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Dieter Fortes grandioses Buch ist kein Roman, kein Sachbuch und kein Essay, aber vielleicht alles zusammen: Eine poetische Geschichte der Bilder und Bücher, des Lesens und Schreibens, des menschlichen Miteinanders im Lauf der Jahrhunderte. Das alles vor dem Hintergrund der alten europäischen Kulturstadt Basel, in der Dieter Forte seit vier Jahrzehnten lebt – eine Stadt der Künstler und Denker, der Drucker, Kupferstecher und Alchimisten, der Kaufleute und Bankiers, der Wissenschaftler und Narren. Sie kommen aus der Tiefe der Vergangenheit, verweilen vor dem Auge des Lesers, verwickeln ihn in ein Gespräch der großen Fragen und Antworten: Was ist der Mensch? Was macht er mit seiner Zeit – und was die Zeit mit ihm?
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Seitenzahl: 232
Dieter Forte
Das Labyrinth der Welt
Ein Buch
FISCHER E-Books
für Marianne
Noch fehlte ein Wesen, edler als die Tiere
und eher als sie befähigt zu hohen Gedanken,
da trat der Mensch in die Welt,
und während die anderen Wesen
gebeugt zu Boden blickten,
trug er sein Antlitz hoch erhoben
und sein Gesicht betrachtete stolz die Sterne.
OVID, Metamorphosen, In der Verbannung
Man kann über die Torheit sagen, was man will, nur ihr verdanken die Götter und die Menschen das helle Gelächter.
ERASMUS, Das Lob der Torheit, Zu Basel
Die Wahrheit zählt zu den schönsten Erfindungen des Menschen.
MARKUS LÜPERTZ, Kunstakademie Düsseldorf
Da wird es immer größer und ich breite es immer breiter und heller aus, das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so dass ich’s hernach mit einem Blick gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es danach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.
W. A. MOZART
Vorstellungen von Zeit und Abfolge können im Geist des Autors gar nicht existieren, weil kein zeitliches oder räumliches Element die ursprüngliche Vision bestimmt hat. Die ideale Möglichkeit, einen Roman zu erfassen, besäßen wir, wenn der Geist nach Belieben vorgehen und ein Buch so lesen könnte, wie das Auge ein Gemälde wahrnimmt, das heißt, wenn man nicht unbedingt von links nach rechts gehen müsste und sinnloserweise einen Anfang und ein Ende brauchte, wenn man also das Werk wahrnehmen könnte, wie sein Verfasser es in dem Augenblick sah, als es in ihm zu keimen begann.
V. NABOKOV
Doch der Größere bei diesem Buch bist du, mein Leser. Du willst schnell vorwärtskommen, aber dieses Buch ist langsam. Du liebst die gradlinige, pralle Erzählung, aber dieses Buch macht Umwege, schaut nach rechts und links, überlegt, denkt nach und lacht darüber.
MACHADO DE ASSIS
In der dunklen Nacht
wenn die Tage vorbei
das Licht erloschen
das Leben erzählt
bleibt die Geschichte der Menschen
das Wunder des Erschaffenen
ein langes atemloses Schreiben
mit geschlossenen Augen
in der dunklen Nacht.
Die Nacht, in der keine Zeit war, nicht das Rauschen des Meeres und des Windes, in der nur die Nacht war, nicht der Schrei eines Tieres oder der Ruf eines Menschen, nur das Eis und das Feuer, in der Stille der Nacht, die ohne Licht war und ohne Zeit.
In der Dunkelheit ein Ton, anhaltend und gleichmäßig, der Klang einer erwachenden Welt, stark und jubilierend, und in der Dämmerung eine Stimme, aus der Tiefe in die Höhe steigend, ausdauernd und unbeugsam, eine zweite Stimme, die erste umspielend, andere Stimmen, kontrapunktisch in immer neuen Variationen, viele Stimmen, ein Chorus, ein Hymnus, sich findend in harmonischer Vollendung am hellen Tag der Welt.
Das Bild aus der Vorzeit, Urerinnerung des Menschen: Himmel und Erde, Wasser und Land, Sonne und Mond, leuchtende Sterne, hohe Berge, weite Meere, grünende Wiesen, bunte Pflanzen, Bäume mit Früchten, schimmernde Flüsse, dunkle Wälder, Fische und Vögel und die Tiere der Erde unter schwebenden Wolken und einem leichten Wind, der das Gras bewegte und das Wasser, ein in dunklen unfassbaren Zeiten entstandenes Ewigkeitsbild.
Sonne und Mond waren nur Tage und Nächte in steter Wiederholung, wurden zu Sonnenwenden und Mondwechseln und Jahreszeiten, und es begann die Zeit des Menschen, der das Feuer hütete, die Sterne verfolgte, Ebbe und Flut berechnete, die Erde vermaß. Er zog mit den Tieren, bannte sie in der träumenden Dämmerung der Felshöhlen mit Holzkohle, Erde und farbigen Steinen auf felsige Wände, überlebensgroß, in genauen Konturen, malte die Bilder der Jagd, die das sich Überstürzende anhielten und erkennbar machten, erschuf das Bild seiner Welt, das ihm Orientierung war.
Die Bilder, die die Welt darstellten, die das gleichförmige Hell und Dunkel der Zeit zur Lebenszeit machten, wurden zu Ikonen einer vergangenen Verheißung, die der Mensch erinnerungssüchtig verwirklichen wollte. Er grub die Erde um, staute Flüsse durch Dämme, erfand Bewässerungsgräben, damit der Boden fruchtbar wurde für Saat und Ernte, fing Fische und Vögel in kunstvollen Netzen, bändigte die Tiere und züchtete sie als sein Vieh, beschnitt Bäume und veredelte die Früchte, drang in die Tiefe der Berge vor, verschmolz die Erze mit dem Feuer, berechnete die Sternbahnen und den Lauf der Sonne, baute Schiffe und setzte Segel, um den Wind zu nutzen und die Meere zu befahren, gründete Städte mit hohen Häusern, trieb Handel mit fernen Orten und baute seine Zukunft.
Es offenbarten sich dem Menschen erste Zeichen und Hieroglyphen für die Bilder der Welt, er fand Worte dafür, und ein Blinder, der die Schönheit der Welt nie vor Augen hatte, verband sie in einem großen Gesang, ganz unabgelenkt von dem, was um ihn war, und erschuf die Sprache des Menschen, um seine Geschichte zu erzählen. Denn alle Bilder und Worte versuchen nur die innerste Erinnerung wiederzufinden, die für immer in den Menschen sein wird. Die Welt des Paradieses.
Aber bald gab es Tausende Worte in unzähligen Sprachen, und die Bilder wurden undeutbar in ihren wechselnden Formen.
Die weitererzählenden Bildworte fanden Stimmen, die weissagten und die Wahrheit verkündeten. Patriarchen, die in glühenden, tiefsinnigen Worten die alten Bilder neu erzählten. Bekehrte Geschäftstreibende, die in scheinbar klaren Worten und Beweisen aus der Schrift eine Kirche gründeten. Bärtige Propheten, die in märchenhaften Worten die Bilder heiligten. Prediger, die in Zungen redeten und die Bilder verbannten. Seher, die den Untergang der Welt angstvoll ausmalten, Urgläubige, die ihre Worte als göttlich ausgaben, und alle fanden paradiessuchende Menschen, die den neuen Worten glaubten und den neuen Bildern ergeben waren, sie anbeteten, sie umtanzten, bis ihnen die Sinne schwanden.
Die Sprachbilder wurden überwuchert von Zeichen und Wundern, von dunklen Sprüchen aus alter Zeit, auf Pergamenten in Höhlen entdeckt, immer neu interpretiert und geglaubt, bis jeder in seiner Ratlosigkeit und Verzweiflung seine eigene Predigt hielt, um in seinen Worten das alte Bild der Welt wiederzufinden. Und da man es nicht fand, riss man im Zorn die Bilder der Andersgläubigen von den Wänden der Häuser und Tempel, um sie zu vernichten und zu verbrennen, Segenswünsche wurden zum Fluch, Gebete zur Verdammnis, der Acker zum Schlachtfeld. Es herrschte eine babylonische Sprachenverwirrung, man verbeugte sich vor versteinerten Pharaonen, die im Sturmwind der Wüste ihre hohen Töne sangen, verbeugte sich vor den Gebetsmühlen asiatischer Bergmönche, vor den Blutopferaltären schweigender südamerikanischer Dschungelgötter, vor den tanzenden Masken polynesischer Geister, bis selbst die Götterwelten von Zeus und seinen großmäuligen Nebengöttern nur noch sinnlos wiederholte Mythen waren. Das verlorene, vergessene, vergangene Bild der Welt. Und auch König Arthur konnte mit seiner weitgefahrenen, abenteuerreichen, heldenhaften Ritterschar am großen Tisch in Camelot nicht mehr die Sagen und Märchen und Fabeln deuten, verstand im labyrinthischen Durcheinander der Glaubensworte und Götterbilder die Welt nicht mehr und versank in Einsamkeit, zog sich nach Avalon zurück, um später vielleicht einmal wiederzukehren, wenn alles ein wenig klarer war. Nur noch die Herolde traten auf, verkündeten von alters her dreimal die Wahrheiten der jeweiligen Obrigkeit, und die Barden und die Jongleure, professionelle Geschichtenerzähler, die aus dem Gedächtnis redeten, verwoben die alten Geschichten aus der Mythologie des Menschen mit den neuen Geschichten aus der Historie des Menschen, verknüpften sie zu einem labyrinthischen Bildteppich, der nicht zu deuten war, denn keiner kannte mehr den genauen Ablauf des Geschehenen, keiner kannte mehr die Wahrheit.
Das Buch war ein Labyrinth aus Labyrinthen, die aus Labyrinthen erwuchsen, aus endlosen Mäandern, Spiralen, Kreisen und Linien, deren Ende ein neuer Anfang war. Ariadnefäden aus geheimnisvollen Mustern, in denen alles nah und fern zugleich war, Geburt und Tod, Licht und Finsternis, Welt und Geist. Mosaike und Ornamente, die sich im Auge des Betrachters immer neu zusammensetzten, Fragmente, die das Einzelne und das Ganze umfassten, ohne dass einer bestimmen konnte, was das Einzelne und was das Ganze war. Eine Komposition aus Bildern und Worten, die das Chaos formte in der erfindenden Ordnung des Menschen.
Kostbar gearbeitete Majuskeln verbanden die alten geglaubten Bilder mit den geschriebenen Geschichten der Menschen, führten triumphierend Worte und Sätze an, die die stummen Ikonen umrahmten und mit den Gedanken der Menschen verbanden. Denn das von Menschenhand Geschriebene befragte nun die Welt und interpretierte die alten rätselhaften Bilder, und die Antworten ergaben neue Fragen und neue Gedanken, die man wiederum aufschreiben musste, und nichts existierte mehr ohne das Geschriebene, das Gedachte und neu Gewusste anstelle der nur geglaubten Urgeschichten. Der Mensch wollte alles schwarz auf weiß in einem Buch haben und schrieb nun seine Geschichten selbst, wobei nicht immer alles gut war, denn die in den alten Farben glühenden Bilder erzählten ihre Mythen weiterhin, so dass manch einer vor Schreck über die neuen Wahrheiten wieder in stammelnde Worte ausbrach. Aber das Geschriebene war in der Welt und ergab eine neue Balance, eine Landkarte der Gleichzeitigkeiten, der erkennenden Veränderungen, des immer wieder neu erforschten Wissens, ergab ein anderes Bild der Welt, die offene Ordnung des gestaltenden Menschen, die nicht mehr unabänderbar war.
Die Labyrintheure waren Spezialisten. Der älteste Miniator entwarf die ineinander verschlungenen Labyrinthe, im Scriptorium malten die Schreiber ihre Buchstaben, die Miniatoren Initialen und Kapitelzeilen, Ellipsen, Oktogone und Rhomben, die den Text umschlossen, ehe die Illuminatoren ihre Miniaturen zeichneten, Rosetten und Palmetten, Fische und Vögel, Drachen, Löwen und seltsames Getier zwischen lesenden und schreibenden Heiligen, und danach erst, in festgelegter Reihenfolge, trugen die Ikonenmaler ihre verschwiegenen Ikonen auf. Gemeinsam zogen sie von Kloster zu Kloster, von Universität zu Universität, um den geheimnisvollen Inhalt der alten Schriftrollen in den neuen Büchern durch ihr Handwerk zu ordnen und mit der einsehbaren Chronik des Menschen zu ergänzen. Seite für Seite stellten sie Korrespondenzen her zwischen den Worten und den Bildern, erfanden Kontraste und Hervorhebungen, gestalteten Übergänge, verbanden Unvereinbares, erschufen Kunstwerke.
Und so entstand aus den alten unverstandenen Glaubensworten, aus den nicht mehr deutbaren Bildern, aus der dunklen Unendlichkeit die helle Zeit des Menschen. Aus den verstümmelten Bildworten entstand die klare, lebendige, logische und doch so farbige Sprache des Menschen, in schön gestalteten Sätzen, in den nun für immer aufgeschriebenen und wiedergelesenen Geschichten, würdig der alten heiligen Worte, denn die Geschichten der Menschen sind das Leben der Welt, und seine Erzählungen die immer erneute Interpretation.
Geschichten von Völkern und Stämmen, vom Leben in den Städten und auf dem Land, vom Deichbau, vom Schiffbau, von der Sternenkunde, von Abenteuern auf See und zu Land, Bauerngeschichten und Rittergeschichten, Geschichten von schlechten und guten Ernten, von fremden Ländern und Kontinenten und großen Meeren, von unbekannten Völkern und Tieren, von den Träumen der Nacht und den Abenteuern des Tages, von den Sagen und Gebräuchen der Alten, von den Geschäften und Eroberungen der Jungen, Geschichten von Kriegen und Feldzügen und dem ersehnten Frieden in seiner idealen Gestaltung.
Dokumente, Berichte, Erinnerungen, Vorstellungen, Phantasien, Tag- und Nachtträume, Utopien und wissenschaftliche Gedanken, Berechnungen und Landkarten und Baupläne, Aufzeichnungen und Darstellungen des Gewussten und des Gekonnten. All das erschuf den Raum des Menschen, eine Welt, die der Mensch in seiner Sprache erforschte, auf der Suche nach der Wahrheit, die so vielfältig war. Die Sprache wurde ein Spiegel aller Ideen über Gott und die Welt, über Freiheit und Gesetze, Reichtum und Macht, Wahrheit und Lüge, Glaube und Unglaube, Liebe und Hass, Recht und Unrecht, Krieg und Frieden, Gewalt und Mitleid, Ehrlichkeit und Falschheit, Ängste und Lüste, Habgier und Bescheidenheit, ein Spiegel dieser in allen Farben des Lebens explodierenden Menschenwelt.
Und als der Einzelne ein Bild malte, ein Gedicht schrieb, ein Lied sang und stolz und laut und vernehmlich sagte, das ist mein Bild, mein Gedicht, mein Lied, da war aus der in einem Wasser schwimmenden flachen Scheibe der Erde endgültig eine im freien Raum schwebende traumhaft schöne Kugel geworden. Jeder hatte jetzt sein Bild, sein Gedicht, sein Lied von der Welt, und in den Büchern, Seite auf Seite folgend, sah man all die Farben, Buchstaben und Noten, und zusammen ergaben sie ein Muster vom Leben des Menschen. Und kein Gott zürnte, kein Prophet warnte, kein Turm von Babel brach zusammen, die vielen tausend Sprachen hatten Platz in ebenso vielen Büchern und standen in Regalen nebeneinander und ließen sich übersetzen zu einem einzigen Weltenbuch.
Denn jeder Maler, Erzähler, Musikant versuchte unbewusst, in seinen Bildern, Geschichten und Liedern die tief in den Menschen verborgenen alten Bilder mit seinen Kräften, seiner Phantasie und seinen Gedanken noch einmal zu erschaffen: Das Bild der Welt als Paradies, das immer erneut in den Menschen den Wunsch auslöste, es wiederzufinden, in Farben, Worten und Tönen. Damit wandelte sich das Bild, wurde zum Bild des Menschen, so dass keiner mehr sagen konnte, wie das ursprüngliche Bild ausgeschaut hatte. Es gab nun unzählige und ständig sich verändernde Bilder und Geschichten und Lieder, und so ergab die gestaltete Vielfalt Einzelner das neue Bild der Welt.
Was unbenannt ist, existiert für uns nicht.
Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes.
BRUNO SCHULZ, Die Zimtläden
Was mich angeht, so kenne ich keine anderen Pfade der Schöpfung als jene, die Schritt für Schritt, das heißt, Wort für Wort, durch den Fortgang des Schreibens selbst gebahnt werden.
CLAUDE SIMON, Der blinde Orion
Das sich unaufhörlich ausdehnende Labyrinth der Bücher, ein unvergängliches Universum, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen enthielt, erschuf die Welt durch Worte. Die Welt in der Anschauung zu bilden war die Wahrheit der Bilder, denn ein Bild sieht eine andere Welt als das Wort. Die Sprache liebt die Offenheit der Assoziationen und Reflektionen, die phantasievolle Metamorphose und die logische Analyse, ein Wort erzeugt das andere, und so steigt sie aus dem Nebel der Vorurteile, des Aberglaubens und Unwissens in das Licht der Vernunft und des Verstehens der Welt. Eine Welt, in der als Kontrapunkt die Bilder von Magie und Mythos erzählen, von menschlichen Dunkelheiten, den Gedanken der Nacht und ungelösten Rätseln.
So öffneten sich die alten Bücher immer mit einem Bild, geheimnisvoll, unerklärbar, nicht zu deuten, wie eine Warnung vor den allzu einfachen Worten. Bild und Wort, Mythos und Logos waren noch eins, spiegelten die Welt, denn die Erinnerung und das Wissen entstehen aus dem Zusammenspiel von Bild und Wort.
Schlagen wir die Chronik einer sehr alten Stadt auf, um uns dem Leben der Menschen zu nähern, denn die Stadt ist ihre hervorragendste Erfindung, die allen anderen Erfindungen vorausging, ein Fixstern dieser Welt, ohne Städte keine Bücher und Bilder. Die Chronik enthält auf der ersten Seite eine Ikone der Weltschöpfung, eine Erinnerung an die Vorzeit des Vergangenen, ein Acheiropoieton. Sonne und Mond umkreisen als teuflische Drachen mit feurigem Atem und glühenden Augen eine kleine goldene Erdscheibe in einem silbernen Meer. Auf einer purpurnen Wolke eine helle Stadtmauer, bewacht von Basilisken und Lemuren. Über allem schwebend ein Engel in verblasstem Lapislazuli, wie der Schatten eines Vogels über einer Phantasiewelt. Im Vordergrund eine Marmorsäule neben einer Sphinx, die die Bruchstücke kaum lesbarer Buchstaben in kufischer Schrift bewacht, in der Übersetzung: Die Welt … am Tag des … Finsternis und Verzweiflung … aus der Höhle auf den Berg … das Licht der …
Diese unklare Weissagung war die Pforte zur Erkenntnis, das schwere Tor zum Wissen. Doch es gab auch Neugierige, die das Buch von hinten nach vorne durchstudierten, die Bilder im Buch umgingen, nur den Buchstaben folgten. Man nannte sie die Unbelasteten, später auch die Fortschrittlichen, eine revolutionäre Partei, die die Toten den Toten überließ, um unbehelligt von der leidigen Vergangenheit die glückverheißende Zukunft zu erobern. Die Bildergläubigen, später die Traditionalisten genannt, sahen dagegen das wahre Glück in der Pflege des Alten und empfanden die bedrückende Gegenwart nur als unvermeidbare Nachgeburt der gloriosen Vergangenheit.
Man sollte die Geheimnisse alter Schriften als Geheimnisse bewahren. Sehr oft sind unerwartete Entdeckungen doch allzu unerwartet. Die Weissagung, bisher nur ein Sprachrätsel, verfeindete die Menschen. Manch einer fiel auf die Knie und erstarrte im Gebet, wenige standen aufrecht und dachten nach. Was bedeutet Höhle zu Berg? Fortschritt der Menschheit, sagten die Unbelasteten, Untergang der Welt, sagten die Bildergläubigen. Goldene Erdscheibe in einem silbernen Meer? Das Paradies! Die Insel der Glückseligen! Drachen, Basilisken und Lemuren? Krieg und Pestilenz! Böse Zeiten! Grauenhafte Schrecken! Die einen sahen ein Goldenes Zeitalter, in dem Vernunft und Wissen herrschten, die anderen berechneten über den Stand der Sterne auf dem Bild das Alter des Engels und leiteten davon Tag und Stunde des Weltuntergangs ab. Man verbreitete sich in den unsinnigsten Deutungen. Flugblätter wurden geschrieben, Kupfer gestochen. Utopie wurde zum Lieblingswort vieler, aber die meisten phantasierten von der Apokalypse. Die Welt wurde zum Entwurf in den Köpfen der Menschen, wobei sie wie immer die Dinge allzu sehr nach ihrer Weise deuteten, weit entfernt von ihrem wahren Sinn. Intelligente Staatswesen und großartige Musterstädte wurden geplant, andere entwarfen siebenköpfige Ungeheuer, einstürzende Himmel und tobende Meere, man stritt sich um Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, verlor sich in seinen Worten. Überall Ratlosigkeit, was tun? Das Bild verlangte unbedingten Glauben, die Worte stellten Fragen. Einige wollten das Buch verbrennen, andere das Bild verbrennen, aber alles, was man über das Bild wusste, stand in dem Buch, und wenn das Bild im Buch heilig war, war auch das Buch heilig, ein Gegenstand der Verehrung, mit Sorgfalt zu behandeln. Mehr konnte man nicht tun. Man hatte die Überlieferung der Vergangenheit, man teilte mit ihr die Gegenwart, und keiner wusste, auch nicht nach dieser Weissagung, was die Zukunft brachte.
Der erste Mensch, der einen Holzpflock in die Erde schlug, an einer Schnur einen Kreis um den Pflock zog und durch die Teilung des Kreises ein Halbrund und Dreiecke und Vielecke gewann, nannte sich Architekt und wurde wie ein Schöpfer verehrt. Das Wissen bestimmte von nun an den Raum des Menschen, die Zahlen lösten die schicksalhaften Götter ab, wurden zur erklärbaren, verstehbaren Welt des Menschen, zur Ordnung des Gewussten. Die vernünftige Vier löste die göttliche Drei ab, in den vier Himmelsrichtungen Ost, Süd, West, Nord, in den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser, Erde, den vier Jahreszeiten, den vier Temperamenten und den vier klassischen Fakultäten der Wissenschaft. Aus dem gleichförmigen Ablauf der Tage und Nächte, der ungezählten Monate und Jahre, entstand die Zeit. Die Aufteilung des unendlichen und ewigen göttlichen Kreises, in dem der Mensch bisher lebte, vermaß das Land, ermöglichte die Städte und die großen Bauwerke. Die Welt war der Mensch mit seiner Individualität, seinen Erkenntnissen, seiner Erfahrung und seinen Gedanken, gestützt auf die vier Säulen der menschlichen Ordnung, die Bibliothek der Bücher, das Museum der Bilder, die Universität des Wissens und das Rathaus für die Politik. Daneben gab es vier Unterordnungen, die öfter als gedacht die eigentliche Ordnung darstellten, der Marktplatz, das Wirtshaus, das Theater und die Kathedrale. Und für die Bürger dieser Welt die vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit. Die Narrheit fand in dieser vernünftigen Ordnung keinen Platz, vier ist nun mal vier, war aber die liebenswerteste Eigenschaft des Menschen, die so manche große Idee ins Absurde führte, aber davon später.
Im Anfang war der Friedhof, eine Stadt entstand um die Gräber der Toten als Marksteine des Vergangenen und Erinnerung an alte Rituale, aus denen die Tradition entstand. Natürlich gab es auch ein Wirtshaus, im Tod feierte man das Leben. Neben und auf den Gräbern, die Stadt wuchs rasch, der Marktplatz für die Karren der Bauern, die Tische der Händler und die Bühne der Gaukler.
Eine Kathedrale war immer ein zeitloser Bauplatz, Hypothek vieler Generationen, Hoffnung der Gebete. Doch nur aus dem Gebet, ohne mathematisches Wissen, konnte man kein Gotteshaus errichten, ohne Klarheit über Osten und Westen und über den rechten Winkel wurde kein Fundament gelegt, das Gottvertrauen der Dombaumeister war begrenzt.
Ein Haus für die Bibliothek war vorhanden, die Bücher, die die Kenntnisse aufbewahrten, mussten einen sicheren Platz haben, oft auch ein Museum, noch privat, Glück eines Sammlers, dazu eine erste Schola für Schreiben und Rechnen, Grammatik und Rhetorik. Griechisch und Latein, gelegentlich sogar ein Rathaus, aber in der Regel tagten die Ratsherren noch in der halbfertigen Kathedrale unter einem Notdach, sogar die Markttische wurde dort bei bösem Wetter aufgestellt, auch die Notare, Makler und Geldwechsler, die Kaufherren und Bankiers verkehrten dort, errichteten ihre Börse. Handel und Wandel erblühte vor Gottes Angesicht.
Wie lange man an der Kathedrale baute, war nie herauszufinden. Folgt man den in Gottes Namen in glaubensstarkem Latein und karolingischer Fraktur geführten Kirchenbüchern, war das irdische Paradies der Gläubigen über Jahrhunderte und für Generationen ein unfertiger Bau mit wechselnden Dombaumeistern, wechselnder Finanzierung, wechselnden Göttern, wechselndem Kunstgeschmack. Manchmal bereits bis zur halben Höhe errichtet, wurde die Ruine, denn eine solche war sie im Bewusstsein der Menschen, in nüchternen Zeiten wieder abgerissen, um Steine für die dringend benötigten Häuser der aufblühenden Stadt zu gewinnen, wenn nicht sogar ganz und gar zerstört, um im Kriegsfall, bei einem rasch heranrückenden Heer, die Quader zur Verstärkung der Stadtmauer einzusetzen.
In Notzeiten, wenn Krankheit und Armut herrschten, beschloss man in feierlichen Gelübden, falls man mit dem Leben davonkomme, Hungersnot und Pest weichen, die fremden Heere abziehen würden, den Wiederaufbau der Kathedrale, an der man sich versündigt habe, zog mit reichlich Chorgesang und unzähligen Tedeums vor die Ruinen und war zur Freude der Priester wieder gläubig. Allerdings bedurfte es zur Ausführung der guten Absichten wieder Zeiten, die mit Idealen gut ausgestattet waren, was Wohlhabenheit voraussetzte, also steigende Geschäftsabschlüsse, bei denen man einen gewissen Prozentsatz an Goldgulden, Goldtalern, Golddukaten und was es da noch an goldenem Geld gab, in die Schatullen der Domherren legen konnte, für ein allseits gutes Gewissen, gesegnete Geschäfte und zum Wohle der lieben Vaterstadt, wie manches Testament lautete.
Aber das waren dann auch Zeiten mit viel Zank und unendlichem Streit unter den Baumeistern, die nun plötzlich statt eines Turms deren zwei oder sogar drei haben wollten, selbstverständlich mit den besten Glocken, mit farbigen Glasfenstern bis zum Himmel, mit Portalen, die mit Gold und Silber beschlagen waren, Marmorböden als kostbar ausgelegte Mosaiken, und natürlich eine reichliche Verzierung der Fassade. Bei so viel Wirrwarr streikten auch gerne die Handwerker der Dombauhütte. Das beruhigte sich erst, als wieder das Geld ausging oder Teile der Kathedrale durch Baufehler, die Mathematik war noch mangelhaft verbreitet, oder allzu filigrane und mit Verzierungen überlastete Mauern einstürzten, Marmorsäulen Risse bekamen, Gold und Silber sich als Kupfer und Blei herausstellten und die Glasfenster zersplitterten. Immer war es ein Glück, wenn man die Glocken noch nicht gegossen hatte, sie hätten so manchen Baumeister unter sich begraben. Das Berechenbare der neuen Welt enthielt etwas Unberechenbares. Das ließ in der Zukunft Überraschungen erwarten.
Man vertraute erneut der Hoffnung, erinnerte sich an das Schicksal der Menschheit, das aus Neuanfängen bestand, Vollendung war ein göttlicher Anspruch, für den Menschen auf Erden unerreichbar. Neuanfang war das Los des Menschen, sein Schicksal hieß Annäherung an die Vollendung, und so begann man in aller Schlichtheit, durch Erfahrung demütig geworden, mit einem einfachen Neubau ohne jeden Schmuck, plante vorerst auch nur einen Turm, nicht sehr hoch, eine kleine Glocke, vielleicht, so Gott will, einige schmale Glasfenster, statt Marmor Steinböden, und man redete sich ein, dass das alles viel gottgefälliger sei. Aber bald regten sich die alten Träume von Glanz und Größe, eine bescheidene Kirche ist keine Kathedrale, was sollten die umliegenden Städte denken. Kaufherren kamen aus Rom und Paris und Moskau, berichteten von glanzvollen Bauten, war man nicht auch eine reiche Stadt? War man nicht selbstbewusst genug, eine Kathedrale zu errichten? Wollte man nicht den anderen zeigen, wer man war? Man muss handeln, sagte der Bürgermeister, der ein ungläubiger Spekulant und Kriegsherr war. Also kaufte man Reliquien, erklärte sich zur Pilgerkirche, lockte damit Pilgerscharen an, die gegen eine bescheidene Gebühr die Reliquien küssen durften, auch mussten sie übernachten und verköstigt werden, gingen nicht ohne ein Andenken davon, die Schatullen der gedachten Kathedrale flossen über. Keiner erlebte je die Vollendung der großen Pläne, aber es wurde jedem als großartige Tat angerechnet, Geld herzugeben für etwas, das seine Augen nicht mehr sehen sollten.
Schrift und Bild waren über Jahrtausende eins, Zeichen auf Papyrus und Tontafeln im Ritual des Totengedenkens, das die erste Erinnerung war, Zeichen, die die Zeit ordneten, die Welt in ein Davor und Danach unterteilten.
Über Jahrhunderte in Büchern zusammengebunden, erzählten sie gemeinsam, Seite um Seite, die Geschichte des Menschen, denn erst durch die Spiegelung der Worte im Abgebildeten wurde Erinnerung unauslöschbar vor Augen geführt: in den Illustrationen realer menschlicher Tätigkeit, in den Miniaturen, die die Schreibenden und Malenden bei der Arbeit an den Büchern zeigten, den Sinn der Schrift und der Bilder ausdeutend, umgeben von verschlungenen Arabesken aus Minuskel und Majuskel, in Fraktur und Kursiv, in Insular, Unzial und Kurrent, das Labyrinth der Welt in das Gedächtnis der Welt verwandelnd, in dem noch alles eins war, das Heilige und die Welt des Menschen, die Ikonen und die Chroniken des Lebens, die Gedanken des Tages und die Phantasien der Nacht.
Doch die Einheit zerbrach. Der Mensch entdeckte sich selbst, ein unbekannter und unbenannter Kontinent, kam ins Grübeln, machte Notizen und sah nachdenklich und besorgt auf das menschliche Treiben. Er trat als Persönlichkeit auf, konnte nun lesen und schreiben, war nicht mehr angewiesen auf lautes Predigen, Dozieren und Vorlesen, las selbst im stillen Kämmerlein, schrieb selbst Briefe, Tagebücher, Memoiren, entwarf hingebungsvoll ganz eigene Worte und setzte vor alle seine Worte ein Ich: Ich bin es, dessen Herz in Schwarz gekleidet geht. Ich machte an diesem Johannistag ein gutes Geschäft und gewann dreißig goldene Gulden. Ich, Gregor Bächlin, erster Bürgermeister, Domherr und Zunftoberster, werde die Geschichte meines Hauses berichten, mit dem ausdrücklichen Vorsatz, nur die Wahrheit zu schreiben.
Der neue Mensch wollte sich aber nicht nur im Spiegel seiner Texte erleben, er wollte seine Person auch als Bildnis der Nachwelt überliefern und holte deshalb die Maler ins Haus: Porträt mit Gattin, die gute Wohnstube, das Haus, der Grundbesitz, Felder und Wälder und Fischteiche. Das Bild des Menschen in seiner Welt, kunstvoll gemalt, hatte unverhofft Vorrang vor allen anderen Künsten, und die abbildenden Maler eilten gut gekleidet von Auftrag zu Auftrag, malten schnell und geschickt mit vielen Gehilfen und Schablonen.
Und so schieden sich Bilder und Worte wie Wasser und Land, wie Himmel und Erde auf der Suche nach der Wahrheit. Die Einheit in der Vielfalt löste sich auf in Gegensätzen und Gegenthesen, die Bilder befreiten sich von der Enge der Buchstaben, der Magie des Wortes, den langen Sätzen, verließen das Labyrinth sich wiederholender, ineinander verflochtener Geschichten, sie wollten die Welt mit ihren Mitteln darstellen, nur Farbe und Linien und Perspektive sein.