die Tag der Heiligen.
Aber heut,
Da mußt arbeiten, wann die Maschin arbeit,
Und die Maschin arbeit immer,
Also mußt auch immer arbeiten.
Sechzehn Stunden am Tag wie nix,
Ob Mann, ob Weib, ob Kind,
Und bei Wechselschicht nochmal soviel.
Nur wenn die Maschin aufhört,
Darfst auch aufhören,
Aber die Maschin hört nie auf,
Die läuft immer,
Ob Sommer oder Winter,
Oder hell oder dunkel,
Mittag oder Nacht.
A Maschin wird nicht müd wie a Mensch,
A Maschin hat kein Sonntag und keine Feiertag,
A Maschin ist a Maschin.
Und die Frau ist an der Maschin,
Und die Kinder sind an der Maschin,
Und der Lohn langt für nix
Und Hunger hast
Und feucht is und heiß is
Und Lärm und Staub und Gestank
Und Tag und Nacht in dunkle Räum
Und immer die gleichen Handgriff
Und immer schnell
Und immer genau
Und immer nur stehn
Und keine Paus is
Und essen an der Maschin
Und scheißen an der Maschin
Und schlafen an der Maschin.
Und wennst krank bist arbeitslos
Und wennst Maul aufmachst arbeitslos
Und is a Krise arbeitslos.
3. ARBEITER
In der Fabrik, wo ich war,
Habens uns mit einem Strick am Webstuhl aufgehängt,
Daß wir mit Händen und Füßen gleichzeitig arbeiten konnten.
Da hingen wir all auf einer Reih am Strick,
Und die Aufseher habn uns schön prügeln können
Und die Weiber untern Rock fassen.
ARBEITERIN
Solang er ein noch untern Rock faßt,
Solang entläßt er ein nicht.
3. ARBEITER
Und dann habns uns einfach hängenlassen,
Nur weil der Chef sagt,
Die Zeit is nich danach.
Wenn mir doch amal einer sagen wollt,
Warum die Herrschaftn, die nix tun, so herrlich daherleben,
Und unsereins für seine täglichen mühsamen 16 Stunden
nicht soviel hat,
Daß er sich amal am Tag den Bauch füllen kann, wie jedes Tier
Und a Bett hat, zum Hineinlegen.
1. ARBEITER
Du kannst ja Gras fressen,
Das is heuer reichlich gewachsen,
Und die Herren habns dir stehenlassn,
Und die Gosse habn sie dir auch sauber gepflastert,
Direkt zum Hineinlegen.
Ich schlaf allein für mich in der Gosse,
Und ich bin stolz drauf,
Und im Essen bin ich wählerisch.
Da geh ich auf den Hundefriedhof von die besseren Leut,
Die Kadaver ausgraben.
Wenn man Pech hat, erwischt man einen Windhund,
Aber so ein fetter Boxer oder Mops,
Das ist schon a Schleckerei,
Wenn er nicht zu alt war.
ARBEITERIN
A Wohnung habn wir schon gehabt,
Ein Zimmer,
Fünf Kinder, Großeltern, der Mann und ich,
Das warn neun,
Ein Kostgänger, ein Schlafgänger, elf.
Es ging, weil die meisten warn immer in der Fabrik
Und Möbel warn auch keine.
Nur a paar Lumpen in der Ecke zum schlafen
Und das Zeug, was wir aufm Leib hatten.
Ein Stuhl ohne Boden fürn Großvater,
A bisserl Geschirr,
Tisch hatten wir keinen
Und Feuer konnte man auch keins machen.
Im Fußboden war n Loch,
Das war der Abtritt.
Zwei Kinder sind mir da gestorben,
Ganz zerfressen von den Ratten und vom Ungeziefer.
Der Großvater auch, verhungert.
Abwaschen habns ihn müssen,
So habn die Lumpen an ihm festgeklebt.
Wasser war auch keins im Haus.
War aber a schöne Zeit.
Wir habns nachher nur nicht mehr zahln könn,
Sie habn die Miete erhöht
Und in der Fabrik gleich vom Lohn abgehaltn,
Weil die Wohnung war auch von der Fabrik.
Und einkaufen hat man müssen in einem Laden,
Der hat auch zur Fabrik gehört,
Und es war dort alles teurer,
Das war nicht reell.
Und immer gearbeit.
Auch wenn ich schwanger war.
Wenn die Wehen kamen,
Hat mir keiner was angemerkt.
Neben die Maschin hab ich entbunden,
Und die Maschin is weitergelaufn.
Ich hab alle fünf in der Fabrik gekriegt.
Wenn man sich hätt was merken lassen,
Wär man gleich entlassen
Und eine andere wär an die Maschin gekommn,
Den Tag über is mir die Milch aus der Brust gelaufen,
Daß die Kleider trieften und alles war naß,
Und der Aufseher is danebengestanden und hat sichs angeschaut.
Meine sind alle zwischen die Maschin aufgewachsen.
Der auch.
Ein Krüppel, gekrümmter Rücken, krumme Beine, mißgestaltet, so daß er nur mit Mühe laufen kann, geht auf allen vieren die Treppe hoch.
Wie er vier war, hat er schon die Maschin geölt,
Mit sechs hat er schon vierzehn Stunden gemacht.
Wenn die Schicht um war,
Hat er sich gleich vor dem Fabriktor auf die Erd geschmissen
Und is eingeschlafen,
Essen hat er keins mehr gbraucht
Gebetet hat er aber noch.
Nur an bessren Lohn dürft er kriegen,
Aber wo die Armenhäuser die Waisen um jeden Preis hergeben
Muß man froh sein.
Gell dir gehts gut, in der Fabrik ists schön?
KRÜPPEL
Ja.
ARBEITERIN
Besser als spielen, was?
KRÜPPEL
Ja.
ARBEITERIN
Immer warm, immer zu tun.
KRÜPPEL
Mir gehts gut.
ARBEITERIN
Das freut mi, dem Bub gehts gut.
Das ist mein Recht als Mutter,
Daß der Bub arbeiten darf.
2. ARBEITER
Wie alt?
ARBEITERIN
Fünfzehn glaub ich.
2. ARBEITER
Schaut aus wie sieben.
ARBEITERIN
Von der Fabrik.
Verkrüppelt is er, freilich,
Ja beides geht nich,
Beides kann man nich habn,
Fabrik und schöne Menschen.
3. ARBEITER
Das is jetzt allgemein so.
Vom Militär hört man,
Daß das Volk keine rechten Soldaten mehr hergibt,
Daß ihnen die Rekruten nicht mehr gradestehn
Und keine richtigen Eilmärsch mehr auf rachitischen Beinen
Und das Vaterland nur noch mit krummen Rücken verteidigen.
2. ARBEITER
Vielleicht ändert sichs,
Das Militär is schon ein Grund,
Anständige Soldaten müssens haben,
Wer will son Krüppel erschießen.
ARBEITERIN
Leben, das is halt so, grade nich sterben.
Alle langsam ab. Dunant ist schon vorher abgegangen.
David, Blanche und ein Fotograf treten auf. David geht auf die Empore. Der Fotograf baut auf der Bühne seinen Fotoapparat auf. Blanche bleibt neben ihm stehen.
DAVID
Monsieur Schnyder, ein paar Worte für unsere Leser zur Eröffnung Ihrer neuen Fabrik.
SCHNYDER
Schreiben Sie, wir dienen dem Fortschritt.
DAVID
Das ist die allgemein übliche Formulierung.
SCHNYDER
Wir bauen Eisenbahnen, um die Völker einander näherzubringen.
DAVID
Daß Sie dabei Geld verdienen, ist ein unbeabsichtigter Nebeneffekt –
SCHNYDER
– der uns in die glückliche Lage versetzt, neue Eisenbahnen zu bauen, neue Fabriken, um Arbeitsplätze zu schaffen, damit sich die Menschen ihr tägliches Brot verdienen können.
DAVID
Was wiederum dem Fortschritt dient und Sie in die glückliche Lage versetzt, wiederum dem Fortschritt zu dienen.
SCHNYDER
Wissen Sie etwas Besseres? Für den Fortschritt ist schließlich jeder.
DAVID
Es hat sich so eingebürgert. Im Frieden der Völkerverständigung, im Krieg dem Generalstab, nach dem Krieg dem Wiederaufbau.
MORNAI
Und allezeit dem Wohl der Menschheit.
DAVID
Darf ich das so schreiben?
MORNAI
Sie wissen ja, wie man so was schreibt.
DAVID
Herr von Mornai, was halten Sie als Parlamentspräsident von den Forderungen der Arbeitervereine?
MORNAI
Der verbotenen Arbeitervereine, wollen Sie wohl sagen.
DAVID
Sagen wir, die Wünsche der Arbeitenden nach einer Begrenzung der Arbeitszeit.
MORNAI
Da das Volk jeden Tag ißt, muß ihm auch erlaubt werden, jeden Tag zu arbeiten. Napoleon I.
SCHNYDER
Die Arbeiter werden sich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wieviel Stunden sie arbeiten dürfen. Das wäre Freiheitsberaubung. Kein Tag ist länger als vierundzwanzig Stunden. Wer arbeiten will, soll arbeiten. Der Mensch ist frei.
DAVID
Und was gedenken Sie gegen die herrschende Armut zu tun?
SCHNYDER
Sicher ist das Elend in weiten Kreisen der Bevölkerung ein entsetzliches Unglück, es ist der Preis für die neue, von sozialen oder moralischen Erwägungen unberührte Rationalität.
MORNAI
Nicht für alle ist auf der Tafel der Natur ein Gedeck bereitet, wie Malthus sagt.
DAVID
Wenn ich also zusammenfassen darf. Die Begrenzung der Arbeitszeit, das Verbot der Kinderarbeit, die Erlaubnis von Gewerkschaften, ein Gesetz über Mindestlöhne oder Lehrlingsausbildung, eine staatliche Armenfürsorge oder eine allgemeine Schulpflicht wären Verletzungen der bürgerlichen Freiheiten, der wirtschaftliche Ruin und der Zusammenbruch der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung.
MORNAI
Ich könnte es im Parlament nicht besser sagen.
DAVID
Keine unnötigen Komplimente, wir sind bestechlich. Wenn ich bitten darf, der Fotograf.
Mornai und Schnyder treten an die Brüstung. Der Fotograf macht sein Bild.
SCHNYDER
Armut und Reichtum sind unvermeidlich und widersprechen weder der Gleichheit der Menschen noch der Gerechtigkeit. Sie sind die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft.
MORNAI
Freiheit und Gleichheit sind unüberbrückbare Gegensätze. Staat und Recht haben nur das Privateigentum zu garantieren. Die Grundlage der Gesellschaft.
FOTOGRAF
Danke.
SCHNYDER
Was haben Sie denn da Hübsches mitgebracht?
MORNAI
Es scheint, die Presse entwickelt langsam Geschmack.
DAVID
Das ist Blanche. Ich glaube, Sie wäre nicht abgeneigt, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Mornai und Schnyder verbeugen sich.
BLANCHE
Messieurs.
SCHNYDER
Gesellen Sie sich doch zu uns.
DAVID
Mit Vergnügen.
MORNAI
zu Blanche Darf ich bitten.
David und Blanche nehmen mit Mornai und Schnyder an der Tafel Platz. Der Fotograf geht ab.
Paul kommt hinter dem Vorbau der Haupttreppe hervor, geht an ein zweiseitiges Stehpult und arbeitet. Dunant stürzt herein und stellt sich an die andere Seite des Stehpultes.
DUNANT
Entschuldigung.
PAUL
Pünktlichkeit, junger Mann. Pünktlichkeit und Ehrlichkeit, Fleiß und Ordnung, Mäßigkeit, Sparsamkeit, Sauberkeit. Tragen Sie das ein. Er wirft ihm einige Rechnungen hin. Dunant arbeitet. Paul schaut ihm über die Schulter. Kapital rechts. Passiva. Passiva. Passiva. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen. Herrgott im Himmel, das kann doch nicht so schwer sein.
DUNANT
Ich denke –
PAUL
Sie brauchen nicht zu denken. Das macht die Buchhaltung. Dafür hat man sie.
DUNANT
Aber das Geld in der Kasse wird doch unter Aktiva –
PAUL
Geld ist kein Kapital.
DUNANT
Also gut, dann verbuche ich eben das Kapital aus der Kasse –
PAUL
Was Sie nicht alles können. Erstaunlich. Kapital aus der Kasse. Wie schaut denn das aus, das Kapital?
DUNANT
Na, das Geld.
PAUL
Kapital ist kein Geld. Kein Mensch auf der Welt hat jemals Kapital gesehen. Da wären Sie der erste. Kapital ist nur eine Zahl. Eine Zahl, Dunant. Hier in diesem Buch. Das, was Sie in ihrer Hosentasche herumtragen ist Geld. Das hat mit Kapital soviel zu tun wie eine Jungfrau mit einer –
DUNANT
Aber ich besitze doch das Kapital. Also Aktiva.
PAUL
Falsch. Das Kapital besitzt Sie. Also Passiva. Erste Grundregel: »Wer erhält, der schuldet.« Sie sind der Schuldner des Kapitals. Das ist seit vierhundert Jahren so. Das wird man für Sie nicht ändern. Wenigstens nicht, solange es eine doppelte Buchführung gibt. Pause Übrigens sah ich Sie gestern aus dem Gefängnis kommen.
DUNANT
Ja.
PAUL
Was haben Sie da getan?
DUNANT
Was ich dort immer tue. Mit den Gefangenen sprechen, ihnen etwas vorlesen.
PAUL
Und was lesen sie denen vor?
DUNANT
Reiseberichte, Berichte über Ausgrabungen.
PAUL
Sehr passend. Und worüber reden Sie?
DUNANT
Möglichst nicht über die Gesetze.
PAUL
Sie sind öfter im Gefängnis anzutreffen als in der Bank. Gefällt es Ihnen dort besser?
DUNANT
Man hat mich dort vielleicht nötiger.
PAUL
Ich gebe ja zu, als Bankier sollte man sich beizeiten einmal ein Gefängnis anschauen, aber wenn Sie abwechselnd aus dem Gefängnis und aus der Bank kommen –
DUNANT
Wieso?
PAUL
Monsieur Dunant, man hat es mit Ihnen nicht leicht. Sie zeigen Eifer und Aktivität. Sie wären ein Juwel. Wenn Sie nicht diesen Tick mit den Menschen hätten. Es ist ein Jammer. Hat man Sie nicht aufgeklärt?
DUNANT
Doch. Geldverdienen ist eine große Tugend.
PAUL
Schreiben Sie eine Eins, und eine Null, und noch eine Null, und noch eine Null, und noch eine Null, und noch eine Null, und noch eine Null. Was haben Sie jetzt?
DUNANT
Eine Million.
PAUL
Damit Sie einmal sehen, wieviel Nullen man braucht, um eine Million zu machen.
DUNANT
Sie haben Ansichten, die nicht unbedingt von Christus stammen. Jeder für sich und den Letzten holt der Teufel.
PAUL
Die Firma Christus und Teufel hat bei mir kein Konto, und wer kein Konto hat, der existiert für mich nicht. Von mir aus sind Sie barmherzig, aber die Kunst besteht darin, durch Wohltätigkeit die besseren Geschäfte zu machen. Wohltaten sind Spesen, die eine geordnete Bilanz nicht stören dürfen. Wenn Sie täglich zwei Centimes nutzlos ausgeben, geben Sie im Jahr sieben Francs nutzlos aus. Sieben Francs sind der Zins für ein Kapital von hundert Francs. Sie verlieren also hundert Francs jährlich, und Sie verlieren nicht nur diese Summe, sondern alles, was Sie damit hätten verdienen können. Was auf die Dauer ein Vermögen ausmacht.
DUNANT
Die Menschheit sollte –
PAUL
Hören Sie auf mit Ihren Menschheitssätzen. Das ist ja nicht zum Hinhören. Sie sind Bankier und kein Almosier. Passen Sie nur auf, mein Lieber, Bankrott ist eine heilsame Strafe für bürgerliche Unfähigkeit. Wenn Sie Ihren Lebenswandel nicht schleunigst ändern, werden Sie noch einmal ein schlimmes Ende nehmen. Halten Sie sich an die Nützlichkeit. Nur was nützlich ist, ist auch vernünftig. Machen Sie sich einen Zeitplan. Zeit ist Geld. Und Sie verschwenden Ihre Zeit und damit Ihr Geld. Führen Sie Buch über Ihr Leben. Notieren Sie Ihre Fortschritte auf der einen Seite, und Ihre Fehler auf der anderen Seite, so haben Sie ein sauberes Kontokorrent, was Ihren Charakter betrifft, und am Ende Ihres Lebens eine ordentliche Bilanz. Haben Sie nicht Ihren Smith gelesen?
DUNANT
sagt auf »Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets von ihren Vorteilen.«
PAUL
Das wichtigste Buch nach der Bibel! Vielleicht denken Sie jetzt, ich bin ein Unmensch. Aber ich hab auch ein Herz. Ich hab auch eine Familie. Ich zweifle auch an Gott. Ich bin ein Mensch, und ich meine es gut mit Ihnen. Vielleicht ist das ja alles nicht richtig. Vielleicht ist das alles sogar falsch, aber so ist es nun mal, und es mußte Ihnen einmal gesagt werden. Er zieht seine Geldbörse. Hier. Für Ihre Armen. Dunant läßt seine Hand ausgestreckt, Paul legt noch eine Münze dazu. Aber sagen Sie nicht, daß es von mir kommt. Wir sind ein renommiertes Haus.
DUNANT
Wir müssen zur Börse.
PAUL
schaut auf seine Uhr Verdammt, das hat man davon.
Beide ab.
Ein Aufseher geht an den Maschinen vorbei.
AUFSEHER
schlägt mit einem Stock den Takt Sind Arbeiter ehrlich, die Material verschwenden?
ARBEITER
Antwort: nein.
AUFSEHER
Sind Arbeiter ehrlich, die nicht auf ihre Maschinen achtgeben?
ARBEITER
Antwort: nein.
AUFSEHER
Wem gehören diese Dinge nämlich?
ARBEITER
Antwort: unserem Fabrikherrn.
AUFSEHER
Wessen Auge sieht euch, wenn der Fabrikherr nicht in der Nähe ist?
ARBEITER
Antwort: Gottes Auge.
AUFSEHER
Heißt Gott solche Taten gut?
ARBEITER
Antwort: nein.
AUFSEHER
Was wird Gott mit diesen Dieben tun?
ARBEITER
Antwort: er wird sie bestrafen.
AUFSEHER
Wofür bezahlen die Fabrikherren ihre Arbeiter?
ARBEITER
Antwort: für ihre Arbeitszeit.
AUFSEHER
Angenommen, die Arbeiter vertrödeln die Zeit, während der sie arbeiten müssen, was tun sie damit?
ARBEITER
Antwort: sie rauben ihren Fabrikherrn aus.
AUFSEHER
Ist das nicht genauso, als ob sie Geld aus seiner Tasche stehlen würden?
ARBEITER
Antwort: ja.
AUFSEHER
Angenommen, Arbeiter führen aufsässige Reden, was beweist das?
ARBEITER
Antwort: daß sie Unrecht tun und lügen.
AUFSEHER
Angenommen, die Arbeiter streiken, was beweist das?
ARBEITER
Antwort: daß sie faul sind und ungehorsam.
AUFSEHER
Wie nennt man solche Leute?
ARBEITER
Antwort: Verbrecher.
AUFSEHER
Warum sind sie Verbrecher?
ARBEITER
Antwort: weil sie Gottes Ordnung stören.
AUFSEHER
Warum stören sie Gottes Ordnung?
ARBEITER
Antwort: weil sie dem Fabrikherrn nicht gehorchen.
AUFSEHER
Und was ist da, wo man nicht gehorcht?
ARBEITER
Antwort: alle Sünden und Laster dieser Welt.
AUFSEHER
Will Gott das?
ARBEITER
Antwort: nein.
AUFSEHER
Was beweist das also?
ARBEITER
Antwort: wir müssen fleißig, ehrlich und pünktlich unsere Arbeit tun.
AUFSEHER
Warum?
ARBEITER
Antwort: weil wir Gottes Kinder sind.
Aufseher ab.
Mornai, Schnyder, Bischof, General, David, Blanche sitzen auf der Empore an einer langen Tafel und essen.
BISCHOF
Die Arbeiter sind an ihrem traurigen Los selber schuld. Sie vermehren sich wie Ungeziefer. Wenn die Armen das nicht endlich einsehen, muß man mit Gewalt dagegen vorgehen. Ich verlange nicht, daß man die Männer kastriert, es genügt, wenn man sie derart verlötet, daß sie keinen Geschlechtsverkehr mehr ausüben können. Die Operation selbst ist leicht. Die Vorhaut wird vorgezogen und zwischen ein paar durchlöcherten Metallplatten sanft eingeklemmt, dann erfolgt der Durchstich einer hohlen Nadel, in der sich ein Draht befindet. Ist der Draht durchgezogen, werden beide Enden mit einem Lötkolben zusammengeschmolzen.
GENERAL
Man sollte jede Form der Wohltätigkeit und sozialen Fürsorge abschaffen. Das veranlaßt die Armen nur, sich wieder zu vermehren, was nur neues Elend hervorruft. Und wer in menschlicher Schwäche auf die große Zahl der Armen verweist, dem kann man mit der Wissenschaft nur antworten, daß dann eben die letzte Hungersnot ihre Sache nicht gut genug gemacht hat.
DAVID
Es ist wohl geradezu die moralische Pflicht der höheren Klassen, die Armen in ihrem Elend zu belassen und sie im übrigen zu sexueller Zurückhaltung anzuhalten.
MORNAI