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Pesthauch auf der Königsburg
Irland 672: Zum Beltaine-Fest am 1. Mai treffen sich die sieben Prinzen von Muman in Cashel, um die sieben Regierungsjahre ihres Königs einzuschätzen. Da wird der alte Apotheker Conchobhar ermordet, der Hüter des Schwerts von Nuada, das entscheidend für den Fortbestand des Königreichs ist. Richtet sich der Angriff gegen König Cogús Friedensschluss mit den früheren Todfeinden von Muman? Als ein Pestschiff an der Küste anlegt und ein Mordanschlag auf Fidelma verübt wird, drohen die Ermittlungen außer Kontrolle zu geraten.
Die erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Markt
»Meisterhaft erzählt von einem Autor, der die Zeit, über die er schreibt, auf faszinierende Weise lebendig werden lässt.« Belfast Telegraph
»Eine brillante und bezaubernde Heldin. Unheimlich anziehend.« Publishers Weekly
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Seitenzahl: 535
Irland 672: Auf der Königsburg von Cashel erwartet man die sieben Prinzen des Königreichs Muman. Zum Beltainefest am 1. Mai sollen sie die sieben Regierungsjahre ihres Königs beurteilen. Sind sie mit seiner Art und Weise, das Land zu regieren, einverstanden, werden sie ihn im Amt bestätigen. Da wird der alte Apotheker Conchobhar ermordet, der Hüter des Schwerts von Nuada, das entscheidend ist für den Fortbestand des Königreichs. Richtet sich dieser Anschlag gegen König Colgús Friedensschluss mit den früheren Todfeinden von Muman? Als ein Bote verkündet, dass ein Pestschiff an der Küste angelegt hat, und auf Fidelma ein Mordanschlag verübt wird, nehmen Anspannung und Verunsicherung weiter zu. Wer ist die geheimnisvolle schwarze Nonne, die niemand auf der Burg zu kennen scheint?
Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Lady Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Buchmarkt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt, ehemalige Nonne und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.
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Peter Tremayne
Das Pestschiff
Historischer Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bela Wohl
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Inhaltsverzeichnis
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HAUPTPERSONEN
Anmerkung des Autors
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Erläuterungen
Impressum
Wer von diesem historischen Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Für Susanna Kleemann
Willkommen in der verrückten Welt der Schriftstellerei
A Findias tucadh claidhim Nuadad; ní thernadh nech uadha; o dobertha as a intig bodba, ní gebtha frís.
Aus Findias wurde das Schwert von Nuada gebracht. Zog man es in der Schlacht aus seiner Scheide, entkam ihm niemand; es war unbesiegbar.
Lebor Gabála Érenn1
Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des 7. Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund´s Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Ehemann
Colgú, König von Muman, Fidelmas Bruder
Dar Luga, ainbertach oder Haushälterin in der königlichen Burg
Fithel, Oberster Brehon von Muman
Abt Cuán aus der Abtei Imleach, Bischof von Cashel
Bruder Laig, Arzt
Bruder Fidach, Geistlicher
Bruder Dáire, Bibliothekar
Cainder, Küchenmagd
Schwester Ernmas
Gormán, erneut zum Befehlshaber einer catha oder Hundertschaft von Colgús Truppen ernannt
Enda, Befehlshaber der lucht-tighe, der Leibgarde des Königs
Luan, Krieger
Dego, Krieger
Rumann, Gastwirt
Della, Fidelmas Freundin, Gormáns Mutter
Aibell, Gormáns Frau
Gobán, Schmied
Finguine, Prinz von Glendamnach, Colgús rodamna oder Thronfolger
Elódach, Prinz der Eóghanacht Áine
Congal, Prinz der Eóghanacht Loch Léin
Furudrán, Prinz der Eóghanacht Airthir Chliach
Moncha, seine Frau
Selbach, Prinz der Eóghanacht Raithlind
Blinne, seine Frau
Esnad, Blinnes Gesellschafterin
Tigernach, Prinz der Eóghanacht Árann – noch nicht eingetroffen
Donennach, Prinz der Uí Fidgente
Céit, Sohn von Conmael, sein Leibwächter
Conrí, Kriegsherr der Uí Fidgente
Ferloga, Gastwirt
Lassar, seine Frau
Echdae, Fuhrmann aus Dairinis
Arard, bo-aire oder Schultheiß des Dorfs
Prinz Cummasach von den Déisi
Die folgende Geschichte trägt sich in den letzten Tagen des Monats zu, der in Irland früher Giblean hieß, der Monat der nordwärts fliegenden Gänse. Er entspricht im heutigen Kalender dem April. Wir befinden uns im Jahr 672 n. Chr. Schon bald beginnt der Cét Samhain (Mai), der erste Monat des Sommers. Dann feiert man in allen Fünf Königreichen von Éireann das Beltainefest2: Die Feuer des Bel werden angezündet, und man treibt das Vieh zwischen ihnen hindurch, um es vor Krankheiten zu schützen. Auch andere Rituale aus der heidnischen Vergangenheit werden zu dieser Zeit vollzogen. Das Beltainefest kennzeichnet das Ende der dunklen Jahreszeit; alle Herdfeuer mussten gelöscht und mithilfe der Sonnenstrahlen feierlich neu entfacht werden. Da es dem Christentum nicht gelang, dieses Fest aus der Zeit der Druiden abzuschaffen, passte man es in den Neuen Glauben ein; so hatte es Papst Gregor der Große seinem Bischof Mellitus empfohlen, bevor er ihn im Jahr 601 n. Chr. als Missionar nach Britannien schickte. Der Maifeiertag ist bis heute ein Festtag.
Im Königreich Muman (heute die irische Provinz Münster) trat alljährlich zum Beltainefest der ceithirfine des Königs zusammen, der Rat der sieben führenden Prinzen der Eóghanacht, um gegebenenfalls Kritik an der Staatsführung des Herrschers zu üben, ihn in seinem Amt zu bestätigen oder seinen Nachfolger zu bestimmen. Als Höhepunkt der Versammlung überreichte man dem König das heilige Schwert des altehrwürdigen Gottes Nuada; er hob es hoch über den Kopf und erbrachte damit den Nachweis, dass er der gerechte und rechtmäßige König war. Mit den sieben Prinzen der Eóghanacht, die in den frühesten Stammbäumen dieser Dynastie aufgeführt sind, beschäftigt sich Professor Francis J. Byrne in seinem bahnbrechenden Werk Irish Kings and High-Kings (1973). Zu den führenden Fürstenhäusern der Dynastie gehörten die Eóghanacht Chaisil (Cashel), die Eóghanacht Áine, die Eóghanacht Loch Léin, die Eóghanacht Glendamnach, die Eóghanacht Árann, die Eóghanacht Raithlind und die Eóghanacht Airthir Chliach. Ich habe mich der Ansicht angeschlossen, dass die Eóghanacht Ruis Argait erst sehr viel später dazugezählt wurden, nachdem sie Osraige verlassen hatten und bald darauf ganz von der Bildfläche verschwanden.
Professor Byrne vertritt den Standpunkt, dass die Déisi und die Uí Liatháin nicht mit den Eóghanacht verwandt waren, sondern mit den Uí Fidgente. Allerdings behauptet der Schreiber eines Texts aus dem 8. Jahrhundert, der unter dem Titel Die Vertreibung der Déisi bekannt ist, dass sie und die Eóghanacht gemeinsame Vorfahren hatten; die Prinzen der Eóghanacht haben das jedoch nie anerkannt, was unter anderem zu der tiefen Feindschaft zwischen den beiden Dynastien beitrug.
Chronologisch folgt die vorliegende Geschichte auf die Ereignisse in Tod den finsteren Mächten. Fidelma und ihre Gefährten sind in die königliche Burg von Cashel zurückgekehrt, nachdem es ihnen gelungen war, Prinzessin Gelgéis zu befreien; in Kürze soll die Hochzeit der Prinzessin von Osraige mit Fidelmas Bruder, König Colgú, stattfinden.
Ich habe mich bisher nie bemüht, meinen Lesern die Aussprache des Irischen beizubringen, schon gar nicht die des Irischen zu Fidelmas Zeiten, das man als Altirisch oder klassisches Irisch bezeichnet. Auf der Website der International Sister Fidelma Society findet man eine kurze Anleitung zur Aussprache auf der Grundlage der englischen Lautschrift. In diesem Fall erwähne ich ausnahmsweise, wie man den Namen des Apothekers in Cashel – Bruder Conchobhar – ausspricht, da das von den sonst üblichen Regeln abweicht: kru-húr.
Wie Fidelma das heilige Schwert von Hochkönig Sechnussach Mac Blathmaic (665–671 n. Chr.) wiederfindet, wird in der Kurzgeschichte Das Schwert des Hochkönigs in dem Sammelband Der falsche Apostel (2009) erzählt. Mein Dank gilt David R. Wooten, der mir viele praktische Hinweise zum heiligen Schwert von Nuada gegeben hat.
Fidelma brachte ihr grauweißes gallisches Pferd auf der Kuppe einer kleinen Anhöhe zum Stehen; sie lag an dem breiten Weg durch die Tiefebene, die sich wie ein grüner Teppich nach Süden ausbreitete und bis zu dem imposanten, steil aufragenden Kalksteinfelsen reichte, der die ganze Gegend beherrschte. Wie oft sie sich auch der Burg ihres Bruders näherte, die sich dort oben erhob – jedes Mal hielt sie einen Augenblick inne und ließ ihre überwältigende Schönheit auf sich wirken. Und jedes Mal war sie ihrem Vorfahren Conall Corc aufrichtig dafür dankbar, dass er vor Jahrhunderten beschlossen hatte, an dieser Stelle den Regierungssitz des Königreichs Muman zu errichten. Heute war Muman das größte der Fünf Königreiche von Éireann. Fidelma beugte sich vor und tätschelte ihrem Pferd den Hals. Sie hatte es Aonbhárr genannt – nach dem Zauberpferd des Meeresgottes Manannán Mac Lir, das Land und Wasser überqueren konnte. Fidelma rekelte sich im Sattel und atmete tief und genüsslich ein. Frühling lag in der Luft, und Zufriedenheit und Lebensfreude erfüllten ihr Herz.
Obwohl es noch nicht Mittag war, stand die Sonne schon hoch am wolkenlosen Himmel und warf lange Schatten über die Ebene im Westen. Der leuchtend grüne Teppich, der sie bedeckte, bestand aus den jungen Trieben des Sommergetreides: Gerste, Hafer und Weizen. Man hatte es erst vor wenigen Wochen ausgesät, denn gegen Ende des Frühjahrs bestellte man die Felder. In wenigen Monaten würden die Halme hoch aufragen und sich golden färben, und bevor der Sommer zu Ende ging, wären sie reif für die Ernte. Man hatte auf dem Land um den hohen Felsen herum, auf den Fidelma zuritt, schon vor Jahrhunderten Getreide angebaut und es so in eine ertragreiche, fruchtbare Gegend verwandelt.
Erfreulicherweise regte sich am Himmel wenig, auch wenn Fidelma zu ihrer Rechten ein paar Ringeltauben im Balzflug entdeckte; sie stiegen mit flatterndem Flügelschlag in die Höhe, bevor sie in ihren unverwechselbaren Gleitflug übergingen. Diese Tauben galten als die Todfeinde der Getreidebauern, denn sobald die Körner reif waren, konnten sie in Scharen über die Felder herfallen und sie verwüsten. Ringeltauben waren die größte Taubenart und die schlimmsten Räuber hier. Fidelma wies sich im Geiste zurecht, weil sie eben noch die spatzenähnlichen Vögelchen bedauert hatte, die in einem Busch am Wegesrand so lange aufgehört hatten zu zwitschern, bis sie an ihnen vorbeigeritten war. Heckenbraunellen fraßen genauso gern Getreide wie Ringeltauben, und so hielt sich ihr Mitgefühl mit ihnen in Grenzen.
Nun wandte Fidelma ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Morgensonne zu und atmete so tief ein, als könne sie auf diese Weise auch deren Wärme in sich aufnehmen. Dabei hatte die Frühlingssonne noch wenig Kraft. Dennoch genoss sie das kurze Sonnenbad; dann ritt sie zügig weiter auf die mächtige graue Burg zu.
An diesem Tag hatte ihr Morgenritt sie nach Norden geführt, auf die breite Straße in Richtung Durlus Éile. Sie hatte eigentlich nur wenige Kilometer durch das Flachland reiten und dann umkehren wollen. Es war ein ruhiger Tag, den blassblauen Himmel trübte kaum eine Wolke, und eine warme Brise von Westen kündigte die baldige Ankunft des Sommers an. Deshalb saß Fidelma ab, setzte sich für einen Augenblick ans Ufer eines Flüsschens, lehnte sich an den Stamm einer Eibe und lauschte dem Plätschern des Wassers, das seine einschläfernde Wirkung nicht verfehlte; sie hätte für immer so sitzen bleiben können.
Nach den letzten, überaus geschäftigen Tagen in der Burg tat es ihr gut, allein durch die Gegend zu reiten; kurz vor dem alljährlichen Beltainefest und dem großen Jahrmarkt war immer viel zu tun. Neben dem Volksfest mit seinen Verkaufsständen und Belustigungen trafen sich zu dieser Zeit die sieben Prinzen der Eóghanacht, der sogenannte Rat der ceithirfine, der Cousins aus dem vierten Kreis der Herrscherdynastie. Für Fidelmas Bruder Colgú, den König von Muman, war die Zusammenkunft von größter Bedeutung. Der König musste dem Rat seinen jährlichen Regierungsbericht präsentieren; er war auf die Zustimmung der Prinzen angewiesen. Das stets wiederkehrende Ritual der Beltainefeuer mit seinen Gelagen und Feierlichkeiten war ein altes heidnisches Fest zu Ehren des Lichtbringers Bel. Es verkündete den Beginn des Sommers und der hellen Jahreszeit. Dem Neuen Glauben war es nicht gelungen, dieses Fest abzuschaffen, so dass es mit dem Segen der Äbte und Bischöfe weiterhin gefeiert wurde. Papst Gregor der Große hatte angeordnet, die heidnischen Kultstätten sowie die Rituale, die man nicht ausmerzen konnte, in den Neuen Glauben einzubinden.
Einige der sieben Prinzen waren mit ihren Ehefrauen und ihrem Gefolge bereits in der Burg eingetroffen. Die meisten ihrer Begleiter und Leibwächter blieben jedoch in Ráth na Drínne, wo sie als Gäste der Burg Unterkunft fanden. Dort, am Südrand von Cashel, wurde traditionell der Jahrmarkt aufgebaut. Bald würden sich die restlichen Prinzen und geistlichen Würdenträger in der Burg einfinden, darunter auch Abt Cuán von Imleach, der Oberste Bischof des Königreichs. Er würde nach dem Ratstreffen Fidelmas Bruder und Prinzessin Gelgéis von Durlus Éile trauen. Man hatte die Trauung verschieben müssen, nachdem die Prinzessin erst kürzlich entführt und schließlich von Fidelma befreit worden war.
Fidelma konnte das Alleinsein an diesem Morgen nicht ganz ungetrübt genießen; sie fühlte sich schuldig, weil sie es sich in Abwesenheit von Eadulf und ihrem kleinen Sohn Alchú gut gehen ließ. Eadulf hatte die Gelegenheit genutzt und den Jungen in die Abtei Imleach Iubhair mitgenommen, die Abtei im Grenzland der Eiben; ihr Gründer war der heilige Ailbe, der den Neuen Glauben als Erster nach Muman gebracht hatte. Je näher Fidelma der Burg kam, desto häufiger begegneten ihr Leute, die ihrem jeweiligen Tagwerk nachgingen. Von Norden her wirkte der Felsen, auf dem in über sechzig Meter Höhe die mächtige Königsburg thronte, geradezu bedrohlich, uneinnehmbar und einsam. Der einzige Zugang zur Burg befand sich auf der Südseite, dort, wo nach und nach in ihrem Schutz das Städtchen Cashel entstanden war. Fidelma musste also den Felsen umrunden, um die großen Eichentore am Ende des steil ansteigenden Zufahrtsweges zu erreichen. Am Tor standen mehr Angehörige der königlichen Leibgarde als üblich. Die Krieger nutzten häufig die Gelegenheit, hier eine Pause zu machen und ein Schwätzchen zu halten, doch heute wirkten sie ungewöhnlich aufgeregt.
Enda, der Befehlshaber der Leibgarde, rannte über den gepflasterten Innenhof direkt auf sie zu. Fidelma zügelte ihr Pferd und starrte den Krieger an, den sie nur selten so hatte rennen sehen; sein Lauf verriet große Angst und Eile, die sich auch in seiner Miene widerspiegelten.
Atemlos blieb er vor ihr stehen. Fidelma musterte ihn nachdenklich; er war blass und angespannt.
»Lady«, keuchte er, ohne sich Zeit zum Luftholen zu nehmen. »Lady, ich soll dich unverzüglich zum König bringen.«
Eiskalte Furcht durchzuckte Fidelma.
»Colgú? Ist meinem Bruder etwas passiert?« Ihre Stimme überschlug sich, während sie aus dem Sattel glitt und dem Stallburschen, der herbeigeeilt war, die Zügel zuwarf.
Der junge Krieger schüttelte den Kopf, drehte sich um und hastete ihr voraus über den Innenhof.
»Nein, Lady. Nicht dem König. Aber du musst dich beeilen.«
Die Furcht ließ sie nicht los.
»Ist meinem Mann etwas passiert – Eadulf? Oder meinem Sohn Alchú?«
Enda wandte sich mit flehentlichem Blick zu ihr um.
»Lady, soweit ich weiß, geht es Eadulf und Alchú gut. Aber der König erwartet dich ungeduldig. Bitte komm jetzt.«
»Dann handelt es sich also nicht um eine Nachricht aus Imleach?«, fragte sie und rührte sich noch immer nicht vom Fleck. »Bist du sicher, dass mit meinem Sohn und seinem Vater alles in Ordnung ist?«
Enda spürte Fidelmas Verunsicherung und sah die Panik in ihren Augen.
»Nein, es gibt keine Nachricht aus Imleach, Lady. Ich verspreche dir, Eadulf und Alchú ist nichts passiert. Bitte komm.«
Wieder drehte er sich um und eilte ihr das letzte Stück bis zum Eingang des Hauptgebäudes voraus, in dem sich die Privatgemächer des Königs befanden. Der wachhabende Krieger dort nahm vor der Schwester des Königs Haltung an, bevor er die Flügel der schweren Eichentür weit öffnete, damit sie hindurchgehen konnten. Fidelma folgte Enda, der den wohlvertrauten Flur zu den königlichen Gemächern entlanghastete. Der Leibwächter, der davor postiert war, sah sie kommen, klopfte an die Tür und ließ sie aufschwingen, bevor er einen Schritt zur Seite machte. Enda blieb stehen, damit Fidelma in das private Empfangszimmer ihres Bruders eintreten konnte. Dann schloss er die Tür von außen, so dass sie und Colgú allein waren.
Colgú war offenbar rastlos vor dem Kamin auf und ab gegangen, hielt jetzt inne und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. Die Verwandtschaft der beiden war unverkennbar – das gleiche rote Haar, die gleichen blau-grünen Augen, die gleichen Gesichtszüge. Die Besorgnis war Colgú deutlich anzusehen, als er seiner Schwester beide Hände zur Begrüßung reichte.
»Fidelma … es gibt schlimme Neuigkeiten …«, sagte er und konnte kaum weitersprechen.
»Schlimme Neuigkeiten? Man hat mir versichert, dass weder dir noch Eadulf oder Alchú etwas …« Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass sie eine weitere wichtige Person vergessen hatte, und verwünschte sich für ihre selbstsüchtige Nachlässigkeit. Mit ängstlich geweiteten Augen fragte sie: »Neuigkeiten von Gelgéis? Ich dachte, sie sei nur wegen einer belanglosen Familienangelegenheit nach Durlus Éile zurückgekehrt. Ist ihr etwas zugestoßen?«
Dabei sah sie ihren Bruder mitfühlend an, denn sie wusste, wie viel ihm die Prinzessin bedeutete, die auch für sie inzwischen zur Freundin geworden war. Es war erst eine gute Woche her, seit Fidelma Gelgéis befreit hatte, nachdem man sie entführt und im unzugänglichen Cuala-Gebirge im benachbarten Königreich Laighin gefangen gehalten hatte. Doch Colgú schüttelte den Kopf, ohne dass sich seine Miene entspannte.
»Gelgéis ist wohlauf«, antwortete er tonlos. »Es geht um Bruder Conchobhar – er ist tot.«
Im ersten Moment verstand Fidelma nicht, was er da sagte. Sie verspürte zunächst nur Gewissensbisse, als ihr bewusst wurde, wie erleichtert sie war, dass es nicht um ihre nächsten Angehörigen ging. Doch dann begriff sie schlagartig und war bestürzt und erschüttert.
Bruder Conchobhar war nicht nur der Apotheker der Burg, solange sie denken konnte, sondern er war für sie auch immer so etwas wie ein Vater gewesen. Nach dem Tod von König Failbe Flann blieben seine drei Kinder, Fidelma und ihre zwei älteren Brüder Colgú und Fogartach, schutzlos zurück. Nacheinander traten mehrere entfernte Cousins Failbe Flanns Nachfolge auf dem Königsthron an, doch bis auf einen wollte keiner etwas mit dessen drei Kindern zu tun haben. Folglich gingen sie ihre eigenen Wege. Colgú machte eine Ausbildung zum Krieger, Fogartach verließ Muman und suchte anderswo sein Glück, und Fidelma beherzigte den Rat von Bruder Conchobhar und entschied sich für ein Studium der Rechtswissenschaften; danach sicherte sie ihre Existenz, indem sie in die Abtei Cill Dara eintrat. Erst als ihr Cousin Cathal Cú‑cen-Máthair aus Glendamnach König wurde, ernannte er Colgú zu seinemThronfolger. Dadurch verbesserte sich die Situation der Geschwister. Nachdem Cathal an der Gelben Pest gestorben und Colgú König geworden war, kehrte Fidelma nach Cashel zurück und wurde seine Rechtsberaterin.
In den schwierigen Jahren ihrer Kindheit war Bruder Conchobhar immer für Fidelma da gewesen und hatte sie mit Rat und Tat unterstützt, so gut er konnte. Er war für sie zum Vorbild, Lehrer und Freund geworden. Doch der Apotheker hatte schon ein beträchtliches Alter erreicht, und allmählich hatte Fidelma eine gewisse Distanz zu ihm entwickelt. Alte Menschen sterben nun mal. Das war eine Tatsache und gehörte zum Leben dazu. Trotzdem wirkte Colgú seltsam fassungslos; das irritierte Fidelma sehr, denn er hatte schon viele Gefährten, Freunde und Verwandte in jungen Jahren verloren, sei es im Kampf oder durch die Pest, und er hatte ihr Schicksal stets akzeptiert.
»Ich habe Bruder Conchobhar heute Morgen noch gesehen«, überlegte sie laut. »Gleich bei Tagesanbruch, er hat mir zugewinkt, als ich die Burg verließ. Der Tod muss ihn ganz plötzlich ereilt haben. Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein, dass ihm endloses Leiden und Siechtum erspart geblieben sind.«
Ärger huschte über Colgús Gesicht; Fidelma fragte sich, warum.
»Es erfüllt mich mit tiefem Kummer, das zu hören, Bruder«, fuhr sie fort. »Seine Ratschläge werden uns schrecklich fehlen. Aber er hatte ein langes und gutes Leben, und am Ende steht immer der Tod. Er muss wirklich sehr plötzlich gestorben sein, denn als er mir heute früh zuwinkte, sah er fröhlich aus. Wir sollten uns für ihn freuen. Hat man sich nicht erzählt, dass Bruder Conchobhar in der Zeit von Fergus Scandal geboren wurde? Er müsste demnach ungefähr …«
Colgú unterbrach sie schroff: »Bruder Conchobhar wurde ermordet.«
Fidelma starrte ihren Bruder ungläubig an. Plötzlich musste sie sich setzen. Zuerst war sie wie erstarrt, dann schüttelte sie langsam den Kopf, als zweifle sie an Colgús Worten. Schließlich räusperte sie sich, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Wie hat man ihn denn umgebracht? Ich habe die Burg heute kurz nach Tagesanbruch verlassen. Ich habe ihn gesehen, als ich durchs Tor hinausritt. Er stand auf der anderen Seite des Innenhofs und winkte mir zu. Ich glaube, er war auf dem Weg zu seiner Apotheke.«
»Das ändert nichts daran, dass man ihn vor Kurzem tot aufgefunden hat«, antwortete ihr Bruder brüsk. »Man hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
»Weiß man schon, wer das getan hat?«
Colgú machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nein. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte man ihn überfallen und bestohlen, während er in der Apotheke war.«
Fidelma riss erstaunt die Augen auf. »Bestohlen? Wer soll denn in einer Apotheke etwas stehlen? Das ergibt gar keinen Sinn. Es steht doch schließlich jedem frei, Kräuter und Pflanzen zu sammeln.«
»Vielleicht hat er dort noch andere Dinge aufbewahrt, die für einen Dieb lohnend gewesen sein könnten«, erwiderte Colgú zögernd.
»Andere Dinge?«, fragte Fidelma.
»Du weißt doch, welche Rituale wir hier auf der Burg zum Beltainefest einhalten müssen. Bruder Conchobhar war der Hüter des Schwertes und einiger anderer heiliger Gegenstände, die unerlässlich sind für die Feierlichkeiten, mit denen die Herrschaft des Königs bestätigt wird.«
»Warum sollten Diebe so dumm sein und aus der Burg des Königs Dinge stehlen, die jeder kennt? Sie könnten sie doch gar nicht verkaufen!«
»Es sei denn, an einen Feind unseres Königreichs«, entgegnete Colgú grimmig.
»Meinst du den König von Laighin?«, fragte Fidelma sofort.
»Der fällt mir auch als Erster ein. In seinen Händen könnten diese Gegenstände mit ihrem hohen Symbolgehalt großen Schaden anrichten.«
Zugegebenermaßen konnte Fidelma mit Symbolen und deren Bedeutung nicht viel anfangen. Nach dem Tod des Vaters hatte sie den größten Teil der Kindheit und Jugend ihrer Ausbildung gewidmet und war nur selten bei feierlichen Zeremonien zugegen gewesen.
»Es steht fest, dass einige unbezahlbare Kultgegenstände, die während der Feierlichkeiten verwendet werden, aus der Apotheke verschwunden sind«, erklärte Colgú. »Ich denke, du wirst es besser verstehen, wenn du siehst, wo man ihn ermordet hat.«
Fidelma runzelte die Stirn. »Willst du mich hiermit offiziell mit den Ermittlungen beauftragen?«
»An wen soll ich mich denn sonst wenden?«, rief Colgú. »Fithel, unser Oberster Brehon, hält sich wegen eines Falles gerade bei Prinz Finguine von Glendamnach auf.«
Fidelma schwieg zunächst. Dann sagte sie entschlossen: »Ich nehme den Auftrag an. Wer hat den Mord entdeckt?«
»Enda!«
Fidelma entspannte sich ein wenig. Enda war absolut vertrauenswürdig und hatte sie und Eadulf bei zahlreichen Abenteuern begleitet. »Dann rufen wir ihn herein. Bei solchen Verbrechen spielt Zeit eine ganz wesentliche Rolle.«
Colgú rief Endas Namen, und der junge Krieger trat augenblicklich ins Zimmer.
»Ich möchte, dass du meine Schwester bei der Aufklärung des Mordes an Bruder Conchobhar unterstützt und ihre Anweisungen befolgst. Sie ist für die Ermittlungen zuständig.«
Enda neigte den Kopf vor Fidelma. »Ich stehe zu deinen Diensten, Lady.«
»Erzähl mir, wie du den Leichnam von Bruder Conchobhar gefunden hast«, forderte sie ihn sofort auf.
Man sah dem jungen Krieger an, wie schwer ihm das fiel. Auch er hatte den alten Apotheker seit vielen Jahren gekannt und sehr gemocht.
»Heute Morgen hatte ich etwas in der Apotheke zu erledigen. Ich wollte Bruder Conchobhar fragen, ob er Lauch für unseren Koch erübrigen könne.« Offenbar meinte Enda den Koch, der für die Versorgung der Leibgarde zuständig war.
»Lauch hat der Koch doch bestimmt selbst in seinen Vorräten«, bemerkte Fidelma.
»Er war ihm ausgegangen«, antwortete Enda, »und ich erinnerte mich, dass Bruder Conchobhar immer eine große Auswahl an Gemüse hat. Du weißt ja, dass er es im Garten hinter der Apotheke anbaut.«
»Erzähl weiter«, herrschte Colgú ihn an, denn schließlich war allen bekannt, wie stolz der Apotheker auf seinen Kräuter- und Gemüsegarten war. »Erzähl weiter, was passiert ist.«
»Ich ging also zur Apotheke und trat ein. Es war niemand zu sehen, was nicht ungewöhnlich ist, aber mir fiel auf, dass die Tür zum Hinterzimmer weit offen stand. Dort führte Conchobhar Autopsien durch oder kleidete die Toten an, bevor sie begraben wurden. Außerdem lagerte er dort die unterschiedlichsten Arzneien. Eine seltsame Ahnung ließ mich ins Hinterzimmer treten. An der hinteren Wand hatte man eine schwere Truhe beiseitegerückt. Wo sie gestanden hatte, sah ich eine Falltür. Sie war geschlossen, aber nicht verriegelt. Das machte mich neugierig, denn es sah Bruder Conchobhar gar nicht ähnlich, etwas offen zu lassen, wenn er nicht da war. Ich wollte mir das genauer anschauen und zog die Falltür hoch. Ich spähte nach unten. Eine Leiter führte hinunter; ihr Ende lag im Dunkeln. Ich beugte mich über die Öffnung und rief mehrmals Conchobhars Namen. Ich erhielt keine Antwort.«
Fidelma wartete ungeduldig darauf, dass der junge Krieger seine Gedanken ordnete und weitersprach.
»Ich beschloss, eine Laterne anzuzünden und hinunterzusteigen«, fuhr er fort, als sie ihn gerade zur Eile mahnen wollte. »Mir kam plötzlich der Gedanke, der Alte könnte gestürzt sein und es nicht geschafft haben, die Leiter wieder hochzuklettern.«
»Du bist also hinuntergestiegen?«, drängte ihn Fidelma.
»Genau, Lady«, sagte Enda.
»Was hast du vorgefunden?«
»Die Leiter führte drei bis vier Meter tief in einen kleinen runden Raum, den man in den Felsen gehauen hatte. Fast genau in der Mitte des Raums lag zusammengekrümmt Bruder Conchobhar. Seine Körperhaltung verriet mir sofort, dass er tot war. Ich habe zu viele Tote gesehen, um mir da etwas vorzumachen. Ich trat näher und hob die Laterne; sein Hinterkopf war voller Blut, und daneben bemerkte ich einen blutverschmierten Stein. Sonst befand sich nichts in der Kammer; nichts außer dem Stein und dem Toten. Doch als ich mich gründlicher umschaute, entdeckte ich an einer Seite eine schmale Öffnung. Ich hätte sie beinahe übersehen, weil die ungleichmäßige Oberfläche der Felswände überall ihre Schatten warf und weil die Öffnung im Dunklen lag und nur geradeso breit war, dass sich eine Person seitlich durch sie hindurchzwängen konnte.«
»Sich hindurchzwängen?«, fragte Fidelma erstaunt. »Die Öffnung war also ein schmaler Durchgang? Wohin führte er?«
»Als ich mich durch die Öffnung hindurchschob, spürte ich, dass der Boden auf dem Weg schräg nach unten abfiel, aber nur ein kurzes Stück … Gleich darauf gelangte ich in einen zweiten runden Raum. Er war kaum so hoch, dass ein großer Mann darin aufrecht stehen konnte. Mein Kopf streifte die Decke. In der Mitte befand sich ein rechteckiger Tisch aus Eibenholz. Seine Seiten waren mit Schnitzereien verziert. Auf dem Tisch lag ein längliches Kissen mit einem blauen Seidenbezug. Das Ganze wirkte wie ein Altar – so etwas habe ich bisher nur in den Gottesdiensten des Neuen Glaubens gesehen.«
An dieser Stelle unterbrach ihn Colgú. »Als Enda mir das alles beschrieb, war ich völlig verblüfft. Ich bildete mir ein, die Burg in- und auswendig zu kennen, aber von diesen Räumen hatte ich noch nie gehört, geschweige denn, sie jemals betreten. Ich bat Enda, sie mir zu zeigen.«
»Also warst du schon dort und hast auch Bruder Conchobhars Leichnam gesehen?«
»Ich habe nichts angerührt«, versicherte ihr Colgú. »Es ist alles so, wie es war.«
»Auch ich habe noch nie von Räumen oder Höhlen an dieser Stelle gehört«, sagte Fidelma nachdenklich. »Und das, obwohl ich so viele Stunden in der Apotheke zugebracht habe.«
»Du wirst sie mit eigenen Augen zu sehen bekommen.«
»Welche Schlüsse ziehst du aus der Existenz dieser Räume?«
»Als ich in die zweite Kammer kam, begriff ich, dass Bruder Conchobhar dort die Kultgegenstände aufbewahrt haben muss; die unersetzlichen Symbole unserer Herrscherdynastie.«
Fidelma wandte sich erneut an Enda. »Und sonst befand sich nichts darin? Was hast du dann gemacht?«
»Ich bin in den ersten Raum zurückgekehrt, in dem der Tote lag. Es gab dort nichts mehr für mich zu tun, und so stieg ich wieder die Leiter hinauf, zurück in die Apotheke …«
»Ist die Leiter der einzige Weg, um in die Räume dort unten zu gelangen?«
»Ja, einen anderen Eingang oder Ausgang gibt es nicht.«
»Was dann?«
»Ich schloss die Falltür und schob die Truhe wieder an ihren Platz. Es könnte ja sein, dass jemand anderes in die Apotheke kommt und bei ihrem Anblick ebenso neugierig wird wie ich. Dann informierte ich unverzüglich deinen Bruder. Wir kehrten zusammen dorthin zurück.«
»Das kann ich bestätigen«, sagte Colgú. »Mehr ist nicht zu sagen.«
»Falls Bruder Conchobhar da unten wirklich Kultgegenstände aufbewahrte, welche waren das?«
»Der bekannteste Kultgegenstand ist vermutlich das Schwert von Nuada. Außerdem andere Dinge für die Feierlichkeiten an bestimmten Festtagen. Wenn man sie gerade nicht benötigte, hat Bruder Conchobhar sie wohl in diesen Kammern gelagert.«
»Sind diese Gegenstände denn so wertvoll, von ihrer symbolischen Bedeutung einmal abgesehen?«, fragte Fidelma.
»Sie sind unbezahlbar – wie etwa das heilige Schwert von Nuada …«
Colgú unterbrach sich mitten im Satz und wurde kreidebleich. Blankes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er sprang auf und eilte aus seinem Gemach. Fidelma war fassungslos. Sie warf Enda einen kurzen Blick zu, doch der zuckte nur die Schultern, erhob sich und folgte Colgú. Fidelma tat es ihm gleich.
Colgú war nicht weit gelaufen. Er hatte den großen Festsaal der Burg betreten, in dem die offiziellen Empfänge und Festgelage des Königs stattfanden. Dort bewirtete er nicht nur die Prinzen und Adligen aus Muman, sondern auch Besucher aus anderen Königreichen. Sogar der Hochkönig war hier schon zu Gast gewesen. Der Raum war etwa doppelt so lang wie breit und rundum mit rötlichen Wandpaneelen aus Eibenholz verkleidet. An einem Ende erhob sich ein Podest, auf dem der König normalerweise auf seinem alten, mit Schnitzereien verzierten Thron aus Eiche saß. Links und rechts davon standen weniger imposante Stühle für seine Berater und für die Mitglieder seines Haushalts. Wenn hier Festgelage stattfanden, stellte man lange Holztische und ‑bänke auf, und die Gäste wurden entsprechend ihrer Rangordnung platziert. An die Wand hinter jedem Gast hängte man dessen Schild und Banner mit dem Familienwappen. Jetzt war der Saal leer.
Colgú war an der Tür stehen geblieben und starrte auf eine ganz bestimmte Stelle. Über seinem Thron hing ein riesiger handgewirkter Bildteppich, der die gesamte Stirnseite des Saals einnahm; er war von einem strahlenden Tiefblau und zeigte einen stolzen Hirschbock, der mit Goldfäden eingearbeitet war. Der Hirsch war das Symbol der Eóghanacht, der Herrscherfamilie von Muman. Oberhalb des herrlichen Teppichs hing eine Scheide mit einem Schwert darin an der Wand. Die Scheide war mit einem komplizierten Muster aus Halbedelsteinen geschmückt, ebenso wie der Schwertgriff, der einzige sichtbare Teil des Schwerts. Offenbar hatte man nicht an Gold, Silber und kostbaren Edelsteinen gespart, um die Bedeutung von Schwert und Scheide zu betonen. Sie waren symbolisch an dominanter Stelle angebracht.
Colgú betrachtete sie einen Augenblick und seufzte dann aus tiefstem Herzen.
Bei den wenigen Malen, die Fidelma der Zeremonie am Beltainefest beigewohnt hatte, hatte sie die nackte Klinge des Schwerts gesehen, das der König hoch über seinen Kopf gehalten hatte.
Fidelma schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Warum hängt es eigentlich schon hier? Normalerweise bringt man es erst kurz vor der Zusammenkunft des Rates dort an. Und wie können wir überhaupt sicher sein, dass das Schwert echt ist?«
Widerwillig wendete Colgú seinen Blick von dem Schwert ab und Fidelma zu.
»Was meinst du damit? Nicht echt?«
»Ich weiß nicht viel über die Rituale am Beltainefest, aber ich erinnere mich, dass Bruder Conchobhar das Schwert immer erst aufhängte, wenn der Rat der sieben Prinzen zusammentrat.«
Plötzlich wurde die Miene ihres Bruders starr vor Entsetzen. »Hol eine Leiter«, befahl er Enda.
Gleich kam Enda mit einer Leiter angelaufen. »Ich halte es für das Beste, das nicht in Anwesenheit Dritter zu tun. Es könnte sich daraus womöglich ein Problem ergeben«, erklärte er. Dann stieg er die Leiter hinauf und holte Schwert und Scheide herunter.
Colgú nahm ihm beides ab, zog das Schwert aus der Scheide und besah sich alles gründlich. Der Griff war kunstvoll verziert, wie man es bei einem so bedeutenden Schwert erwarten durfte. Der Knauf, der mit einem Silberdraht geschützt war, bestand aus weißem Sonnenstein, dem Wahrzeichen der Götter. Auffällig war die fein gearbeitete Parierstange aus Bronze, die auf beiden Seiten in einer geballten Faust endete. Oberhalb der Fäuste, an ihrem Handgelenk, war auf der einen Seite ein Smaragd eingelassen und auf der anderen Seite ein Rubin. Colgú lächelte und gab Enda das Schwert zurück.
»Du kannst es wieder aufhängen. Das ist zweifelsfrei das heilige Schwert von Nuada: Frecraid – Die Antwort, das Symbol der Eóghanacht. Gott sei Dank hing es schon hier, in Sicherheit, und befand sich nicht mehr in Bruder Conchobhars geheimen Räumen, als er überfallen wurde.«
Fidelma sah ihren Bruder ungehalten an. »Wenn du wusstest, dass das Schwert fehlt, warum hast du nicht längst hier nachgesehen?«
»Mir fiel erst jetzt wieder ein, dass Bruder Conchobhar mich gestern gefragt hat, ob er das Schwert früher als sonst im Festsaal aufhängen dürfe. Ich hatte ganz andere Dinge im Kopf.«
»Hat er dir einen Grund dafür genannt? Das war doch auf jeden Fall ungewöhnlich?«
»Er sagte, dass die ersten Prinzen schon eingetroffen seien und dass es sie beeindrucken dürfte, das Schwert bereits an seinem Platz zu sehen.«
»Wann genau hat er es da oben angebracht?«
»Gestern Abend.«
»Jeder kann sehen, dass es hier hängt.«
»Wenn du dir Sorgen um seine Sicherheit machst, könnte ich eine Wache aufstellen«, schlug Enda vor.
»Das wäre mir im Augenblick auf jeden Fall lieber«, antwortete Colgú und nickte.
»Ein kluger Gedanke«, bestätigte Fidelma, »zumindest bis wir genauer verstehen, warum man Bruder Conchobhar ermordet hat.«
»Wenn sie es auf das Schwert abgesehen hatten, hätten sie nur hier eindringen und es mitnehmen müssen«, sagte Enda.
»Falls die Diebe die heiligen Kultgegenstände stehlen wollten, wussten sie wohl nicht, dass es hier war«, erwiderte Fidelma leise.
»Falls die Diebe nicht das Schwert wollten, den wichtigsten Kultgegenstand, dann ging es ihnen vielleicht um den materiellen Wert der Sachen?«, murmelte Colgú. »Vielleicht genügte ihnen, was sie mitgenommen haben?«
»Wie auch immer, am besten, du lässt das Schwert ab jetzt bewachen«, sagte Fidelma zu ihrem Bruder.
Colgú drehte sich mit düsterer Miene zu ihr um. »Na schön. Ich hoffe nur, die Diebe waren hinter dem materiellen Wert der Kultgegenstände her. Dabei ist ihr symbolischer Wert unvergleichlich viel größer. Vergiss nicht, dass Bruder Conchobhar der Hüter des Schwertes war und dass viele Menschen an die heilige Symbolik dieses Schwertes glauben.«
»Das Schwert ist nun jedenfalls ausreichend geschützt. Wissen wir denn genau, welche Kultgegenstände Conchobhar sonst noch aufbewahrt hat?«, fragte Fidelma.
»Keine Ahnung. Alles, was ich weiß, habe ich aus der Geschichte über die alten Götter und Göttinnen«, antwortete Colgú. »Aus der Geschichte, mit der wir alle aufgewachsen sind: Nuada, der Mann mit der Silberhand, überreicht unserem Vorfahren Éoghan Mór als Symbol seiner Herrschaft das Schwert – Frecraid, Die Antwort. Du erinnerst dich bestimmt, dass Éoghan Mór sich fortan immer als Diener von Nuada bezeichnet hat. Wir sollten das Rätsel so schnell wie möglich lösen; ich muss dich wohl nicht darauf hinweisen, dass in wenigen Tagen der Rat zusammenkommt … Dann findet die Zeremonie statt, bei der der Hüter des Schwertes es mir überreicht und damit bestätigt, dass ich der gerechte und rechtmäßige König bin.«
Fidelma zögerte einen Augenblick. »Vermutlich hat man noch niemanden über die jüngsten Vorfälle informiert, oder wer weiß inzwischen bereits davon?«
»Bisher niemand«, versicherte ihr Colgú sofort.
»Allerdings habe ich den Wachen eingeschärft, genau darauf zu achten, wer die Burg verlässt«, sagte Enda. »Ich habe keinen Grund dafür genannt, sondern darum gebeten, es mir unverzüglich mitzuteilen, wenn jemand hinauswill und sich dabei verdächtig benimmt.«
»Trotzdem werden sich bald Gerüchte verbreiten«, erwiderte Fidelma. »Falls es sich um Diebstahl handelt, bin ich mir sicher, dass die Diebe sich längst aus dem Staub gemacht haben. War denn überhaupt etwas los am Tor?«
»Heute Morgen hat keine hochstehende Persönlichkeit die Burg verlassen. Die Gäste, die gestern Abend hier waren, sind immer noch hier. Lediglich ein paar Händler und Kaufleute sind gekommen und gegangen.«
Fidelma sah Colgú erstaunt an. »Gehst du davon aus, dass nur eine hochstehende Persönlichkeit als Täter infrage kommt? Wieso nimmst du das an?«
»Wer sonst sollte solche Dinge stehlen? Doch nur jemand, der ihre Bedeutung kennt. Ein normaler Dieb würde wissen, dass er unnötige Aufmerksamkeit erregt, wenn er das Diebesgut zu verkaufen versucht.«
Fidelma sah ein, dass ihr Bruder wahrscheinlich recht hatte. Das hatte sie nicht bedacht.
»Ich werde einen Arzt brauchen, der den Leichnam untersucht. Wie schade, dass sich Eadulf gerade in Imleach aufhält. Gibt es hier sonst noch einen qualifizierten Arzt?«
»Ich glaube nicht, dass die Meinung eines Arztes unbedingt erforderlich ist, Lady«, unterbrach sie Enda. »Es ist offensichtlich, dass der Apotheker getötet wurde. Jemand hat ihm von hinten mit einem Stein den Schädel eingeschlagen.«
»Ich würde mir gern selbst eine Meinung bilden«, entgegnete Fidelma spitz. »Außerdem verlangt das Gesetz eine fachkundige Untersuchung, wenn es um Mord geht. Du wolltest gerade meine Frage nach einem Arzt beantworten.«
»Ein Arzt aus Imleach ist hier eingetroffen. Dar Luga weiß, wer er ist.«
Dar Luga führte den königlichen Haushalt und war inzwischen fast so etwas wie die Verwalterin der Burg. Diesen Posten hatte Colgú nicht mehr neu besetzt, seit sich herausgestellt hatte, dass sein letzter Verwalter in eine Verschwörung gegen ihn verstrickt gewesen war. Fidelma fand schon lange, dass Dar Luga sowohl den weitaus angeseheneren Titel der Verwalterin verdient hatte als auch deren praktische Aufgaben offiziell übernehmen sollte.
»Ist der Arzt vertrauenswürdig?«
»Wer soll das beurteilen? Er ist noch nicht lange hier. Er heißt Bruder Laig und gehört zur religiösen Gemeinschaft von Abt Cuán«, antwortete Colgú. »Ich kann Dar Luga rufen lassen, um ihre Meinung zu hören, wenn du willst. Früher oder später muss ich ihr sagen, dass Bruder Conchobhar tot ist. Es ist ohnehin ihre Aufgabe, die Trauerfeierlichkeiten vorzubereiten.«
Fidelma hatte nichts dagegen einzuwenden. Enda ging zur Tür und befahl einer Wache, Dar Luga kommen zu lassen. Kurz darauf trat die rundliche Haushälterin ein.
»Ich habe gehört, dass du den Arzt aus Imleach kennst?«, begann Fidelma ohne Umschweife.
»Bruder Laig? Ja, ich kenne ihn, Lady.«
Niemand außer Fidelma merkte, dass Dar Luga missbilligend das Gesicht verzog.
»Ist er vertrauenswürdig?«
Dar Luga starrte Fidelma eine Weile an. »Das kann ich nicht beurteilen, Lady. Ich könnte lediglich meine Meinung über ihn als Mensch äußern, von seinen Fähigkeiten als Arzt weiß ich nichts. Er ist auf Anweisung von Abt Cuán mit den neuen Mönchen hergekommen. Ich bin ihm mehrmals begegnet und habe keinen sonderlich guten Eindruck von ihm. Falls man von seinem Verhalten auf seine fachliche Qualifikation schließen kann, würde ich mir anderswo Rat suchen, wenn ich einen Arzt bräuchte. Er ist arrogant.«
»Aber wenn er auf Empfehlung von Abt Cuán hier ist, muss der ihn doch wohl für einen fähigen Mediziner halten.«
»Die Kompetenz eines Arztes misst man nicht mit einem fé, sondern so, wie man den Charakter einer jeden Person – egal, ob gut oder schlecht – beurteilt. Ein Arzt ist schließlich ein Mensch wie jeder andere.«
Fidelma fragte sich erstaunt, ob Dar Luga das Wort fé – so bezeichnete man den Stock, mit dem man das Grab für einen Toten ausmaß – bewusst gewählt hatte.
»Na schön, du findest Bruder Laig unsympathisch, aber wir brauchen trotzdem möglichst schnell einen Arzt. Würdest du ihn suchen gehen und ihn bitten, sich unverzüglich bei mir zu melden? Ich bin in Bruder Conchobhars Apotheke.«
Dar Luga zögerte.
»In Bruder Conchobhars Apotheke? Wozu braucht man dort einen Arzt? Bruder Conchobhar verfügt doch selbst über großes medizinisches Wissen; das wird ihm nicht gefallen. Ich bezweifle, dass er und Bruder Laig sonderlich gut miteinander auskommen werden, Lady.« Dann bemerkte sie Fidelmas Gesichtsausdruck. »Stimmt etwas nicht?«
Alle schwiegen. Fidelma schaute ihren Bruder an. »Ich fürchte, es wird dir ohnehin zu Ohren kommen«, sagte der schließlich. »Bruder Conchobhar ist tot.«
Dar Luga sah von einem zum andern, als hätte sie kein Wort verstanden. Schließlich schnappte sie nach Luft und begann zu schluchzen; sie machte einen Schritt nach hinten und wäre beinahe gestürzt. Enda sprang hinzu, packte mit einer Hand einen Stuhl und mit der anderen ihren Arm und half ihr, sich zu setzen.
Fidelma drehte sich verärgert zu Colgú um, doch der war schon dabei, einen Becher mit Wasser zu füllen und ihn seiner Schwester zu reichen. Sie gab ihn an Dar Luga weiter, die ihn mit zitternden Händen an die Lippen führte und ein paar Schlucke trank.
»Es tut mir leid, aber früher oder später hättest du es ohnehin erfahren«, sagte Fidelma zu Dar Luga und warf Colgú einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Wie traurig das ist, Lady«, erwiderte die rundliche Haushälterin. »Ich kenne Bruder Conchobhar seit vielen Jahren.«
»Wir sind alle tief betroffen, Dar Luga. Auch für uns ist es schrecklich. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass er schon alt war und dass der Tod jeden von uns ereilt.«
»Aber er war so lebendig und voller Tatendrang, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«
»Wann war das?«
»Gestern Abend. Er kam gerade mit dem heiligen Schwert von Nuada aus der Apotheke und wollte es schon für das Beltainefest an seinen Platz hängen.«
»Du hast tatsächlich gesehen, wie er mit dem heiligen Schwert aus der Apotheke kam?«, fragte Fidelma erstaunt.
»Mit dem Schwert von Nuada – Frecraid – Die Antwort«, bestätigte Dar Luga.
»Hat er das Schwert offen getragen oder in der Scheide oder einer anderen Hülle?«
Dar Luga überlegte einen Augenblick. »Er hatte es in ein Stück Sackleinen gewickelt. Aber der schöne Griff guckte heraus. Er sagte, er wolle es anlässlich des Ratstreffens im Festsaal aufhängen. Er hatte außerdem noch ein schweres Kästchen bei sich und bat mich, darauf aufzupassen, bis er es heute Vormittag wieder bei mir abholen würde. Ich versprach ihm, es in meinem Zimmer neben der Küche aufzubewahren.«
»Aber das Schwert … Hat ihn sonst noch jemand gesehen oder mitbekommen, was er da trug?«
»Es war niemand dort außer uns.«
»Und da hast du ihn zum letzten Mal gesehen – gestern Abend?«
»Genau. Cainder hat ihn allerdings heute Morgen bei guter Gesundheit angetroffen. Ich hatte sie zu ihm geschickt, um etwas für mich zu holen.«
»Cainder?«, fragte Fidelma verblüfft. »Wer ist Cainder?«
»Sie hilft mir in der Küche. Ich war gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten, und brauchte etwas aus der Apotheke.«
»Was denn?«
»Ich brauchte ein paar Haselnüsse.«
»Dann hat das Mädchen Bruder Conchobhar heute Morgen gesehen? Wann genau war das?«
»Kurz nach Tagesanbruch. Es war noch früh, die Sonne stieg gerade erst über die Berge im Osten.«
»War alles in Ordnung mit ihm?«
»Sie hat mir nichts anders berichtet. Außerdem brachte sie mir mit, worum ich sie gebeten hatte.«
Fidelma presste nachdenklich die Lippen zusammen.
»Sie muss ihn etwa um dieselbe Zeit gesehen haben wie ich, als ich die Burg zum Ausreiten verließ. Ich werde nachher mit ihr reden. Sprich mit niemandem über Conchobhars Tod, bevor der König ihn nicht offiziell verkündet hat. Und jetzt schick bitte diesen Arzt zur Apotheke; ich erwarte ihn dort zusammen mit Enda.« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Hast du nicht gesagt, Bruder Conchobhar hatte ein Kästchen bei sich? Hat er es noch abgeholt?«
»Nein. Er bat mich, bis heute früh darauf aufzupassen, weil es ihm beim Aufhängen des Schwertes im Weg war. Es handelt sich um ein Kästchen aus Metall – um einen von diesen Buchschreinen, wie sie Mönche häufig benutzen. Es ist immer noch bei mir.«
»Ich werde es mir später anschauen.«
Dar Luga erhob sich und sah den König an. »Dürfen die anderen Hausangestellten schon erfahren, dass Bruder Conchobhar tot ist? Sie haben ihn alle gekannt und geliebt.«
»Wir befolgen die Anweisungen meiner Schwester«, antwortete er und gab sich Mühe, das mitfühlend zu sagen. »Sobald Fidelma mit ihrer Untersuchung fertig ist, werde ich alle zusammenrufen und ihnen mitteilen, was geschehen ist. Danach wird man die Totenglocke läuten. Ich möchte dich bitten, die nötigen Vorkehrungen zu treffen und die Trauerfeierlichkeiten vorzubereiten.«
Die Haushälterin neigte zustimmend den Kopf, drehte sich um und verließ das Gemach.
»Und jetzt, Enda«, sagte Fidelma, »ist es wohl endlich an der Zeit, dass du mir den Tatort zeigst, den Raum, in dem der arme Bruder Conchobhar gestorben ist.«
Enda hatte sehr präzise beschrieben, was er in Bruder Conchobhars Apotheke vorgefunden hatte. Er führte Fidelma durch die ihr vertrauten Räume, in denen der intensive Geruch nach Kräutern und Gewürzen sie umfing und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Im Hinterzimmer, in dem der Apotheker Leichen für die Beerdigung vorbereitet hatte, stand die Truhe, die Enda beiseiteschob, so dass die Falltür im Fußboden sichtbar wurde. Enda bückte sich und öffnete die Klappe; eine Leiter führte nach unten ins Halbdunkel.
»Ich steige zuerst runter«, sagte er. »Als ich deinen Bruder hierherbrachte, damit er sieht … Wir haben unten eine brennende Laterne stehen lassen.«
Fidelma stieg schweigend hinter ihm die Leiter hinunter. Bis jetzt hatte sie geglaubt, dass sie jeden Meter in dieser mächtigen Burg kannte, jeden noch so kleinen Winkel. Als sie nun in der engen Kalksteinhöhle stand, die unter dem gewaltigen Felsen lag, auf dem Conall Corc vor dreihundert Jahren seine königliche Festung errichtet hatte, begriff sie, dass hier seltsame, verborgene Orte existierten, von denen sie noch nie gehört hatte. Staunend betrachtete sie die kuppelförmige Decke des Raumes. Ihre Oberfläche und auch die Wände waren nicht glatt, sondern zerklüftet; man hatte die Kammer unter großen Mühen aus dem Stein herausgemeißelt. Es war trocken hier unten, was Fidelma wunderte; trotz der häufigen Regenfälle schien weder Wasser noch Feuchtigkeit einzudringen. Das Einzige, was es zu sehen gab, waren der am Boden liegende Körper von Bruder Conchobhar und dicht daneben ein scharfkantiger Stein voller Blut.
Fidelma trat vor und kniete sich neben ihren früheren Mentor. Er lag auf dem Bauch, den rechten Arm über den Kopf gestreckt, den linken neben dem Körper. Er war eindeutig nach vorn gestürzt. Sie betrachtete seinen blutigen Hinterkopf und den blutverschmierten Kalksteinbrocken, der daneben lag. Alles sah genauso aus, wie Enda es beschrieben hatte. Sie konnte nicht viel tun, biss die Zähne zusammen und erhob sich.
»Ich finde hier nichts Neues; warten wir, bis der Arzt eintrifft. Lass uns in der Zwischenzeit den zweiten Raum anschauen, von dem du gesprochen hast.« Dabei blickte sie sich neugierig um und bemühte sich, dessen Eingang auszumachen.
»Der Eingang ist sehr schmal, Lady«, sagte Enda und deutete in eine Ecke.
Fidelma hob die Augenbrauen. »Ich sehe nichts.«
Enda trat an eine auffällig geformte Felspartie heran und zeigte darauf. Bei genauerem Hinsehen begriff Fidelma, dass die seltsamen Schatten, die die flackernde Laterne auf die Oberfläche des Felsens warf, das Bild von der Wand so verzerrten, dass der Eingang verborgen blieb. Gleich darauf bemerkte sie die dunkle Öffnung, die gerade breit genug war, damit sich eine Person seitwärts hindurchzwängen konnte.
»Um in den anderen Raum zu gelangen, muss man hier hindurch, Lady. Der Gang ist höchstens zwei, drei Meter lang, biegt jedoch rechtwinklig ab.«
»Wie hast du diesen geheimen Durchgang entdeckt?«
Enda zuckte die Schultern. »Ich war dabei, die Wände genau in Augenschein zu nehmen, als er mir auffiel.«
»Und dann hast du dich da hindurchgezwängt«, sagte Fidelma. »Was, wenn er ins Nichts geführt hätte oder wenn du nicht mehr zurückgekonnt hättest?«
Wieder zuckte der Krieger die Schultern. »Man findet nichts heraus, wenn man Angst hat und kein Risiko eingeht. Da ich aber in die zweite Kammer gelangt und sicher von dort zurückgekehrt bin, ist diese Frage gegenstandslos.«
»Hast du meinen Bruder auch in den zweiten Raum geführt?«
»Ich habe ihm alles gezeigt, was ich vorgefunden habe. Er war völlig perplex, denn er hatte bisher nichts von der Existenz dieser Kammern gewusst.«
Fidelma zögerte einen Augenblick. Warum hatte Bruder Conchobhar dieses Geheimnis eigentlich für sich behalten? Sie seufzte. »Ich möchte die zweite Kammer sehen. Geh voraus und zeig mir den Weg.«
Der Verbindungsgang war so eng, dass sogar Fidelma sich nur mühsam darin fortbewegen konnte. Zum anderen war er so kurz, dass man ihn kaum als Gang bezeichnen konnte. Gleich hinter der Öffnung bog er plötzlich im rechten Winkel ab – ein Kniff der Erbauer, damit man das Licht aus der einen Kammer in der anderen nicht sehen konnte; auch das diente der Tarnung und Geheimhaltung des zweiten Raumes. Nach einigen Drehungen und Wendungen gelangte Fidelma dorthin. Enda hatte die Laterne mitgenommen und hob sie zur Decke hoch. Was Fidelma in ihrem Lichtschein erblickte, überraschte sie noch mehr als die erste Kammer. Die Wände waren mit Eibenholz verkleidet. Das Holz schimmerte rötlich. Angesichts der niedrigen Decke musste Enda sich hin und wieder bücken, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Fidelma betrachtete eingehend die Täfelung, für die man offenbar das rote Eibenholz verwendet hatte, mit dem man in dieser Gegend viele Innenräume auskleidete. Sie fragte sich, wie man das Holz durch den schmalen Verbindungsgang transportiert hatte.
Bei genauerem Hinsehen fand sie die Antwort. Baute man die Holztäfelung auseinander, konnte man die einzelnen Teile durch den schmalen Gang bugsieren. Das mochte zwar anstrengend und zeitraubend sein, war aber durchaus machbar.
In der Mitte der Kammer stand ein rechteckiger Tisch aus rotem Eibenholz, der aussah wie ein Altar. Darauf lag ein längliches Kissen mit einem blauen Seidenbezug; in der Mitte verlief eine etwa einen Meter lange Vertiefung. Dort hatte sicher das Schwert gelegen.
»Wir vermuten, dass hier das heilige Schwert aufbewahrt wird, wenn es nicht zu besonderen Anlässen im Festsaal hängt«, erklärte Enda. »Wie du siehst, befindet sich an der Seite des Altars ein Fach, das wir leider leer vorfanden. Dein Bruder glaubt, dass dort normalerweise die anderen Kultgegenstände aufbewahrt werden. Offenbar hat man sie gestohlen.«
Fidelma ging zu dem Fach und öffnete es. Es war leer.
»Welche Art von Dingen würde man in so einem Fach erwarten?«, fragte sie.
»Zum Beispiel das heilige cath, das Kampfsymbol der Krieger«, antwortete Enda.
Fidelma dachte an das Kampfsymbol der Eóghanacht, das goldene Abbild eines stolzen Hirschbocks, das auf der Fahne prangte, die man in die Schlachten mitnahm; vor jedem Gefecht musste man das versammelte Heer dreimal im Uhrzeigersinn damit umkreisen. Fidelma kannte das alles nur vom Hörensagen, denn sie hatte nie an einer richtigen Schlacht teilgenommen. Als junges Mädchen hatte sie von einem Mönch namens Finch aus Bra Govan gehört, der dem Heer von Muman den Bischofsstab des heiligen Ailbe vorangetragen hatte. Vor der Schlacht war er damit dreimal um die Krieger herumgegangen – ein Ritual, das noch aus der Zeit vor der Zeit stammte. Das Christentum musste diese Rituale akzeptieren und bemühte sich, sie dem Neuen Glauben einzuverleiben. Auch der Abendmahlskelch, den Mumans erster Lehrer des Neuen Glaubens, Ailbe von Imleach, benutzt hatte, wurde an bestimmten Tagen öffentlich ausgestellt. Dann waren das wohl die Gegenstände, die fehlten.
»Bruder Conchobhar hat offensichtlich auch die Kriegsfahnen hier aufbewahrt«, sagte Enda. »Die Kriegsfahnen der sieben Prinzen. Siehst du die Halterungen, in die man die Fahnenstangen steckt? Aber die Fahnen fehlen, Lady. Daran haben wir gemerkt, dass alles gestohlen wurde.«
Fidelma konzentrierte sich wieder auf den altarähnlichen Tisch.
Seine vier Seiten waren mit Schnitzereien verziert. Deren Hauptmotiv bildete der stolze Hirschbock, das Symbol der Eóghanacht. Das Holz war liebevoll gepflegt worden. Sie strich mit einem Finger darüber und hielt ihn sich an die Nase. Offenbar hatte man es regelmäßig mit Bienenwachs eingerieben. Dann bat sie Enda, mit der Laterne näher zu treten, damit sie in ihrem Licht die Schnitzereien besser betrachten konnte.
»Wie du siehst, Lady, ist in der Schublade nichts mehr drin. Ich habe gründlich nachgesehen«, sagte Enda, als müsse er sich rechtfertigen, während Fidelma den Altar sorgfältig untersuchte. Sie schlug mit der Faust gegen das Holz. Es klang hohl. Sie kniete sich hin, klopfte gegen die Seitenwände und lauschte.
»Denkst du, der Altar ist hohl, Lady?«, brummte Enda.
»Einen Versuch ist es wert«, antwortete sie ruhig. »Hast du das schon überprüft?«
Der Krieger schüttelte den Kopf. »Ich wollte den Altar nicht entweihen, denn er wurde offensichtlich eigens gebaut, um das heilige Schwert darauf abzulegen.«
»Er ist auf jeden Fall hohl. Vielleicht gibt es einen Mechanismus, um ihn zu öffnen?« Fidelma deutete auf das eine Ende des Altars. »Ist dir das aufgefallen?«
Enda spähte in die Richtung, in die sie zeigte. »Ich sehe lediglich, dass man dort einen Hirsch ins Holz geschnitzt hat. Was ist damit?«
»Er ragt ein Stück heraus.«
»Natürlich. Bei Schnitzereien ist das ganz normal.«
»Was sagst du denn dazu, dass er abgegriffen und zerkratzt ist?«
Enda lächelte grimmig im Halbdunkel.
»Er könnte lose sein. Ich habe ihn nicht angerührt.«
Fidelma drückte versuchsweise gegen den Hirsch. Nichts geschah. Der Hirsch bewegte sich nicht. Sie betrachtete ihn ausgiebig und drückte in die andere Richtung. Diesmal gab er ein wenig nach, und sie hörte ein Klicken. Sofort beugte sich Fidelma vor und bat Enda, die Laterne näher zu halten.
Der geschnitzte Hirsch hatte sich zweifellos bewegt. Sie packte sein Geweih, denn so hatte sie ihn besser im Griff, und drückte wieder gegen ihn. Ihre Mühe wurde belohnt; es klickte erneut, und das Paneel glitt zur Seite. Nun konnte sie auch die untere Hälfte der Verkleidung an der Vorderseite des Altars beiseiteschieben, so dass zwei Fächer sichtbar wurden, die die gesamte Länge des Altars einnahmen.
»Leer!«, rief Fidelma enttäuscht.
»Da liegt etwas«, sagte Enda, der ihr über die Schulter geschaut hatte, und deutete in eine dunkle Ecke. »Oh, nur ein Stück Pergament.«
Fidelma antwortete nicht, sondern streckte ihren Arm so weit in das Fach, wie sie konnte. Sie bekam das Pergament nicht zu fassen. Hätte Enda die Laterne anders gehalten, dann hätten sie es wohl übersehen.
Es bedurfte mehrerer Versuche, bevor sie das Blatt zu sich heranziehen konnte. Es war nur ein Schnipsel, der aussah wie Pergament und auf dem etwas geschrieben stand.
»Das ist kein Pergament, sondern Palimpsest«, sagte Fidelma mit der ihr eigenen Pedanterie, während sie es eingehend betrachtete.
»Für mich sieht es aus wie Pergament«, erwiderte Enda.
»Es ist Ziegenleder; man hat es ganz straff gespannt und die ursprüngliche Schrift darauf abgeschabt, damit man es neu beschreiben kann.«
Jetzt streckte Enda seinen Arm in die dunkle Ablage und tastete sie mit den Fingerspitzen ab.
»Sonst ist da nichts mehr drin, Lady«, murmelte er verstimmt.
Fidelma hielt den Palimpsestschnipsel in die Höhe. Einige Zeichen darauf erinnerten an die uralte Ogham-Schrift. Während sie sie zu entziffern suchte, hörte sie eine Stimme.
»Ist jemand da unten?« Die Stimme schien von weither zu kommen.
»Das muss der Arzt sein, nach dem du geschickt hast, Lady«, raunte ihr Enda zu.
Fidelma steckte das Palimpsest in ihre Kammtasche, die sie immer am Gürtel trug. Ihr Instinkt sagte ihr, dass niemand diesen ungewöhnlichen heiligen Ort sehen sollte. Sie schob die Paneele wieder zu, bevor sie Enda mit einem Kopfnicken bedeutete, durch den engen Durchgang in den ersten Raum zurückzukehren. Dann folgte sie ihm rasch. Offenbar war der Arzt noch nicht in die erste Kammer hinuntergestiegen, sondern wartete oben in der Apotheke.
»Du darfst die zweite Kammer nicht erwähnen«, flüsterte sie Enda schnell zu, bevor sie sich zur Leiter wandte und hinaufkletterte. Oben stand ein Mann in einer Mönchskutte.
»Wir sind hier unten im Keller«, sagte sie schroff. Er erschrak, als sie plötzlich auftauchte. »Komm runter.«
Sie stieg eilig wieder die Leiter hinab und wartete mit Enda, bis der Mönch unten war, sich umdrehte und sie ansah.
Bruder Laig gehörte zu der Art von gut aussehenden jungen Männern, die Fidelma schon auf den ersten Blick nicht leiden konnte. Er war nicht groß, hatte einen wohl proportionierten, athletischen Körper und trug sein kupferrotes Haar zu ihrer Überraschung lang und ohne Tonsur. Die blauen Augen in seinem ebenmäßigen Gesicht schauten sie neugierig an. Seine äußere Erscheinung hatte nichts Unangenehmes, abgesehen von der tief verwurzelten Eitelkeit, die er ausstrahlte und die in den nach oben gezogenen Mundwinkeln und seinem überlegenen, verächtlichen Blick zum Ausdruck kam. Offensichtlich legte er großen Wert auf sein Äußeres. Während sie seine arrogante Miene studierte, wies sie sich insgeheim für ihre Voreingenommenheit zurecht. Die Worte von Herodes Atticus kamen ihr in den Sinn: Barba non facit philosophum – Ein Bart macht noch keinen Philosophen.
»Bist du Bruder Laig, der Arzt?«, fragte sie ihn, während er sich umsah.
Der junge Mann musterte sie herablassend.
»Ich habe die nicht zum Spaß mitgebracht«, antwortete er kurz angebunden und hob seine Arzttasche hoch, die er in der rechten Hand trug.
Wer Fidelma gut kannte, hätte wohl bemerkt, dass sich bei seiner sarkastischen Antwort ihre Mundpartie verhärtete und das Blaugrün ihrer Augen eine Spur heller wurde.
»Ich habe dich nicht gefragt, warum du eine Arzttasche mitgenommen hast«, erwiderte sie kalt. »Ich habe gefragt, ob du Bruder Laig und folglich Arzt bist.«
Der junge Mann ließ sich keineswegs aus der Ruhe bringen.
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Da ich dich nicht kenne, ist es nicht offensichtlich«, antwortete Fidelma mit immer noch kalter Stimme. »Ich habe gehört, dass man kürzlich einen Bruder Laig, der Arzt ist, am Hof meines Bruders eingestellt hat. In meiner Rolle als dálaigh und Rechtsberaterin meines Bruders, des Königs, habe ich ihn in die Apotheke beordert, da ich sein Fachwissen benötige. Deshalb frage ich dich erneut, wer du bist.«
Der junge Mann zögerte einen Augenblick und zuckte dann die Schultern. Seine Körpersprache war noch genauso arrogant wie zuvor, doch was er sagte, klang jetzt weniger hochnäsig.
»Ich bin Laig, der Sohn des Intat, und habe den Rang eines druimclí in den Heilkünsten.«
»Und du hast studiert … Wo?«
»Ich habe in Callanáin studiert, bei den Uí Cairbre.«
»Dann komm und sieh dir das an, Laig, Sohn des Intat, und lass uns an deinen Fachkenntnissen teilhaben.« Fidelma versuchte gar nicht erst, ihren ironischen Unterton zu verbergen, und zeigte auf den Leichnam des alten Apothekers. Enda trat einen Schritt zurück und hielt die Laterne bereit, falls der junge Arzt sie brauchte.
»Man hat mir gesagt, dass der Tote Bruder Conchobhar ist?«, fragte der Arzt.
»Das ist richtig«, erwiderte Fidelma ernst. »Über uns befindet sich seine Apotheke.«
»Und diese Höhle gehört dazu?«, fragte Bruder Laig, während er sich fasziniert umsah. Die Kammer schien ihn mehr zu beeindrucken als der Leichnam.
»Der Hauptteil seiner Apotheke ist oben«, antwortete Fidelma einsilbig, da es ihr widerstrebte, ihm mehr zu verraten.
»Interessant. Wofür hat der Alte diesen Raum denn benutzt?«
»Nehmen wir einfach an, dass es sich um einen Lagerraum handelt.«
»Viel hat er hier offenbar nicht gelagert?«
Allmählich wurde Fidelma ungehalten. »Man hat dich hergebeten, um einen Leichnam zu untersuchen. Da liegt der Tote, den du dir ansehen sollst.« Plötzlich kam Fidelma ein Gedanke. »Habe ich das richtig verstanden, dass du Bruder Conchobhar nicht gekannt hast? Ich dachte, ihr wäret euch begegnet?«
Bruder Laig schniefte abschätzig. »Ich bin erst seit Kurzem hier und hatte wenig Anlass, ihn kennenzulernen, auch wenn ich ihn ein- oder zweimal gesehen und ein paar Worte mit ihm gewechselt habe.«
»Nun, dann lernst du ihn jetzt als Toten kennen. Wir sind gespannt auf deine Meinung darüber, wie er gestorben ist.«
Ohne ein weiteres Wort ging Bruder Laig zu dem Toten und beugte sich über ihn. Enda trat näher heran und hielt die Laterne hoch.
Der junge Arzt stellte seine Tasche ab und begann, den Leichnam von allen Seiten zu betrachten. Mangelnde Gründlichkeit konnte Fidelma Bruder Laig nicht vorwerfen. Nach einer Weile drehte er den Toten um und nahm die andere Seite in Augenschein. Danach widmete er sich der Verletzung am Hinterkopf. Die ganze Zeit sprach er kein Wort, und Fidelma stand daneben und versuchte, ihre Ungeduld im Zaum zu halten.
Schließlich sagte sie: »Ich glaube, die Todesursache ist wohl eindeutig.«
»So, glaubst du das?«, antwortete Bruder Laig trocken.
Fidelma unterdrückte die ärgerliche Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Dann formulierte sie ihren Gedanken erneut. »Ich würde sagen, der Mörder hat von hinten auf ihn eingeschlagen und ihm den Schädel zertrümmert.«
»In der Tat, so viel scheint festzustehen.«
»Du hast bestimmt den Stein bemerkt, der neben dem Toten liegt?«
»Das habe ich. Denkst du, er ist von Bedeutung?«, fragte nun der Arzt spöttisch.
Seine Antwort irritierte Fidelma. »Ich gehe davon aus, dass das die Waffe ist, die der Mörder benutzt hat, da sich hier keine andere Waffe befindet, mit der man ihm diese Verletzung hätte beibringen können.«
Ein Lächeln umspielte Bruder Laigs Lippen.
»Und weil der Stein hier liegt und sonst nichts, muss er logischerweise die Waffe sein?«, fragte er freundlich, doch seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Fidelma brauchte einen Moment, um sich zu fassen, bevor sie antwortete.
»Da ist natürlich Blut an dem Stein. Aber vermutlich hast du eine andere Theorie?«
»O richtig, an dem Stein ist Blut, allerdings nur ein paar Spritzer. Sieh dir die Wunde am Hinterkopf an. Schau genau hin und sag mir, was dir auffällt.«