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Würdest du jede Woche kommen, selbst wenn dein geliebter Mensch dich nicht mehr erkennt?
"Samstags bringe ich dir Worte" taucht tief in die Herausforderungen ein, die entstehen, wenn ein geliebter Mensch in eine Welt des Schweigens und der Verwirrung abtaucht. Dieses bewegende Buch zeigt, wie Liebe und Hingabe selbst dann bestehen können, wenn Erinnerungen verblassen.
Max besucht seinen vom Schlaganfall gezeichneten Freund Moritz, der gerade mal Mitte Fünfzig ist, jede Woche im Pflegeheim. Doch die Geschichte geht weit über diese beiden hinaus. Sie spiegelt die Erfahrungen von Kindern, die ihre Eltern pflegen, von Ehepartnern, die ihre Liebsten durch den Nebel der Demenz begleiten, und von Freunden, die trotz allem füreinander da sind.
Wie weit würdest du gehen, um jemanden zu erreichen, der in seiner eigenen Welt gefangen ist?
Spüre die lähmende Hilflosigkeit, wenn kaum ein Wort dein Ohr erreicht. Fühle den Kloß im Hals, wenn Max ob des Schicksals seines Freundes mitleidet. Erlebe aber auch die zarte Hoffnung, die aufkeimt, wenn Max beginnt, selbstgeschriebene Kurzgeschichten vorzulesen.
Jede vorgelesene Geschichte ist wie ein dünner Faden, der Verbindungen knüpft, wo Erinnerungen versagen. Du wirst die Kraft der Worte spüren, die Brücken bauen können, selbst wenn alle anderen Wege versperrt scheinen.
Zwischen den Zeilen dieser Erzählung entfaltet sich eine tiefgreifende Reflexion über die Bedeutung von Beziehungen, die Zerbrechlichkeit des Lebens und die unerschütterliche Stärke menschlicher Bindungen. Dein Herz wird schwer, wenn du die Grenzen der Kommunikation miterlebst, aber gleichzeitig wirst du von der unerwarteten Kraft einfacher Gesten überrascht.
Wie oft würdest du neue Worte finden, um die Kluft zwischen Erinnerung und Vergessen zu überbrücken?
"Samstags bringe ich dir Worte" ist mehr als nur ein Buch - es ist ein Spiegel, der dir die Kostbarkeit jedes Moments vor Augen führt. Es flüstert dir zu, das Leben in all seinen Facetten wertzuschätzen, und lässt dich die Macht der Liebe bis in die Fingerspitzen spüren.
In einer Welt, die oft zu laut ist für leise Töne, erinnert uns dieses Buch daran, dass Worte Wunder wirken können - selbst dort, wo Stille zu herrschen scheint.
Lass dich von der Kraft der Worte mitreißen und erlebe eine Liebe, die alle Grenzen überwindet. Holʼ dir jetzt das Buch, um eine Reise anzutreten, die dein Herz öffnen und deine Sicht auf Beziehungen für immer verändern wird.
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Seitenzahl: 154
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Die Handlung ist frei erfunden.Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Originalausgabe September 2024 Edition PJB © 2024 Edition PJB Layout und Satz: Mona Königbauer, Buch&media GmbH Gesetzt aus der Sabon und Poppins Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Vertrieb: Buch&media GmbH, München Printed in Europe ISBN print 978-3-9825749-3-6 ISBN epub 978-3-9825749-4-3
Kontakt: Buch&media GmbH Merianstraße 24 · 80637 München Fon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65 E-Mail [email protected]
Für Thomas
Schwellenangst
Bei manchen Eintritten gibt es Schwellen. Hemmschwellen. So auch hier. Bevor Max Grund den elektrischen Türöffner betätigt, atmet er tief ein und aus. Den Stress des Alltags möchte er nicht mit hineinnehmen. Heute ist ein Samstag, an dem eigentlich noch nichts Hektisches passiert ist, zudem sind ihm der Ort und das Prozedere vertraut. Und doch ist Max etwas nervös. Dabei möchte er ruhig und bei sich selbst sein, wenn er eintritt. Über die Schwelle und dann weiter in den geschützten Wohnbereich mit seiner großen Fensterfront, durch die an schönen Tagen die Sonnenstrahlen fallen und alles in ein helles und freundliches Licht tauchen.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Den Öffner drücken. Abwarten, bis die schwere Tür von allein aufgeht. Beim Eintreten darauf achten, dass keiner der Bewohnerinnen und Bewohner den Wohnbereich verlässt. Geduld aufbringen, bis sich die Tür geschlossen hat.
Jetzt ist er da und freut sich auf seinen Besuch.
Angemessenen Schrittes geht er den Flur entlang. Sein Ziel ist der Aufenthaltsraum, wo er Moritz vermutet. Jemand kommt ihm entgegen, und Max erkennt ihn schon am Rhythmus seiner Schritte. Es ist Helmut Herrmann, ein an Demenz erkrankter Siebzigjähriger. Max kann sich fast schon darauf verlassen: Kaum hat sich die Tür mit einem vernehmbaren, eindeutigen »Klaaaack« geschlossen, kommt Helmut Herrmann angelaufen. Soweit man von so etwas wie »laufen« hier überhaupt reden kann. Es ist vielmehr, als ob ihn etwas antreibt und seine verbliebenen Kräfte mobilisiert. Eine der Pflegekräfte hatte Max vor geraumer Zeit aufgeklärt, dass Helmuts Auftauchen nichts mit dem Geräusch der ins Schloss fallenden Tür zu tun habe. Es sei schlicht und ergreifend die übliche Strecke, die er beständig auf und ab gehe. Max unterstellt dem liebenswürdigen Mann, dass er immer wieder raus und ab ins Freie zu kommen versucht.
Um dem Pflegepersonal Aufwand zu ersparen, spricht Max ihn an.
»Wohin des Wegs, Herr Herrmann?«, fragt er.
Helmut Herrmann ignoriert ihn und eilt in seiner deutlich nach vorn gebeugten Haltung weiter auf den Ausgang zu. Vermutlich leidet er zusätzlich unter Morbus Bechterew, denkt Max. Er kennt die Umstände dieser Wirbelsäulenerkrankung aus seinem persönlichen Umfeld, und Helmut Herrmann tut ihm leid. Dabei dürfte der Bechterew die kleinste Sorge des betagten Herrn und seiner Angehörigen sein.
»Wohin soll es gehen?«, wiederholt er.
Helmut Herrmann lässt sich von der Frage nicht in seinem altersgemäßen Spurt stoppen, wohl aber von der geschlossenen Tür. Irritiert und erkennbar verärgert bleibt er stehen.
Noch einmal versucht es Max: »Wohin soll es gehen, Herr Herrmann?«
Jetzt hat er so etwas wie die Aufmerksamkeit des alten Mannes. Wenigstens schaut dieser ihn an.
»Ich muss da raus! Hab einen Termin beim Standesamt!«, schreit er dann und wirkt gestresst. »Meine Irmgard wartet.«
Okay, denkt Max, aus einer schönen Erinnerung ist Panik geworden, zu spät zum wichtigen Ereignis zu kommen. »Natürlich wartet Ihre Irmgard schon«, sagt er ruhig. »Allerdings haben wir noch eine Stunde Zeit. Die anderen Gäste sind ja auch noch nicht da.«
Max ist nicht mehr überfordert, weil er solche Situationen kennt, seitdem er regelmäßig hierherkommt. Gleichzeitig hat er immer noch ein schlechtes Gefühl wegen der Hilfslüge, auch wenn er mittlerweile weiß, dass er es nicht haben muss.
»Als Besucher brauchen Sie sich kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn Sie eine Notlüge nutzen«, hatte ihm Jessica Gehring, die langjährige Pflegerin, gesagt. »Stellen Sie sich vor, einer unserer Bewohner kommt aufgeregt auf Sie zu und ruft verwirrt, dass es brennen würde. Dann ist es naheliegend zu sagen, dass die Feuerwehr den Brand bereits gelöscht hat.«
Das leuchtete Max ein. »Und wann gibt es wirklich keinen Grund zur Hilfslüge?«, hatte er gefragt.
»Stellen Sie sich vor, eine erkrankte Bewohnerin erkundigt sich nach ihrem Ehemann«, begann Jessica Gehring. »Sie hat vergessen, dass er bereits verstorben ist. Die direkte Konfrontation mit der Wahrheit könnte die eine oder andere sehr aufwühlende Emotion auslösen. Eine Lüge würde uns als Betreuende oder Sie als Besuchenden in eine nur schwer aushaltbare Lage bringen. Dazu ist das Thema zu bedeutend. Da kann es helfen, das Gespräch zu suchen, und eine Lösung könnte in einer Gegenfrage liegen: ›Vermissen Sie Ihren Ehemann?‹ Oder man könnte fragen, ob sie sich an eine schöne Begebenheit erinnere, die sie mit ihrem Ehemann erlebt hat.«
Max hatte damals verstanden, dass der Schlüssel darin liegt, möglichst ehrlich zu bleiben und ein offenes Gespräch zu führen. Und wenn einem in der Hektik oder weil man sich nicht anders zu helfen weiß eine Notlüge unterläuft – dann zählen der gute Wille und die Bereitschaft, sich aus Liebe oder aus Nächstenliebe dem Erkrankten zuzuwenden. Für Max waren die Hinweise von Jessica Gehring eine Hilfe gewesen, und er hatte sich vorgenommen, sie bei nächster Gelegenheit umzusetzen.
Der verwirrte Helmut Herrmann wäre nun eine solche Gelegenheit, und Max pendelt zwischen Notlüge und den erhaltenen Empfehlungen hin und her. Er greift Helmut Herrmann behutsam unter den linken Arm, gemeinsam drehen sie sich langsam um und gehen Schritt für Schritt zurück zum Aufenthaltsraum. Da ist kein bisschen mehr von der Energie, bemerkt Max, als er den alten Herrn anschaut.
»Wo haben Sie Ihre Irmgard kennengelernt?«
Insgeheim kommt Max sich wie ein Azubi oder wie ein Schüler im Berufspraktikum vor. Mit seiner Frage möchte er eine emotionale Nähe aufbauen. Er bleibt beim Thema, denn alles andere würde womöglich eher Widerstand bei Helmut Herrmann hervorrufen oder ihn irritieren. Auf seine Frage bekommt er keine Antwort. Helmut Herrmann ist in Gedanken und scheint für ihn nicht erreichbar.
Noch ein Versuch, während sie untergehakt einen Fuß vor den anderen setzen und Max mit seiner freien Hand sanft über den Rücken des Herrn streicht.
»Wie lange kennen Sie die Irmgard schon?«, fragt er.
»Seit der Volksschule«, erklärt ein ruhiger werdender Helmut Herrmann. »Aber heute ist Hochzeit und die Irme ist weg.« Jetzt wird seine Stimme wieder laut und erneut scheint in ihm Unruhe aufzukommen.
»Das ist ja prima!« Max setzt mit fröhlicher Stimme eine positive Emotion entgegen. »In einer Stunde sind Irmgard und Sie schon offiziell Mann und Frau. Da kann man dann gratulieren!« Er bleibt stehen und schaut Helmut Herrmann in die Augen. »Nachdem Sie jetzt noch eine Stunde Zeit haben, setzen wir uns einfach hin und warten.« Max merkt beim Reden, dass er sich wieder einer Lüge bedient hat, obwohl er genau das nicht tun wollte. Enttäuscht über sich selbst setzt er mit Helmut Herrmann im Schlepptau den Weg zum Aufenthaltsraum des Wohnbereichs fort.
Dort angekommen sieht Helmut Herrmann den Servierwagen mit Kaffeekannen, Teekannen – und Blechkuchen. Käsekuchen in rechteckige Stücke geschnitten und garniert mit ein paar Mandarinen aus der Konservendose. Eben das, was kalkulatorisch in der Altenpflege hier und heute möglich zu sein scheint. Unsere Sozialversicherungen. Unsere Pflegeversicherung. Die legitime Gewinnerzielungsabsicht der Heimbetreiber. Wobei, geht immer alles mit angemessenen und rechten Dingen zu? Die Investitionen in eine umfassende Digitalisierung der Pflege. Die komplexen Diskussionen um eine Neuverteilung der Investitionskosten in der stationären Langzeitpflege. Die Anforderungen an eine umfassende Dokumentation durch die Pflegekräfte und die dadurch eingeschränkte Zeit für die zu pflegenden Menschen. Der Mangel an Fachkräften. – Max Grund ist überfordert, wenn es um diese vielfältigen Probleme und deren Ursachen geht. Für vieles ist in unserer Gesellschaft Geld da, aber offen erkennbar nur bedingt für die alten Menschen, die Jahrzehnte gearbeitet oder sich der Kindererziehung gewidmet haben. Seit zwei, drei Jahren tun sich vor Max in Alltagssituationen immer wieder spontan gesellschaftliche Missstände oder Ungereimtheiten auf. So auch jetzt. Er will etwas ändern und fühlt sich dabei ohnmächtig. Er will es wenigstens ignorieren können, und alles in ihm schreit nach zu vielen notwendigen Veränderungen.
Max Grund wird aus seinen Gedanken gerissen – und das ist gut so. Denn ein Experte für das Gesundheitswesen ist er nicht. Und von pauschalem Schimpfen ohne Detailwissen hält er wenig.
»Wo ist mein Platz? Da steht ja noch gar kein Teller!« Helmut Herrmann hat ein neues Thema.
»Gott sei Dank«, seufzt Max und lächelt, als Helmut Herrmann direkt auf den Stuhl zusteuert, von dem Max weiß, dass es seiner ist. Max findet es interessant, dass der Kranke ihn gefunden hat. Faszinierend und verwirrend zugleich. Wahrscheinlich ist es aber nur ein Zufall.
»Da hat Sie wohl ein Kuchenstück gerettet!«, sagt eine Stimme hinter ihm.
Im Umdrehen erkennt Max das freundliche Gesicht von Jessica Gehring, die heute Nachmittag Dienst hat.
»Gerade als ich ihn auf seine Hochzeit vorbereiten wollte, verschwindet er zur Kaffeetafel«, scherzt Max zurück und lacht. Er ist erleichtert. Seine Bewunderung gilt den Menschen, die mit Herz und Professionalität den Dienst in solchen Pflegeeinrichtungen leisten. Er ist sicher, dass er das nur für zehn Minuten hinbekommen würde – aber nicht für einen ganzen Arbeitstag und nicht ein Berufsleben lang.
»Schön, dass Sie Moritz besuchen kommen«, sagt Jessica Gehring. »Heute ist er gut drauf. Damit die anderen ihn nicht nerven, darf er ausnahmsweise Sport in seinem Zimmer schauen.«
Die Pflegekräfte kennen Max Grund. Er ist in der Regel samstags zu Besuch bei seinem Freund.
Hier ist einer der wenigen Orte, an denen noch nie ein Witz zu Max und Moritz gemacht wurde. Der Zufall liegt in den Vornamen. Die langjährige Freundschaft der beiden Männer ist das Ergebnis gemeinsamer Interessen und von Toleranz. Davon, einander Unvollkommenheit zuzugestehen. Davon, dem anderen gute und verlässliche Absicht zu unterstellen. Ja, so lässt sich das irgendwie beschreiben, und die Vornamen spielen dabei keine Rolle – auch wenn sie die Freundschaft geradezu unterstreichen.
Max freut sich, dass es seinem Moritz heute gut geht. Die Herausforderung, ihn von der Sportsendung wegzubekommen und mit ihm zu reden, hat er vor Augen. Das dämpft seine Stimmung ein wenig – und er atmet nochmals tief ein und aus, bevor er die Tür öffnet.
Moritz hat in diesem schönen, neuen Pflegeheim ein Einzelzimmer. Eigentlich gehört Moritz hier nicht hin. Er ist mit Mitte fünfzig viel zu jung dafür. Sein Krankheitsbild entspricht auch nicht einer der Demenzen, aber die für ihn erforderliche professionelle Pflege und ein geschütztes Umfeld erhält er hier. Jedes Mal gibt es Max einen Stich in der Herzgegend, wenn er Moritz besucht. Ist das Leben gerecht? Wo ist ein liebender Gott? Warum muss ein Mensch, der ehrenamtlich viel für andere Leute geleistet hat, in eine solche Situation kommen? Könnte ihm, Max, das auch passieren? Heute? Oder in ein paar Tagen?
Er schaut an sich hinab und ignoriert gekonnt seine Statur. Mit einem störrischen, unausgesprochenen »Leck mich« tritt Max über die nächste Schwelle – und ein strahlender Moritz sitzt neben seinem Bett im Rollstuhl. Der Fernseher ist aus. Max ist erstaunt. Damit hat er nicht gerechnet.
»Hallo Moritz!« Max ruft es laut und fröhlich. Seine Überraschung ist unübersehbar und überträgt sich auf Moritz. Dieser lächelt weiterhin und – so der Eindruck – ist stolz, dass er Max mit seiner unerwarteten mentalen Präsenz aus dem Konzept gebracht hat.
Ein hochgewachsener Mann blickt, leicht nach vorne gebeugt, aus einem Rollstuhl zu Max. Das volle blonde Haar ist frisch gewaschen. Die Haartolle ist sportlich zu einem Scheitel auf links geföhnt und legt auf der rechten Seite die Anzeichen von Geheimratsecken offen. Unter den dominanten Augenlidern leuchten zwei graubraune Augen hervor. Sein Lächeln ist in den letzten Monaten selten geworden. Und wenn Moritz lächelt, dann ohnehin lediglich mit den Augen. Das Gesicht bleibt mehr oder weniger frei von Mimik. Irgendwie wirkt der Gesichtsausdruck unbeteiligt, und die Augen und deren Glanz müssen das ausdrücken, was das Gemüt bewegt.
Moritz trägt eine seiner Jogginghosen. Das macht es bequem. Heute ist es eine dunkelgraue Hose und dazu ein mintgrünes Polo. Seine Füße stecken in weißen Trainingsschuhen, die – fast identisch mit dem Mintgrün des Shirts – farbig gestreift sind. Sportlich-elegant ist er gekleidet. Seine Schultern hängen tief, und seine breiten, großen Hände liegen im Schoß. Nicht ineinander gefaltet, sondern eher wie zufällig hineingefallen. Die Hände sind bleich. Sein Gesicht ist fahl. Es ist wenig Spannung im dünn gewordenen Körper. Auch das erledigen in diesem Moment die Augen: Das Signal von Präsenz und Fröhlichkeit.
»War die Sportsendung interessant?«
Die Antwort von Moritz ist ein zustimmendes Kopfnicken, wobei mit Kopfnicken eher die Andeutung einer Bewegung gemeint ist. Mehr als eine Geste ist seit Längerem nur noch selten drin. Ab und an ein Wort. Fast nie ein Halbsatz. An diese Kommunikation mit Moritz hat sich Max schon gewöhnt – und sie funktioniert weitgehend.
»Wollen wir miteinander schwatzen?«
Moritz schüttelt den Kopf. Für einen Moment denkt Max an seine Unsicherheit vorhin, als er Helmut Herrmann auf dem Flur angesprochen und zum Aufenthaltsraum zurückgeleitet hat. Heute ist irgendwie nicht sein Tag, da kann Jessica Gehring ermuntern, wie sie will. Erst die unnötige Notlüge und jetzt die irgendwie dann doch unbeholfene Frage an Moritz, ob man »miteinander schwatzen« wolle. Wie denn, wenn eh klar ist, dass Moritz ob seiner krankheitsbedingten Antriebslosigkeit kaum ein Wort über die Lippen kommt, egal, wie gut seine Verfassung heute sein mag. Trotzdem – Max ist froh, dass er hier ist. Moritz braucht ihn und Max will gebraucht werden.
Ein zweiter Versuch: »Soll ich dir etwas aus der Tageszeitung vorlesen oder von meiner letzten Geschäftsreise berichten?«
Max wähnt sich als Schlitzohr. Er hat es mit einer offenen Frage versucht, die korrekterweise kein Kopfschütteln oder Nicken zulässt. Nun denn, es wird trotzdem ein Kopfschütteln, und damit sind dann die beiden Alternativen verneint. Jetzt findet Max seine Frage wenig pfiffig, sondern eher dämlich.
Daher kommt als mehr oder weniger letzter Joker die zwischenzeitlich schon obligatorische Frage: »Wie wäre es mit einer neuen Kurzgeschichte?«
Ein zustimmendes Nicken. Moritz scheint damit einverstanden zu sein, und Max holt sein Smartphone aus der Gesäßtasche seiner blauen Stonewashed-Jeans – sein unifarbenes Hemd mit dem Logo eines Reptils hat keine Brusttasche – und einen Stuhl. Letzteren schiebt er so zurecht, dass er leicht versetzt neben Moritz zum Sitzen kommt. So können sich beide sehen und Moritz muss dabei nicht sonderlich den Kopf drehen. Es ist eine Mischung aus nebeneinander- und einander gegenübersitzen.
Während Max sich bei seinem Cloud-Anbieter autorisiert, den passenden Ordner auswählt und nach einer längeren Kurzgeschichte sucht, senkt Moritz den Blick wieder und behält die Hände im Schoß. Etwas von seinem Lächeln bleibt. Man muss sich beugen und ihm von unten her in die Augenpartie schauen, damit man es erkennt. So ist das, wenn Moritz sich in Erwartung von etwas Auditivem bereit zum Zuhören macht.
In seiner Sammlung hat Max eine Gliederung: Er kategorisiert nach zeitlicher Länge und nach inhaltlicher Komplexität. So kann er, je nach Befindlichkeit von Moritz, eine aus seiner Sicht passende Geschichte aussuchen. Max hat im Verlauf der letzten Monate begriffen, dass Moritz trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen sehr wohl intellektuellen Anspruch hat: Er mag es, wenn Ironie und ein Hauch von Sarkasmus in den Kurzgeschichten mitschwingen. Er mag es, wenn Max selbstironisch wird. Und: Moritz kann sehr wohl trotz seiner Verfassung komplexe Zusammenhänge aufnehmen. Nein, bei der Tagespolitik ist er raus und abgehängt. Aber wenn die Erzählungen nicht die Kenntnis von aktuellen Geschehnissen voraussetzen, dann ist er dabei. Max versucht, seinem Freund gerecht zu werden und gibt sich Mühe, in dem meist tristen Alltag einen Höhepunkt zu setzen.
Dabei ist ihm klar, dass es eine individuelle Lösung ist. Kurzgeschichten generell könnten auch bei Menschen Freude bewirken, die beispielsweise an einer Demenz erkrankt sind. Die Ironie könnte aber im Kontext anderer Erkrankungen beim Verstehen des Inhalts überfordern. Max versucht mit seinen Erzählungen, bei Moritz Zustimmung oder Widerspruch zu provozieren. Das klappt bei Moritz, aber bei anderen Erkrankten wäre es womöglich eine Sackgasse.
Max erinnert sich an den Rat, den ihm Experten, eine befreundete Ärztin und Pflegekräfte, gegeben haben, als er seine Idee von Kurzgeschichten zur Sprache brachte: Er solle sehr kurze und weniger kurze Geschichten im Repertoire haben. Damit könne er auf die Tagesform von
Moritz reagieren. Ein Gespräch im eigentlichen Sinn ist mit Moritz nicht möglich. Irgendwie fehlt diesem dazu der Antrieb oder es ist ihm aus einem anderen Grund unmöglich. Daher die Idee mit den Geschichten. Zuhören und mitdenken; das scheint Moritz zu gefallen. Mindestens meint es Max an dem wichtigsten Indikator zu erkennen: den Augen von Moritz – diese sprechen mit Max.
»Heute habe ich eine Erzählung, die mir so ähnlich passiert ist«, erklärt Max. »Und zwar vor ein paar Monaten, als ich auf einer Geschäftsreise im Frühstücksraum eines Münchner Hotels gesessen habe. Du kennst das Hotel. Es ist in der Nähe des Englischen Gartens. Ich hatte ein Projektmeeting bei einem Kunden und bin am Vortag angereist. Den morgendlichen Stau auf der Autobahn A8 wollte ich nicht riskieren. Aber das kennst du ja.«
Moritz nickt, und Max wartet einen Moment. Vielleicht geht seinem Freund der eine oder andere Name von Menschen durch den Kopf, die er in seinem Job in München besucht hatte. Nur weil Moritz nicht darüber spricht, bedeutet es ja nicht, dass seine Gedanken nicht lebendig sind. So hofft Max.
»Klar, einige Details habe ich mir ausgedacht und meine Beobachtung ist nur die Idee zur Erzählung«, fährt Max fort. »Die Geschichte ist etwas frech und fast schon bissig erzählt. Betrachten wir es als das Salz in der Suppe – damit es schön würzig ist. Erinnerst du dich noch, als wir mit Steve und Mutz zu einem Männerabend ins politische Kabarett gegangen sind?« Max lehnt sich im Stuhl zurück und schaut versonnen an die Decke. »Mann, hatten wir eine schöne Zeit! Tausend Gründe zur Dankbarkeit, Moritz. Tausend Gründe.«
Kollektives Schweigen und womöglich auch ein kollektives Schwelgen in schönen Erinnerungen.
Ein, zwei oder drei Minuten später.
»Nun, Moritz, lass dich von meinen literarischen Gehversuchen überraschen.« Ob er Moritz mit seiner Ankündigung literarischen Appetit machen konnte, bleibt dessen Geheimnis – wie an fast jedem Samstag, den er die letzten Monate hier verbracht hat. Max räuspert sich einmal kurz und beginnt zu lesen.
Als er eine gute Viertelstunde später geendet hat, schweigen beide ein paar Momente – wie an fast jedem Samstag. Max gefallen diese stillen Minuten. Man muss nicht die Wirkung von Worten und die Zeit zum Nachdenken gleich mit neuen Worten zuschütten. Er denkt es und hält den Mund.