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Rand al'Thor, ein junger Bauernsohn, erfährt eines Tages von seiner verhängnisvollen Bestimmung. Er ist der legendäre Wiedergeborene Drache, der die Mächte des Lichts in die Letzte Schlacht gegen den Dunklen König führen wird. Doch die Bestimmung wiegt schwer. Inmitten des Grauens, das die dunklen Horden im Land verbreiten, muss er sich alten Feinden stellen und neue Verbündete hinzugewinnen. Und der Dunkle König wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzuschlagen. Die Buch-Serie zur großen prime video-Serie »Das Rad der Zeit«!
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Aus dem Amerikanischen von Uwe Luserke
© Robert Jordan 1991
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Dragon Reborn«,
Tom Doherty Associates, Tor Books, New York 1991
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2004
Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München in zwei Bänden:
»Der Wiedergeborene Drache« (1994), »Die Straße des Speers« (1994)
Karte: Ellisa Mitchell
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Markus Weber, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von GettyImages
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Cover & Impressum
Karte
Widmung
Zitat
Prolog
Die Festung des Lichts
Kapitel 1
Warten
Kapitel 2
Saidin
Kapitel 3
Neues von der Ebene
Kapitel 4
Schlafende Schatten
Kapitel 5
Wandelnde Albträume
Kapitel 6
Die Jagd beginnt
Kapitel 7
Der Weg aus den Bergen
Kapitel 8
Jarra
Kapitel 9
Wolfsträume
Kapitel 10
Geheimnisse
Kapitel 11
Tar Valon
Kapitel 12
Beim Amyrlin-Sitz
Kapitel 13
Bestrafung
Kapitel 14
Dornenstiche
Kapitel 15
Der Graue Mann
Kapitel 16
Drei Jägerinnen
Kapitel 17
Die Rote Schwester
Kapitel 18
Heilung
Kapitel 19
Erwachen
Kapitel 20
Besuche
Kapitel 21
Eine Welt im Traum
Kapitel 22
Der Ring fordert seinen Preis
Kapitel 23
Besiegelt
Kapitel 24
Wieder unter den Lebenden
Kapitel 25
Fragen
Kapitel 26
Verschlossene Türen
Kapitel 27
Tel’aran’rhiod
Kapitel 28
Der Weg nach draußen
Kapitel 29
Aufbruchstimmung
Kapitel 30
Die Würfel rollen
Kapitel 31
Die Frau aus Tanchico
Kapitel 32
Das erste Schiff
Kapitel 33
Im Gewebe
Kapitel 34
Ein besonderer Tanz
Kapitel 35
Der Falke
Kapitel 36
Tochter der Nacht
Kapitel 37
Es brennt in Cairhien
Kapitel 38
Töchter des Speers
Kapitel 39
Fäden im Muster
Kapitel 40
Ein Held in der Nacht
Kapitel 41
Jägereid
Kapitel 42
Zum fröhlichen Dachs
Kapitel 43
Schattenbrüder
Kapitel 44
Gehetzt
Kapitel 45
Caemlyn
Kapitel 46
Eine Botschaft aus dem Schatten
Kapitel 47
Wettlauf mit dem Schatten
Kapitel 48
Dem Wind hinterher
Kapitel 49
Ein Sturm in Tear
Kapitel 50
Der Hammer
Kapitel 51
Ein Köder für das Netz
Kapitel 52
Auf der Suche nach einem Mittel
Kapitel 53
Eine Falle schnappt zu
Kapitel 54
In den Stein
Kapitel 55
Was prophezeit wurde
Kapitel 56
Das Volk des Drachen
Zitat
Glossar
Gewidmet
JAMES OLIVER RIGNEY, Sr.
(1920–1988)
Er lehrte mich, stets dem Traum zu folgen
und ihn, einmal ergriffen, zu leben.
Und es werden seiner Wege viele sein,
und wer wird seinen Namen kennen,
denn er wird viele Male unter uns geboren werden
und in vielen Gestalten,
so, wie es war und in aller Zukunft sein wird.
Sein Kommen wird sein wie die Schneide eines Pflugs.
Er wird die Scholle unseres Lebens wenden
und uns aus dem Schatten ins Licht führen.
Er wird Bindungen zerreißen
und neue Ketten schmieden.
Er wird Schicksale verändern
und neue Zukunft schaffen.
– aus: Kommentare zu den
Prophezeiungen des Drachen,
von JURITH DORINE,
Rechte Hand der Königin von Almoren,
742 NZ, im Dritten Zeitalter
Pedron Nialls Blick schweifte über sein privates Audienzgemach, doch seine alten, dunklen, nachdenklichen Augen nahmen nichts wahr. Zerschlissene Wandbehänge, einst die Banner der Feinde aus seiner Jugendzeit; dunkle Holztäfelung über dicken Steinmauern … Selbst hier im Herzen der Festung des Lichts waren die Mauern dick. Ein einziger Stuhl stand im Gemach, schwer, mit hoher Lehne, beinahe wie ein Thron wirkend, und dazu ein paar über den Raum verteilte Tische – das war bereits die gesamte Einrichtung. Er sah nichts davon. Er nahm im Augenblick nicht einmal den in einen weißen Umhang gehüllten Mann wahr, der sichtlich angespannt auf dem im Boden eingelassenen Sonnenbanner kniete, obwohl nur wenige sonst diesen Mann zu missachten wagten.
Man hatte Jaret Byar wenigstens Zeit gelassen, sich zu waschen, bevor man ihn zu Niall brachte, aber Helm und Brustpanzer waren stumpf und zerbeult von den Reisen und dem vielen Gebrauch. Dunkle, tief liegende Augen leuchteten mit fieberhafter Intensität aus einem hohlwangigen Gesicht. Er trug kein Schwert – in Nialls Gegenwart war das verboten –, aber er schien voll unterdrückter Leidenschaft, wie ein Jagdhund, der nur darauf wartet, dass man ihn von der Leine lässt.
Die prasselnden Feuer in den großen Kaminen an beiden Enden des Raums hielten die Winterkälte ab. Es war ein einfacher Raum, das Zimmer eines Soldaten, alles solide gefertigt, aber ohne jeden Luxus, bis auf das im Boden eingelassene Sonnenbanner. Die Möbel wählte der kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts bei seinem Amtsantritt aus, aber diese flammende Sonnenscheibe aus Münzgold war von Generationen von Menschen, die ihre Petitionen einreichten, abgenützt worden, erneuert und wieder abgenützt. Das Gold hätte gereicht, um damit jedes Gut in Amadicia zu kaufen – und den dazugehörigen Adelstitel. Zehn Jahre lang war Niall über dieses Gold gelaufen, ohne es weiter zu beachten. Es war so selbstverständlich wie die gleiche strahlende Sonnenscheibe auf der Brust seines weißen Gewandes. Pedron Niall interessierte sich nicht sehr für Gold.
Schließlich ging sein Blick zurück zu dem Tisch neben ihm, der mit Landkarten und verstreuten Briefen und Berichten bedeckt war. In dem Durcheinander lagen auch drei zusammengerollte Zeichnungen. Er nahm eine davon zögernd in die Hand. Es spielte keine Rolle, welche der drei er nahm, denn alle zeigten die gleiche Szene, wenn auch von verschiedener Hand dargestellt.
Nialls Haut war dünn wie Pergament und spannte sich über einen gealterten Körper, der nur noch aus Knochen und Sehnen zu bestehen schien. Trotzdem wirkte er alles andere als gebrechlich. Sein Amt wurde keinem verliehen, dessen Haar nicht weiß war, und der Mann, der es übernahm, musste ebenso hart sein wie die Steine der Kuppel der Wahrheit. Nun aber wurde ihm bewusst, wie mager und sehnig seine Hand aussah, die eine der Zeichnungen hielt, und er war sich darüber klar, dass die Zeit ablief. Seine Zeit lief langsam ab. Sie musste reichen. Er musste dafür sorgen, dass die Zeit reichte.
Er zwang sich, eine der Zeichnungen zur Hälfte aufzurollen, sodass er gerade das Gesicht erkennen konnte, das ihn interessierte. Die Kreide war vom Transport in der Satteltasche etwas verwischt, aber das Gesicht war gut zu erkennen. Ein Jüngling mit grauen Augen und rötlichem Haar. Er wirkte hochgewachsen, doch das war nicht deutlich auszumachen. Von den Augen und Haaren abgesehen, hätte er, ohne weiter aufzufallen, aus jeder beliebigen Stadt stammen können.
»Dieser … dieser Junge hat sich zum Wiedergeborenen Drachen erklärt?«, knurrte Niall.
Der Drache. Bei dem Namen überkam ihn die Kälte des Winters und des Alters. Der Name, den Lews Therin Telamon angenommen hatte, als er jeden Mann, damals und für alle Zukunft, zu Wahnsinn und Tod verdammte, der sich der Einen Macht bedienen konnte. Auch er selbst war unter den Opfern. Es war mehr als dreitausend Jahre her, dass der Stolz der Aes Sedai und der Schattenkrieg das Zeitalter der Legenden beendet hatten. Dreitausend Jahre, doch Prophezeiung und Legende halfen den Menschen dabei, sich daran zu erinnern, oder wenigstens an die wesentlichen Dinge, auch wenn die Einzelheiten vergessen waren. Lews Therin Brudermörder. Der Mann, der die Zerstörung der Welt eingeleitet hatte, als Wahnsinnige mithilfe der Macht, die das Universum erhielt, Berge einebneten und uralte Länder im Meer versinken ließen, als das gesamte Antlitz der Erde verändert wurde und alle Überlebenden wie die Tiere vor dem Buschfeuer flohen. Es war erst vorbei gewesen, als der letzte männliche Aes Sedai gestorben war. Eine verstreute und verängstigte menschliche Rasse konnte dann beginnen, aus dem Schutt eine neue Welt zu bauen, sofern überhaupt Schutt übrig geblieben war. Die Ereignisse brannten sich ins Gedächtnis der Menschen ein, und die Mütter hielten die Erinnerung in ihren Kindern wach. Und die Prophezeiung sagte, dass der Drache wiedergeboren werde.
Niall hatte es nur als rhetorische Frage ausgesprochen, doch Byar nahm sie ernst. »Ja, kommandierender Lordhauptmann, das hat er. Dieser Wahnsinn ist schlimmer als der irgendeines falschen Drachen, von dem ich jemals gehört hätte. Tausende haben sich ihm bereits angeschlossen. In Tarabon und Arad Doman herrscht Bürgerkrieg, und sie kämpfen dazu auch noch gegeneinander. Überall auf der Ebene von Almoth und der Toman-Halbinsel wird gekämpft: Taraboner gegen Domani und die gegen Schattenfreunde, die nach dem Drachen rufen – oder jedenfalls wurde gekämpft, bis die Winterkälte einbrach und die Kämpfe erstickte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Konflikt so schnell ausbreitete, kommandierender Lordhauptmann. Es war, als werfe man eine brennende Fackel in einen Heuschober. Der Schnee hat vielleicht etwas Ruhe gebracht, aber im Frühjahr werden die Kämpfe heißer aufflammen als zuvor.«
Niall unterbrach ihn mit erhobenem Zeigefinger. Schon zweimal hatte er ihm seine Geschichte entlockt. Seine Stimme zitterte vor Zorn und Hass. Teile kannte Niall auch aus anderen Quellen, und er wusste in mancher Hinsicht mehr als Byar, aber jedes Mal, wenn er es hörte, erzürnte es ihn wieder. »Geofram Bornhald und tausend der Kinder sind tot. Und das haben Aes Sedai getan. Daran hegt Ihr keinen Zweifel, Kind Byar?«
»Keinen, kommandierender Lordhauptmann! Nach einem Scharmützel auf dem Weg nach Falme beobachtete ich zwei der Hexen aus Tar Valon. Sie haben uns mehr als fünfzig Leben gekostet, bis wir sie mit Pfeilen gespickt hatten.«
»Seid Ihr sicher – waren es wirklich Aes Sedai?«
»Der Boden unter unseren Füßen explodierte.« Byars Stimme klang fest und voller Überzeugung. Er hatte allerdings nicht viel Fantasie, dieser Jaret Byar. Der Tod war ein Teil des Soldatenlebens, in welcher Form er auch kommen mochte. »Unsere Reihen wurden von Blitzen aus heiterem Himmel getroffen. Lordhauptmann, wer sonst könnte das getan haben?«
Niall nickte ernst. Es hatte seit der Zerstörung der Welt keine männlichen Aes Sedai mehr gegeben, aber die Frauen, die diese Bezeichnung für sich in Anspruch nahmen, waren schlimm genug. Sie predigten etwas von ihren drei Eiden: kein unwahres Wort auszusprechen, keine Waffe herzustellen, mit der Menschen einander töten können, und die Eine Macht nur dann als Waffe einzusetzen, wenn sie Schattenfreunde oder Wesen des Schattens bekämpften. Doch nun hatten sich diese Eide als Lügen erwiesen. Ihm war immer schon klar gewesen, dass niemand eine solch gewaltige Macht zu einem anderen Zweck beherrschen konnte, als dem, den Schöpfer damit herauszufordern. Und das bedeutete, dass sie dem Dunklen König dienten.
»Und Ihr wisst nichts über diejenigen, die Falme eroberten und die Hälfte einer meiner Legionen töteten?«
»Lordhauptmann Bornhald sagte, sie nannten sich Seanchaner, kommandierender Lordhauptmann«, erwiderte Byar gleichgültig. »Er meinte, sie seien Schattenfreunde. Und sein Angriff zwang sie zum Rückzug, obwohl sie ihn selbst dabei töteten.« Seine Stimme wurde eindringlicher. »Es gab viele Flüchtlinge, die aus der Stadt kamen. Alle, mit denen ich sprechen konnte, waren sich darüber einig, dass die Eindringlinge zurückgewichen und geflohen waren. Das hat Lordhauptmann Bornhald erreicht.«
Niall seufzte leise. Byar hatte die ersten beiden Male beinahe genau die gleichen Worte benutzt, um von dem Heer zu berichten, das scheinbar aus dem Nichts erschienen war und Falme einnahm. Ein guter Soldat, dachte Niall, das sagte auch Geofram Bornhald immer, aber eben kein Mann, der selbstständig denken kann.
»Lordhauptmann«, sagte Byar plötzlich, »Lordhauptmann Bornhald befahl mir, mich aus der Schlacht herauszuhalten. Ich sollte beobachten und Euch berichten. Und seinem Sohn, Lord Dain, von seinem Tod künden.«
»Ja, ja«, sagte Niall ungeduldig. Einen Augenblick lang betrachtete er Byars hageres Gesicht, und dann fügte er hinzu: »Niemand bezweifelt Eure Ehrlichkeit und Euren Mut. Das ist genau, was man von Geofram Bornhald erwarten konnte – sich in eine Schlacht zu stürzen, obwohl er fürchtete, zusammen mit all seinen Leuten darin ums Leben zu kommen.« Und keine Sache, die Ihr Euch ausgedacht habt, weil Euch dazu die Fantasie fehlt. Er konnte von dem Mann nichts weiter mehr erfahren. »Ihr habt Eure Aufgabe gut erfüllt, Kind Byar. Ihr habt meine Erlaubnis, nun zu gehen und Geofram Bornhalds Sohn die Nachricht vom Tod seines Vaters zu überbringen. Dain Bornhald ist bei Eamon Valda. Nach den letzten Berichten befinden sie sich vor Tar Valon. Ihr könnt Euch ihnen anschließen.«
»Ich danke Euch, kommandierender Lordhauptmann. Danke.« Byar erhob sich und verbeugte sich tief. Doch beim Aufrichten zögerte er plötzlich. »Lordhauptmann, wir wurden tatsächlich verraten.« Hass triefte aus seiner Stimme.
»Von diesem einen Schattenfreund, von dem Ihr erzähltet, Kind Byar?« Er konnte nicht ganz vermeiden, dass seine Stimme ebenfalls an Schärfe gewann. Die Planung eines ganzen Jahres lag zerstört zwischen den Leichen von eintausend der Kinder, und dieser Byar wollte nur über einen Mann sprechen. »Dieser junge Schmied, den Ihr nur zweimal gesehen habt, dieser … Perrin von den Zwei Flüssen?«
»Ja, Lordhauptmann. Ich weiß nicht, wie, aber ich weiß, dass er schuld ist. Ich weiß es ganz gewiss.«
»Ich werde sehen, was man diesbezüglich machen kann, Kind Byar.« Byar öffnete den Mund erneut, aber Niall hob eine dünne Hand, um ihm zuvorzukommen. »Ihr dürft mich nun verlassen.« Der Mann mit dem hageren Gesicht hatte keine andere Wahl, als sich noch einmal zu verbeugen und zu gehen.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, ließ sich Niall auf seinem Stuhl nieder und lehnte sich zurück. Was hatte Byars Hass auf diesen Perrin verursacht? Es gab viel zu viele Schattenfreunde, um einen bestimmten davon mit solcher Leidenschaft zu hassen. Zu viele Schattenfreunde, hochgestellt oder von niederem Rang, die sich hinter wendigen Zungen und offenem Lächeln verbargen und dem Dunklen König dienten. Nun ja, ein weiterer Name auf der Liste würde nicht schaden.
Er rutschte auf dem harten Stuhl hin und her, um eine bequemere Haltung für seine alten Knochen zu finden. Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass ein Kissen vielleicht doch kein zu großer Luxus sei. Und nicht zum ersten Mal verdrängte er den Gedanken wieder. Die Welt taumelte dem Chaos entgegen, und er hatte keine Zeit, dem Alter Tribut zu zollen.
Er ließ sich alle Anzeichen, die auf eine bevorstehende Katastrophe hindeuteten, noch einmal durch den Kopf gehen. Tarabon und Arad Doman befanden sich im Krieg. Cairhien wurde vom Bürgerkrieg zerrissen. Zwischen Tear und Illian, den alten Feinden, entflammte der Konflikt erneut. Vielleicht hatten diese Kriege an sich nichts zu bedeuten – die Menschen führten immerzu Kriege –, aber normalerweise kamen sie nicht in solcher Häufung vor. Und abgesehen von dem falschen Drachen irgendwo auf der Ebene von Almoth wütete ein weiterer in Saldaea und ein dritter in Tear! Drei auf einmal. Das alles müssen falsche Drachen sein. Es musste so sein!
Ein Dutzend anderer kleiner Vorkommnisse, einige davon möglicherweise nur haltlose Gerüchte, aber alles zusammengenommen … Man hatte Aiel noch nie so weit im Westen gesichtet, aber nun waren welche in Murandy und Kandor aufgetaucht. Nur zwei oder drei am selben Ort, aber einerlei, ob einer oder tausend: die Aiel waren nur einmal seit der Zerstörung der Welt aus ihrer Wüste herausgekommen. Nur während des Aiel-Kriegs hatten sie diese Einöde verlassen. Man erzählte sich von den Atha’an Miere, dem Meervolk, dass sie den Handel vernachlässigten und stattdessen nach Vorzeichen und Omen suchten – sie sagten nicht, worum es dabei genau ging – und mit halbvollen oder gar leeren Schiffen auf Fahrt gingen. Illian hatte zum ersten Mal in vierhundert Jahren zur Großen Jagd nach dem Horn aufgerufen und die Jäger ausgesandt, das legendäre Horn von Valere zu suchen, von dem die Prophezeiung behauptete, man könne damit tote Helden aus den Gräbern herbeirufen, um in Tarmon Gai’don, der Letzten Schlacht, gegen den Schatten zu kämpfen. Gerüchten zufolge hatten die Ogier, die so zurückgezogen lebten, dass die meisten Menschen sie für eine Legende hielten, Treffen zwischen den Ältesten ihrer ausgedehnten Stedding abgehalten.
Für Niall am wichtigsten aber war die Tatsache, dass die Aes Sedai zum offenen Angriff übergegangen waren. Man behauptete, sie hätten einige Schwestern nach Saldaea geschickt, um den falschen Drachen Mazrim Taim zu bekämpfen. So selten das bei Männern war: Taim konnte die Eine Macht lenken. Das war an sich schon Angst einflößend und verachtenswürdig, und deshalb glaubte die Mehrheit auch nicht, dass man einen solchen Mann ohne die Hilfe der Aes Sedai besiegen könne. Besser den Aes Sedai gestatten, zu Hilfe zu eilen, als den Wahnsinn zu erleben, wenn er ihm verfiel, und das war bei solchen Männern unvermeidlich. Doch Tar Valon hatte anscheinend weitere Aes Sedai ausgesandt, um den anderen falschen Drachen in Falme zu unterstützen. Nur so ließ sich das alles erklären.
Dieses Muster ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Das Chaos vervielfältigte sich. Was noch nie geschehen war, wiederholte sich nun ein ums andere Mal. Die ganze Welt schien sich in Aufruhr zu befinden und kurz vor dem Siedepunkt zu stehen. Es war ihm klar: Die Letzte Schlacht war nahe.
Alle seine Pläne waren zunichtegemacht, die Pläne, die seinen Namen unter den Kindern des Lichts hundert Generationen lang berühmt gemacht hätten. Aber im Aufruhr lagen auch immer gewisse Möglichkeiten, und so hatte er nun neue Pläne und neue Ziele. Falls er sich die Kraft und den Willen erhalten konnte, um sie durchzuführen. Licht, lass mich lange genug leben! Ein schüchternes Klopfen an die Tür riss ihn aus seinen düsteren Grübeleien. »Herein!«, rief er barsch.
Ein Diener im weiß-goldenen Mantel und einer Hose in den gleichen Farben verbeugte sich beim Eintreten. Mit zu Boden gesenktem Blick kündigte er das Kommen von Jaichim Carridin, dem Gesalbten des Lichts, Inquisitor der Hand des Lichts, an, der auf Geheiß des kommandierenden Lordhauptmanns zugegen sei. Carridin erschien gleich hinter dem Mann und wartete nicht darauf, dass Niall ihn hereinbat. Niall bedeutete dem Diener zu gehen.
Bevor sich die Tür geschlossen hatte, fiel Carridin mit einem Ausschwingen seines schneeweißen Umhangs auf ein Knie nieder. Hinter der strahlenden Sonnenscheibe auf dem Umhang wurde nun auf seiner Brust der blutrote Hirtenstab der Hand des Lichts sichtbar. Viele nannten die Angehörigen der Hand des Lichts Zweifler, aber selten nur sagten sie ihnen das ins Gesicht. »Wie Ihr mir befahlt, mich in Eure Gegenwart zu begeben, Kommandant aller Lordhauptmänner«, sagte er mit einer volltönenden Stimme, »so bin ich aus Tarabon zurückgekehrt.«
Niall musterte ihn einen Moment lang. Carridin war groß, ein Mann in mittleren Jahren mit einem Schimmer von Grau über dem Haar, wirkte gesund und kraftvoll. In seinen dunklen, tiefliegenden Augen lag wie immer ein wissender Ausdruck. Er schlug unter dem Blick seines kommandierenden Lordhauptmanns die Augen nicht nieder, und das gelang nur wenigen Männern, deren Nerven stark genug oder deren Gewissen rein genug waren. Carridin kniete da und wartete so gelassen, als sei es nichts Ungewöhnliches, kurzfristig den Befehl zu erhalten, sein Kommando zu verlassen und unverzüglich nach Amador zurückzukehren, und das ohne Angabe von Gründen. Aber man behauptete ja, Jaichim Carridin sei unerschütterlicher als ein Stein.
»Erhebt Euch, Kind Carridin.« Während der andere Mann aufstand, fügte Niall hinzu: »Ich habe beunruhigende Kunde aus Falme erhalten.«
Carridin strich die Falten seines Umhangs glatt, und dann antwortete er. Seine Stimme klang gerade noch respektvoll genug, eher als spreche er mit einem Gleichgestellten und nicht mit dem Mann, dem er Treue bis in den Tod geschworen hatte. »Der Lordhauptmann bezieht sich damit wohl auf die Nachrichten, die ihm von Kind Byar überbracht wurden, dem ehemaligen Stellvertreter des Lordhauptmanns Bornhald.«
Nialls linkes Augenlid zuckte, und das war schon immer ein Zeichen aufsteigenden Zorns bei ihm gewesen. Angeblich wussten nur drei Männer, dass Byar sich in Amador befand, und außer Niall sollte niemand wissen, woher er gekommen war. »Stellt Euch nicht zu schlau an, Carridin. Euer Wunsch, immer alles zu wissen, könnte Euch eines Tages in die Hände Eurer eigenen Folterknechte führen.«
Carridin zeigte keine Reaktion – höchstens verzog sich sein Mund etwas. »Mein Kommandant, die Hand sucht überall nach der Wahrheit, um dem Licht zu dienen.«
Um dem Licht zu dienen. Nicht, um den Kindern des Lichts zu dienen. Alle Kinder dienten dem Licht, aber Pedron Niall hatte sich schon oft gefragt, ob sich die Zweifler wirklich als Teil der Kinder des Lichts fühlten. »Und welche Wahrheit könnt Ihr mir über die Ereignisse in Falme berichten?«
»Schattenfreunde, mein Kommandant.«
»Schattenfreunde?« Nialls Lächeln wirkte nicht amüsiert. »Vor ein paar Wochen noch erhielt ich von Euch Berichte, dass Geofram Bornhald dem Dunklen König diene, weil er gegen Euren Befehl Soldaten auf die Toman-Halbinsel brachte.« Seine Stimme klang nun gefährlich sanft. »Wollt Ihr mich nun glauben machen, dass Bornhald als Schattenfreund tausend der Kinder in den Tod führte, um gegen andere Schattenfreunde zu kämpfen?«
»Ob er nun ein Schattenfreund war oder nicht, wird man niemals erfahren«, sagte Carridin gleichgültig, »da er starb, bevor er dazu befragt werden konnte. Die Pläne des Schattens sind verschwommen und erscheinen denen, die im Licht wandeln, oftmals verrückt. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass die Eroberer von Falme Schattenfreunde waren. Schattenfreunde und Aes Sedai, die einen falschen Drachen unterstützten. Ich bin auch sicher, dass Bornhald und seine Männer mithilfe der Einen Macht vernichtet wurden, mein Kommandant, genauso wie mit ihrer Hilfe die Heere vernichtet wurden, die Tarabon und Arad Doman gegen die Schattenfreunde in Falme ausgesandt hatten.«
»Und wie steht es mit den Berichten, dass die Eroberer Falmes von jenseits des Aryth-Meeres stammen?«
Carridin schüttelte den Kopf. »Mein Kommandant, die Menschen stecken voll von Gerüchten. Einige behaupten, es sei das Heer gewesen, das Artur Falkenflügel vor tausend Jahren über das Meer schickte. Ihre Nachkommen wollten angeblich nun das alte Land wieder in Besitz nehmen. Ha! Es gibt sogar Leute, die behaupten, Falkenflügel selbst in Falme gesehen zu haben! Und die Hälfte aller legendären Helden außerdem! Der Westen kocht, von Tarabon bis Saldaea, und jeden Tag brodeln hundert neue Gerüchte an die Oberfläche, eines irrsinniger als das andere. Diese Seanchaner waren nichts anderes als ein weiteres Pack von Schattenfreunden, das sich versammelt hatte, um einem falschen Drachen zum Erfolg zu verhelfen, nur diesmal eben mit offener Unterstützung der Aes Sedai.«
»Welche Beweise habt Ihr dafür?« Niall ließ seine Stimme so klingen, als zweifle er an dem Gesagten. »Habt Ihr Gefangene?«
»Nein, mein Kommandant. Wie Euch Kind Byar zweifellos berichtete, schaffte es Bornhald, sie so in die Flucht zu schlagen, dass sie sich überall hin zerstreuten. Und ganz sicher würde niemand, den wir befragten, zugeben, dass er einen falschen Drachen unterstützt habe. Was Beweise anbetrifft … da gibt es zweierlei. Habe ich Eure Erlaubnis, mein Kommandant?«
Niall machte eine ungeduldige Geste.
»Der erste Teil führt uns nicht weiter. Nur wenige Schiffe haben versucht, das Aryth-Meer zu überqueren, und die meisten davon sind nie zurückgekehrt. Diejenigen, die zurückkamen, kehrten um, bevor ihre Lebensmittel- und Wasservorräte aufgebraucht waren. Selbst die Meerleute überqueren das Aryth-Meer nicht, und die segeln eigentlich, wo immer sich die Möglichkeit zum Handel ergibt, selbst zu den Ländern jenseits der Aiel-Wüste. Mein Kommandant, wenn es wirklich Länder jenseits des Ozeans gibt, dann sind sie zu weit weg. Das Meer ist einfach zu groß. Ein ganzes Heer von dort herüberzubringen wäre genauso unmöglich wie das Fliegen.«
»Vielleicht«, sagte Niall bedächtig. »Es ist zumindest aufschlussreich. Und was ist der zweite Teil?«
»Mein Kommandant, viele von denen, die wir befragten, sprachen davon, dass für die Schattenfreunde auch Ungeheuer kämpften, und sie blieben selbst bei schärfster Befragung dabei. Was könnte das sein als eben Trollocs und andere Abkömmlinge des Schattens, die auf irgendeine Weise von der Fäule dorthin gebracht wurden?« Carridin spreizte die Hände, als sei das der endgültige Beweis. »Die meisten Menschen halten Trollocs für Seemannsgarn, und die übrigen glauben, sie seien während der Trolloc-Kriege alle getötet worden. Wie könnten sie sonst einen Trolloc nennen, als eben ›Ungeheuer‹?«
»Ja. Ja, Ihr könntet recht haben, Kind Carridin. Vielleicht.« Er gönnte Carridin die Befriedigung nicht, zu wissen, dass er ihm glaubte. Lass ihn noch ein bisschen daran arbeiten. »Aber wie steht es mit ihm?« Er deutete auf die zusammengerollten Zeichnungen. Wie er Carridin kannte, hatte der Inquisitor Kopien davon in seinen eigenen Gemächern. »Wie gefährlich ist er? Kann er die Eine Macht lenken und beherrschen?«
Der Inquisitor zuckte lediglich die Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Aes Sedai könnten zweifellos den Leuten auch einreden, eine Katze könne die Macht lenken, falls sie das wollten. Was die Frage betrifft, wie gefährlich er ist … Jeder falsche Drache ist gefährlich, bis man ihn niederzwingt, und einer, hinter dem Tar Valon ganz offen steht, ist zehnmal so gefährlich. Aber jetzt ist er weniger gefährlich als in einem halben Jahr, wenn man nichts gegen ihn unternimmt. Die Gefangenen, die ich befragt habe, haben ihn überhaupt nicht gesehen und hatten keine Ahnung, wo er sich jetzt befindet. Seine Streitkräfte sind zersplittert. Ich bezweifle, dass er mehr als zweihundert zusammen an irgendeinem Ort hat. Sowohl die Taraboner wie auch die Domani könnten ihn wegfegen, wenn sie nicht so mit ihrem eigenen Streit beschäftigt wären.«
»Selbst ein falscher Drache«, sagte Niall trocken, »reicht nicht, um sie ihren vierhundert Jahre alten Streit um die Ebene von Almoth vergessen zu machen. Als ob einer von ihnen überhaupt stark genug wäre, sie dann auch zu halten.« Carridins Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, und Niall fragte sich, wie er so ruhig bleiben konnte. Ihr werdet nicht mehr lange so ruhig bleiben, Zweifler.
»Es ist nicht so wichtig, mein Kommandant. Der Winter zwingt sie alle, in ihren Lagern zu bleiben, und es gibt nur verstreute Scharmützel oder Überfälle. Wenn das Wetter warm genug ist, um Truppenbewegungen zuzulassen … Bornhald hat nur die halbe Legion auf der Toman-Halbinsel in den Tod geführt. Mit der anderen Hälfte werde ich diesen falschen Drachen zu Tode hetzen. Eine Leiche ist nicht mehr so gefährlich.«
»Und wenn Euch droht, was anscheinend Bornhald zum Verhängnis wurde: Aes Sedai, die die Macht zum Töten benutzen?«
»Ihre Hexerei schützt sie nicht vor Pfeilen oder einem Messer in der Dunkelheit. Sie sterben so schnell wie jeder andere.« Carridin lächelte. »Ich verspreche Euch, bis zum Sommer habe ich den Fall gelöst.«
Niall nickte. Der Mann hatte Selbstvertrauen. Sicher wären die gefährlichen Fragen längst gekommen, wenn überhaupt. Ihr hättet daran denken sollen, Carridin, dass ich immer als gerissener Taktiker galt. »Warum«, fragte er ruhig, »habt Ihr eigentlich Eure Streitkräfte nicht nach Falme geführt? Auf der Toman-Halbinsel wimmelte es von Schattenfreunden, und ein ganzes Heer von ihnen hatte Falme besetzt. Warum habt Ihr stattdessen versucht, Bornhald daran zu hindern?«
Carridin blinzelte nervös, seine Stimme jedoch blieb fest. »Zuerst waren es doch nur Gerüchte, mein Kommandant. So wilde Gerüchte, dass keiner sie glauben konnte. Zu der Zeit, als ich die Wahrheit erfuhr, ritt Bornhald bereits in die Schlacht. Dann war er tot, und die Schattenfreunde waren in alle Winde zerstreut. Außerdem war es meine Aufgabe, das Licht auf der Ebene von Almoth zu verbreiten. Ich konnte nicht einfach meine Befehle missachten und Gerüchten folgen.«
»Eure Befehle?«, fragte Niall. Seine Stimme wurde lauter, und er erhob sich. Carridin war einen Kopf größer als er, aber der Inquisitor trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Eure Befehle? Eure Befehle lauteten, die Ebene von Almoth zu besetzen! Ein leerer Eimer, den keiner besitzt außer durch Sprüche und angebliche Ansprüche, und den musstet Ihr lediglich füllen. Der Staat Almoth wäre wieder ins Leben gerufen worden und von den Kindern des Lichts regiert! Kein Zwang mehr, einem närrischen König Ergebenheit zu heucheln. Amadicia und Almoth als Zange, die Tarabon einquetscht. In fünf Jahren hätten wir dort genauso die Macht an uns gerissen wie hier in Amadicia. Und Ihr habt die Gelegenheit verstreichen lassen!«
Jetzt verging dem anderen das Lachen. »Mein Lordhauptmann und Kommandant«, protestierte Carridin. »Wie konnte ich die Ereignisse voraussehen? Noch ein falscher Drache, und zwischen Tarabon und Arad Doman bricht auch noch offener Krieg aus, nachdem sie sich jahrelang nur wie die Köter angeknurrt haben! Und Aes Sedai, die nach dreitausend Jahren endlich ihre wahre Natur zeigen? Trotzdem ist noch nicht alles verloren. Ich kann diesen falschen Drachen aufstöbern und vernichten, bevor sich seine Anhänger vereinigen. Und sobald sich Tarabon und Arad Doman gegenseitig geschwächt haben, kann man sie ohne Weiteres von der Ebene fegen …«
»Nein!«, fauchte Niall. »Eure Pläne sind beendet, Carridin. Vielleicht sollte ich Euch jetzt Euren eigenen Folterknechten überstellen. Der Hochinquisitor hätte sicher nichts dagegen. Er sucht zähneknirschend nach jemandem, dem er die Schuld für das geben kann, was geschehen ist. Er würde sonst niemand aus den eigenen Reihen opfern, aber wenn ich Euch nenne, hätte er vermutlich nichts einzuwenden. Ein paar Tage strenger Befragung, und Ihr würdet alles gestehen. Selbst, dass Ihr ein Schattenfreund seid. Innerhalb einer Woche würde Euer Kopf unter der Axt des Henkers rollen!«
Auf Carridins Stirn bildeten sich Schweißperlen. »Mein Kommandant …« Er schluckte erst einmal. »Aus den Worten meines Kommandanten entnehme ich, dass es einen anderen Weg gibt. Wenn er ihn mir aufzeigt, schwöre ich, unverzüglich zu gehorchen.«
Jetzt, dachte Niall. Jetzt fallen die Würfel. Er hatte eine Gänsehaut, als befinde er sich in einer Schlacht und erkenne gerade in diesem Moment, dass jeder Mann auf hundert Schritt Umgebung ein Feind war. Kommandierende Lordhauptmänner wurden nicht vom Henker enthauptet, aber mehr als einer war plötzlich und unerwartet verstorben, wurde kurz betrauert und dann ebenso schnell durch einen Mann mit weniger gefährlichen Einfällen ersetzt.
»Kind Carridin«, sagte er mit fester Stimme, »Ihr werdet sicherstellen, dass dieser falsche Drache nicht stirbt. Und falls irgendwelche Aes Sedai kommen und sich gegen ihn stellen, anstatt ihn zu unterstützen, werdet Ihr Eure ›Messer im Dunklen‹-Taktik anwenden.«
Die Kinnlade des Inquisitors klappte herunter. Doch er erholte sich schnell und sah Niall berechnend an. »Aes Sedai zu töten ist sowieso meine Pflicht, aber … einem falschen Drachen zu gestatten, sich frei zu bewegen? Das … das wäre … Verrat. Und Blasphemie.«
Niall holte tief Luft. Er spürte, wie ihn im Schatten unsichtbare Messer bedrohten. Aber nun gab es kein Zurück mehr. »Es ist kein Verrat, wenn man tut, was notwendig ist. Und man kann selbst Blasphemie tolerieren, wenn sie einem guten Zweck dient.« Allein diese beiden Sätze könnten reichen, um ihn zu töten. »Wisst Ihr, wie man am besten die Menschen unter sich vereint, Kind Carridin? Den schnellsten Weg? Nein? Lasst einen Löwen – einen tollwütigen Löwen – auf der Straße los. Und wenn die Menschen in Panik sind, wenn ihre Knie weich vor Angst sind, sagt ihnen ganz gelassen, dass Ihr euch darum kümmern werdet. Dann tötet Ihr ihn und befehlt ihnen, den Kadaver dort aufzuhängen, wo ihn jeder sehen kann. Bevor sie Zeit zum Nachdenken haben, gebt ihnen einen weiteren Befehl, und sie werden wieder gehorchen. Und wenn Ihr weiterhin Befehle gebt, werden sie ihnen weiterhin gehorchen, denn Ihr seid derjenige, der sie gerettet hat, und wer wäre besser geeignet, sie zu führen?«
Carridin bewegte unruhig den Kopf. »Wollt Ihr … wollt Ihr alles einnehmen, mein Kommandant? Nicht nur die Ebene von Almoth, sondern auch noch Tarabon und Arad Doman?«
»Was ich will, ist meine Sache. Euch ist es lediglich gegeben, mir zu gehorchen, wie Ihr es geschworen habt. Ich erwarte, noch heute Abend zu hören, dass Boten auf schnellen Pferden zur Ebene unterwegs sind. Ich bin sicher, Ihr wisst, wie Ihr die Befehle formulieren müsst, damit niemand ahnt, was er nicht wissen soll. Wenn Ihr jemanden mit Euren Truppen hindern müsst, dann die Taraboner und die Domani. Es wäre nicht gut, wenn sie meinen Löwen töteten. Nein, beim Licht, wir werden sie zum Frieden zwingen.«
»Wie mein Kommandant befiehlt«, sagte Carridin verbindlich. »Ich höre und gehorche.« Zu glatt.
Niall lächelte kalt. »Falls Euer Eid nicht ausreichen sollte, wisst dies: Wenn dieser falsche Drache stirbt, bevor ich es anordne, oder falls er von den Hexen aus Tar Valon gefangen wird, wird man Euch eines Morgens mit einem Dolch im Herzen auffinden. Und sollte ich Opfer eines … Unfalls … werden oder auch nur an Altersschwäche sterben, werdet Ihr diesen Monat auch nicht überleben.«
»Mein Kommandant, ich habe geschworen zu gehorchen …«
»Das habt Ihr«, unterbrach ihn Niall. »Seht zu, dass Ihr Euch immer darauf besinnt. Geht jetzt.«
»Wie mein Kommandant befiehlt.« Diesmal klang Carridins Stimme nicht mehr so fest.
Die Tür schloss sich hinter dem Inquisitor. Niall rieb sich die Hände. Ihm war kalt. Die Würfel rollten, und man konnte noch nicht sagen, welche Augen oben liegen würden, wenn sie liegen blieben. Die Letzte Schlacht nahte wirklich. Nicht Tarmon Gai’don aus der Legende, wo der Dunkle König aus seinem Gefängnis freikam und sich ihm der Wiedergeborene Drache entgegenstellte. Das ganz bestimmt nicht. Die Aes Sedai im Zeitalter der Legenden hatten vielleicht ein Loch in das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul gebrochen, aber Lews Therin Brudermörder und seine Hundert Gefährten hatten es wieder verschlossen und versiegelt. Der Gegenschlag hatte die männliche Hälfte der Wahren Quelle auf ewig befleckt und sie in den Wahnsinn getrieben. So hatte die Zerstörung ihren Lauf genommen. Doch einer dieser damaligen Aes Sedai war stärker als zehn der Hexen aus Tar Valon von heute. Die Siegel, die sie angefertigt hatten, würden halten.
Pedron Niall war ein Verfechter kalter Logik, und er hatte sich ausgedacht, wie Tarmon Gai’don wirklich verlaufen würde. Bestialische Trolloc-Horden würden sich aus der Großen Fäule nach Süden ergießen wie in den Trolloc-Kriegen vor zweitausend Jahren. Angeführt würden sie von den Myrddraal, den Halbmenschen, und vielleicht sogar von ein paar neuen menschlichen Schattenlords aus den Reihen der Schattenfreunde. Die Menschheit, aufgesplittert in sich ewig streitende Staaten, konnte dem nicht widerstehen. Aber er, Pedron Niall, würde die Menschheit unter dem Banner der Kinder des Lichts einen. Es würde neue Legenden geben, die berichteten, wie Pedron Niall Tarmon Gai’don geführt und gewonnen hatte.
»Zuerst«, murmelte er, »lasse ich den tollwütigen Löwen los.«
»Einen tollwütigen Löwen?«
Niall fuhr auf dem Absatz herum, als ein knochiger, kleiner Mann mit einer riesigen Hakennase hinter einem der aufgehängten Banner hervorschlüpfte. Er sah nur einen Augenblick lang den Teil der Täfelung, der sich wieder schloss. Das Banner hing nun schlaff an der Wand.
»Ich habe dir diesen Geheimgang gezeigt, Ordeith«, fauchte Niall, »damit du zu mir kommen kannst, wenn ich dich rufe, ohne dass die halbe Festung Bescheid weiß, und nicht, damit du meine privaten Gespräche belauschst!«
Ordeith verbeugte sich verbindlich und kam durch den Raum zu ihm herüber. »Lauschen, Großer Lord? Das würde ich niemals tun. Ich bin nur gerade angekommen und konnte nicht verhindern, Eure letzten Worte zu hören. Es war nicht mehr als das.« Sein Lächeln erschien leicht spöttisch, aber dieses Lächeln lag immer auf seinem Gesicht. Niall hatte es nie anders gesehen, selbst wenn der Bursche überhaupt keinen Grund hatte anzunehmen, dass ihn jemand beobachtete.
Einen Monat zuvor, mitten im Winter, war der schlaksige kleine Bursche in Amadicia aufgetaucht, zerlumpt und halb erfroren, und irgendwie brachte er es fertig, sich den Weg bis zu Pedron Niall selbst an sämtlichen Wachen und Sekretären vorbeizureden. Er schien über die Ereignisse auf der Toman-Halbinsel besser Bescheid zu wissen als Carridin in seinen umfangreichen, wenn auch unklaren Berichten, besser auch als Byar und mehr als in irgendeinem Bericht stand oder einem Gerücht zu hören war, das Niall zu Ohren gekommen war. Sein Name war natürlich falsch. In der Alten Sprache hieß Ordeith ›wurmstichiges Holz‹. Als Niall ihn daraufhin ansprach, sagte er nur: »Wer wir waren, das weiß kein Mensch mehr, und das Leben ist bitter.« Aber schlau war er. Er war es gewesen, der Niall darauf brachte, wie die kommenden Ereignisse vermutlich verlaufen würden.
Ordeith ging zum Tisch und nahm eine der Zeichnungen in die Hand. Als er sie genügend weit aufrollte, um das Gesicht des jungen Mannes sehen zu können, verstärkte sich sein Lächeln zu einer Grimasse.
Niall ärgerte sich darüber, dass der Mann ungebeten gekommen war. »Du findest wohl einen falschen Drachen lustig, Ordeith? Oder ängstigt es dich?«
»Ein falscher Drache?«, fragte Ordeith leise. »Ja. Ja, das muss er natürlich sein. Was sonst könnte er sein?« Er lachte schrill auf. Niall ging das Lachen auf die Nerven. Manchmal glaubte Niall, dass Ordeith zumindest halb verrückt sein musste.
Aber er ist schlau, verrückt oder nicht. »Was meinst du, Ordeith? Du scheinst ihn zu kennen.«
Ordeith fuhr zusammen, als habe er die Anwesenheit des kommandierenden Lordhauptmanns vergessen. »Ihn kennen? O ja, ich kenne ihn. Er heißt Rand al’Thor. Er kommt von den Zwei Flüssen im Hinterland von Andor, und er ist ein so schlimmer Schattenfreund, dass Eure Seele sich krümmte, wüsste sie nur die Hälfte seiner Schandtaten.«
»Die Zwei Flüsse«, sagte Niall nachdenklich. »Jemand hat kürzlich einen anderen Schattenfreund von dort erwähnt, auch einen Jüngling. Seltsam, wenn man bedenkt, dass Schattenfreunde aus einer solchen Gegend kommen sollen. Aber es gibt natürlich überall welche.«
»Einen anderen, Großer Lord?«, fragte Ordeith. »Von den Zwei Flüssen? Ist es Matrim Cauthon oder Perrin Aybara? Sie sind genauso alt wie er und stehen ihm an Bösartigkeit nur wenig nach.«
»Mir wurde der Name Perrin genannt«, sagte Niall mit gerunzelter Stirn. »Drei davon, sagst du? Von den Zwei Flüssen kommt doch sonst nur Wolle und Tabak. Ich bezweifle, dass es noch einen anderen Ort gibt, der abgeschiedener vom Rest der Welt ist.«
»In einer Stadt müssen sich Schattenfreunde verbergen und können ihre wahre Natur nicht offen zeigen. Sie müssen mit anderen Umgang pflegen, mit Fremden, die von anderswo kommen und wieder weiterreisen und dabei erzählen, was sie gesehen und erlebt haben. Aber in ruhigen, von der Welt abgeschnittenen Dörfern, wo man kaum jemals einen Fremden sieht … Welcher Ort könnte für eine ganze Gemeinde von Schattenfreunden besser geeignet sein?«
»Wie kommt es, dass du die Namen von drei Schattenfreunden kennst, Ordeith? Drei Schattenfreunden vom Ende der Welt? Du hast viele Geheimnisse, Wurmholz, und du ziehst mehr Überraschungen aus dem Ärmel als ein Gaukler.«
»Wie kann jemand alles erzählen, was er weiß, Großer Lord?«, sagte der kleine Mann verbindlich. »Es wäre doch nur Geschwätz, bis einmal etwas Nützliches dabei ist. Ich werde Euch folgendes sagen, Großer Lord: Dieser Rand al’Thor, dieser Drache, ist tief mit den Zwei Flüssen verwurzelt.«
»Falscher Drache!«, sagte Niall scharf, und der andere Mann verbeugte sich.
»Natürlich, Großer Lord. Ich habe mich versprochen.«
Plötzlich bemerkte Niall, dass Ordeith die Zeichnung in seinen Händen zerknüllt und zerrissen hatte. Auch wenn das Gesicht des Mannes, abgesehen von dem sardonischen Lächeln, ruhig blieb, zuckten doch seine Hände und verkrampften sich um das Pergament.
»Hör auf damit!«, befahl Niall. Er schnappte sich die Rolle aus Ordeiths Händen und glättete sie, so gut es ging. »Ich habe nicht so viele Bilder von diesem Mann, dass ich es mir leisten kann, eines davon zerstören zu lassen.« Ein großer Teil des Bildes war verschmiert, und durch die Brust des jungen Mannes lief ein Riss, aber wie durch ein Wunder war das Gesicht völlig unbeschädigt geblieben.
»Vergebt mir, Großer Lord.« Ordeith verbeugte sich tief. Sein Lächeln blieb unverändert. »Ich hasse Schattenfreunde.«
Niall betrachtete das Gesicht auf der Zeichnung. Rand al’Thor von den Zwei Flüssen. »Vielleicht muss ich die Zwei Flüsse in meine Pläne einbeziehen. Wenn der Schnee schmilzt. Vielleicht.«
»Wie der Große Lord wünschen«, sagte Ordeith ausdruckslos.
Die Grimasse auf Carridins Gesicht ließ alle zurückschrecken, als er durch die Säle der Festung schritt. Allerdings suchten sowieso kaum Menschen die Nähe von Zweiflern. Diener, die geschäftig umhereilten, drückten sich an die Wände, und selbst Männer mit Goldknoten als Rangabzeichen auf den weißen Umhängen benutzten plötzlich Seitengänge, wenn sie sein Gesicht sahen. Er öffnete die Tür zu seinen Räumen und warf sie hinter sich zu. Er fühlte nicht wie sonst die Befriedigung darüber, die schönen Teppiche aus Tarabon und Tear zu sehen, mit ihren reichen Gold- und Blautönen, die versilberten Spiegel aus Illian, die goldenen Blätter, die den langen, wunderbar durch Schnitzereien verzierten Tisch in der Mitte des Raums umsäumten. Ein Meister aus Lugard hatte daran fast ein Jahr lang gearbeitet. Diesmal bemerkte er das alles kaum.
»Scharbon!« Ausnahmsweise einmal erschien sein Leibdiener nicht. Der Mann sollte an sich die Zimmer in Ordnung bringen. »Das Licht versenge dich, Scharbon! Wo bist du?«
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, und er wandte sich dorthin, um Scharbon fluchend zur Schnecke zu machen. Doch die Flüche erstarben ihm auf den Lippen, als ein Myrddraal mit der Geschmeidigkeit einer Schlange einen Schritt auf ihn zu tat. Die Gestalt ähnelte der eines Menschen, und er war auch etwa durchschnittlich groß, doch damit endete alle Ähnlichkeit. Stumpfschwarze Kleider und ein Umhang, der sich kaum mitbewegte, ließen seine larvenbleiche Haut noch blasser erscheinen. Und er hatte keine Augen. Dieser augenlose Blick erfüllte Carridin mit Angst, so wie es Tausenden anderer schon ergangen war.
»Wa …« Carridin hielt inne, um tief durchzuatmen und sich zu bemühen, seine Stimme wieder normal klingen zu lassen. »Was machst du hier?« Seine Stimme klang immer noch schrill.
Die blutleeren Lippen des Halbmenschen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wo es Schatten gibt, darf ich hingehen.« Seine Stimme klang, als raschle eine Schlange durch abgestorbene Blätter. »Ich überwache alle, die mir dienen.«
»Ich die …«
Es hatte keinen Zweck. Mit Mühe riss Carridin den Blick von dieser glatten Fläche blasser, mehliger Gesichtshaut und wandte ihm den Rücken zu. Ein Schauder lief seinen Rücken hinunter. Ein Myrddraal hinter ihm … Alles sah in dem Spiegel an der Wand vor ihm klar und deutlich aus. Alles, bis auf den Halbmenschen. Der Myrddraal war nur ein verwaschener Fleck. Auch nicht gerade ein beruhigender Anblick, aber immer noch besser, als diesem Blick zu begegnen. Ein wenig Kraft kehrte in Carridins Stimme zurück.
»Ich diene dem …« Er schwieg, als ihm mit einem Mal klar wurde, wo er sich befand: im Herzen der Festung des Lichts. Nur ein Gerücht dessen, was er auszusprechen im Begriff war, hätte genügt, um ihn der Hand des Lichts zu überantworten. Der Niedrigste aller Kinder des Lichts würde ihn auf der Stelle niederstrecken, hörte er diese Worte. Er war allein bis auf den Myrddraal und vielleicht Scharbon … Wo ist dieser verfluchte Kerl? Es wäre gut, noch einen Menschen bei sich zu haben, um mit ihm diesen Blick des Halbmenschen zu teilen, auch wenn er den anderen hinterher beseitigen musste. Trotzdem senkte er seine Stimme. »Ich diene dem Großen Herrn der Dunkelheit, genau wie du. Wir dienen beide.«
»Wenn du es so sehen willst?« Der Myrddraal lachte, und der Ton ließ Carridin bis ins Mark erschauern. »Wie auch immer, ich will wissen, wieso du dich hier befindest und nicht auf der Ebene von Almoth.«
»Ich … auf Befehl des kommandierenden Lordhauptmanns.«
Der Myrddraal schnarrte: »Die Worte deines kommandierenden Lordhauptmanns sind Dung! Dein Befehl lautete, den Menschen namens Rand al’Thor zu finden und zu töten. Das ist wichtiger als alles andere. Alles andere! Warum gehorchst du nicht?«
Carridin holte tief Luft. Der Blick in seinem Rücken traf ihn wie ein Messer, das an seinem Rückgrat entlangschnitt. »Die Lage … hat sich geändert. Es gibt Dinge, die ich nicht mehr so gut wie zuvor in der Hand habe.« Ein hartes Kratzen ließ ihn abrupt herumfahren.
Der Myrddraal fuhr mit einer Hand über die Tischfläche, und von seinen Fingernägeln stiegen dünne Rauchwölkchen auf. »Nichts hat sich geändert, Mensch. Du hast deine Eide dem Licht gegenüber gebrochen und neue Eide geschworen, und denen wirst du Folge leisten!«
Carridin starrte die Furchen an, die sich durch das glänzende Holz der Tischfläche zogen, und er schluckte krampfhaft. »Ich verstehe nicht. Warum ist es plötzlich so wichtig, ihn zu töten? Ich glaubte, der Große Herr der Dunkelheit wolle ihn benutzen?«
»Du stellst meine Worte in Frage? Ich sollte dir die Zunge herausreißen. Es steht dir nicht zu, etwas in Frage zu stellen! Oder etwas zu verstehen. Du hast nur zu gehorchen! Du wirst Hunden zeigen, was Gehorsam ist. Hast du das begriffen? Bei Fuß, Hund, und gehorche deinem Herrn!«
Zorn drang durch seine Angst hindurch, und Carridins Hand glitt an seine Hüfte, doch das Schwert hing nicht dort. Es lag im Nebenzimmer, wo er es gelassen hatte, als er zu Pedron Niall gerufen worden war.
Der Myrddraal bewegte sich schneller als eine angreifende Viper. Carridin öffnete den Mund, um zu schreien, als die vorschnellende Hand sich mit einem eisernen Griff um sein Handgelenk schloss. Seine Knochen wurden zerdrückt, und rasender Schmerz durchfuhr seinen Arm. Doch der Schrei verließ seinen Mund nicht, denn die andere Hand des Halbmenschen ergriff sein Kinn und zwang seine Kiefer, sich zu schließen. Seine Fersen hoben sich, und dann verloren seine Zehen den Kontakt mit dem Boden. Grunzend und gurgelnd hing er im Griff des Myrddraals.
»Hör mich an, Mensch. Du wirst diesen Jüngling finden und so schnell wie möglich töten. Glaube nicht, dass du mich täuschen kannst. Es gibt andere deiner Kinder, die mir sagen werden, wenn du dich von deiner Aufgabe abwendest. Aber ich werde dich anspornen. Falls dieser Rand al’Thor nicht in einem Monat tot ist, töte ich einen von deinem Blut: einen Sohn, eine Tochter, eine Schwester, einen Onkel. Du wirst nicht wissen, wen, bis der Erwählte schreiend gestorben ist. Wenn er noch einen Monat am Leben bleibt, töte ich wieder einen. Und dann wieder und wieder. Und wenn keiner von deinem Blut mehr lebt außer dir und er ist immer noch am Leben, dann bringe ich dich zum Shayol Ghul.« Er lächelte. »Es wird Jahre dauern, bis du gestorben bist, Mensch. Verstehen wir uns jetzt?«
Carridin gab einen erstickten Laut von sich – teils Stöhnen, teils Wimmern. Er glaubte, sein Hals müsse gleich brechen.
Mit einem Knurren schleuderte der Myrddraal ihn quer durch den Raum. Carridin krachte gegen die gegenüberliegende Wand und glitt betäubt auf den Läufer davor. Mit dem Gesicht nach unten versuchte er, Luft zu holen.
»Verstehen wir uns, Mensch?«
»Ich … ich höre und gehorche«, brachte Carridin mit zum Teppich gewandtem Gesicht heraus. Er hörte keine Antwort.
Er drehte sich um und stöhnte auf, weil sein Hals so schmerzte. Außer ihm selbst befand sich niemand im Zimmer. Die Legenden berichteten, dass die Halbmenschen auf Schatten wie andere auf Pferden ritten, und wenn sie sich zur Seite wandten, dann verschwanden sie. Keine Wand konnte sie zurückhalten. Carridin hätte am liebsten geweint. Er schob sich mühsam hoch und fluchte über den stechenden Schmerz in seinem Handgelenk.
Die Tür öffnete sich, und Scharbon eilte herein. Er war ein molliger Mann und trug einen Korb auf den Armen. Er blieb stehen und sah Carridin überrascht an. »Herr, geht es Euch gut? Vergebt mir, dass ich nicht eher gekommen bin, aber ich ging aus, um Obst zu kaufen …«
Mit seiner unverletzten Hand schlug Carridin Scharbon den Korb aus den Händen. Verschrumpelte Äpfel rollten über den Teppich. Dann schlug er dem Mann obendrein noch mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Vergebt mir, Herr«, flüsterte Scharbon.
»Bring mir Papier und Tinte«, knurrte Carridin. »Beeil dich, du Narr! Ich muss Befehle verschicken.« Aber welche? Wessen Befehle? Während Scharbon hastig seine Anweisung befolgte, starrte Carridin die Furchen auf der Tischplatte an und zitterte.
Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden, verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn das Zeitalter, das sie hervorbrachte, wiederkehrt. In einem Zeitalter, von einigen das Dritte genannt, einem Zeitalter, das noch kommen wird und das schon lange vorbei ist, erhob sich ein Wind in den Bergen des Verderbens. Der Wind stand nicht am Anfang. Es gibt weder Anfang noch Ende, wenn sich das Rad der Zeit dreht. Aber es war ein Beginn.
Der Wind fegte durch lange Täler, in denen der Morgendunst blau und feucht hing, einige mit Nadelbäumen bewaldet, andere noch kahl, doch bald würden Gras und erste Bergblumen sprießen. Er heulte über verfallene Ruinen und verwitterte Denkmäler, genauso von der Welt vergessen wie diejenigen, die sie einst errichteten. Er seufzte durch Pässe, verwitterte Einschnitte zwischen ewig mit Schnee bedeckten Gipfeln. Dichte Wolken hingen an den Gipfeln, sodass es schien, als seien Schnee und Wolken eins.
Im Tiefland war der Winter schon vorbei, aber hier auf den Höhen hielt er sich noch und sprenkelte große, weiße Flecken über die Abhänge. Nur die Nadelbäume oder die Lederblätter waren grün; die anderen Bäume zeigten kahle, braune oder graue Äste und hoben sich kaum von den Felsen oder den noch wintergelben Wiesen ab. Man hörte keinen Laut außer dem Rauschen des Windes über Schnee und Fels. Das Land schien zu warten. Es wartete darauf, dass irgendetwas ausbrach.
Perrin Aybara saß auf seinem Pferd in einem Dickicht aus Lederblattbäumen und Kiefern und zog, vor Kälte zitternd, seinen pelzbesetzten Umhang enger um sich. Das war schwierig, denn er hielt den Langbogen in einer Hand, und an seinem Gürtel hing seine große Axt mit ihrer halbmondförmigen Schneide. Es war eine gute Axt – aus kaltem Stahl gefertigt. Perrin hatte den Blasebalg bedient, als Meister Luhhan sie schmiedete. Der Wind zupfte an seinem Umhang und zerrte die Kapuze von den lockigen, zerzausten Haaren. Er drang sogar noch durch den Stoff seines Mantels. Er bewegte die Zehen in den Stiefeln, um sie etwas aufzuwärmen, und rutschte auf dem an beiden Seiten hochgezogenen Kampfsattel umher. Aber es war nicht die Kälte, an die er gerade dachte. Er musterte seine fünf Begleiter und fragte sich, ob auch sie es spürten. Es war nicht das Warten, nein, irgendetwas anderes lag in der Luft.
Traber, sein Pferd, bewegte sich unruhig und warf den Kopf hoch. Er hatte den braunen Hengst seiner Lieblingsgangart wegen so genannt. Nun schien Traber die Unruhe und Ungeduld seines Reiters zu spüren. Ich habe genug von dem ewigen Warten. Immer dasitzen, und Moiraine hält uns so kurz, wie es nur geht. Verseng die Aes Sedai! Wann ist endlich Schluss mit der Warterei?
Er sog den Wind ein. Der Geruch nach Pferden herrschte vor, und nach Männern und deren Schweiß. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Kaninchen zwischen diesen Bäumen durchgehoppelt. Es musste offensichtlich Angst gehabt haben, doch der Fuchs auf seiner Spur hatte es hier jedenfalls noch nicht getötet. Ihm wurde klar, was er da tat, und er hielt inne. Man sollte denken, bei diesem Wind müsste meine Nase verstopft sein. Er wünschte es sich beinahe. Und ich würde sie ganz gewiss nicht von Moiraine behandeln lassen. Irgendetwas kitzelte seinen Geist. Er weigerte sich, das Gefühl zu akzeptieren. Er erwähnte es seinen Gefährten gegenüber nicht.
Auch die fünf anderen Männer saßen aufbruchbereit auf ihren Pferden, hatten den kurzen Reiterbogen in der Hand und beobachteten sowohl die dünn bewaldeten Abhänge unter ihnen wie auch den Himmel über ihnen. Der Wind, der ihre Umhänge wie Fahnen flattern ließ, schien sie nicht zu stören. Durch einen Schlitz im Umhang ragte über die Schultern jedes Mannes der Griff eines Zweihandschwerts auf. Beim Anblick ihrer bis auf den Haarknoten in der Mitte kahl geschorenen Köpfe wurde Perrin die Kälte noch mehr bewusst. Für sie war das bereits ein echtes Vorfrühlingswetter. Alles Weiche war von einem härteren Schmied, als er je einen kennengelernt hatte, aus ihnen herausgehämmert worden. Sie waren Shienarer aus den Grenzlanden oben am Rand der Großen Fäule, wo jede Nacht Trolloc-Überfälle drohten und selbst ein Bauer oder Händler gezwungen sein konnte, zum Schwert oder zum Bogen zu greifen. Und diese Männer waren gewiss keine Bauern, sondern von klein auf zu Soldaten erzogen worden.
Er fragte sich manchmal, wieso sie ihn eigentlich in diesem Maße anerkannten und seine Führung hinnahmen. Es war, als hielten sie es für sein ganz besonderes Recht, als wisse er einiges, was ihnen selbst verborgen blieb. Oder es sind einfach meine Freunde, dachte er bescheiden. Sie waren nicht so groß und kräftig gebaut wie er – die Jahre als Lehrling in einer Schmiede hatten ihm Schultern und Arme verliehen, die für zwei Männer gereicht hätten –, aber mittlerweile hatte er angefangen, sich jeden Tag zu rasieren, damit sie ihn nicht immer wegen seiner Jugend verspotteten. Es waren wohl freundliche Scherze, aber sie trafen ihn dennoch. Nein, er ließ das am besten gar nicht mehr aufkommen, indem er ihnen jetzt von seinem unbestimmten Gefühl erzählte.
Perrin schreckte auf, als ihm klar wurde, dass er ja auch Wache halten musste. Er überprüfte kurz den Pfeil, den er schussbereit aufgelegt hatte, und spähte das nach Westen verlaufende Tal hinunter. Es wurde weiter unten breiter. Schneebänder zogen sich im Hangprofil gekrümmt an der nördlichen Seite entlang. Der Winter war noch nicht vergessen. Die meisten der verstreuten Bäume dort unten reckten noch immer kahle Äste dem Himmel entgegen, aber an den Hängen und auch auf der Talsohle standen genug immergrüne Bäume – Kiefer und Lederblatt, Tanne und Bergholunder und sogar ein paar hoch aufragende Grünholzbäume –, um demjenigen Deckung zu geben, der es auszunützen wusste. Aber hierher kam man auch nur, wenn man einen besonderen Grund hatte. Die Bergwerke befanden sich weit im Süden oder eben noch weiter nördlich. Die meisten Menschen glaubten, es brächte Unglück, die Verschleierten Berge zu betreten, und wer es vermeiden konnte, kam nicht hierher. Perrins Augen glitzerten in mattem Gold.
Aus dem Kitzeln wurde ein starkes Jucken. Nein!
Er konnte das Gefühl verdrängen, aber die gespannte Erwartung blieb. Als wandle er dicht an einem Abgrund. Als schwanke alles um ihn herum. Er fragte sich, ob in den Bergen etwas Unangenehmes auf sie warte. Vielleicht gab es einen Weg, das festzustellen. An Orten wie diesen, wo nur selten Menschen zu sehen waren, lebten zumeist Wölfe. Er unterdrückte den Gedanken, bevor er übermächtig wurde. Besser, nichts Genaues zu wissen. Immer noch besser als das. Es waren sicher nicht viele, aber sie hatten ihre Kundschafter. Falls sich da draußen irgendetwas tat, würden sie es herausfinden. Das ist meine Schmiede. Hier schüre ich das Feuer. Lass sie sich um ihr eigenes Feuer kümmern. Er sah besser als die anderen, und so war er der erste, der den Reiter entdeckte. Er kam aus der Richtung von Tarabon. Selbst für ihn war der Reiter nur ein bunter Farbklecks auf einem Pferd, der sich in großer Entfernung zwischen den Bäumen durchwand, einmal sichtbar und dann wieder nicht. Ein geschecktes Pferd, dachte er. Und nicht zu früh! Er öffnete den Mund, um es den anderen mitzuteilen – natürlich würde es wie jeder Reiter zuvor eine Frau sein –, als Masema plötzlich wie einen Fluch das Wort »Rabe!« knurrte.
Perrin riss den Kopf hoch. Ein großer schwarzer Vogel schwebte keine hundert Schritt entfernt über den Baumwipfeln. Er spähte vielleicht nach irgendeinem kleinen Tier oder einem Stück Aas im Schnee, doch Perrin konnte kein Risiko eingehen. Er schien sie nicht entdeckt zu haben, aber der sich nähernde Reiter würde bald in seinem Blickfeld auftauchen. So hob er noch beinahe im gleichen Augenblick den Bogen, zog den Pfeil mit seinen Federn bis an seine Wange, sein Ohr, und schoss ihn mit einer fließenden Bewegung ab. Er war sich undeutlich des Summens weiterer Bogensehnen bewusst, doch seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Vogel.
Plötzlich überschlug sich der in einem Regen mitternachtsfarbener Federn, als sein Pfeil ihn traf. Er taumelte vom Himmel herab, und gleichzeitig zischten zwei weitere Pfeile dort vorbei, wo er sich gerade noch befunden hatte. Mit leicht gesenkten Bögen suchten die anderen Shienarer den Himmel ab, ob sich noch weitere Raben zeigten.
»Muss er ihm berichten«, fragte Perrin leise, »oder sieht … er … durch seine Augen?« Die Frage war nicht für die Ohren der anderen bestimmt gewesen, aber Ragan, der jüngste der Shienarer, nur etwa zehn Jahre älter als er, antwortete, während er einen neuen Pfeil bei seinem kurzen Bogen auflegte.
»Er muss berichten. Gewöhnlich einem Halbmenschen.« In den Grenzlanden wurde für das Erlegen von Raben eine Prämie bezahlt. Keiner dort wagte es anzunehmen, dass ein Rabe einfach nur ein Vogel sei. »Licht, wenn Herzbann auch noch sehen könnte, was immer die Raben sehen, dann wären wir schon tot gewesen, bevor wir die Berge erreichten.« Ragan sagte das so leichthin; für einen shienarischen Soldaten war das alltäglich.
Perrin schauderte, und das kam nicht von der Kälte. In seinem Hinterkopf knurrte irgendjemand eine Herausforderung auf Leben und Tod. Herzbann. Verschiedene Namen in verschiedenen Ländern – Seelenbann und Herzfang, Herr der Gräber und Herr des Zwielichts – und überall die Namen ›Vater der Lügen‹ und der ›Dunkle König‹. Alles, um zu vermeiden, ihn beim richtigen Namen zu nennen und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Dunkle König sandte oft Raben und Krähen und in den Städten Ratten aus. Perrin zog einen weiteren Pfeil mit breiter Spitze aus dem Köcher an der Hüfte gegenüber seiner Axt.
»Der ist zwar so groß wie ein Knüppel«, meinte Ragan mit einem bewundernden Blick auf Perrins Bogen, »aber er kann vielleicht schießen! Ich möchte nicht sehen, was er einem Mann in voller Rüstung antun kann.« Die Shienarer trugen zur Zeit nur leichte Kettenhemden unter den Mänteln, aber normalerweise kämpften sie in Rüstungen, und ihre Pferde trugen metallbeschlagene Decken.
»Zu lang für einen Reiter«, spottete Masema. Die dreieckige Narbe auf seiner dunklen Wange ließ sein Grinsen noch verächtlicher wirken. »Ein guter Brustpanzer hält jeden Pfeil ab, außer bei ganz kurzer Entfernung, und wenn dein erster Schuss danebengeht, wird der Mann, auf den du geschossen hast, dir den Bauch aufschlitzen.«
»Das ist es ja gerade, Masema.« Ragan entspannte sich ein wenig, da der Himmel leer geblieben war. Der Rabe musste ein Einzelgänger gewesen sein. »Mit diesem Zwei-Flüsse-Bogen muss man halt nicht so nahe dran sein, wetten?« Masema öffnete den Mund.
»Ihr beiden, hört auf, eure blutigen Zungen zu wetzen!«, fauchte Uno. Seine Gesichtszüge wirkten selbst für einen Shienarer hart – mit der langen Narbe über der linken Wange und dem fehlenden Auge. Auf ihrem Weg in die Berge hatte er sich im Herbst eine bunte Augenklappe zugelegt, doch das immer finster dreinblickende, aufgemalte feuerrote Auge half nicht, dass man seinen Blick leichter ertragen konnte. »Wenn ihr euren verfluchten Verstand nicht bei eurer verfluchten Aufgabe haltet, dann sorge ich dafür, dass ihr durch sengende Extrawachen heute Nacht verflucht beruhigt werdet.« Ragan und Masema gaben unter seinem Blick Ruhe. Er sah sie noch einmal finster an und wandte sich dann wieder etwas freundlicher Perrin zu. »Siehst du schon irgendetwas?« Sein Tonfall war vielleicht ein wenig rauer als einem Kommandanten gegenüber, dem ihn der König von Shienar oder der Herr von Fal Dara unterstellt hätte, aber es lag doch eine gewisse Bereitschaft darin, zu tun, was immer Perrin vorschlug.
Die Shienarer wussten, wie weit er sehen konnte, aber sie nahmen es ganz selbstverständlich hin, genauso wie seine Augenfarbe. Natürlich kannten sie noch nicht einmal die halbe Wahrheit, aber sie nahmen ihn so, wie er war. Wie sie dachten, dass er sei. Sie schienen überhaupt alles hinzunehmen. Die Welt verändert sich, sagten sie. Alles drehte sich mit den Rädern des Zufalls und der Veränderung. Wenn ein Mann Augen hatte, deren Farbe noch nie zuvor bei einem Menschen aufgetaucht war, nun ja, was hatte das schon zu bedeuten?
»Sie kommt«, sagte Perrin. »Ihr solltet sie jetzt auch sehen können. Dort!« Er deutete hinüber. Uno beugte sich vor und spähte angestrengt in die gewiesene Richtung. Dann nickte er zweifelnd.
»Da bewegt sich verflucht noch mal etwas.« Einige der anderen nickten und murmelten zustimmend. Uno funkelte sie an, und sie kehrten zu ihrer eigentlichen Beschäftigung zurück, Himmel und Berge zu beobachten. Plötzlich wurde Perrin klar, was die lebhaften Farben an der entfernten Reiterin zu bedeuten hatten. Ein leuchtend grüner Rock lugte unter einem hellroten Umhang hervor. »Sie gehört zum Fahrenden Volk«, sagte er überrascht. Niemand sonst kleidete sich in solch leuchtende Farben und eigenartige Zusammenstellungen, jedenfalls nicht freiwillig.
Unter den Frauen, die sie manchmal getroffen und tiefer in die Berge geleitet hatten, war so ziemlich jede Sorte gewesen: eine Bettlerin in Lumpen, die sich zu Fuß durch den Schneesturm kämpfte, eine Händlerin, die ganz allein eine Schar von beladenen Packpferden führte, eine Lady in Seide und Pelzen, die auf einem goldverzierten Damensattel saß und ihr Pferd mit rot befransten Zügeln lenkte … Die Bettlerin zog mit einem Beutel Silber weiter – mehr als sie sich nach Perrins Meinung zu geben leisten konnten –, bis die Lady mit einem noch fetteren Beutel Gold abreiste. Frauen in jeder Lebenslage, aus Tarabon und Ghealdan und sogar aus Amadicia. Doch er hatte nicht erwartet, eine der Tuatha’an hier zu treffen.
»Eine verdammte Kesselflickerin?«, rief Uno. Die anderen teilten seine Überraschung.
Ragans Haarknoten wackelte, als er den Kopf schüttelte. »Ein Kesselflicker lässt sich doch nicht in so was verwickeln! Entweder sie gehört nicht zu ihnen, oder es ist nicht diejenige, die wir erwarten.«
»Kesselflicker«, grollte Masema. »Nutzlose Feiglinge.«