Mensch sein – Mensch bleiben - Ralf M. Ruthardt - E-Book

Mensch sein – Mensch bleiben E-Book

Ralf M. Ruthardt

0,0

Beschreibung

Ja, das Menschsein ist nicht einfach. Ob es schön ist, liegt da und dort an uns selbst. Diese Sammlung von Kurzgeschichten greift Situationen des Alltags auf und bringt Unausgesprochenes zur Sprache. Zudem werden nicht alltägliche Begegnungen in das Licht unserer Wahrnehmung gerückt. Ironie und der Ralf M. Ruthardt eigene Erzählstil sorgen für unterhaltsame und des Nachdenkens werte Momente. Zum scheibchenweisen Lesen oder am Stück. Die Lesefreude wird auf jeder Seite zu finden sein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 108

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Handlung ist frei erfunden.Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Originalausgabe September 2024 Edition PJB © 2024 Edition PJB Layout und Satz: Mona Königbauer, Buch&media GmbH Gesetzt aus der Sabon und der Poppins Umschlagmotiv und -gestaltung: Ralf M. Ruthardt, Saskia Thurner Vertrieb: Buch&media GmbH, München Printed in Europe ISBN print 978-3-9825749-5-0 ISBN epub 978-3-9825749-6-7 Kontakt: Buch&media GmbH Merianstraße 24 · 80637 München Fon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65 E-Mail [email protected]

Für Viktoria und Jona

Inhalt

Mit offenen Augen durch den Tag – oder lieber Blinde Kuh?

Kühlschrank öffne dich

In der Pause laufe ich mit

Diskriminierung eines Schwaben

Technologie kann springen

Mach , dass du vorwärtskommst

Kniefall oder nur ein Handkuss?

Der Schuhputzer

Bakschisch & Glaube

Die Tanten

Bei sich selbst sein

Das verfehlte Momentum

Ein Bot und eine Handtasche

Intro zu einer Exkursion

Ein integrierter Migrant beim Frühstück (1)

Ein integrierter Migrant beim Frühstück (2)

Schlussbemerkung

Mit offenen Augen durch den Tag – oder lieber Blinde Kuh?

Szenen, um sich über sich selbst und andere freundlich zu amüsieren oder zu wundern, gibt es jeden Tag. Ja, wir haben auch die Option zur Aufregung. Sich aufregen über andere. Sich noch mehr aufregen über sich selbst und seine eigenen Unfähigkeiten. Nun, wie dem auch sei, es gehört zum Menschsein.

In dieser Sammlung finden Sie amüsante, freundliche und des Nachdenkens werte Kurzgeschichten. Es geht kreuz und quer durch das Leben. Ich wünsche gute Unterhaltung und – wenn Sie schon dabei sind – auch die eine oder andere Erkenntnis. Von Letzteren habe ich jeden Tag reichlich. Mindestens dann, wenn ich mit emotional geöffneten Augen durch meinen Tag gehe.

Wir Menschen sind etwas Besonderes. Jede und jeder Einzelne für sich genommen – und in Summe sowieso. So unterschiedlich wir sind, können wir doch nur miteinander. Soziale Wesen, die wir sind, wird vieles in unserem Leben kompliziert und anstrengend. Es sind die Beziehungen zwischen uns Menschen: die Beziehungen – von der Paarbildung bis hin zur Familie. Die Beziehungen von der Gruppe im Kindergarten, der Klasse in der Schule bis hin zum Arbeitsplatz und schlussendlich vielleicht auch noch bis in die Ergotherapie im Pflegeheim.

Die hier gesammelten Kurzgeschichten sind neu verfasst oder teilweise in Kulturmagazinen oder an anderer Stelle bereits zu lesen. Jedenfalls bin ich gerne der Anregung nachgekommen, eine solche Sammlung in ein Buch zu packen.

In jedem Fall sind die einzelnen Kurzgeschichten freundlich gemeint und bezüglich ihrer Aussagen im Ergebnis auch dann noch völlig offen, wenn überzeichnet dargestellt oder parodiert wird. Das Unausgesprochene wird zur Sprache gebracht. Das Unerwartete oder Undenkbare oder verborgen Gebliebene wird aufgegriffen. Manches Mal mutig, aber nicht ohne Widerspruch. Ein anderes Mal berührend, aber nicht belanglos.

Lassen Sie uns Mensch sein – und Mensch bleiben. Mit all unseren Unvollkommenheiten und all unserer Kraft, miteinander eine gute Zukunft gestalten zu wollen.

Packen Sie jetzt die Erzählungen aus einer Kiste voller Impressionen aus und freuen Sie sich auf ernsthafte Begegnungen, auf Ironie und auf angenehme und unangenehme Erkenntnisse.

Herzlichst, IhrRalf M. Ruthardt

Kühlschrank öffne dich

Gemütlich fläzt er auf der Couch. Im Rücken ein Kissen. Über seinen Füßen und Unterschenkeln eine leichte Decke. Kissen und Decke sind Ton in Ton. Die Couch ist aus schwarzem Leder. Und die genannten Accessoires in einem kräftigen, aber nicht grellen Grün.

Es ist kurz vor Mitternacht. Der Vierzigjährige entspannt sich von einem Arbeitstag. Gegen sieben Uhr hat sein Tag begonnen. Aufgestanden ist er schon deutlich früher. Die erste Aktivität, die erste Pflicht, hat um sieben Uhr auf ihn gewartet. Denn es regnete wie aus Kübeln an diesem herbstlichen Dienstag. Da schickt man sprichwörtlich keinen Hund vor die Tür und so kam es, dass er seine zehnjährige Tochter zur Schule fuhr. Als er ihr beim Frühstück den Transfer angeboten hatte, setzte die junge Dame in einer ihrer Whatsapp-Gruppen die Nachricht »Mein Papa fährt mich« ab. Darauf gab es drei Antworten von Kindern, die in der gleichen Straße wohnten, dass man mitfahren würde. So kam es, dass er Haus um Haus abklapperte und die Kids mit Schultaschen bestückt und von den wenigen Schritten bereits pitschnass, sich in seinen gepflegten Mittelklassewagen zwängten und es sich auf den Ledersitzen gemütlich machten. Das brauchte dann schon ein klein wenig seiner Toleranz auf, die ihm für einen Tag zur Verfügung steht. An der Schule angekommen, reihte er sich in die Kolonne der Elternfahrzeuge ein, die jeweils – ganz routiniert – die Kids am optimal kürzesten Entfernungspunkt zum Hauptportal der Schule aussteigen ließen.

Auf der Couch liegend und seinen Gedanken freien Lauf lassend, greift er blindlings nach links. Auf dem kleinen Tisch steht eine Wasserflasche. Still. Das Wasser ist still; keine Kohlensäure hindert ihn daran, große Schlucke zu nehmen. Daneben zwei Dessertschalen. Die eine gefüllt mit Schokolade. Die Geschmacksrichtung Joghurt mag er am meisten. Gekühlt. Der Form des Schokoladenquadrats folgend in vierundzwanzig einzelne, handliche Stückchen gebrochen. Perfekte Genussvorbereitung, vollzogen, als er die Tafel aus dem Kühlschrank geholt, aufgemacht und in einzelne Stückchen gebrochen hatte. So portioniert war der Zugriff mundgerecht. Neben der Wasserflasche und dem Schälchen mit der Schokolade folgt ein weiteres kleines Behältnis. Es ist ebenfalls eine Dessertschale. Diese ist, im geschmacklichen Kontrast zur Schokolade, mit kleinen Salzstangerln gefüllt. Genauer: Es sind Bio-Dinkelsalzstangerln. Schließlich muss er auf seine Gesundheit achten. Letzteres sagt seine Kardiologin. Der Pseudo-Kompromiss ist seine Idee.

Pünktlich um acht Uhr war er im Büro eingetroffen und hatte sich, von einer kurzen Mittagspause abgesehen, von einem Meeting ins andere geschleppt. Ja, heute war alles irgendwie mühsam. Jede und jeder hatte Probleme mit Kunden oder Lieferanten, die zu besprechen waren. Keinerlei positive Nachrichten. Nicht einmal die Leute im Vertrieb konnten berichten, dass ein neuer Kundenauftrag eingegangen sei. Es gibt solche Tage, denkt er jetzt, als die Anspannung von ihm abzufallen beginnt, da geht die Summe der Herausforderungen und die Fülle der Aufgaben an die Substanz. Nun denn, es gibt auch andere Tage, so sein Gedanke, und er greift zielsicher auf den Couchtisch neben sich und tut sich etwas Gutes.

Während vor ihm im Fernsehen eine Dokumentation über das Risiko des Hitzetodes für die Bevölkerung in Deutschland analysiert und besprochen wird, zieht in seinen Gedanken der Abend vorüber. Es freut ihn, dass seiner Tochter mit ihrem Instrument ein schönes Vorspiel gelungen ist. Seine Gattin, der gemeinsame Sohn und er hatten die Tochter zur Musikschule und dort in den großen Saal begleitet. Die Kids hatten mit ihrem Musiklehrer für die Angehörigen etwas eingeübt. Heute wurde vorgetragen – und die Eltern waren so angespannt, ob ihr jeweiliger Sprössling fehlerfrei sein Stück vorspielt, dass es sich auf die besagten Sprösslinge übertragen hatte. Alle waren nervös. Alle waren sichtbar froh, als das Vorspiel hinter sich gebracht war. Nein, er muss sich korrigieren. Da gab es dann doch einige Elternteile, die sich nicht hubschrauberartig verrückt gemacht haben. Seine Frau zum Beispiel. Sie ermunterte die Kleine und war dabei die Ruhe selbst. Er nicht. Nicht, dass er Erwartungen oder gar Ansprüche an seine Tochter gestellt hätte, was den Vortrag des Musikstücks anbelangte. Ganz im Gegenteil. Solange sie Freude am Musizieren hat, war für ihn alles bestens. Nein, es ging ihm nur darum, dass sie sich nicht blamierte. Und damit war sein Agieren kontraproduktiv. Er musste gar nicht viel sagen. Es reichte schon sein überfürsorglicher Blick und das aufmunternde Tätscheln ihrer Schulter – und das Kind brachte anschließend vor lauter Stress und Nervosität kaum einen klangklaren Strich auf den Saiten ihrer Geige hin. Sein Lob, dass es »ganz toll« gewesen sei, traf nicht die Realität und so war die Stimmung mies und das Kind den Tränen nahe. Er greift nach links. Es gibt etwas Süßes. Genüsslich lässt er die Kombination aus Vollmilch und Joghurt im Mund zergehen. Stress – so eile dahin! Innere Ruhe – versuche mich zu erreichen. Kaum zerflossen und genossen, greift er in das Schälchen neben dem Schälchen und erfreut sich an dem Knabbergebäck. Als dieses mit einem salzigen Geschmack abgegangen, folgt ein Schluck stilles Wasser. Schließlich gilt es, ruhig zu werden. Anschließend startet die Prozedur von vorn. Frei nach der Unlogik: Wo ein Ende, da ist ein neuer Anfang.

Es wird soeben eine Statistik gezeigt, der zufolge die Temperaturen in Deutschland erkennbar zugenommen haben. Der Zeitraum erstreckt sich vom Jahr 2010 bis heute. Ja, da ist eine Zunahme – wenn auch mit Schwankungen – erkennbar. Die anschließende Wettertafel für einen exemplarischen Sommertag des vergangenen Jahres ist dunkelrot bis violett eingefärbt. Bedrohlich das Szenario, dass vor allem die Gesundheit älterer Menschen unter der Hitze leiden wird. Da fällt ihm ein, während er – nicht wegen der Hitze, sondern wegen des Salzes am Knabberzeug – einmal mehr zur Wasserflasche greift, dass in diesem Sommer einige Urlauber auf einer der Kanarischen Inseln verunfallt sind. Wegen der Hitze. Die Touristen seien, so erinnert er sich an den Pressebericht, zur Mittagszeit bei hochsommerlichen Temperaturen zu einer Wanderung aufgebrochen. Zu dieser Zeit haben sich die Einheimischen in den Schatten oder in klimatisierte Räume zurückgezogen und mit ihren Aktivitäten auf den kühleren Abend gewartet. Er bricht seinen Gedankengang ab. Er will sich nicht über den schwachen Sinn aufregen, welcher manche Menschen selbstbewusst durch ihren Alltag leitet. Stattdessen genießt er ein Rippchen seiner Schokolade und bemerkt, als er danach fasst, dass der Boden des Schälchens bald erreicht ist. Zwei Empfindungen lösen sich wechselseitig ab: Schade, dass das Schälchen fast leer ist. Und: Es reicht, demnächst wird einem übel davon. Welche von diesen beiden sich widersprechenden Empfindungen der Wirklichkeit näher kommt, ignoriert er. Er wird sich in jedem Fall bis zum letzten Rippchen durchkämpfen.

Es war beim Abendessen gewesen. Die Aufregung des Vorspiels hatte sich gelegt und seine Frau mit einem leckeren Raclette der musikalischen Festlichkeit einen schönen Rahmen gegeben. Ein schöner harmonischer Familienabend ging seinen Weg und wurde mit einem Brettspiel abgeschlossen. Die Tochter hatte gewonnen und der Rest der Familie ihren kollektiven Anteil daran gehabt. Als die Kids gegen neun Uhr den Weg ins Bett gefunden und ein letztes »Papa, kannst du noch mal kommen?« für Bewegung und Begegnung gesorgt hatte, setzten seine Frau und er sich in der offenen Küche auf die Barhocker und plauderten miteinander.

»Möchtest du auch ein Glas Wein haben?«

»Nein, danke«, antwortete er, während sie die am Wochenende geöffnete Flasche mit dem Weißwein aus dem Kühlschrank holte. Sie schenkte sich ein Glas ein. Er stand auf und schloss die Tür des Kühlschranks, damit nicht die Kälte entwich und die Wärme hineinzog. Er wartete, bis sie sich ihr Glas eingeschenkt hatte. Sie reichte ihm die Flasche, er öffnete den Kühlschrank und stellte die Flasche zurück. Ihr Glas schwenkend, damit sich der Wein etwas erwärmte, setzte sich zu ihm und prostete ihm zu. Es lag eine angenehme Ruhe über der Szene. Man sah sich in die Augen und strich sich über die Wangen. Dankbar, dass man einander hatte und sich gut verstand. Nichts ist selbstverständlich. Das wussten beide.

Völlig unvermittelt, also, für ihn völlig unvermittelt, seine Frau dürfte es eher als passenden Moment, um etwas Bestimmtes zu vermitteln angesehen haben, rückte sie mit einer Neuigkeit heraus.

»Wir hatten doch darüber gesprochen, dass wir uns die Kindererziehung teilen wollen, richtig?« Das war ihr Einstieg.

»Klar. Das tun wir doch«, antwortete er.

»Nun, es wird sich etwas verändern müssen«, sagte sie und sah ihn dabei im warmen Licht der gedimmten LED-Strahler erwartungsvoll an. Er begriff nicht sogleich, sodass sie nach dieser Vorbereitung die Neuigkeit platzierte. »Ich habe eine neue Führungsaufgabe angeboten bekommen. Man möchte mir den Job als Sales Manager EMEA in Verbindung mit den Kompetenzen eines Senior Vice President anbieten.« Sie sagte es. Und er schwieg.

»Lass dir Zeit, um darüber nachzudenken. Und dann reden wir. Ich bin im Ergebnis offen und muss da nicht zusagen. Natürlich, mein Gehalt würde im Vergleich zu deinem doppelt so hoch sein. Man hat mir Optionen auf Aktien angeboten, wenn ich bestimmte Umsatzziele erreichen würde. Schon interessant und sehr fair, finde ich.« Während sie die Liste der Vorteile fortsetzte, hörte er nur mit einem halben Ohr hin. Zu sehr war er damit beschäftigt, seine Freude verbergen zu wollen. Ja, er machte seinen Job auch gerne. Aber eigentlich war er viel lieber mit den Kindern zusammen. Ja, sein Gehalt war nennenswert. Aber es war für ihn kein Ansporn. Nein, er war nicht gut darin, Kinder zu erziehen. Wie sagte seine Tochter einmal zu ihren Großeltern? Wenn sie Papa lieb anschaue, würde sie von ihm alles bekommen. Er sei die Inkonsequenz auf zwei Beinen. Keine Ahnung, wie sie in ihrem Alter das Wort »Inkonsequenz« kennen und zu einer solchen Erkenntnis kommen konnte. Egal.