Als der Himmel noch nicht benannt war - Dieter Forte - E-Book

Als der Himmel noch nicht benannt war E-Book

Dieter Forte

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Beschreibung

Ein Schriftsteller geht durch eine alte Bibliothek. Er will mehr wissen über die Anfänge des Menschen, über seinen Eintritt in die Welt und die Zeit. Wie war sein Weg von den frühen Höhlenmalereien bis zu den ersten Schriftzeichen? Wann entstanden die ersten Geschichten und aus den Geschichten die Erinnerung und aus der Erinnerung die Vergangenheit? Und wie sahen die ersten Städte aus, wie das fünftausend Jahre alte Uruk, das schon Bibliotheken aus Tontafeln kannte? Dieter Fortes Buch steht am Ende eines lebenslangen Nachdenkens über den Menschen. Wo kommt er her? Was macht ihn aus? Was kann er wirklich über die Welt wissen? Es ist eine bewegende Beschwörung der Sprache, unserer größten Errungenschaft. Wenn wir sie verlieren, verlieren wir die Welt.

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Seitenzahl: 58

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Dieter Forte

Als der Himmel noch nicht benannt war

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Inhalt

WidmungMottiTote träumen nichtDas Universum des MenschenDer Mensch ist seine LegendeEs steht geschriebenEine Geschichte ohne EndeUnd es ward Abend und es ward MorgenEs werde LichtIn der DunkelheitSpurenMensch und TierDie Ordnung der WeltGraffitoDas Bild der WeltDer BibliotheksdienerDas Fundament der WeltIn der FreiheitHieroi LogoiDie NamenIm HolozänPassus Authoris oder Das Kapitel über den MenschenDer DenkerMenschenzeitDer ägyptische SonnenhymnusDie Stadt

Für Marianne

So lacht nur, Freunde,

Wenn ein Maler

Frau und Pferd und Fisch und Vogel

Zu einem seltsam Bild zusammenfügt.

Wenn ein Autor aus Phantasie und Traum Geschichten einer anderen Welt erschafft.

Horaz, Ars Poetica

 

Vergangenes wird oft als wahr berichtet, doch geht aus dem Gedächtnis nicht das Vergangene selbst hervor, sondern die Worte, die es wie Spuren hinterlassen hat.

Augustinus, Bekenntnisse

 

Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung, Ruhe und Gestalt und Inhalt: Ohne diese Glaubensartikel hielte es keiner aus zu leben!

Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Tote träumen nicht

Ein schattenloser weißer Gang, in erinnerungslosem Weiß verschwindend, endlos. Weißes Neonlicht, weiße Türen und Fenster, die Türen verschlossen, die Fenster von außen vermauert. Menschen bewegen sich mechanisch von Tür zu Tür, von Fenster zu Fenster, rütteln an den Türklinken, an den Fenstergriffen.

Stille. Ab und zu ein Aufschrei. Eine brüchige Stimme singt ein Kinderlied, beginnt neu. Die Menschen stehen vor den Türen und Fenstern. Sie warten. Sie suchen die Erinnerung. Sie suchen die Welt, die in ihren Gedanken war, in ihrer Sprache war. Die Sprache ist zerfallen, ihre Gedanken sind verschwunden, stumme Worte, stumme Sätze. Die Welt existiert nicht mehr, nicht in ihrem Leben, nicht in ihren Träumen. Tote träumen nicht.

Das Universum des Menschen

Als der Himmel noch nicht benannt war

und die Erde noch ohne Namen,

als es noch keine Götter gab

und die Schicksale noch unbestimmt …

Enuma Elish, babylonische Schöpfungsgeschichte, viertausend Jahre vor unserer Zeit, sagte der Bibliothekar, der ihm einige schwere Folianten auf den massiven Refektoriumstisch legte, an dem er schrieb.

Und was schreibt Milton im »Verlorenen Paradies«:

Umschauend sahen sie, ach, das Paradies

in Glut und Flammen untergehn.

Doch offen lag die Welt vor ihnen

und ihrem neuen Leben.

Sie gingen langsam Hand in Hand,

einsam ihren stillen Weg.

Eine unglaubliche Geschichte, sagte der Bibliothekar und setzte sich in einen zerschlissenen Voltaire. Die großartigste Erzählung, die man in dieser Welt hören kann. Und sie ist noch nicht beendet. Wir leben noch in ihr. Es ist unsere Geschichte. Uruk, Babylon, Ninive, Weltstädte in einer Pracht, wie man sie nie wieder sah. Goldene Städte der Architektur, der Kultur und der Wissenschaft mit den größten Bibliotheken ihrer Zeit. Die Zivilisation des Menschen.

Die Glocken der nahen Kathedrale übertönten den Bibliothekar. Ein gregorianischer Choral setzte ein, verfing sich in den hohen Bücherwänden. Viele dieser goldschimmernden Lederbände stammten aus einem mittelalterlichen Kloster, dessen Mönche ein Schweigegelübde abgelegt hatten. In ihren Zellen führten sie ein einsames Leben in absoluter Stille. Da war es kein Wunder, dass sie bald die größte und wichtigste Bibliothek des damaligen Reiches besaßen, die nun in diesen heiligen Mauern ihren Platz gefunden hatte.

Im großen Lesesaal arbeiteten an langen Tischen junge Menschen, den Kopf über ein Buch geneigt, da hatte sich in Tausenden von Jahren nicht viel geändert. Er saß mit dem Bibliothekar in einem Kabinett, das durch Glasscheiben vom Lesesaal abgetrennt war, so dass man in einer eigenen Welt in der Welt war. Der Bibliothekar in seinem Sessel, in dem schon Generationen von Lesern sich mit einem Buch in der Hand in ferne Länder und Zeiten geträumt hatten, wie immer in sein Denken versunken. Er selbst zwischen schwergewichtigen Erinnerungswerken am Refektoriumstisch mit seinen phantasievoll ausgemalten Tintenflecken, seinen eingekratzten Anfangsbuchstaben und Jahreszahlen, Hinterlassenschaft vieler Generationen. Insignien, die besagen sollten, ich war hier – wie die Hände auf den Höhlenbildern der Steinzeit.

Man kann es auch machen wie dieser Märchenonkel Hesiod, sagte der Bibliothekar, aus seinem Denken erwachend. Er schwor den Musen, die Wahrheit zu schreiben. Die Musen erlaubten ihm dafür, seinen Namen auf das Manuskript zu setzen, was unter Autoren leider zur Unsitte wurde. Da schrieb nun dieser Hochstapler, der nicht genug Götter erfinden konnte, in seinem Mythenbuch: Zuerst war das Nichts, aus dem das Chaos entstand. Das Chaos zeugte Gaia, die fruchtbare Erde. Die zeugte wiederum Uranus, den sternenüberglänzten Himmel. Dann zeugte sie die schneebedeckten Berge und das wild schäumende Meer. Eros taucht auch noch auf, erzeugt die Nacht und irgendwie den Tag.

Und die sechshundert Götter, die es damals schon gab, beklagten die mühsame Arbeit auf dieser Erde und beschlossen, ein Wesen aus Knochen und Blut zu schaffen, das sie Mensch nannten. Ein Wesen, das ihnen die Arbeit abnehmen würde, um sie zu ernähren, Tempel zu errichten und sie anzubeten.

Durch die Fenster des Lesesaals erblickte man den breiten Fluss, über den eine alte, kunstvoll gebaute Brücke führte. Das andere Ufer lag niedrig, so dass man die rotbraunen Dächer einer alten Stadt sah.

Der Fluss hatte Hochwasser. Die Fähre, die wie ein Weberschiffchen an einem langen Faden hängend den ganzen Tag hin und her pendelte und Menschen verband, so dass sich ein Muster ergab, geriet ins Schwanken. Ein langer Lastkahn trieb quer auf die Brücke zu. Die Fähre konnte gerade noch ausweichen, weil der Fährmann, Strömung und den quer treibenden Kahn abschätzend, sein Ruder herumwarf, so dass die Fähre im Fluss stillstand und der Lastkahn um Zentimeter an ihr vorbeiglitt. Der Steuermann des quer treibenden Kahns warf sein Ruder nun auch herum, gelassen und ohne jedes Geschrei drehte er sein Schiff noch kurz vor dem Brückenpfeiler und schrammte unter der Brücke durch. Eine uralte Kunst, die da von beiden Seiten beherrscht wurde.

Der Bibliothekar erhob sich aus seinem Sessel: Die Zeitalter vergehen wie Asche im Wind, die Bücher bleiben. Und wenn auch die Bibliotheken von den Blindgläubigen zerstört werden, die Bücher verbrannt und die Autoren verbannt, ein Buch genügt, um das Wissen der Welt zu bewahren. Lukrez. De rerum natura. Zur römischen Zeit geschrieben, unterdrückt und verleumdet, über Jahrhunderte vergessen. Bis ein neugieriger Leser in einer abgelegenen Klosterbibliothek das letzte Exemplar fand. Ein Buch, das unser Leben und unser Denken verändert hat, das die Menschen von den Göttern befreite und die Welt mit Vernunft erklärte.

Er stand leicht schief wie ein alter Baum, der sich wieder der Erde zuneigt, ein Mann aus Jahrhunderten, durch die Bücher mumifiziert.