Auf der anderen Seite der Welt - Dieter Forte - E-Book

Auf der anderen Seite der Welt E-Book

Dieter Forte

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Beschreibung

Deutschland in den fünfziger Jahren: Ein junger Mann reist mit Zug und Schiff in ein Sanatorium auf einer entlegenen Nordseeinsel. Er ist lungenkrank, jeder Tag kann der letzte seines Lebens sein. Während das Land sich hoffnungsvoll und blind für die Vergangenheit dem Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hingibt, scheint in der zauberbergartigen Isolation der Heilanstalt die Zeit stillzustehen. Umgeben von den steten Naturgewalten des Meeres und des Windes, geht es für die Bewohner des Sanatoriums »auf der anderen Seite der Welt« nur noch um Leben und Tod – und um ein erinnerndes Erzählen, das nicht enden darf: Ineinanderverwobene Erinnerungen an vergessene Schicksale und an eine ferne Welt von neuen Aufsteigern und alten Opportunisten, Glückrittern, Außenseitern und »Originalen«, die ihre Lebensnischen suchen. Mit diesem ungeheuren Roman erschafft Forte einen erzählerischen Kosmos, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ohne Gleiches ist. Mit überwältigender Sprachmächtigkeit, mit Scharfblick, grimmigem Humor und zutiefst humanistischem Impetus malt Forte das detailreiche, vielfarbige und umfassende Panorama der deutschen Nachkriegsgesellschaft - ein Triumph des Erzählens und der Erinnerung.

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Seitenzahl: 397

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Dieter Forte

Auf der anderen Seite der Welt

Roman

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Inhalt

WidmungMottoDas Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]Das Meer lag in [...]

Für Marianne

Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts

und dem Schmerz, wähle ich den Schmerz.

Faulkner

Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief.

Im Moment des Todes erscheine das Leben noch einmal vor dem inneren Auge, in sekundenschnellen und doch statischen Bildern, so die allgemeine Annahme, und das galt auch für die letzten Monate einer zum Tode führenden Krankheit, in einem geduldigen, gelassenen Abschiednehmen vom Leben, das aus verblassenden Erinnerungen bestand, die sich unbemerkt von einem entfernten, vor dem nahenden Tod noch einmal aufleuchteten mit einer Intensität, die im Leben nicht zu finden war, als diese Erinnerungen unter der Gleichförmigkeit der Tage und Nächte wie unter einer grauen Aschenschicht verschwanden und erst durch den nahenden Tod ihre bleibende Gültigkeit erlangten.

Diese Gedanken überfielen ihn, als er, das Zugfenster schließend, von der wie gestellt wirkenden Gruppe Abschied nahm, die mit ihren Taschentüchern winkte und letzte, angesichts der Umstände sinnlose Ratschläge schreiend wiederholte. Ein kurzes, hastiges Durchatmen der anfahrenden Lokomotive, schnell hintereinander, fast rau. Der Zug fuhr mit einem Ruck, der alle Reisenden durchschüttelte, an, ruckte noch mehrmals, die Lokomotive schnaufte und stieß weiße Dampfwolken aus, die sich in der Luft verzettelten, die Fenster wurden von den Reisenden hochgestoßen, ein entschiedenes Klappen den Zug entlang. Vor den geschlossenen Fenstern liefen Frauen und Männer in dunklen, langen Mänteln mit dem Zug, wollten den Moment der Trennung, den endgültigen Abschied, noch einmal hinauszögern, ein aussichtsloser Wettlauf, den sie nach einigen Metern verloren. Sie verschwanden, obwohl sie gleich schnell liefen wie vorher, denn sie waren nun in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, ein Traumbild, laufende Menschen, die auf der Stelle standen, die man in der Dunkelheit nicht mehr auseinanderhalten konnte, sie standen und entfernten sich in einem, ein Bild, das sich in der Unschärfe verlor, die Gesichter weiße Punkte, dann nichts mehr, und wenn er sich später an diesen doch wichtigen Moment in seinem Leben erinnerte, blieb nur ein in der Nacht versinkendes Familienbild auf dem Bahnsteig eines Großstadtbahnhofs.

Der Zug verschob den Bahnhof in einer langgezogenen Kurve, die Bahnhofsuhr auf dem kaum noch erkennbaren viereckigen Turm aus rotbraunen Ziegeln rutschte in die Mitte des Fensters, leuchtende römische Ziffern, zwei schwarze, zugespitzte Zeiger, freischwebend über den nächtlichen Dächern, ein vieläugiges Ungetüm mit steil erhobenen drohenden Schwingen im Anflug auf die schwarzen Wachttürme der ausgestorben wirkenden Stadt, Hochhäuser, auf denen farbige Neonbuchstaben künstliche Worte mit unbekannter Bedeutung schrieben, Leuchtfeuer einer sich entfernenden Welt, deren Territorium er verließ. Er kannte das Bild, dieses feststehende Abschiedsbild. Bei jeder Abfahrt zog die Uhr, deren Zeit für ihn nun endgültig nichts mehr bedeutete, ihren gewohnten Kreis in die Mitte des Zugfensters, diesmal vielleicht zu einem ewigen Abschied, die Uhr, die er zerstört kannte, ohne Zeiger, mit erloschenen und abgebrochenen Ziffern, und die für ihn ein sinnlos wieder aufgebautes Perpetuum mobile war. Ein Symbol dafür, dass sich alles im Kreis drehte und alle menschlichen Bemühungen auf ewig im Stillstand endeten.

Der Zug fuhr schneller, Häuser zuckten vorbei, ihre grauen Mauern wurden zu einem Wall, der den Zug umschloss, und während die Winkenden auf dem Bahnsteig sich jetzt wohl wieder der Stadt zuwandten, in Gedanken wieder in ihrem normalen Alltag waren, fanden die Reisenden sich mit ihrem Schicksal ab, zunächst einmal Reisende zu sein. Die Nachtzüge waren immer überfüllt, man sparte auf langen Strecken eine Übernachtung, die Menschen drängten, im Kampf um einen Platz, in das Abteil; bis das Gepäck verstaut war und die Sitze verteilt, brach ein kleiner Krieg aus: Das ist nicht mein Koffer. Das ist Ihr Koffer. Ich kenne meinen Koffer. Das ist mein Sitz. Da liegt mein Mantel. Ich hatte meinen Mantel hierhergelegt. Das ist nicht Ihr Platz. Könnte der junge Mann seinen Koffer – so geht das doch nicht … Der junge Mann mit dem Koffer, das war er. Und da in seiner Familie alles zu groß gekauft wurde, hatte er den größten Koffer, den man in der Stadt finden konnte, auf Raten gekauft bei Defaka, dem Deutschen Familienkaufhaus des Herrn Horten, der sich nach dem Krieg unverhofft im Besitz vieler Kaufhäuser wiederfand, die früher einen anderen Namen trugen, und der diesen Schatz wie Hans im Glück großzügig wieder verschenken wollte – so ungefähr stand es in den Anzeigen seines Hauses. Der Koffer war ein Monstrum, das er nur mit aller Kraft und der Hilfe anderer bewegen konnte, ein kleiner Schrank aus rotbraunem blank poliertem Vulkanfiber, das von drei Schlössern, vier um den Koffer genagelten Holzleisten und dem Hosengürtel seines Vaters zusammengehalten wurde. Ein Auswandererkoffer, ein Überseekoffer, der in keine Gepäckablage passte, so dass er immer in sich ruhend zu seinen Füßen stand, und ihn zwang, schräg zu sitzen. Er enthielt alles, was er besaß, dafür war er eher wieder klein, unter dem Deckel hatte seine Mutter ein Wäscheverzeichnis eingeklebt, in dem sie in ihrer schönsten Wäscheverzeichnisschrift alles notiert hatte, was sie in den Koffer packte, so dass er jederzeit genau wusste, was ihm gehörte.

Er saß in einem Abteil dritter Klasse auf einer dieser gelblichen, ehemals lackierten Holzbänke, schmale, angestoßene Holzstäbe auf eine schwungvolle Eisenkonstruktion geschraubt. Ein sehr junger Mann, das Leben überhaupt noch vor sich, so hätte ihn ein Mitreisender beschreiben können, in einem etwas zu großen Mantel aus hartem Stoff, gekauft mit dem einzigen Wunsch, er möge endlich dicker werden, nicht diese Bohnenstangenfigur, diese indische Hagerkeit, wie alle sagten. Er überließ sich der Fahrt, ohne seine Gedanken zu finden, mit denen er die Situation, lange angekündigt und mit viel Aufhebens realisiert, für sich erfassen konnte. Denn das vorbedachte Geschehen einer Zugfahrt und die tatsächliche Zugfahrt waren etwas Verschiedenes, wie auch die kommende Zeitlosigkeit, all die ungezählten Monate oder Jahre, eine tödliche Ewigkeit sein konnten, keiner wusste es so genau. Also war es besser, die Gedanken erst einmal ruhen zu lassen, denn da war allzu viel noch unvorstellbar, vor allem die Rückkehr, von allen Beteiligten am wenigsten eingeplant, und er wusste nicht, ob er sich dieser Bewertung seiner Situation anschließen sollte, obwohl sie auf eine merkwürdige Art einfach erschien, weil eben alle seinen Tod erwarteten. Der Abschied von der Welt war für ihn eine oft geübte Kunst, die Rückkehr erheblich schwieriger, auch das gehörte zu seiner Erfahrung, und ob er sich dem Ablauf der Dinge noch einmal entgegenstellen sollte, eine unbeantwortete Frage, ein langandauernder, qualvoller und einsamer Kampf über Jahre hinweg, dazu noch ohne Gewissheit oder auch nur Aussicht auf ein dem Leben zugewandtes Ende.

Das Schnaufen der Lokomotive, kaum noch zu hören, verging im ruhigen Rattern der Räder, das ihn in ein sanftes Schaukeln versetzte. Der Zug tauchte in Städte ein, ein Gewirr von zusammenlaufenden Straßen und ineinanderverschachtelten Türmen und Häusern, die sich, im letzten Licht unter heraufziehenden schwarzen Wolken, zu einem dunklen Gebirge zusammenschlossen. Es war kalt. Ein eisiger Luftzug durchwehte das Abteil vom undichten Fenster zur klappernden Tür. Alle behielten ihre Mäntel an, saßen da wie in Kokons, auch er hockte eingehüllt in seinen Mantel wie in einem Panzer, die Füße auf dem Koffer, den Kopf an die harte Holzwand gelehnt, in die Menschen ihre Initialen, ihre Vornamen, irgendein Wort, verbunden mit einem Herz, einem Kreuz oder einem rätselhaften Zeichen, eingekratzt hatten. Reisende, die sich verewigen wollten, Unbekannte, die hier eine Erinnerung hinterließen, in diesem Abteil weiterlebten, während vor dem Fenster Raum und Zeit eine bedrohliche Einheit bildeten. Die Körper der Reisenden in den engen Sitzen fielen gegeneinander, verwandelten sich in unförmige Klumpen, die aufeinanderhingen; nach hinten gekippte Gesichter mit offenen Mündern und geschlossenen Augen, eingesunkene Leiber, deren Köpfe, schwerer werdend, den Körper immer tiefer zogen. Die blaue, abgedunkelte Nachtlampe an der Decke des Abteils überzog alle mit einer Leichenblässe, ein immer tiefer ineinanderfallender Leichenberg aufgedunsener Körper, schwammiger Gesichter, wie hingerichtet in einem Krieg.

Die Stille nach dem Abschied, wenn das Schweigen der Reisenden in Schlaf überging, in ein vielfaches Atmen, war schwer zu ertragen, auch das ein wiederkehrendes Gefühl; die vertrauten Stimmen verstummt, das Rattern der Räder in ein gleichmäßiges Rollen übergehend, näherte sich die anfangs so sensationelle Bewegung in ihrer andauernden Gleichförmigkeit dem Stillstand. Nächtliche Wolken segelten schlaftrunken in Richtung der fernen Städte, hochgetürmte Karavellen auf der Suche nach einem Ankerplatz. Verirrte Vögel in der schmalen Helle des Horizonts, kreisend versanken sie in den aufsteigenden Schatten der Nacht. Stille Flüsse im ersten Sternenlicht, die silbernen Streifen der Lichter über schlafenden Schiffen.

Sterne begleiteten jetzt den Zug, auch der Mond hatte sich auf die Reise gemacht und kippte in einer Kurve gefährlich auf die andere Seite. Der Zug schoss vorwärts auf einer um sich selbst und in wechselnder Geschwindigkeit um die Sonne drehenden Erde, so dass dem sich seinerseits drehenden Mond sein Torkeln zu verzeihen war, denn weiter oben rasten die Sterne noch schneller, so dass ein entschlossener Unternehmer dieses Ringelspiel als Spektakel hätte verkaufen können, denn diese Dreherei war irritierender als ein Karussell auf einem Jahrmarkt. Da brauchte nur ein richtiger Hundsfott zu kommen, einer dieser unbedenklichen, vor nichts zurückschreckenden Kerle, wie sie in dieser Zeit beliebt waren, ein Mann, der mit Lust alle Grenzen überschritt und in die Gewissenlosigkeit verliebt war, um diese Illuminierung des Weltalls als Vergnügungspark zu verkaufen, allen anderen als unsere Zeitanzubieten, um zu vertuschen, dass da gar nichts war, nicht mal die Zeit, und das Geschehen auf Erden, groß als unsere Zeit dargestellt, nur ein Albtraum, aus dem man nicht erwachte, solange man an diese Zeit glaubte, die schon im Moment des vergnügten Herumirrens eine vergangene Zeit war, eine schnell vergessene Zeit, irgendwann in Gang gesetzt, nun nicht mehr anzuhalten, ein Schauspiel der Täuschungen, das aber Gewinn erbrachte und deshalb stattfinden musste, nicht stillstehen durfte, denn die Zeitlosigkeit wäre für alle in dieser Zeit Lebenden ein unerträglicher Zustand gewesen.

Die Dampfwolken der Lokomotive zogen tief am Fenster vorbei, verhüllten wie ein wehender Vorhang die Welt da draußen, so dass jegliche Orientierung schwand, die aufstiebenden Funken zwischen den Rädern der Lokomotive erhellten dieses weißliche Gespinst, ein vorbeijagender Traum aus glühend aufleuchtenden und wieder auseinanderjagenden höllischen Tiergestalten und menschlichen Fratzen, die bläulichen Gesichter der in ihrer Leichenstarre verharrenden aneinanderliegenden Körper mit hellen Reflexen überziehend. In engen Kurven sah man für einen Moment den Führerstand der Lokomotive, dieses kleine Licht, das in die Dunkelheit zog, den Weg kannte und dem die Reisenden wie Pilger folgten, geleitet durch den Bettelgesang der mechanischen Glocken, diesem bimmelnden Jammern, wie das Heulen armer Seelen. Ein langes dumpfes Donnern, die Räder rollten über eine stählerne Brücke, unter der man nichts sah, die nur aus dem Hall bestand. Der schrille Pfiff eines Zuges, erleuchtete Fenster mit Menschen, die wie in einem frühen Kinematographen herumzappelten, zu einem Bild der Verzweiflung wurden. In Abständen verlassene, menschenleere Bahnhöfe, unlesbare Worte im nackten, grellen Neonlicht, das die Reisenden in ein gespenstisches Flackern tauchte. Dann stieß der Zug in einen Tunnel, in ein stickiges Schwarz, das kein Ende kannte, tief in die Erde führte, ohne Ausweg schien, der beißende Dampf drang in das Abteil, rote, grüne Signalleuchten schossen am Fenster vorbei, eine Hadesfahrt, die sie unerwartet noch einmal freigab. Die betäubten Ohren fanden sich in einer unnatürlichen Stille, lodernde Flammen näherten sich, wurden zu wilden Feuerzungen, zu hochschießenden Funkengarben, die bis in die Wolken reichten, langsam wieder zur Erde herabsanken, weißleuchtend in der Nacht. Langgezogene festungsartige Bauwerke mit bläulich leuchtenden undurchsichtigen Fenstern rückten bedrohlich nahe an den Zug, sprangen ihn an, verstellten den Weg. Hinter den Fensterreihen tanzten Schatten, Zwerge wurden zu Riesen, kämpften miteinander, erhoben drohend ihre Arme, warfen sich vor den Zug, aber der Zug passierte, die Schatten fielen in sich zusammen, das glühende Bollwerk mit seinen Feuertürmen wurde kleiner, schrumpfte zusammen, entließ sie in ein Unwetter. Blitze erhellten die Landschaft, zeigten ein steinernes Kreuz an einer Weggabelung, ein verfallenes Gehöft, Bäume, deren Äste sich wie im Schlaf tief hinabbeugten, die Regentropfen krochen waagerecht über die Scheibe. Er spürte nichts vom Sturm, der da draußen tobte und hörte auch nicht das Donnern des abziehenden Gewitters, das noch lange über einer fernen Hügelkette aufleuchtete, während das Gewicht der Nacht sich wieder auf das Land legte, auf vereinzelte Lichter, die langsam weiterwanderten und erloschen. Dann war da lange Zeit nur noch ein schwarzes Loch.

Sein Körper wurde schwer, Arme und Beine wie Stein. Die Bilder in seinem Kopf wiederholten in immer neuen Abläufen die Zugfahrt, so dass er träumte, er säße in einem Zug, der immer wieder abfuhr, ein unbestimmtes Ziel in einer ungewissen Ferne, außerhalb des Lebens der Menschen, jenseits der Grenze, die keiner überschreiten wollte, weil es ungewiss war, ob man von da wieder zurückkam, der Grenze aus stummer Todesangst.

Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief.

Die Reisenden um ihn herum erwachten vom Tode zum Leben, übernächtigte, starre Blicke aus schreckhaften Träumen, erstaunte, ratlose Augen verirrter Tiere, die nicht wussten, wo sie waren. Sie flüchteten in die eingeübten Handlungen, rissen mit entschlossener Miene ihr Gepäck an sich, drängten durch die schmale Abteiltür, rannten den Gang entlang, um als Erste an der Waggontür zu stehen. Eine wichtige Stadt näherte sich, ein großer Hafen im ersten Morgenlicht, unbeweglich in den Himmel ragende Kräne, finstere Dalben, schwarze Hafenboote, hintereinander an Auslegern vertäut, an den Kais dunkle, langgestreckte Schiffskörper, noch in ihre Schatten gehüllt; das sich kräuselnde, unter einem fahlen Dunst liegende Wasser drängte in den Hafen, umkreiste die schwankenden Bojen, bewegte Taue und Ankerketten, es würde steigen und den Hafen in einen lebendigen Ort verwandeln, doch jetzt war da nur das hereinfließende stille Meer.

Der Bahnhof der großen Stadt war Endstation. Die Menschen quollen aus den Nachtzügen und kletterten in die Anschlusszüge. Er konnte sich also mit Ausdauer dem Abenteuer hingeben, den Koffer aus dem Zug zu bugsieren. Er zog und stieß ihn über den Gang bis zur Waggontür. Nach verschiedenen Fehlversuchen, den Koffer anzuheben, stieg er einfach aus, rüttelte an ihm, bis er Übergewicht bekam und auf den Bahnsteig knallte. Danach sah das mit Bohnerwachs auf Hochglanz gebrachte Vulkanfiber nicht mehr so elegant aus, aber die Kunst bestand eindeutig darin, sich von diesem Trumm nicht erschlagen zu lassen. Ein Eisenbahner, der diese artistische Nummer mit fachmännischem Interesse verfolgte, wollte den Koffer mit einer imponierenden Bewegung – dem jungen Mann mal zeigen, wie man so etwas macht – auf einen Gepäckwagen werfen, unterbrach allerdings diese Bewegung zweimal mit einem schmerzhaften: Och, um ihn mit gerunzelter Stirn zu fragen, ob er Ballaststeine für Schiffe transportiere. Ein anderer Eisenbahner kam zu Hilfe, und nach einem längeren Palaver über Reisende, die alles immer in einen Koffer packen, wuchteten sie den Koffer gemeinsam – eins und zwei und hoch – mit geröteten Gesichtern auf den Gepäckwagen. Er folgte dem losschaukelnden Wagen, verlor ihn im Gedränge und Geschiebe der hastenden Menschen aus dem Auge, erkannte den Abfahrtsbahnsteig aber daran, dass er von weitem seinen Koffer sah, hochkant stehend, Fels in der Brandung, Riff im Meer der Menschen. Aus der Nähe betrachtet war er inzwischen stark ramponiert, mit breiten Schrammen an der Seite, man hatte ihn wohl einfach vom Gepäckwagen geworfen. Ein Wertgegenstand fürs Leben, so das Kaufhaus, der schon nach Antritt der ersten Reise nicht mehr umzutauschen war. Er setzte sich auf den Koffer, wartete auf den noch nicht eingefahrenen Zug und aß eines der Brote, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte, die er kaum herunterbrachte, weil diese Brote die Bezeichnung Butterbrot in einer so reinen Form darstellten, dass man unter Hungernden damit sein Leben riskiert hätte. Die Butter war genauso dick wie das Brot, fingerdick, hatte der Arzt gesagt, und seine Mutter neigte zu Übertreibungen. Seine Zähne mahlten in der Butter, ein klebriges Gemisch, in dem kaum Brot zu finden war, und er sehnte den Tag herbei, an dem er ohne Butter leben durfte, keine Fleischbrühe und keinen Rotwein mit Ei mehr trinken musste, er konnte den Rotwein nicht mehr riechen, kein Ei mehr sehen, von der Butter wurde ihm übel, und nach der fetten Fleischbrühe übergab er sich, aber er hatte versprochen, die Butterbrote zu essen, hatte es seiner Mutter versprochen, die in Panik lebte, in der Angst, ihn zu verlieren. Ein Jahr lang schluckte er das alles schon, ein Jahr lang hatte er auf einem alten Sofa gelegen, nur zur Toilette durfte er gehen, keinen Schritt auf die Straße, ein Jahr lang flach liegen und Butter und Eier und Rotwein und Fleischbrühe, und kein Gramm hatte er zugenommen.

In der zum Himmel strebenden Bahnhofshalle, einer schwungvollen architektonischen Verbindung von Kirchenschiff und Maschinenfabrik, fing sich der Lärm der nun kräftig rumorenden Großstadt, erschreckte die Tauben, die orientierungslos zwischen den genieteten Eisenpfeilern umherflatterten, durch ein Dampfloch ins Freie entkamen. Hinter den blinden Scheiben erahnte man einen blassen Himmel. Es roch nach Kohle, und es war kalt und feucht. Schwarze Maschinen, eingehüllt in weißen Dampf, schoben sich auf den Schienen hin und her, knallten gegen die Puffer der Waggons, stießen Pfiffe aus, schleppten vielgliedrige Züge an, zogen andere aus der Halle, Hebelsignale hoben und senkten sich, stellten sich auf Grün oder Rot. Es sah aufregend aus, wie das da alles auf die Sekunde genau ineinanderlief, aber natürlich war es für jeden, der da mitmachen musste, die ödeste Routine, jeder erfüllte nur die vom Fahrplan vorgegebene Tätigkeit, kleine Weberschiffchen, die an einem großen Muster arbeiteten, das sie nicht kannten. Menschen betraten oder verließen diesen Dom durch die vorgeschriebenen Ein- und Ausgänge, verbanden sich zu flüchtigen Gruppierungen, zu eiligen Kolonnen, der Ablauf erinnerte an das Gewoge und Geschiebe in einer Pilgerkirche, mit der Unendlichkeit von Pilgerströmen, deren murmelnde Stimmen in die Höhe stiegen. Der Erbauer dieser Kathedrale hatte sicher an so etwas gedacht, vielleicht hatte er die neue Zeit und ihre Arbeit adeln wollen, durch die Verbindung von Schönheit und Zweck, aber die neue Zeit war längst vergessen, und es lief so ab wie jeden Tag.

Sein Zug hielt quietschend vor ihm. Ein die Räder und die Achsen der Waggons mit einer Eisenstange abklopfender Arbeiter in einer ölverschmierten Weste nahm wortlos den Koffer, hob ihn mit einem Ruck in den Zug, ging weiter, den Klang des Eisens erforschend. Er folgte seinem Koffer, ließ ihn stehen, wo er stand – den trug da keiner weg –, und setzte sich in ein Abteil. Unmerklich ging der Stillstand in Bewegung über, so dass er zunächst dachte, ein auf dem Nebengleis stehender Zug fahre an, die große Halle versank lautlos in einer Steigung, die über andere Gleise führte, auch die Stadt wurde trotz ihrer Kirchtürme und hohen Häuser rasch ein Teil des Horizonts, kleiner als die Bäume neben den Gleisen, die Erde war nun mal eine Kugel, und selbst die größten Städte verschwanden in Minuten. Im Inneren dieser Kugel hätte sich alles nach innen gekrümmt, die Aussicht wäre entschieden interessanter gewesen, Städte und Landschaften schon von weitem gut sichtbar wie auf einer Panoramakarte, man wäre frühzeitig im Bilde und könnte sich alles ordentlich anschauen. Beim jetzigen System wusste man nie was kam, man musste abwarten, was sich am Horizont ergab, und ehe man es richtig sah, war es schon wieder vorbei, spurlos verschwunden; in einer Kugel hätte man es noch lange betrachten können. So gesehen war die Erde eine Fehlkonstruktion. Vielleicht wären die Menschen verständiger geworden, wenn ihre Antipoden nicht unsichtbar zu ihren Füßen, sondern sichtbar zu ihren Köpfen gesessen hätten. Das jetzige System erweckte den Eindruck, als ginge es immer vorwärts: Schau nach vorne und nie zurück. Es nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus.

Der Zug war leer, ein ratternder Personenzug einer Nebenstrecke, der durch eine flache, immer nebliger werdende Landschaft fuhr und an jeder Station hielt. Kleine Bahnhöfe, auf denen ein Stationsvorsteher in Pantoffeln und mit Strickweste an seine rote Mütze tippte, die er zu diesem Zweck kurz aufsetzte, dem Zugführer mit einem dienstlichen Kopfnicken einen abgegriffenen Stab überreichte, den er salutierend an der nächsten Station einem anderen Bahnhofsvorsteher überreichte. Mal stieg ein Bauer oder eine Bäuerin mit einem Korb ein, um kurz danach wieder auszusteigen, und es sah nicht so aus, als hätten sie dazu eine Fahrkarte gekauft. Der Nebel wurde dichter, die Bahnstationen, die nur noch aus einem Dienstzimmer mit einigen Hebeln, dem Fahrkartenschalter und der Toilette bestanden, verschwammen im Dunst, die verkrüppelten Bäume neben den Stationshäuschen ersetzten mit ihren vor Nässe schwarzen Ästen die Signale. Telegrafenstangen begleiteten mutig die Gleise, ihre durchhängenden Leitungen tanzten in der Bewegung des Zuges auf und ab und warteten geduldig an jedem Haltepunkt auf die Weiterreise. Ein weißer Schleier umschloss das Abteil, die Welt war verschwunden, der Zug kroch langsam darin herum, verließ sich auf die Schienen, blieb gelegentlich stehen, keiner wusste, war das nun ein Haltepunkt oder hatte der Zug sich verirrt.

Der Schaffner langweilte sich, blieb in der offenen Abteiltür stehen: Das ist hier so, immer nur Nebel, rundherum nur Sumpf. Und nach einer Pause geheimnisvoll: Hier können Sie Stimmen hören. Er kam näher und flüsterte ihm zu: Wenn Sie die Notbremse ziehen und sich auf den Bahndamm setzen, hören Sie in der Stille die Stimmen, sie klagen und jammern, seufzen und schluchzen. Aber auf dem Bahndamm bleiben, sonst verschwinden Sie im Moor! Er überlegte, ob der Schaffner eine Geschichte erfand, um sich die Zeit zu vertreiben, oder ob etwas daran wahr sein könnte. Sein zweifelndes Gesicht trieb den Schaffner zu erneuter Beschwörung: Ich habe sie oft gehört, ganz dünne Stimmchen, sie schweben durch den Nebel und sind einfach überall. An den Bahnhöfen gibt es Holzstege, da können Sie ins Moor gehen, aber in der Nähe von Menschen muss man oft stundenlang warten, bis sie sich melden. So lange kann ich den Zug nicht anhalten, außerdem sind die Holzstege oft morsch, gefährliche Sache, hier hört man sie immer, das Moor ist hier sehr tief, viele Menschen ziehen hier die Notbremse. Sein »Hier, hier« wurde immer drängender, sie sahen beide zum verheißungsvoll geschwungenen teuflisch roten Griff der Notbremse, und der Schaffner meinte bedauernd: Ich kann sie ja nicht ziehen. Während er noch überlegte, ob er diesem Mann, der so stimmensüchtig war, den Gefallen tun sollte, einfach mal kurz am Griff der Notbremse … Das kreischende Geräusch der Räder, der heftige Ruck des haltenden Zuges, der Flug in den gegenüberliegenden Sitz, Bewegung in Stillstand, die Stille, der langgestreckte Bahndamm, sich verlierend im dunstigen Sumpf, die Stimmen, die einen in den Sumpf lockten – rechtzeitig fiel ihm ein, dass er unbedingt den Anschlusszug erreichen musste. Der Schaffner winkte ab: Die Anschlüsse stimmen alle nicht, hier fährt jeder, wann er will. Das war eine tröstende Auskunft, aber er konnte sich doch nicht entschließen, die Notbremse zu ziehen, er war auf den Anschlusszug angewiesen. Der Schaffner murmelte etwas von einer dreimal verfluchten unnützen Fahrplanpünktlichkeit, wünschte dem Erfinder dieser Ordnung alle bösen Geister um Mitternacht an sein Bett, er fühlte sich um seine Stimmen betrogen und stampfte wütend durch den Gang. Noch lange überlegte er, eingeschlossen im dichten Nebel, der alles in ein diffuses Licht tauchte, so dass man nicht wusste, ob der Zug vorwärts, rückwärts oder im Kreis rollte, wie sich diese Stimmen wohl anhörten. Und er schloss sich der Meinung des Schaffners an, der Fahrplan habe ihn da um ein seltsames Erlebnis gebracht, das nicht zur allgemeinen Ordnung gehörte, auch unglaubwürdig erschien, aber eben doch existierte, mit welcher Erklärung war schließlich egal.

Hätte sich der Nebel nicht sehr schnell gehoben, wäre er doch noch der Versuchung der lockenden Notbremse erlegen, die ein Abenteuer verhieß, aber unerwartet streckte sich das flache Land sehr weit. Schafe standen in wolligen Knäueln hinter den Knicks, Ziegen liefen vor dem Zug davon, schwarzweiße Kühe hoben erstaunt den Kopf, Pferde nahmen entlang des Bahndamms den Wettlauf mit dem Zug auf. Häuser waren nicht zu sehen, nicht einmal ein einzelner Bauernhof oder eine Scheune. Der Wind wellte das Gras, Schweine standen bis zum Bauch in einem kleinen See, unter hohen Bäumen dösten Hühner, es schien das Land der Tiere zu sein. Der Zug fuhr lange, ohne dass er einen Bauern sah, niemand führte ein Gespann, keiner fuhr auf einem Trecker herum, nirgendwo der Rauch eines Kamins. Die Wolken rissen auf, bildeten einen weißen Kreis, durch den die Sonnenstrahlen auf dieses Fleckchen Erde fielen, es hell erleuchteten, so dass man geblendet die Augen schloss.

Der Zug hielt, ein Backsteinbau, der Bahnhof, hier musste er raus. Der Schaffner kippte seinen Koffer aus dem Zug, der fahrplanmäßige Anschlusszug war nicht zu sehen. Der steht vor dem Bahnhof, sagte der Schaffner, ließ den Koffer die Bahnhofstreppe hinabrutschen und schleifte ihn durch einen feuchten, unbeleuchteten Tunnel auf den Vorplatz. Ein rothaariges Kind, das in den Wasserstiefeln eines Mannes versank, überreichte dem Schaffner eine Flasche Feuerwasser in Form eines gläsernen Leuchtturms, deswegen war er wohl auch ausgestiegen. Den gibt es nur hier, sagte er und rieb mit dem Ärmel an der Flasche wie an einem Goldstück. Als er ihn an seinen Zug erinnerte, dessen Abfahrtszeit schon überschritten war, meinte er: Der fährt erst, wenn ich drin bin, und schüttelte den Kopf über einen so weltfremden Großstädter. Er verschwand in der dunklen Unterführung, und auch die Wasserstiefel wanderten mit dem Kind davon.

Der Bahnhofsvorplatz schien so, wie er da lag, dem vorigen Jahrhundert nachzutrauern. Eine ungepflasterte, nur aus Pfützen bestehende Fläche ruhte im Nieselregen und begnügte sich damit, die jagenden Wolken in den Wasserlachen zu spiegeln. Der schwere braune Rauch von Torffeuern hing über den Dächern und vermischte sich mit dem Gestank von Küchen und Schweineställen, aus denen ein zufriedenes Grunzen zu hören war. Ein lahmer Hund umschnüffelte eine kahle, verwachsene Weide, die einen schrägstehenden Gartenzaun stützte; als der Hund ihn bemerkte, schlich er geduckt zum Zaun, um ihn durch herausgebrochene Latten mit blinzelnden Augen zu fixieren. Ein Huhn stand einbeinig und leise klagend mit schrägem Kopf auf einer Hühnerleiter, die in ein Fenster des Bahnhofs führte, über dem kaum lesbar Wartesaal stand, bei jeder Zugdurchfahrt brach darin ein wildes Geflatter und Gegacker aus.

Der Platz, umgeben von ein- und zweistöckigen Häusern, durch phantasievoll angebaute Holzschuppen verziert, bildete ein unvollkommenes Rechteck, um zu verhindern, dass der Bahnhofsvorplatz einfach so in die sumpfigen Wiesen überging. Die Häuser waren nach dem Richtfest, das bei allen schon mehrere Generationen zurücklag, sicher einwandfrei und sauber übergeben worden. Seitdem hatte sich wohl jeder Besitzer eingeredet, dass sich in diesem Jahr kein neuer Anstrich lohne, und den Rest dem Wetter überlassen, dem Torffeuer, dem Lauf der Zeit. Die Fassaden waren meist abgebröckelt, der mürbe Putz in großen Fladen herausgebrochen, nasse Ziegelsteine hielten notdürftig zusammen, die Fensterläden hingen schräg in den Angeln, kreischten im Wind, der immer wieder über den Platz stürmte und den Nieselregen zu Schauern verdichtete. Ein Gespann näherte sich, ein Pferd mit nassglänzendem Fell und einer schräghängenden Pferdedecke zog im gleichmäßigen Trott einen Jauchewagen über den Platz. Ein alter Mann saß schlafend auf der Jauchetonne, die Zügel schleiften im Dreck. Das Pferd bog mit gesenktem Kopf in eine kleine Gasse ein, die nasse Decke rutschte auf die Deichsel, fiel auf den Boden. Einige Spatzen stürzten sich auf die Decke und tobten darin herum. Dann kam eine Frau in einem geblümten Kittel und klobigen Männerschuhen schimpfend aus der Gasse und nahm die in einer Pfütze liegende Pferdedecke an sich. Danach geschah lange Zeit nichts mehr.

Inmitten des Platzes stand überraschend ein Denkmal der Industriegeschichte, ein verrosteter Schienenbus, die Kleinbahn, in die er umsteigen sollte, Symbol dafür, dass der Fortschritt durchaus in der Lage war, auch diesen Vorposten der Zivilisation umzugestalten. Verlassen ruhte der eckige Blechkasten, rostrot mit blinden Fenstern auf den im Schlamm versinkenden Schienen, obwohl die Abfahrtszeit längst überschritten war. Wenn sich nicht hin und wieder verräterisch eine Gardine bewegt hätte, so hätte man mit dem Satz, dass die meisten Einwohner dieses Ortes schon lange ohne jeden Fahrplan den letzten Gang zum Friedhof angetreten hätten, nichts Falsches gesagt. Aus einer Kneipe, an deren ausgebleichter, verwitterter Holztür ein Emailschild aus der Vorkriegszeit ein Bier anpries, das mit Sicherheit nicht mehr gebraut wurde, kamen einige Männer in Wasserstiefeln, Overalls, dicken Pullovern und Pudelmützen, gingen, schräg gegen den Wind gelehnt, durch die Pfützen zum Schienenbus, stiegen ein und legten sich flach auf die Sitze. Ob das etwas mit der Abfahrt zu tun hatte, war unklar, vielleicht suchten diese Wetterfesten nur einen trockenen Platz zum Schlafen. Er zog seinen trotz weltweiter Garantie nun doch schon erheblich ramponierten Koffer durch den Dreck, hebelte ihn wildentschlossen und kämpferisch in diese Kleinbahnattrappe und verkroch sich schnaufend auf einem Sitz. Nichts geschah, die Männer schnarchten, eine feste Abfahrtszeit schien es nicht zu geben. Am Ende des Platzes erschien eine alte Frau mit Kopftuch und einem Kranz für eine Beerdigung, sie näherte sich geduldig und mühevoll dem Schienenbus, kroch auf allen vieren in den Wagen, setzte sich ihm gegenüber und sagte: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hät he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an. War der Satz beendet, begann sie wieder von vorne: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hät he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an. Zwischendurch fragte er einmal nach der Abfahrt. Da gaut de Flaut, sagte sie, und dann wieder und aufs Neue: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hät he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an. Eine immerzu sprechende Greisin in einem schwarzen, verschossenen Mantel, das Kopftuch zurechtrückend, sich an den Kranz aus Tannenzweigen klammernd, ihm die Füße entgegenstreckend, weil sie zu klein war für den Sitz. Mehr geschah nicht, nur die Zeit verging.

Ein glatzköpfiger Mann in einem grauen Kittel sprang mit einem Satz aus dem Geschäft mit den verblassten altdeutschen Buchstaben »Kolonialwarenladen«, in dessen schmutzigem, mit Dreckspritzern versehenem Fenster Kartoffeln und Kohlköpfe, Schaufeln und Hacken, Feuerholz, Kohlen und Briketts zu besichtigen waren. Das Kaufhaus für den täglichen Bedarf, erfolgreich von Kolonialwaren auf bewährte, einheimische Produkte umgestellt, und der Herr im grauen Kittel der Kaufmann. Er rannte eilig als ein Vielbeschäftigter über den Platz zum Bahnhof, holte Zeitungen und Post, war also auch der Posthalter, übernahm einen Kasten Feuerwasser in der gläsernen Leuchtturmform, hier wohl dringend benötigt. Dann sprang er wieder, den Pfützen gekonnt und geübt ausweichend, über den Platz, stieg in den Schienenbus und präsentierte sich auch noch als Fahrer dieses unerträglich nach Öl stinkenden Fahrzeugs. Bestimmt der reichste Mann des Ortes mit Aussicht auf drei Renten. Er stellte einen Leuchtturm wie einen Kompass auf das Armaturenbrett, nahm einen Ermunterungsschluck, schlug auf einige Hebel, trat gegen ein Pedal, eine Maschine brummte los, der Schienenbus rappelte wie ein alter Lastwagen, überlegte es sich noch lange, ob er überhaupt anfahren sollte, aber er setzte sich dann doch in Bewegung.

Der Fahrer blätterte in einer Zeitung, breitete sie aus und las darin. Bei den vielen Tätigkeiten, die er gehetzt ausübte, ermöglichte ihm die Zugfahrt wohl eine Art Kaffeepause, die er genoss, während der Schienenbus auf unebenen Gleisen unbeaufsichtigt und geruhsam durch das Land tuckerte. Träge zog die Landschaft vorbei, dunstige Wiesen und ein blasser Himmel, dazwischen nichts, kein Gatter, kein Stall, keine Scheune, keine Telegrafenstange, einfach gar nichts, nur Wiesen und Himmel und der holpernde Schienenbus. Zeit war hier nicht Geld, Zeit war hier zur Genüge vorhanden, im Grunde der einzige Besitz, und man konnte sich erlauben, damit verschwenderisch umzugehen. Zeit war hier unerschöpflich, Wiesen und Himmel und dazwischen die Zeitlosigkeit, in die er langsam hineintrieb. Ein zerklüfteter Wolkenturm schob sich steil in die Höhe, stand bedrohlich vor der schrägen, unscheinbaren Sonne, veränderte sich von einer Hässlichkeit in die andere, riesige Köpfe mit aufgerissenen Rachen und glühenden Augen, sechsbeinige, achtbeinige verformte Körper zwischen Mensch und Tier. Ihre Schatten verdunkelten das Land, überzogen es mit den wechselnden Grenzen ihrer Herrschaft.

Der Schienenbus schlug auf, als holperte er von den Gleisen. Der Fahrer sprang aus seiner Tür, lief dem dahinrollenden Fahrzeug voraus, legte eine Weiche um, ließ sich einholen, stieg schwungvoll wieder ein und nahm auf dem Fahrersitz eine neue Zeitung in die Hand. Während der ganzen Fahrt hatte er über den Fahrer hinweg immer ein Auge auf die Strecke, um ihn, der doch ein allzu leidenschaftlicher Zeitungsleser war, rechtzeitig vor einem Hindernis zu warnen, aber die Schienen führten durch eine leere Landschaft, ein Hindernis war undenkbar, er stellte sich die Frage, ob da überhaupt ein Ziel war. Die Männer schnarchten in ihren verdreckten Wasserstiefeln, die Frau vor ihm murmelte: … holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an, der Fahrer saß kopfschüttelnd hinter der Zeitung, die Glatze bewegte sich hin und her, was in der Welt doch so alles geschah.

Eine hellgraue Hütte kam in Sicht, das Ende der Schienen in einer Wiese, ein Prellbock, gegen den der Schienenbus prallte. An dieser Holzbude ohne Türklinke und mit zugenagelten Fensterläden, an diesem hellen Fleck in der Landschaft endete der Fahrplan, die gültige Ordnung und die auf ihr beruhende Zivilisation. Er ging um die Holzbude herum und blieb stehen. Da waren nur noch einige Meter Boden zu seinen Füßen, dahinter lag, ohne Übergang, das Meer, Wasser bis zum Horizont, fast unbeweglich. Die stumme Antwort auf all das Getriebe, das er hinter sich gelassen hatte, etwas Machtvolleres, Großartigeres als das Quadratmetergewusel auf dem Festland. Der Boden unter den Füßen verlor seine Sicherheit, wurde zu etwas Fragwürdigem, das Wort »Festland« lächerlich, ein zerbrechliches Gebrösel vor der Unendlichkeit des Meeres. Hier begann etwas, das man entweder ertrug oder in dem man unterging.

Ö an dö de Ör?, fragte ihn einer der Pudelmützenmänner. Eine Sprachgrenze schien überschritten, auch die Sprache wechselte ins Unbekannte. Er nickte vorsichtig. Der Pudelmützenmann ging zum Schienenbus, schnappte sich seinen Koffer, setzte ihn auf die Schulter, zog in Richtung Meer und setzte ihn haarscharf und mit Wucht auf die Kante einer Kaimauer, wobei ein Schloss aufsprang: Lö nölen dolen! Die alte Frau rutschte auf eine windschiefe Bank neben dem Holzhaus, lehnte den Kranz an einen in der Wiese versunkenen Anker und sang mit hoher Greisenstimme ein Lied, das wie ein Wiegenlied klang. Die Männer hatten sich an der Kaimauer aufgereiht und sahen unbewegt auf das Meer; von hinten, gegen das Licht, wirkten sie wie die Figuren eines Bildhauers. Ihre Schatten waren schmal und lang und zogen sich bis zum Holzhaus, bis zu der leise singenden Frau, die sich Tränen aus den Augen wischte und ihren Körper hin und her wiegte. Er ging zur Kaimauer und sah, dass sie fünf, sechs Meter steil abfiel. Das Meer wirkte nicht mehr so erhaben, es war nur noch eine schmutzige, schäumende Brühe, die schmatzend an der Mauer leckte und ihr Treibgut gegen die bemoosten Steine klatschte, Äpfel, Kohlköpfe, Kartoffeln, Holzkisten, Kleiderbügel, Kofferteile. Er setzte sich auf seinen Koffer, um ihn zu beschweren; die zu Hause hochgeschätzten Dinge schienen hier nicht viel wert zu sein.

Angesichts der schuckelnden Frau und der bewegungslosen Männer, der verfaulenden zugenagelten Holzhütte und der leeren Rostlaube von Schienenbus in der verschlammten Wiese war er den Tränen nahe. Es war trostlos. Alles was man sah, war trostlos. Schienen versanken in einer Wiese, ein Anker ragte nur noch mit einem Arm aus der Erde, die Holzbank war so schief, dass die alte Frau schräg sitzen musste, und die wackeligen Steine der Kaimauer, auf der er saß, lösten sich schon auf der Landseite, um in absehbarer Zeit ins Meer zu stürzen. Alles wartete auf die endgültige Verrottung. Meer und Wind würden das alles holen, und die Menschen hatten sich daran gewöhnt. Es war kalt, er hatte Hunger, der ewige Wind blies, laut Fahrplan sollte er schon am Ziel sein, aber hier galt nur das Meer, und das Meer machte, was es wollte, es raunte und rauschte und schäumte, und der Wind war sein ständiger Begleiter, tanzte mal als Sturm, mal als Orkan, und heulte seine eigene Melodie. Und zu allem Unglück musste er auch noch da hinüber, auf irgendeine Gefängnisinsel, die von diesem Meer beschützt wurde, das man leider nicht fußwandelnd betreten konnte; vielleicht sollte man schon hier ins Wasser springen.

Eine Bewegung bei den Männern, irgendein Hoho. Auf der jetzt dunkelgrünen Wasserfläche mit ihren weißlich aufspringenden Wellen war ein Punkt zu sehen, der näher kam, größer wurde, sich als Schiff entpuppte, das, energisch von Möwen verfolgt, dem Festland zustrebte, dann aber mit einem Ruck stehenblieb, worauf alle Männer hochzufrieden, als hätten sie eine Wette gewonnen, ins Wasser spuckten. Ein Schiff, das hilflos im Meer stand, war nach dem Schienenbus in der Wiese keine Überraschung mehr, man hätte sich so etwas denken können. Nach einer Viertelstunde schwankte das Schiff wieder und unternahm, umkreist von seinen Möwen, einen neuen Anlauf, das Festland zu erobern, saß nach hundert Metern aber wieder auf Grund. Die alte Frau stand nun neben ihm, legte den Kranz auf die Kaimauer und sagte: Is Ebbe, de Flaut kömmt schwer, bei Ebbe kocht de Milch nich öber, bei Ebbe kömmt kein Kind. Das galt wohl auch für den Dampfer. Das Schiff versuchte mit der Flut an Land zu rutschen, alle schauten zu und wetteten, wie oft es noch festsitzen werde – die einen wetten auf Pferde, andere auf Windhunde, jedenfalls auf Schnelligkeit, die hier auf festsitzende Schiffe. Nach einer weiteren Viertelstunde rutschte der Dampfer blubbernd dem Festland wieder ein Stück näher, bis er mit einem schmierigen und unheimlichen Geräusch erneut festsaß. Die Möwen drehten eine Ehrenrunde, ein schöner weißer Jungfernkranz, der Kapitän, der schon in seinem kleinen Häuschen zu erkennen war, lehnte sich aus dem Seitenfenster, rief etwas und alle nickten. Es brauchte noch zwei weitere Pausen im Schlick, dann war die Ebbe so gnädig, das Schiff freizugeben, und die Flut so entgegenkommend, das Schiff und die Passagiere zu vereinen, zur Freude der kreischenden Möwen, die in ihrem Siegestaumel wie betrunken herumtobten.

Was da nun mit Gottes Hilfe und seemännischem Können am Kai lag, war ein kleiner Dampfer für Fracht und Passagiere, die Fracht zuerst, die Passagiere zuletzt. Ein früher einmal schwarzweiß gestrichener ovaler Eisenkasten, der Rost und Tang und Schlick mit sich schleppte, keine Fahne zeigte, weil ihn wohl keine Reederei mehr haben wollte. Vielleicht von einer Mannschaft gekapert, die dem Motto anhing: Dat geit auch so, das Schiff bei Lloyds glaubhaft als gesunken gemeldet hatte, während es dem Meer bis auf weiteres vormachte, dass es noch schwimmfähig sei. Der Dampfer lag tief unter ihnen, wenn man sich über die Kaimauer beugte, sah man in den ölenden Schornstein, zum Deck hinab waren es mindestens vier Meter. In drai Stond wär de Flaut an de Kant, sagte die alte Frau in einer Mischung aus ihrer und seiner Sprache, ober da wär op de Insel Nacht. Man musste sich den Einheimischen anvertrauen, ihrem von der Natur geleiteten Instinkt. Leere Fischkisten wurden von Deck an Land geworfen, knallten aufeinander, blieben da liegen, keiner kümmerte sich darum. Der graubekittelte Kleinbahnchef, dessen Glatze in der schrägen Sonne wie eine Leuchtboje hin- und herschwankte, warf die gebündelten Zeitungen etwas zu schwungvoll auf das Deck, das Paket zerplatzte, die Zeitungen blätterten sich auf, drehten sich im Wind und segelten über die See davon, einige Briefe folgten ihnen. Mit zwei schweren Kartoffelsäcken hatte er mehr Glück, sie landeten haarscharf an der Bordkante. Ein Sack Eierbriketts kam zu hart, ein Teil der Briketts rollte über Deck. Eine schmale, in ihrer Länge sich durchbiegende Holzleiter, die mit dem Schiff auf und ab schwankte, wurde an die Kaimauer gelehnt und hielt sich gegen alle Erwartungen. Die Pudelmützenmänner rutschten mit ihren Wasserstiefeln geschickt die Leiter hinunter, sprangen aus halber Höhe aufs Deck, es war gekonnt und eindrucksvoll. Ein Matrose enterte über die Leiter die Kaimauer, nickte auffordernd mit dem Kopf, und er konnte später nicht mehr sagen, wie er diese schwankende, auf und ab schaukelnde Leiter hinuntergekommen war. Irgendwann stand er mit zitternden Beinen auf Deck, aufgefangen von den breiten Armen des Kapitäns, dessen Spezialität es war, seine Passagiere aus der Luft zu empfangen, um sie mehr oder weniger sanft auf seinem Schiff der See zu übergeben, was ihn wohl sämtliche Knöpfe an seiner Kapitänsjacke gekostet hatte, denn da waren nur noch leere Knopflöcher, in denen Drahtschlaufen hingen. Als er hochblickte, sah er die alte Frau auf sich zukommen, unter den Armen mit einem Seil festgebunden, schwebte sie mit spitzen Schreien herab, ihre Füße suchten vergeblich die Holzsprossen der Leiter. Sie landete auf dem Deck unter ihrem Kranz, den man ihr um den Hals gehängt hatte, wurde vom Kapitän fachmännisch losgebunden und lachte schon wieder. Das Seil sauste nach oben, sein Koffer wurde abgeseilt, krachte dabei zweimal gegen die Kaimauer, schlug hart aufs Deck, weil sich das Schiff gerade mal wieder energisch aufbäumte, wobei zwei Holzreifen absprangen, die vom Kapitän mit einem Tritt über die Reling befördert und damit der See geopfert wurden. Das war die Seefahrt, da ging schon mal etwas über Bord, die Seegötter musste man gnädig stimmen, Hauptsache das Schiff hielt sich über Wasser.

Er wollte an Deck bleiben, es war seine erste Meeresfahrt, aber er wurde vom Kapitän energisch nach unten befohlen: De See geit over. Übersetzt hieß das wohl, das Schiff wird Mühe haben, unter der See durchzukommen. In der Kajüte, wo jeder auf Kisten und Säcken den vermeintlich besten Platz erobert hatte, hielten alle den Leuchtturm mit dem Feuerwasser in der Hand. Dat Schipp rollt, sagte einer und nahm einen Schluck aus der Flasche, und tatsächlich herrschte nach dem Ablegen ein undefinierbares Schwanken, nicht nur vom Bug zum Heck und zurück, auch von Steuerbord nach Backbord und zurück und all das gleichzeitig, der Wind blies wohl aus allen Richtungen. Er rettete sich an ein Bullauge, das entweder vom Wasser überspült wurde oder die Möwen zeigte, nahm von einem der Pudelmützenmänner dankbar einen Schluck Feuerwasser, das war ein Fehler, jetzt wurde ihm erst richtig übel. Die alte Frau, die mit ihrem Kranz auf einem Kartoffelsack saß, rief: Nich autgucken. Und noch einmal: Nich autgucken. Er sah auf den Schiffsboden, sah, dass das schmutzige Wasser langsam stieg, es kam in regelmäßigen Schüben die Treppe herab, aber der Kapitän – der hoffentlich noch das Ruder hielt – hatte sicher Erfahrung darin, wie lange sein stolzes Schiff sich unter diesen Umständen über Wasser halten konnte. Er zog die Beine an, weil seine Schuhe schon nass waren, nahm mit Widerwillen einen ihm energisch aufgedrängten, mit Sicherheit helfenden zweiten Schluck aus der Leuchtturmflasche. Der ölverschmierte Maschinist – bestimmt war der Maschinenraum schon überflutet – inspizierte in dieser Elendskajüte die Höhe des Wassers und erklärte dabei, drei müssten es schon sein; er wurde also mit einem weiteren Schluck betäubt, sah nicht mehr auf das Wasser, das hereinstürzte, sah nicht mehr aus dem Bullauge, sah nur noch auf die alte Frau, die sich auf dem Kartoffelsack zum Schlafen legte, den Kopf auf der Kranzschleife: Ein letzter Gruß. Er lag an der Wand, döste, begriff das Wort »Schiffschaukel«, verstand, warum Matrosen nicht schwimmen konnten, die Sache war in sich aussichtslos, entweder rollte das Schiff oder man lag im Wasser, und er verfluchte all die romantischen Gedichte und sehnsuchtsvollen Abenteuerromane, die man über die See geschrieben hatte.

Do wait de Swatt, sagte einer der Männer, alle nickten, und so ganz für sich erzählte er eine wohl altbekannte Geschichte wie eine Pflicht, die an diesem Tag er übernahm, ein Ritual, bei anderen Überfahrten von anderen übernommen, weil sie alle ihre Geschichten immer bei sich hatten, sie bei diesen Überfahrten ordentlich und gewissenhaft wiedererzählten, unter dem Nicken der anderen, das wie eine notarielle Beglaubigung war, hier, zwischen Festland und Insel auf dem ungebärdigen, unsicheren, keinerlei Gewissheit bietenden Meer. Do wait de Swatt un lait up Grund un ward noch drimol nach seinem Tod gesehn, is immer widder hochkommen, beide Been in de Ankerkett, is immer widder abtrieven, ward an de Küst, ward an de Insel, ward dat dritte Mol im Meer gesehn, un lait doch in Ewigkeit up Grund, im Totenland, kein Friedhof, kein christlich Begräbnis, Schipp up Grund, Ladung up Grund, Mannschaft dot, und aalens nur, weil he am Sunntag beim Geläut usfahrn is, versündigt gegen Gott den Herrn, hat der Pastor predigt.

Einer rief: Hoho. Er sah vorsichtig aus dem Bullauge und erblickte, leider noch recht weit entfernt, eine heftig schwankende Küste, ein ins Meer geworfener Blumenkranz, der sich drehend und wiegend auf dem schwermütig tobenden Meer tanzte. Das war wohl die Insel, die, als sie näher kamen, wunderbar feststehende Häuser und Bäume vorzeigte. Er dankte Gott, so eine Meeresfahrt stärkte den Glauben auch bei Ungläubigen, dankte ihm dafür, dass er rechtzeitig daran gedacht hatte, dieser aus Wasser bestehenden Erde einige feste Teile hinzuzufügen, umgekehrt wäre es besser gewesen, aber auch die göttliche Weisheit hatte wohl ihre Grenzen, und die christliche Seefahrt war noch unbekannt, wer konnte schon ahnen, dass Menschen einmal Meere überqueren würden. Das Wasser vor dem Bullauge wich immer mehr dem Land, das sich jetzt geradezu königlich aus dem Meer erhob, Rettung und Hilfe bot, den anrollenden Wellen trotzte wie eine steinerne Burg. Ein kleiner, zutraulicher Hafen öffnete sich, nahm sie in seine Arme, beruhigte Wasser, Schiff und Passagiere, geübte Hände fingen die Taue auf, vertäuten den Dampfer fest mit dem Land, jede Reise hat ein Ende, die Ruhe wirkte unnatürlich. Wie er auf diese seemännische Art wieder zurückkommen sollte, war ihm unklar.

Alle gingen an Deck, sein Koffer schwamm in einer Pfütze, das so schön polierte Vulkanfiber war nass und wellig, die Luft schmeckte salzig, und die Möwen über ihnen waren auch angekommen. Das Schiff lag diesmal höher als die Kaimauer und gestattete einen Rundblick auf ein mit Fischkuttern vollgestopftes Hafenbecken. Mast an Mast lagen sie aneinander in einem sich verengenden Schlauch, ein still schaukelnder Wald zwischen alten Holzpollern, eine verschorfte, versteinerte Allee, gezeichnet von den Abschürfungen der Taue. Am Ende des Hafens der Schiffsfriedhof, halb auf Land gezogene abgewrackte Boote, schrägliegend, ausgeplündert, den Mast auf der Erde, die Spanten der Schiffsrümpfe freiliegend. Auf dem Deich ein Ausflugsdampfer, wie das Knochengerüst eines großen, hilflos an Land getriebenen Fisches, die Radschaufeln in der Luft, der mächtige Schornstein abgeknickt, am Heck drei Buchstaben eines abgeblätterten Namens. Leinen hingen lose, eine Trosse scheuerte an einer vermoderten Holzdalbe, im böigen Wind pendelte irgendwo eine Messingglocke, schlug gelegentlich an, ein verlorener Ton, auf den keiner achtete, und über allem der durchdringende Geruch des Salzwassers.

Eine eiserne Rutsche wurde an das Schiff gehängt, der Koffer daraufgestellt, ein Tritt, und er sauste allein an Land, wobei der letzte Holzreifen absprang und ein weiteres Schloss sich öffnete; das Wasser spritzte zum Abschied zwischen der Kaimauer und dem Schiff noch einmal hoch. Er ging an Land, es war ein seltsames Gefühl, sich wieder an ein Geländer zu lehnen, das nicht Reling hieß. Die Insel war bestimmt größer, als man dachte, wie ein Schiff auch immer größer wirkt, wenn man endlich darauf steht, aber sie war trotzdem eine kleine Insel, auf der Landkarte nur ein schwarzer Punkt im blaugedruckten Wasser, der im Vergleich zu den ausgedehnten roten Flecken der Hauptstädte und Großstädte mit ihren fetten schwarzgedruckten Namen nicht vorhanden war. Die Städte kannte man, hatte zumindest von ihnen gehört, sie hatten ihre Bedeutung. Das hier war ohne jede Bedeutung, etwas Erde im Meer, nur der Vollständigkeit halber aufgeführt, jenseits dessen, was man zur bekannten Welt zählte, das hier musste keiner kennen, wollte auch keiner kennen, man hielt sich lieber ans Leben, das von den erleuchteten Zentren wie eine Sonne ausstrahlte. Ein Polizist und ein Zöllner signalisierten Grenze, langweilten sich, weil keinerlei Amtshandlungen vorzu