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Max Grund, ein Bürger wie du und ich, kann viele politische Entscheidungen nicht mehr nachvollziehen. Die Pandemie scheint viele Probleme in Deutschland offenkundig gemacht zu haben. Vernünftige Diskussionen in Politik und Medien sind selten oder gar unmöglich geworden. Zu oft werden die Menschen belehrt, was sie denken und wie sie leben sollen. Die Leute sind vorsichtig geworden. Ein falscher Satz könnte der eigenen Reputation schaden. Für Max Grund als Unternehmer sind es schwere Zeiten. Er macht sich viele Gedanken und sucht vergeblich die geeignete Bühne, auf der er Gesellschaftskritik fair anbringen kann. Im Alltag lehnt sich Max auf gegen eine politische und mediale Meinungsdiktatur. Seine Offenheit in den Argumenten bringen ihn mehr und mehr in Bedrängnis. Am Ende zahlt er einen hohen Preis: seine Freiheit. Dieser Roman gibt schweigenden Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme. Frei von Polemik will dieses Buch ein Anstoß zum Nachdenken und zum Miteinanderreden sein. "Ein Roman ganz nah an den Menschen, positiv und konstruktiv im Grundton. Dieses Buch regt zum Nachdenken an. Es tut gut, es zu lesen." Prof. Sigmund Gottlieb | ehemaliger Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens "Zivilcourage in Buchform. Der Ton ist respektvoll und am Punkt, frei von Pathos. Kann ich empfehlen." Thomas Köpf | Schriftsteller und Medienunternehmer
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Seitenzahl: 264
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Originalausgabe Oktober 2023Edition PJB© 2023 Edition PJBLayout und Satz: Johanna ConradUmschlaggestaltung: Ruthardt Consulting GmbH unter Verwendungeiner Grafik von © John Dory, shutterstock.comGesetzt aus der Sabon und PoppinsVertrieb: Buch&media GmbH, MünchenPrinted in EuropeISBN print 978-3-9825749-0-5ISBN epub 978-3-9825749-1-2
Kontakt: Buch&media GmbHMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65E-Mail [email protected]
Fürmeine Kinderunddie nächsten Generationen
#1 |Ein Wirbelsturm der Gedanken
Immer dieses Grübeln.
Wortlos steht er am Fenster seines Büros und schaut in die Ferne. Der Blick ins Grüne tut ihm gut. Das Umland ist von Feldern und Äckern durchzogen, am Horizont sieht man die Ausläufer einer bewaldeten Hügelkette. Max Grund sinniert. Seine Gedanken kommen in Wellen. Erst plätschern sie sanft daher, dann branden sie an der Steilküste seiner Vorstellung auf. So geht es ihm oft in letzter Zeit. Nicht immer ist er dabei entspannt. Vielmehr bauen sich Emotionen auf, die sich nicht gut anfühlen. Eine Besserung seiner Verfasstheit ist nicht in Sicht. Daran hat nicht nur er Schuld.
Max Grund hat einen Satz gehört. In jedem klaren Gedanken steckt Kunst. Seine grauen Zellen schreien nach Klarheit, nach Kunst, sogar nach einer Ausstellung. Die Botschaft ist simpel: Er will nicht, dass seine drei Kinder in einem abgewirtschafteten Land leben müssen. Er will auf keinen Fall, dass seine Kinder ihre Meinung nicht frei äußern dürfen. Er will es sich nicht vorstellen, dass sein Wohlstand, hart erarbeitet und mit viel Fleiß erwirtschaftet, einen Bach runter geht, der das traurige Preisschild Inflation oder Deindustrialisierung trägt.
Buchstaben perlen an ihm ab. Seine Lektüre der Tagespresse ist für heute weitgehend abgeschlossen. Einige der Themen beschäftigen ihn, und mit dem Ausblick ins Umland lässt es sich gut nachdenken. Selbstredend ist der Zugang zu entscheidenden Informationen für alle Bürgerinnen und Bürger eine elementare Voraussetzung. Erst auf dieser Basis können wir kritisch hinterfragen und uns aus Daten, Fakten und Erfahrungsberichten eine eigene Meinung bilden. So sieht es Max Grund. Er ist verwundert und hat keine Ahnung, warum diese Selbstverständlichkeit hier und jetzt in seiner Gedankenwelt auftaucht.
Max ist Experte, wenn es ums Nachdenken und Überlegen geht. Man könnte ihn einen Overthinker nennen. Die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland beschäftigt ihn speziell seit der Pandemie in einem solchen Umfang, dass es für sein Wohlbefinden grenzwertig geworden ist. Diese Fülle von Überlegungen will durchdacht und formuliert sein.
In jedem klaren Gedanken steckt Kunst.
Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Eigentlich will er seine Bedenken sagen oder niederschreiben, damit sie nicht verschwinden. Dann wäre eine umfassende Diskussion möglich. Dazu fehlen Max Grund aber geeignete Plattformen und plausible Anlässe. Er ist nicht berühmt oder prominent. Zurzeit kann er es nur den Bäumen da draußen erzählen. Bäume sind gute Zuhörer.
Die fehlenden Diskussionsplattformen erklären vielleicht, weshalb Max bei jeder unpassenden Gelegenheit auf die Politik, auf die Massenmedien und die – aus seiner Sicht – gefährdete Demokratie zu sprechen kommt. Das ist, als würde er von einem Fettnäpfchen in sieben andere springen. Da bleibt man schon einmal stecken in so einem Bottich aus Verstörung und Peinlichkeit. Er kann sich seit Monaten kaum mehr selbst ertragen. Sogar sein Spiegelbild schüttelt manchmal den Kopf.
Eigentlich war er ein fröhlicher und kommunikativer Mensch. Mittlerweile wirkt er frustriert und verbittert. Nur mit Mühe gelingt es ihm, diese Verzagtheit mit gespielter Leichtigkeit zu verschleiern. Zumindest meint er, dass es ihm meist gelingt. Ganz sicher ist er sich da aber nicht.
Erst neulich stand Max Grund in einem Elektromarkt vor einer Auswahl neuer Smartphones. Während er von einer Kundenberaterin bedient wurde, sehr freundlich übrigens, wechselte er unvermittelt das Thema.
»Gestatten Sie bitte eine kurze Frage, Frau Werling«, sagte Max. Er hat die Angewohnheit, die Leute im Service mit Namen anzusprechen, wenn sie ein Namensschild tragen. Einerseits aus Höflichkeit und Wertschätzung, andererseits, weil er dann ihre Aufmerksamkeit gewinnt. Jessica Werling war überrascht. Noch bevor sie nachfragen konnte, woher er ihren Namen kennt, schob Max seine Frage hinterher.
»Warum werden die seltenen Erden für dieses Smartphone unter menschenunwürdigen Bedingungen von jungen Leuten im Kongo aus dem Boden gekratzt?«
Die Kundenberaterin vergaß die Namensfrage und schaute Max mit Fragezeichen in den Augen an. »Wie, was, wer kratzt wen aus dem Boden?« Jessica Werling war verdutzt.
Max hatte eine unmerkliche Freude daran, obwohl er Menschen nicht gerne in unangenehme Situationen bringt. Etwas Heißsporniges in ihm ließ nicht locker. »Mir geht es um das in Deutschland geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz«, legte er nach. Das machte es für Jessica Werling nicht besser. Mit dem bürokratischen Monster des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz gesetzes musste sich zwar ihr Arbeitgeber als Handelskonzern auseinandersetzen. Sie persönlich hatte damit nichts zu tun, und von den Nachrichten aus Politik und Wirtschaft fühlte sie sich sowieso nicht sonderlich betroffen.
Natürlich hatte Max recht, wenn er auf die faktische Unwirksamkeit dieses Gesetzes hinweisen wollte. Aber Jessica Werling war letztlich doch die falsche Adressatin und der Zusammenhang nicht schlüssig. Entsprechend irritiert schaute sie ihn an und war froh, als Max seine Kaufentscheidung verschob. »Auf … Wiedersehen«, sagte die junge Frau mit zusammengezogenen Augenbrauen und hatte nun Gesprächsstoff für eine Plauderei mit Kollegen.
Eigentlich wollte Max sowieso nur wissen, welches Smartphone die beste Kamera hat und trotzdem klein genug ist, um in seine Hemdtasche zu passen. Für die fachliche Beratung bedankte er sich. Ihm war klar: Er wird trotzdem online bestellen, sobald die Vertragsverlängerung bei seinem Mobilfunk-Provider ansteht.
Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Alles ist diffus und verworren, wie ein Knäuel aus einer Fülle an Kabeln, die es zu entwirren gilt.
Jetzt steht Max Grund in seinem Büro und findet keinen roten Faden. Selbst die Sonnenstrahlen am frühen Vormittag im Frühsommer 2023 können seine Stimmung nicht aufhellen. Sein Handy läutet. Sven Belling steht auf dem Display.
Belling ist ein erfahrener IT-Manager und arbeitet in einem Konzern. Max kennt ihn seit Jahren, die beiden haben schon einige Projekte erfolgreich umgesetzt. Man versteht sich, man vertraut sich, und man ist beim Sie geblieben. Vielleicht ist das die sogenannte alte Schule. Oder einfach nur professionell; ein gewisses Maß an Distanz zu wahren, kann in komplexen Arbeitsabläufen mit hohen Budgets nicht schaden.
»Können Ihre Consultants und Entwickler keine Konzepte lesen?« Dieser Gesprächsauftakt von Belling sorgt dafür, dass Max in den Alarm-Modus geht. Max kennt das Projekt. Er hat es von Beginn an im Projektlenkungsausschuss begleitet. Ihm ist sofort klar, dass einem seiner Mitarbeiter ein Fehler unterlaufen ist und der Kunde vermutlich nicht ausreichend getestet hat. Jetzt gilt es, auf der Klaviatur der Problemanalyse zu spielen.
»Ja, lieber Herr Belling, wir schreiben nicht nur die Konzepte, sondern wir lesen sie anschließend auch – mindestens ab und zu.« Max versucht mit leiser Ironie eine gewisse Leichtigkeit ins Gespräch zu bringen.
»Sie haben keine Ahnung, was in der Fachabteilung los ist!«, schimpft Belling und baut dabei etwas Stress ab. Ja, die Leute im Finanz- und Rechnungswesen des Kunden haben derzeit besonders viel zu tun. Das ist Max bekannt. Wenn dann zusätzlich Testphasen verlängert werden müssen, weil die Software fehlerhaft ist oder die Parametrisierung nicht passt, ist das ärgerlich. Wenn aber der Kunde schon getestet und die Software abgenommen hat, ist er mit ihm im Boot. Bei diesem Gedanken fühlt sich Max nicht mehr alleine in der Bredouille. »Wenn wir Robotic Process Automation implementieren, müssen wir die exakten Abläufe der Geschäftsprozesse verstehen, Herr Belling.« Max bemüht sich um einen ruhigen Ton. »Nur so können die RPA-Consultants den Software-Roboter so einstellen, dass er die Aufgaben automatisiert durchführen kann.«
»Das ist mir klar«, sagt Belling und versucht, die Sache abzukürzen, »in der Testphase hat das auch geklappt. Ich habe mir selbst die Testprotokolle angeschaut.«
Max erinnert sich an den kaufmännischen Geschäftsprozess, der mit Robotic Process Automation, also RPA, automatisiert wurde. Er ahnt, wo das Problem liegen könnte. »Soweit ich mich richtig erinnere, Herr Belling, werden aus dem Buchhaltungssystem diejenigen Kunden identifiziert, die schlechte Zahler sind. Diese Daten werden dann dem Vertrieb in einem Excel-Dokument zur Verfügung gestellt.«
»Mhm«, brummt Belling und lässt Max weiterreden.
»Wenn im Excel-Dokument eine Spalte hinzugefügt oder verschoben wird, kann das dazu führen, dass der Software-Robot die Daten nicht korrekt befüllt und den Vorgang abbricht.«
Am anderen Ende kurze Stille. »Mist, das wird es sein.« Vermutlich ahnt auch Belling, wo das Problem liegt. Max denkt kurz nach, ob er einen Preis für die Problembehebung aufrufen oder kostenlos helfen soll.
»Ich kann sehr gut verstehen, dass die Fachabteilung mit diesen neuen Technologien wenig Erfahrung hat. Eine nochmalige Schulung könnte hilfreich sein. Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Wir beheben das aktuelle Problem kostenlos, und Sie beauftragen eine vierstündige Schulung. Ein Angebot mit der Agenda lasse ich Ihnen zukommen, Herr Belling, und den Termin für die Schulung stimmen unsere Projektleiterinnen miteinander ab. Ist das für Sie eine brauchbare Lösung?«
Sven Belling lässt sich zu einem »Ja, das machen wir so« hinreißen, obwohl Max spürt, dass er die Schulung nicht wirklich will. Aber wenn er schon die Fehlerbehebung kostenlos bekommt, dann muss Sven Belling eben an anderer Stelle Federn lassen. Quid pro quo.
Während Max redet, ruht sein Blick auf dem Grün der umliegenden Landschaft. Es tut ihm gut, und es gibt ihm ein gutes Lebensgefühl. Die Natur hatte immer schon eine positive Wirkung auf sein Gemüt.
Der Sachverhalt ist mit Belling besprochen, es bleibt noch Zeit zum Plaudern. Wobei Plaudern dann doch eher der falsche Begriff wäre. Seit der Pandemie ist Small Talk aus den Gesprächen weitgehend verschwunden. Man redet, dort wo man sich vertraut, ernst und besorgt über das, was aktuell in Deutschland geschieht. So auch in diesem Fall.
Die meiste Zeit reden die beiden über die unsichere Energieversorgung in Deutschland und das Abwandern von Industrien. Am Schluss des Telefonats ist Max erschöpft und überaus besorgt. Einmal mehr. Die Zahl der Gespräche nimmt ständig zu, in denen man nicht über das Wetter oder den nächsten USA-Urlaub spricht, sondern über die offensichtliche Unfähigkeit der Regierenden und die Widrigkeiten politischer Entscheidungen.
Max Grund wundert sich. Ihm ist aufgefallen, dass das bei Online-Meetings mit internationalen Gesprächspartnern nicht so ist. Dort herrscht zwar eine Verwunderung über die deutsche Politik, aber ansonsten sind die Leute entspannt. Bei Gesprächen mit Menschen hingegen, die in Deutschland leben und vor vollendete Tatsachen gestellt sind, macht sich nicht mehr nur Verwunderung breit. Vielmehr Entsetzen. So erlebt es Max Grund. Sein Alltag ist zu einem parlamentarischen Gruselkabinett geworden.
Max hat das Gefühl, dass er trotz aller Vernunft kurz vor so etwas wie »dem Wahnsinn« steht. Er kann nicht einfach nur in den Tag leben und dabei das aktuelle Geschehen ignorieren. Gesellschaftspolitisches Verstecken würde einfach nicht seinem Selbstverständnis als wahlberechtiger Bürger entsprechen.
Seine unruhigen Gedanken zur geopolitischen Lage wollen eingeordnet und sortiert werden – wer immer das auch macht. Ihm kommt es vor, als müsse er ein Kartenhaus im Wind aufstellen. Ebendeshalb steht er am Fenster und sinniert vor sich hin. Er schaut aus wie die Stand-up-Paddle-Version von Auguste Rodins Der Denker.
Schließlich waren die Ereignisse während der Corona-Pandemie extrem aufwühlend. Bis heute vermisst Max eine sachliche, faktenbasierte Aufarbeitung. Gleich danach die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine – dieser Krieg hat neue, ebenfalls komplexe Fragen und Probleme aufgeworfen. Dazu noch die Art und Weise der Lösungsfindung rund um die Klimaveränderung. Diese wichtigen Themen stellen ihn als Bürger bei den Wahlen und im Alltag vor gewaltige Herausforderungen. In Max keimt etwas auf, das man ruhig Unrast nennen kann. Damit ist er keineswegs allein. Zunehmend trifft er Menschen in seinem Umfeld, die nervös sind. Nervös, weil politische Entscheidungen nicht mehr ignoriert werden können. Dabei fördert aktives Ignorieren zunächst die Entspanntheit der eigenen Gemütslage. Es ist, als würde der Mensch Blinde Kuh spielen, um der Unbill zu entgehen. Die Welt da draußen riecht kränklich, und das Virus heißt Tatenlosigkeit.
Jeder exogene Schock, jeder Hammerschlag des Schicksals, hat ein Nachbeben in der Gesellschaft. Viel Unangenehmes ist in kürzester Zeit sehr nah an alle Bürgerinnen und Bürger herangekommen: Überzeugungen versus Unsicherheiten bei Impffragen während der Pandemie. Anschließend die wider jede Logik fast schon tot geglaubte Inflation. Dazu eine sich bis zur Handlungsunfähigkeit auf die Geldbedarfe von Mitgliedsstaaten einlassende Europäische Zentralbank. Dann die Kosten für den Klimaschutz, die sich im eigenen Geldbeutel abzeichnen. Nicht zu vergessen die vielen Fragezeichen rund um militärische Auseinandersetzungen in Europa. Geopolitische Entscheidungen der Regierenden und die Risiken in Bezug auf unsere bisher so leistungsfähige und erfolgreiche Wirtschaft. – Diese Liste lässt sich fortsetzen und konkretisieren. Um seine berechtigte Nervosität zu begründen, reichen diese Stichworte Max allemal aus.
Seit geraumer Zeit stellt er sich Fragen: Wie bekommt man Ordnung in das Chaos von Informationen, Desinformationen und selektiven Wahrheiten? Muss man seine Debatten im Privaten führen, weil es sie im öffentlichen Raum – wenn überhaupt – nur noch eingeschränkt gibt?
Max erinnert sich an einen TV-Beitrag, in dem sich einer der führenden deutschen Politiker Fragen des Wahlvolkes gestellt hat. Eigentlich ein tolles und bürgernahes Format, hatte er gedacht. Ein paar Tage später kam der Frust. In einem Kommentar stand, dass ein nennenswerter Teil der zu Wort gekommenen Bürgerinnen und Bürger auf kommunaler Ebene Funktionen in der Partei des Politikers hat. Der Bürgerdialog war inszeniert. Max hatte es beim Schauen so verstanden, dass quasi zufällig ausgewählte Menschen dem Politiker Fragen stellen durften. Heute realisiert er, dass das Ganze gestaltet worden ist. Es macht ihn immer noch sprachlos. Klar, es mag formal keine Lüge sein. Aber ist so ein Vorgehen ehrlich gemeint und frei von Manipulation? Max ist sich da nicht sicher.
Immer dieses Grübeln.
Es ist eine Art von Luxus, wenn man bei der Arbeit einen schönen Ausblick auf die Natur hat – und die nötige Zeit, um seinen Gedanken nachzuhängen. Nun, Max hat es sich mit Fleiß und viel Anstrengung erarbeitet und darf sich das, na ja, gönnen. Mit dieser Feststellung legitimiert er sich sozusagen vor sich selbst und dem Rest der Welt. Er empfindet sich als privilegiert und rechtschaffen gleichermaßen.
Ein Zitat drängt sich in seinen Überlegungen auf. Er erinnert sich an den wahrscheinlich letzten deutschen Universalgelehrten, dessen anspruchsvolle Publikationen Max als jungen Erwachsenen fasziniert und, puh, ziemlich gefordert haben. Der 2007 verstorbene Carl Friedrich von Weizsäcker sagte: »Das demokratische System, zu dem unser Staat sich bekennt, beruht auf der Überzeugung, dass man den Menschen die Wahrheit sagen kann.«
Wir müssen dringend zu dieser Überzeugung zurückkehren, meint Max und schluckt seine Verärgerung über den Politiker und den manipulierten Bürgerdialog im Fernsehen runter. Sie sind nicht alle schlecht. Es ist nicht die einzige Halbwahrheit oder Unwahrheit, die ihm in der medialen Berichterstattung aufgefallen ist. Er könnte darüber ein medienkritisches Buch schreiben und denkt einen kurzen Moment darüber nach, ob das die Mühe wert sein könnte. Dann verwirft er den Gedanken. Lesenswerte Bücher schreiben nur Literaten, keine Menschen wie du und ich.
Die Wiese leuchtet in einem frischen Grün. Während ein Rotmilan nach Beute sucht, fokussieren sich Max’ Gedanken zeitgleich. Er stellt fest, dass es nicht nur im Kreis von Geschäftspartnern die Breite an Gesprächsthemen nicht mehr gibt, auch bei Freunden. Noch vor ein paar Jahren hat man in den Dialogen die ganze Welt umgedreht. Es war ein fröhliches Plaudern, ein anderes Mal ein ernsthafter Diskurs. Wie schaut das heute aus? Max versucht, die vergangenen Wochen an sich vorbeiziehen zu lassen, und stellt ernüchtert fest, dass es immer um die aktuelle Politik gegangen ist.
Wenn er mit Freunden, Geschäftspartnern oder wildfremden Menschen redet, ist man sich in aller Regel schnell einig: Wir brauchen wieder wirkliche Debatten in unseren Parlamenten. Eine Demokratie lebt davon, dass eigene Überzeugungen mit fundierten Argumenten und gerne auch mit gemachten Erfahrungen vorgetragen werden. Man soll Menschen von seinem Standpunkt inhaltlich überzeugen. Dabei zählt jedes gute Argument. Ja, es zählt das Argument. Es zählt mehr als der Vortrag eines ideologischen Standpunktes. Man ist sich oft ebenso schnell einig, dass es zusätzlich zu den Debatten in den Parlamenten auch die vorhergehenden und die sich anschließenden Diskussionen braucht. Dazu dienen unseren Volksvertretern die Ausschüsse und andere Gesprächsformate. Für die Breite der Gesellschaft finden sich vor allem die Gesprächs- und Diskussionsformate in den Medien. Gerade den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten kommt hierbei, so sieht es Max, eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu.
Andere würden Max raten, besser ruhig zu sein. Leiser denken ist sicherer. Er tut sich schwer mit dem geistigen Knebel. Es gilt, sich mit den Argumenten der anderen zu beschäftigen und – wenn schlüssig – seinen eigenen Standpunkt zu ändern. Nicht willkürlich, sondern kraft begründeter Einsicht. Dazu hat man dann zu stehen. Es ist gut – und es darf kein Ansehensverlust sein –, wenn jemand aus sachlichen Gründen seinen Standpunkt korrigiert. Ganz im Gegenteil, findet Max.
Beeindruckt schaut er den Sturzflug des Rotmilans an. Und freut sich für die Maus, die seiner Attacke fürs Erste entkommen ist. Der Milan steigt wieder in die Höhe und positioniert sich neu. Max sinniert, wie viele Versuche dieser Greifvogel wohl unternehmen muss, bis er Erfolg hat. Er schaut weiter aus dem Fenster. In einem Buch würde man sagen: Er ist eine stationäre Figur. Im Leben würde man sagen: Er ist jemand, der laut denkt. Jetzt gönnt sich Max sein zweites Frühstück und ist froh, dass er nicht so viel jagen muss wie der Rot-milan.
Ja, es ist logisch und sinnvoll. Zuhören, reden, allenfalls Einstellungen ändern. Max knüpft daran an, dass man aus guten Gründen seine Meinung ändern darf. Leider besteht für Politikerinnen und Politiker ein Risiko, wenn sie ihre Meinung ändern. Die Öffentlichkeit könnte das als Schwäche auslegen. Es verwundert ihn also nicht, wenn politische Akteure sich der Argumente verwehren. Zur Absicherung ihres medialen Wahrgenommen-Werdens kann es erfolgreicher sein, eine Ideologie vorzutragen, die sich mit dem Rückgrat zurechtgebogen hat. Ideologisch kommunizierend kann man »gut« sein, ohne einen Sachverhalt im Detail begründen zu müssen.
Viele wollen gut sein – mehr als sie können.
Jetzt können sie ideologisch alle gut sein – mehr als sie wollen.
Wenn dann noch rhetorisches Können dazukommt, ist es schwer, diesen »Schauspielern« und ihren Ideologien beizukommen. Wie oft, so kritisiert sich Max selbst, hat er es nicht bemerkt, wenn er anstelle von Argumenten gut klingende Phrasen von Politikerinnen und Politikern vorgesetzt bekommen hat. Er war so dumm und hat die leeren Worte geglaubt.
Max betrachtet seine Hände. Seine Nägel sind sauber. Er möchte im Hier und Heute etwas Konstruktives tun, ohne sich dabei auf der Straße festzukleben, vegan zu werden, Tomatensuppe über Kunst zu schütten, sein Geschlecht zu ändern oder Pflastersteine auf Polizeiautos zu werfen. Er spürt es geradezu: Es gilt, etwas zu tun. Für unsere Demokratie! Es braucht Zeit und Raum für bessere Debatten. Es braucht objektive und differenzierende Diskurse. Max scheint, dass jede Bürgerin und jeder Bürger unseres demokratischen Landes dazu aufgefordert ist – er natürlich auch. Er muss etwas tun. Es geht gar nicht anders.
Das eine oder andere Mal hatte Max schon die Sorge gehabt, ob er unter einem sogenannten Overthinking leide. Eine Art ADHS für Menschen, die das Leben zu ernst nehmen. Vielleicht mag das eine zutreffende Selbstdiagnose sein, denkt er auch jetzt wieder. Aber woher soll er wissen, ob er ein überdurchschnittlich starkes Nachdenken praktiziert? Ab wann wäre das als ungesund einzustufen? Er hofft, dass seine kritische Nachdenklichkeit nicht krankhaft, sondern hilfreich ist. Allerdings erkennt er, dass sie ihm bisher keine brauchbaren Ergebnisse geliefert hat. Er denkt in Schleifen und kommt sich manchmal vor wie in einem Albtraum. Wenn da ein Gang ist und hinten eine Tür, und man rennt und rennt, und der Gang wird immer länger, und die Tür ist unerreichbar.
Die Klärung der Frage, ab wann das viele Nachdenken nicht mehr normal ist, erspart er sich. Max geht diesem Thema dann doch lieber aus dem Weg. Ein Gedanke weniger kann nicht schaden. Es gibt Digital Detox, also den Wunsch, sich von der Technik fernzuhalten. Warum sollte es nicht auch Cerebral Detox geben, den Wunsch, sich vom Denken fernzuhalten?
Max kichert in sich hinein. Er liebt die Ironie. Selbstironisch zu sein, ist sein Harnisch. Er schützt ihn vor vielem da draußen. Sein Gemüt hat sich entspannt – und jetzt nimmt er wahr, dass sich die Laubbäume am Horizont mit ihrer Vielfalt an Grüntönen sehr schön in die Landschaft einfügen. Für einen Moment hat sich etwas Friedliches breitgemacht. Wie schön die Natur ist. Er freut sich darüber und nimmt sich fest vor, diese innere Ausgeglichenheit nach getaner Arbeit nach Hause mitzunehmen. Das wird sicher allen guttun. Er freut sich auf den Abend im Kreise der Familie, auf seine drei Kinder. Groß sind sie geworden, denkt er. Und ist glücklich über das, was aus seinen mittlerweile erwachsenen Kindern geworden ist: freundliche, zuvorkommende Menschen, die Bildung für etwas halten, das nicht von Instagram kommt. Stolz macht sich breit, und er merkt, wie unangemessen das ist. Schließlich hat er von Erziehung nicht wirklich eine Ahnung. Seine Exfrau – er bricht den Gedankengang ab und wendet sich wieder seiner Arbeit zu.
Achtzehn neue E-Mails – und darunter das Angebot von einem Investor aus Burkina Faso, mir elf Millionen Euro aufs Konto zu überweisen, wenn ich auf einen Link klicke, um das spontane Geschenk zu bestätigen.
#2 |Von der Arroganz
Das hat es schon lange nicht mehr gegeben. Es ist mitten in der Woche, und alle drei Kinder sind zu Hause. Carla, Ruben und Jakob. Die Geschichte heißt »Ungeplantes Frühstück mit drei Kindern«, eine Installation. Seit sie erwachsenen sind und durch Ausbildung und Studium an unterschiedlichen Orten wohnen, musste Max das Loslassen lernen. Er ist dankbar, dass seine beiden Söhne und die jüngere Tochter ihren Weg gehen. Dankbar, dass trotz seiner pädagogischen Unzulänglichkeiten aus den Kindern fröhliche und tüchtige Erwachsene geworden sind.
Als alleinerziehender Vater – die Gründe dafür verdrängt er erfolgreich – praktiziert er eine eher schlichte Erziehung: Liebe deine Kinder. Sei für deine Kinder da. Lass ihnen Freiraum, sich zu entfalten – und bewahre die Ruhe. Ruhe zu bewahren ist nicht seine Stärke. Sein Helfersyndrom und das sich für jeden und alles mitverantwortlich Fühlen bringen ihn oft in unnötige Bedrängnis.
Max wendet sich den Kindern zu. Sie reden über die gestiegenen Mieten in Studentenunterkünften; da schaut er doch lieber in die Pfanne, in der die Spiegeleier braten. Es gibt Sandwiches, und deshalb fängt er an, die Spiegeleier zu wenden. Seine Tochter klopft ihm auf die Finger, liebevoll die Geste, und nimmt ihm den Pfannenwender aus der Hand. Er stottert ein »sunnyside up« und irgendwas, das klingt wie »wollte doch nur helfen« und zieht ab. Dann halt nicht. Am Smartphone öffnet er die App von The Pioneer und liest die Nachrichten des Tages. Differenzierte Berichterstattung und die gut aufbereiteten Statistiken begeistern ihn. So auch jetzt. Max steht auf und geht zu den Kindern.
»Schaut mal. Das ist eine super Statistik. Hier sieht man, wie sich in den vergangenen Jahren das Wählerverhalten in der EU verändert hat.« Er hält den Kindern sein Smartphone unter die drei Nasen, sodass am Ende keiner etwas erkennen kann. »Das hat sich deutlich nach rechts verschoben. Die Bürgerinnen und Bürger wählen zunehmend konservativ. Das war mir nicht bewusst«, und während er weiterredet zieht ihn seine Tochter an den Esszimmertisch. »Ganz toll, Papa. Wirklich, sehr interessant. Jetzt setz dich hin. Wir reden gerade über etwas ganz anderes. Kannst du dich noch drei Minuten alleine mit der Statistik beschäftigen? Anschließend ist das Frühstück fertig, und wir setzen uns zu dir.« Damit weiß er Bescheid, und die wichtige Erkenntnis des noch frühen Tages muss er für sich behalten.
»Dann halt nicht«, murmelt er und wendet sich wieder seinen Nachrichten zu. Er ist nicht beleidigt. Es ist auch kein Desinteresse. Er wollte nur einmal mehr zum falschen Zeitpunkt ein wichtiges Thema anschneiden. Er nennt es »spontan«. Andere nennen es »du störst«. Es liegt im Auge des Betrachters.
Während des Frühstücks ist jeder mit sich beschäftigt. Die Eier-Avocado-Sandwiches schmecken super lecker. Der Blick in die Runde zeigt ein harmonisches Miteinander, und Max badet sich in dem Glücksmoment. Er lässt die Kinder ihr Gespräch fortsetzen und hört zu. Nicht zu allem muss er seinen Senf dazugeben. Sie sind alt genug, um ihren Alltag zu organisieren. Da muss er nicht alles hinterfragen und kommentieren. Er muss anderen Lebenswelten Raum geben, damit sie atmen können.
Was nicht bedeutet, dass seine Vorstellung in eine Sackgasse geraten ist. Max führt Gespräche mit sich, ohne dass es andere Menschen merken, nicht einmal seine Kinder.
Ja, die Komplexität unserer Zeit ist enorm, hatte er damals einem Gesprächspartner geantwortet. Max versucht es nochmals für sich herzuleiten: Maßgebliche Treiber der Komplexität sind die technologischen Möglichkeiten in der Logistik, in der Telekommunikation, bei den digitalen Speicherkapazitäten, den Rechenleistungen und der künstlichen Intelligenz. In den vergangenen Jahren haben wir alle die Auswirkungen als Globalisierung, in den neuen Dimensionen der Kommunikation und durch Assistenzsysteme für viele Bereiche des Alltags erlebt. Das World Wide Web markierte einen dieser Zeitenbrüche in der Menschheitsgeschichte. Die künstliche Intelligenz wird einen weiteren maßgeblichen gesellschaftlichen wie auch ökonomischen Umbruch mit sich bringen. Dass wir seit geraumer Zeit mittendrin stecken, dessen ist sich Max Grund sicher. Sein Gesprächspartner stimmte dieser Sicht zu. Manchmal gibt es in großen Fragen sehr wohl Übereinstimmung.
Eine weitere Überlegung schließt sich direkt an: Gibt es etwas, das im Vergleich zu »früheren Zeiten« gleich geblieben ist? Ja, ganz gewiss: viel Gutes, aber eben auch das Schlechte. Zum Beispiel der Wunsch und das Streben von Einzelnen nach überproportional mehr Ansehen, überproportional mehr Vermögen und überproportional mehr Macht. Dafür waren und sind Einzelne für sich und gemeinsam mit Gleichgesinnten konsequent bereit, moralische Restriktionen und das Gemeininteresse aktiv und wissentlich über Bord zu werfen. Dabei ist es unerheblich, ob diese moralischen Restriktionen aus Religion oder Weltanschauung kommen oder ob hier die allgemeinen Menschenrechte, die Charta der Vereinten Nationen als Maßstab angesetzt werden. Mag vielleicht ein bisschen hochtrabend klingen, ist aber so.
Vielleicht, so schätzt es Max ein, sind diese Einzelnen wie wir alle, nur eben allein oder als kleines Kollektiv mutig und konsequent handelnd. Womöglich liegt es auch an deren Ausgangsvoraussetzungen. Wenn jemand zum Beispiel besondere Möglichkeiten durch ein großes, geerbtes Vermögen oder durch das Aufwachsen in einer Familie mit einer außergewöhnlichen Vernetzung zu einflussreichen Menschen in Wirtschaft oder Politik hat, dann hat dieser Mensch eine andere Ausgangslage und weiterreichendere Möglichkeiten, als es im Allgemeinen üblich ist. Er oder sie ist privilegiert. Weil er oder sie nicht in Sierra Leone aufgewachsen ist, sondern in Hamburg oder sonst wo in Deutschland.
Allenfalls würde sich dieses Kollektiv gerne als Elite bezeichnen lassen wollen. Das möchte Max nicht zulassen. Da er seine Gedanken mehr oder weniger unter Kontrolle hat, liegt hier die Macht ausschließlich bei ihm. Das stellt er beim Sinnieren gerade mal so fest und ist über dieses bescheidene Stück Freiheit seiner Gedanken ganz froh. Er hat einen weiteren Grund zum Lächeln, während er in der Küche die Arbeitsplatte reinigt und zufrieden auf sein Werk blickt. Er schlendert zum Sofa und macht es sich, weil niemand etwas anderes von ihm haben möchte, bequem.
Max hat ein geistiges Notizbuch. Er hält für sich fest: Unsere Zeit ist sehr komplex. Immer mehr hängt mit vielem zusammen. Und das Bedürfnis von Menschen nach Ansehen, wirtschaftlichem Erfolg und Macht ist natürlich weiterhin vorhanden. Gier. Macht. Ein globales Phänomen.
Vor einiger Zeit ist bei ihm die Erkenntnis hinzugekommen, dass einige politische Anschauungen in Deutschland in ihrer Absolutheit als gescheitert gelten. Dazu zählt er die »Friedensdividende«, von der nach dem Ende des Kalten Kriegs so oft die Rede gewesen ist. Ebenfalls darunter fällt für Max die Strategie »Wandel durch Handel«. Mindestens, wenn man darunter versteht, dass der Wandel zu einem quasi Gleich-Werden des Handelspartners mit den eigenen, deutschen oder westlichen Werten führen soll. Begriffen hat es Max nie, warum andere Kulturen ein Wertesystem haben sollten, das unserem ident ist. Konsequent hinterfragt hat er diese geopolitische Strategie bisher aber auch noch nicht.
Es würde ausreichen, meint Max, wenn man sich unter dem Dach der Vereinten Nationen in der Hinsicht auf die friedliche Koexistenz einig ist. Seine Gedanken setzen zu einem Sprung an wie bei einem Reitturnier, wenn das Pferd die nächste Hürde nimmt: Er hat es nie verstanden, weshalb man als Wirtschaftsnation auf die militärische Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zunehmend verzichtet hat.
Er erinnert sich an seine Zeit an der Hauptschule. Da war es nicht immer ausreichend, dass man bei Klassenarbeiten gerne von ihm abgeschrieben hat. Okay, ein bisschen Schutz durch die Nutznießer war geboten. Nichtsdestotrotz wäre es auf dem Pausenhof ab und an hilfreich gewesen, wenn er zusätzlich über ein paar Muskeln verfügt hätte. Bizeps, Trizeps und ein kräftiges Knie.
So wird es auch in der Geopolitik sein. Nun, der Vergleich hinkt, stellt Max fest und ist durch die Erinnerungen an seine Schulzeit ein klein wenig belustigt. Trotzdem setzt sich sein Gedanke in einem neuen Anlauf fort: Er hat damals nicht freiwillig und im Sinne einer Friedensdividende auf das Muskelpaket verzichtet. Es war nicht der Tausch von Abschreiben-Lassen gegen physischen Schutz auf dem Pausenhof. Es war bei ihm schlichtweg die Substanz nicht da – und fast hätte er bei diesem Gedanken angefangen, laut über sich zu lachen. Aber dann würden die Kinder fragen, was denn nun abgeht – und das möchte er sich und ihnen ersparen. Seine Ernsthaftigkeit kehrt zurück, und er bringt die Überlegung zu Ende: Das Potenzial, stark in der militärischen Verteidigung zu werden, hätte die Bundesrepublik Deutschland schon gehabt. Sie hätte es nicht allein hinbekommen müssen; schließlich hätte man einen europäischen Kontext finden und damit nachvollziehbaren Bedenken der europäischen Nachbarn gegenüber einem geeinten Deutschland entgegentreten können. Das wäre womöglich sogar eine plausible Ergänzung zur Einführung des Euro gewesen.
Max erinnert sich an die Debatten im Bundestag zu Bonn. Es scheint im Kontext der Wiedervereinigung wichtig gewesen zu sein, dass die starke Deutsche Mark einer europäischen Währung gewichen ist. Es galt, die Sorgen der großen Nachbarn, insbesondere Großbritannien und Frankreich, vor einem wiedervereinigten Deutschland zu nehmen. Max hat unterschiedliche Beiträge von Historikern dazu gelesen und ist sich nicht mehr sicher, wie deren Bewertung ausgefallen ist. Nun, er lässt es auf sich beruhen und kehrt zum desolaten Zustand der Bundeswehr zurück. Die Ausgaben für militärische Notwendigkeiten waren vielen politischen Akteuren nicht angenehm genug. Man sonnte sich in wohlklingenden Worten und in der Überzeugung oder Hoffnung, dass das Gute gewinnen werde. Offensichtlich war das über die Grenzen der selbsternannten Volksparteien hinweg eine gemeinsame Sicht auf die Dinge.
Vielleicht hat es der eine oder die andere schon immer gewusst. Vielleicht verwundert es. In jedem Fall war ein zu großer Teil der politischen Mandatstragenden und Medienschaffenden nicht adäquat auf die Vielzahl an Irrtümern vorbereitet. Auch haben wir uns als Gesellschaft in den vergangenen Jahren nicht ausreichend und erst recht nicht nachhaltig mit entscheidenden, zukunftsweisenden Fragen auseinandergesetzt. So eine Vogel-Strauß-Politik schafft Platz für allerhand Sonderbares.
Hier und dort haben ungebetene populistische Akteure die Bühne betreten. Und neue Schreihälse drängten in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Minderheiten mit dem Megaphon der sogenannten Inklusion. Diversität als neue Religion. Gutmenschlichkeit im Imperativ. Zu viele Beteiligte in Politik und Medien haben aus Opportunismus oder aus Einfältigkeit kräftig mitgemacht.
Einerseits geht es um das selektive Herausgreifen von Anschauungen und Stimmungen, meint Max, um dieses woke Regelwerk dann als »die Wahrheit« oder »die Erkenntnis« flächendeckend zu vermitteln – völlig unabhängig davon, wie es die Mehrheit der Menschheit in unserem Land sieht oder praktiziert. Andererseits werden einzelne Personen bewusst missverstanden, um »das Böse« oder »das Falsche« auf sehr simple und diskreditierende Art und Weise in der öffentlichen Wahrnehmung zu definieren. In beiden Fällen waren und sind wir weit weg von einem Diskurs, stellt Max fest. Man könnte es als mediales Plattmachen Andersdenkender beschreiben.
Unser Protagonist fragt sich, was er währenddessen getan oder nicht getan hat. Wo waren die vielen anderen Mitbürgerinnen und Mitbürger? Sind wir seit Jahren gemeinsam in unserer Komfortzone stecken geblieben? Die Antwort liegt für Max auf der eigenen Hand: Er und viele andere waren fleißig bei der Arbeit und haben Steuern bezahlt, haben sich um ihre Familie und gegebenenfalls um ein Ehrenamt gekümmert, haben konsumiert und gelebt – und großzügig weggeschaut. Die gesellschaftspolitischen Veränderungen hätten uns rechtzeitig auffallen müssen.