Das Rad der Zeit 8. Das Original - Robert Jordan - E-Book
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Das Rad der Zeit 8. Das Original E-Book

Robert Jordan

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Beschreibung

Der Himmel über Ebou Dar verdunkelt sich … Rand al'Thor ist der Wiedergeborene Drache. Seine Bestimmung ist es die Welt vor der heraufziehenden Dunkelheit zu bewahren. Endlich ist die Schale der Winde gefunden. Nur mit ihrer Hilfe kann das aus den Fugen geratene Wetter in gewohnte Bahnen gelenkt werden. Dafür müssen seine Verbündeten, die jungen Aes Sedai, einen Zirkel von Frauen zusammenzuführen, die das mächtige Artefakt aktivieren können – und das fordert all ihr Verhandlungsgeschick.

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Für Harriet Meine Liebe, mein Leben, mein Herz, ewiglich.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin König

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erscheinenden überarbeiteten Neuausgabe

ISBN 978-3-492-95939-1

© 1998 Robert Jordan Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Path of Daggers«,Tom Doherty Associates, Tor Books, New York 1998 © Piper Verlag GmbH, München 2005, 2006 Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München in den drei Bänden: »Der Pfad der Dolche« (1999), »Neue Bündnisse« (1999), »Kriegswirren« (2000) Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Josh Finney, San Diego, USA Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Wer mit den Mächtigen speisen will, muss den Pfad der Dolche erklimmen.

– Randbemerkung von unbekannter Hand in einer Aufzeichnung (die vermutlich aus der Zeit Artur Falkenflügels stammt) über die letzten Tage der geheimen Zusammenkünfte in Tovan.

Zu den Gipfeln sind alle Pfade mit Dolchen gepflastert.

– Altes seanchanisches Sprichwort

PROLOG

Trugbilder

Ethenielle hatte niedrigere Berge gesehen als diese unzutreffend Schwarze Hügel genannten gewaltigen Haufen halbwegs vergrabener Felsblöcke, die mit steilen, gewundenen Wegen überzogen waren. Einige dieser Wege hätten sogar einer Ziege Schwierigkeiten bereitet. Man konnte drei Tage durch von der Dürre ausgetrocknete Wälder und über Wiesen mit braunem Gras reiten, ohne auch nur ein Anzeichen menschlicher Besiedelung zu sehen, um sich dann unvermittelt eine halbe Tagesreise von sieben oder acht kleinen Dörfern entfernt wiederzufinden, die nichts von der Welt wussten. Die Schwarzen Hügel waren für Bauern eine raue Gegend, weitab von den Handelsrouten, und jetzt noch rauer als gewöhnlich. Ein magerer Leopard, der beim Anblick von Menschen hätte fliehen sollen, beobachtete sie von einem steilen Hang aus, keine vierzig Schritte entfernt, während sie mit ihrer bewaffneten Eskorte vorüberritt. Westwärts drehten Geier Unheil verkündend ihre Kreise. Keine Wolke verunstaltete die blutrote Sonne, doch wenn der warme Wind blies, wirbelte er Staubwände auf.

Ethenielle ritt mit fünfzig ihrer besten Männer im Gefolge unbesorgt und gemächlich dahin. Anders als ihre fast legendäre Vorfahrin Surasa hegte sie nicht die Illusion, dass sich das Wetter nach ihren Wünschen richten würde, nur weil sie den Wolkenthron innehatte. Eile mit Weile … Ihre sorgfältig verschlüsselten, gut verwahrten Briefe enthielten genaue Anweisungen über die Marschordnung, um dem Bedürfnis aller Beteiligten zu entsprechen, auf ihrer Reise keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Keine leichte Aufgabe. Einige hatten es für unmöglich gehalten.

Sie dachte stirnrunzelnd darüber nach, dass sie sich glücklich schätzen konnte, so weit gelangt zu sein, ohne jemanden töten zu müssen, indem sie jene kleinen Dörfer gemieden hatte, selbst wenn es zusätzliche Reisetage bedeutete. Die wenigen Ogier-Stedding stellten keinen Grund zur Sorge dar – Ogier kümmerten sich meist wenig darum, was unter Menschen geschah, und in letzter Zeit anscheinend noch weniger als gewöhnlich –, aber die Dörfer … Sie waren zu klein, als dass sich dort Augen-und-Ohren der Weißen Burg aufhielten, oder dieser Bursche, welcher der Wiedergeborene Drache zu sein behauptete – vielleicht war er es; sie konnte nicht entscheiden, was schlimmer wäre –, und doch zogen möglicherweise Händler hindurch, die ebenso viel Gerede mit sich brachten wie Waren und die sich mit Menschen unterhielten, die wiederum mit anderen Menschen sprachen, sodass sich Gerüchte wie ein immer weiter anschwellender Fluss durch die Schwarzen Hügel und in die Außenwelt verbreiteten. Ein einziger Schafhirte, welcher der Aufmerksamkeit entging, konnte mit wenigen Signalen noch fünfhundert Meilen entfernt sichtbare Leuchtfeuer in Gang setzen. Die Art Leuchtfeuer, die Wälder und Wiesen in Flammen aufgehen ließen. Und vielleicht Städte. Nationen.

»Habe ich die richtige Wahl getroffen, Serailla?« Ethenielle grinste, obwohl sie sich über sich selbst ärgerte. Sie war vielleicht kein Mädchen mehr, aber ihre wenigen grauen Haare ließen auf ihre noch unzureichende Erfahrung schließen. Die Entscheidung war getroffen. Sie hatte jedoch daran gedacht. Beim Licht, in Wahrheit war sie keineswegs so unbesorgt, wie sie es gern gewesen wäre.

Ethenielles erste Beraterin brachte ihre graue Stute näher an den glänzend schwarzen Wallach der Königin heran. Mit ihrem Gelassenheit ausstrahlenden runden Gesicht und den nachdenklichen dunklen Augen hätte Lady Serailla eine Bäuerin sein können, die jäh in das Reitgewand einer Adligen gesteckt wurde, aber der Verstand hinter dieser glatten, verschwitzten Stirn war ebenso scharf wie der jeder beliebigen Aes Sedai. »Die zweite Wahlmöglichkeit enthielt lediglich andere Risiken, nicht jedoch geringere«, sagte sie ruhig. Untersetzt und im Sattel dennoch genauso anmutig wie als Tänzerin, war Serailla stets bedächtig. Nicht schmeichlerisch oder unaufrichtig, nur einfach unerschütterlich. »Was auch immer die Wahrheit ist, Majestät – die Weiße Burg ist anscheinend handlungsunfähig und auch zerschlagen. Ihr hättet die Große Fäule beobachten können, während die Welt hinter Euch zerbricht. Das hättet Ihr tun können, wenn Ihr jemand anders wärt.«

Die einfache Notwendigkeit zu handeln. Hatte sie das hierhergebracht? Nun, wenn die Weiße Burg nicht tun wollte oder konnte, was getan werden musste, dann musste es ein anderer tun. Was nützte es, die Große Fäule zu bewachen, wenn die Welt hinter ihr tatsächlich zerfiel?

Ethenielle schaute zu dem schlanken Mann, der an ihrer anderen Seite ritt. Weiße Streifen an seinen Schläfen verliehen ihm ein würdiges Aussehen. Das in einer verzierten Scheide steckende Schwert von Kirukan ruhte in seiner Armbeuge. Es wurde zumindest das Schwert von Kirukan genannt. Die sagenhafte Kriegerkönigin von Aramaelle hatte es angeblich getragen. Die Klinge war uralt, und einige behaupteten, sie sei mit Macht gestaltet worden. Das beidhändige Heft zeigte auf sie, wie es die Tradition erforderte, obwohl sie kein Schwert wie ein hitzköpfiger Saldaeaner führen würde. Eine Königin sollte nachdenken, anführen und befehlen, was sie jedoch nicht bewerkstelligen konnte, wenn sie zu tun versuchte, was jeder Soldat in ihrem Heer besser konnte. »Und Ihr, Schwertträger?«, fragte sie. »Habt Ihr zu dieser späten Stunde noch irgendwelche Bedenken?«

Lord Baldhere wandte sich auf seinem goldverzierten Sattel um und schaute zu den nachfolgenden Reitern mit den Bannern zurück, die in bearbeitetem Leder und besticktem Samt aufbewahrt wurden. »Ich verberge nicht gern, wer ich bin, Majestät«, sagte er missmutig und wandte sich wieder um. »Die Welt wird uns nur allzu bald kennenlernen und erfahren, was wir getan haben. Oder was wir zu tun versucht haben. Wir werden sterben oder in die Geschichte eingehen oder beides, sodass sie ebenso gut wissen können, welche Namen sie vermerken müssen.« Baldhere besaß eine scharfe Zunge, und er kümmerte sich lieber um Musik und seine Kleidung als um alles andere – dieser gut geschnittene blaue Mantel war bereits der dritte, den er heute trug –, aber wie auch bei Serailla trog die Erscheinung. Die Verantwortung, die auf dem Schwertträger des Wolkenthrons lastete, wog weitaus schwerer als das Schwert in seiner edelsteinbesetzten Scheide. Seit dem Tod von Ethenielles Ehemann vor gut zwanzig Jahren hatte Baldhere die Truppen Kandors an ihrer Stelle im Felde befehligt, und die meisten ihrer Soldaten wären ihm sogar nach Shayol Ghul gefolgt. Er zählte nicht zu den größten Befehlshabern, aber er wusste, wann es zu kämpfen galt und wie er einen Sieg erringen konnte.

»Der Treffpunkt muss unmittelbar vor uns liegen«, sagte Serailla unvermittelt, gerade als Ethenielle auf dem Gipfel des vor ihnen liegenden Passes den Kundschafter sein Pferd verhalten sah, den Baldhere vorausgeschickt hatte, ein durchtriebener Bursche namens Lomas, der einen Helmschmuck mit einem Fuchskopf trug. Seinen langen Speer schräg geneigt, vollführte er mit dem Arm die Geste, die ›Treffpunkt in Sicht‹ bedeutete.

Baldhere wandte seinen stämmigen Wallach um, befahl der Eskorte mit donnernder Stimme anzuhalten – er konnte brüllen, wenn er wollte – und gab dem Kastanienbraunen dann die Sporen, um Ethenielle und Serailla wieder einzuholen. Es stand ein Treffen langjähriger Verbündeter bevor, aber als sie an Lomas vorüberritten, gab Baldhere dem Mann mit dem hageren Gesicht den knappen Befehl »zu wachen und Bescheid zu geben«. Falls etwas misslänge, würde Lomas der Eskorte ein Zeichen geben, vorzurücken und die Königin in Sicherheit zu bringen.

Ethenielle seufzte, als Serailla bei dem Befehl zustimmend nickte. Langjährige Verbündete, und doch schürte die Zeit das Misstrauen. Ihr Vorhaben beunruhigte sie. Zu viele Regenten des Südens waren im letzten Jahr gestorben oder verschwunden, als dass sie sich beim Tragen der Krone noch wohlgefühlt hätte. Zu viele Länder waren so gründlich vernichtet worden, wie es nur ein Heer Trollocs bewerkstelligen konnte. Wer auch immer er war – dieser al’Thor hatte viele Fragen zu beantworten. Sehr viele.

Hinter Lomas weitete sich der Pass zu einem ebenen Kessel, der fast zu klein war, um als Tal bezeichnet zu werden, und in dem die Bäume zu weit auseinanderstanden, um als Wald zu gelten. Lederblattbäume, Blautannen und Kiefern sowie einige wenige Eichen zeigten noch ein wenig Grün, aber die übrigen Bäume trugen braunes Laub oder wiesen nur noch kahle Zweige auf. Im Süden lag jedoch das, was diesen Ort zu einem guten Treffpunkt machte. Eine Turmspitze, schlank wie eine schimmernde, golden durchbrochene Säule, lag schräg geneigt und halbwegs verborgen an einem Hang, und die Spitze ragte gut siebzig Schritt über den Bäumen auf. Jedermann in den Schwarzen Hügeln wusste davon, aber das nächste Dorf war noch eine Reise von vier Tagen entfernt, und niemand würde sich der Spitze freiwillig auf mehr als zehn Meilen nähern. Die Geschichten um diesen Ort erzählten von Visionen des Wahnsinns, von umhergehenden Toten und der tödlichen Wirkung bei Berührung der Spitze.

Ethenielle hielt sich nicht für abergläubisch, und doch erschauderte sie leicht. Nianh hatte erzählt, die Spitze sei aus dem Zeitalter der Legenden übrig geblieben und harmlos. Mit etwas Glück hatten die Aes Sedai keinen Grund, sich der vor Jahren geführten Unterhaltung zu entsinnen. Schade, dass die Toten nicht dazu gebracht werden konnten, hier umherzugehen. Eine Legende besagte, dass Kirukan einen falschen Drachen eigenhändig enthauptet und einem anderen Mann, der die Macht lenken konnte, zwei Söhne geboren hatte. Oder vielleicht dem gleichen Mann. Sie hatte sicherlich gewusst, wie man seine Ziele erreicht und überlebt.

Wie erwartet, waren die ersten beiden jener Männer bereits angekommen, die Ethenielle treffen wollte, beide mit jeweils zwei Begleitern. Paitar Nachiman hatte mehr Falten in seinem länglichen Gesicht als der erstaunlich gut aussehende ältere Mann, den sie als Mädchen bewundert hatte, obwohl er kaum noch Haare aufwies und diese überwiegend grau waren. Er hatte glücklicherweise von der Mode der Arafeller, Zöpfe zu tragen, Abstand genommen und trug sein Haar kurz geschnitten. Er saß aufrecht in seinem Sattel, die Schultern des bestickten grünen Seidenmantels ungepolstert, und sie vermutete, dass er das Schwert an seiner Hüfte noch immer kraftvoll und geschickt führen konnte. Easar Togita, mit kantigem Gesicht und bis auf einen weißen Haarschopf geschorenem Schädel, der einfache Mantel in der Farbe alter Bronze, war einen Kopf kleiner und schlanker als der König von Arafel, und doch ließ er Paitar fast sanft erscheinen. Easar von Shienar runzelte nicht die Stirn – lediglich in seinen Augen schien ständig eine Spur Traurigkeit zu liegen –, aber er war vielleicht ebenso hart wie der Stahl des Langschwerts auf seinem Rücken. Sie vertraute beiden Männern – und hoffte, dass ihre Familienverbindung hilfreich wäre, dieses Vertrauen zu bewahren. Durch Heirat erzielte Bündnisse hatten die Grenzlande stets ebenso zusammengeschweißt, wie es ihr gemeinsamer Krieg gegen die Große Fäule getan hatte, und sie hatte eine Tochter mit Easars drittältestem Sohn und einen Sohn mit Paitars Lieblingsenkelin verehelicht, wie auch ein Bruder und zwei Schwestern in ihre Häuser eingeheiratet hatten.

Ihre Begleiter waren genauso unterschiedlich wie ihre Könige. Ishigari Terasian sah stets so aus, als sei er gerade aus der Benommenheit nach einer durchzechten Nacht erwacht. Er war der dickste Mann, den Ethenielle jemals auf einem Pferd gesehen hatte. Sein edler roter Mantel war zerknittert, seine Augen trüb, die Wangen unrasiert. Kyril Shianri dagegen war groß und schlank und trotz des Staubs und Schweißes auf seinem Gesicht fast ebenso gepflegt wie Baldhere, mit Silberglöckchen an seinen Stiefelspitzen und Handschuhen sowie in seinen Zöpfen. Er trug seine übliche unzufriedene Miene zur Schau und hatte die Angewohnheit, stets an seiner Hakennase entlang auf jedermann außer Paitar kühl herabzusehen. Shianri war auf vielerlei Arten wirklich ein Narr – arafellische Könige gaben kaum jemals vor, auf ihre Berater zu hören, sondern verließen sich stattdessen auf ihre Königinnen –, aber er war mehr, als er auf den ersten Blick zu sein schien. Agelmar Jagad hätte eine größere Ausgabe Easars sein können, ein einfacher, schlicht gekleideter, stahlharter Mann mit mehr Waffen am Körper als Baldhere – er schien nur auf eine Gelegenheit zu lauern, seine todbringenden Waffen einzusetzen –, während Alesune Chulin ebenso schlank wie Serailla beleibt, ebenso hübsch wie Serailla nichtssagend und ebenso temperamentvoll wie diese zurückhaltend war. Alesune schien für ihre edlen blauen Seidengewänder geboren. Man tat gut daran, sich in Erinnerung zu rufen, dass es auch bei Serailla ein Fehler war, nur nach dem Äußeren zu urteilen.

»Friede und Licht mögen Euch gewogen sein, Ethenielle von Kandor«, sagte Easar verdrießlich, als Ethenielle ihr Pferd vor den Männern verhielt. Und Paitar hob im selben Moment an: »Das Licht umarme Euch, Ethenielle von Kandor.« Paitars Stimme konnte Frauenherzen noch immer schneller schlagen lassen. Auch das Herz einer Frau, die wusste, dass er ganz und gar ihr gehörte. Ethenielle bezweifelte, dass Menuki jemals in ihrem Leben eifersüchtig gewesen war oder Grund dazu gehabt hatte.

Sie begrüßte die Männer ebenso knapp und endete schroff: »Ich hoffe, Ihr seid hierhergelangt, ohne entdeckt zu werden.«

Easar schnaubte, lehnte sich in seinem Sattel zurück und betrachtete sie grimmig. Er war ein harter Mann, der aber seit elf Jahren verwitwet war und noch immer trauerte. Er hatte für seine Frau Gedichte geschrieben – hinter dem äußeren Anschein verbarg sich stets mehr. »Wenn wir bemerkt worden wären, Ethenielle«, grollte er, »könnten wir jetzt ebenso gut umkehren.«

»Ihr sprecht bereits von Umkehr?« Shianri gelang es, seine Verachtung mit kaum ausreichender Höflichkeit zu verbinden, um einer Herausforderung vorzubeugen. Dennoch betrachtete Agelmar ihn kalt, wobei er sich leicht im Sattel vorbeugte, ein Mann, der genau wusste, wo sich jede seiner Waffen befand. Sie waren in vielen Kämpfen entlang der Großen Fäule Verbündete gewesen, aber jetzt begegneten sie sich mit neuem Misstrauen.

Alesune brachte ihr Pferd, eine graue Stute so groß wie ein Streitross, zum Tänzeln. Die schmalen weißen Streifen in Alesunes langem schwarzen Haar erschienen plötzlich wie ein Helmschmuck, und ihre Augen ließen jedermann rasch vergessen, dass shienarische Frauen niemals Waffen gebrauchten und auch keine Duelle ausfochten. Ihr Titel lautete einfach Shatayan des Königshofs, und doch beging jedermann einen schweren Fehler, der glaubte, der Einfluss der Shatayan ende bei der Beaufsichtigung der Köche, Dienerinnen und Lieferanten. »Tollkühnheit hat nichts mit Mut zu tun, Lord Shianri. Wir lassen die Große Fäule fast ungeschützt zurück, und wenn wir scheitern – und vielleicht sogar wenn wir erfolgreich sind –, könnten einige von uns ihre Köpfe auf Spießen wiederfinden. Vielleicht sogar wir alle. Die Weiße Burg könnte sehr wohl dafür sorgen, wenn dieser al’Thor es nicht tut.«

»Die Große Faule scheint zu schlafen«, murrte Terasian, der sich das fleischige Kinn rieb. »Ich habe sie noch nie so ruhig erlebt.«

»Der Schatten schläft niemals«, wandte Jagad gelassen ein, und Terasian nickte, als wäre auch das erwägenswert. Agelmar war der beste Befehlshaber unter ihnen, einer der besten überhaupt, aber Terasians Platz zu Paitars Rechten war beileibe nicht dadurch bedingt, dass er ein guter Trinkkumpan war.

»Ich habe genügend Soldaten zurückgelassen, die das Land beschützen, solange nicht wieder Trolloc-Kriege stattfinden«, sagte Ethenielle mit fester Stimme. »Ich vertraue darauf, dass Ihr alle ebenso klug gehandelt habt. Aber das ist bedeutungslos. Glaubt jemand, dass wir jetzt wirklich noch umkehren können?« Sie äußerte diese letzte Frage nüchtern, ohne eine Antwort zu erwarten, aber sie erhielt dennoch eine.

»Umkehren?«, fragte eine Frau mit hoher Stimme hinter ihr. Tenobia von Saldaea galoppierte in die Versammlung und zügelte ihren weißen Wallach dann so ruckartig, dass er sich heftig aufbäumte. Dichte Perlenreihen zogen sich die dunkelgrauen Ärmel ihres Reitgewandes mit engen Röcken hinab, während üppige, rot-goldene Stickerei ihre schlanke Taille und den wohlgerundeten Busen betonte. Sie war für eine Frau groß, und sie war trotz einer bestenfalls verwegenen Nase hübsch, wenn nicht sogar schön. Große schräg stehende Augen von einem tiefen Dunkelblau verstärkten diesen Eindruck gewiss noch, aber ebenso ihre außergewöhnliche Selbstsicherheit. Wie erwartet, wurde die Königin von Saldaea nur von Kalyan Ramsin begleitet, einem ihrer zahlreichen Onkel, ein grauhaariger Mann mit einem pockennarbigen Adlergesicht und einem dichten, um seinen Mund abwärtsgebogenen Schnurrbart. Tenobia Kazadi duldete den Rat der Soldaten, aber von niemand sonst. »Ich werde nicht umkehren«, fuhr sie zornig fort, »ungeachtet dessen, was Ihr anderen zu tun gedenkt. Ich habe meinen lieben Onkel Davram ausgesandt, mir den Kopf des falschen Drachen Mazrim Taim zu bringen, und nun folgen sowohl er als auch Taim diesem al’Thor, wenn ich auch nur die Hälfte dessen glauben darf, was ich gehört habe. Ich habe fast fünftausend Männer hinter mir, und was auch immer Ihr beschließen mögt – ich werde nicht umkehren, bis mein Onkel und al’Thor begriffen haben, wer Saldaea regiert.«

Ethenielle wechselte Blicke mit Serailla und Baldhere, während Paitar und Easar Tenobia versicherten, dass sie ebenfalls weiterziehen wollten. Serailla schüttelte kaum merklich den Kopf und zuckte mit den Achseln. Baldhere verdrehte ungehalten die Augen. Ethenielle hatte nicht wirklich gehofft, Tenobia würde letztendlich beschließen fernzubleiben, aber das Mädchen würde gewiss Schwierigkeiten machen.

Die Saldaeaner waren ein seltsamer Menschenschlag – Ethenielle hatte sich oftmals gefragt, wie ihre Schwester Einone es schaffte, eine solch gute Ehe mit einem weiteren Onkel Tenobias zu führen –, aber Tenobia trieb diese Seltsamkeit auf die Spitze. Man erwartete von jedem Saldaeaner auffälliges Verhalten, aber Tenobia genoss es, Domani vor den Kopf zu stoßen und Altarener langweilig erscheinen zu lassen. Das Temperament der Saldaeaner war legendär, aber ihres glich einem verheerenden Feuer bei Sturm, und man konnte niemals vorhersagen, was den Funken auslöste. Ethenielle mochte nicht einmal daran denken, die Frau gegen ihren Willen Vernunftgründen zugänglich machen zu wollen. Nur Davram Bashere hatte dies bisher erreichen können. Und dann war da noch die Frage der Heirat.

Tenobia war noch jung, wenn auch Jahre über das Alter hinaus, in dem sie hätte heiraten sollen – die Eheschließung war für jedes Mitglied eines Herrscherhauses eine Pflicht und umso mehr für den Herrscher selbst, da Bündnisse geschlossen und Erben hervorgebracht werden mussten –, aber Ethenielle hatte das Mädchen niemals für einen ihrer eigenen Söhne in Erwägung gezogen. Tenobias Ansprüche an einen Ehemann umfassten sämtliche Erwartungen an alle anderen um sie herum. Er musste in der Lage sein, sich einem Dutzend Myrddraal zu stellen und sie zu töten – während er gleichzeitig die Laute spielte und Gedichte schrieb. Er musste in der Lage sein, Gelehrte zu verwirren – während er auf einem Pferd eine steile Klippe hinabritt. Oder vielleicht hinauf. Natürlich würde er sich ihr beugen müssen – sie war immerhin eine Königin –, nur dass Tenobia hin und wieder von ihm erwarten würde, dass er ignorierte, was auch immer sie sagte, und sie sich gefügig machte. Das Mädchen wollte genau das! Und das Licht helfe ihm, wenn er sie bezwingen wollte, wenn sie Ergebenheit verlangte, oder sich ihr beugte, wenn sie es wiederum anders haben wollte. Sie äußerte nichts von alledem jemals offen, aber jede Frau mit Verstand, die sie über Männer reden hörte, konnte es sich bald zusammenreimen. Tenobia würde als Jungfrau sterben. Was bedeutete, dass ihr Onkel Davram den Thron erben würde, wenn sie ihn nach alledem am Leben ließe, oder ansonsten Davrams Erbe.

Ein Wort erweckte Ethenielles Aufmerksamkeit und ließ sie sich jäh im Sattel aufrichten. Sie hätte aufpassen sollen. Zu viel stand auf dem Spiel. »Aes Sedai?«, fragte sie scharf. »Was ist mit den Aes Sedai?« Bis auf Paitars Ratgeber waren alle Berater aus der Weißen Burg bei der Nachricht über die Zerwürfnisse in der Burg gegangen, wobei ihre eigene Nianh und Easars Aisling sogar spurlos verschwanden. Wenn Aes Sedai einen Hinweis auf ihre Pläne erhalten hatten … Nun, Aes Sedai hatten stets eigene Pläne. Stets. Sie würde nicht gern feststellen müssen, dass sie ihre Hände in zwei Hornissennester steckte anstatt nur in eines.

Paitar zuckte mit den Achseln und schien ein wenig verwirrt. Das war bei ihm erstaunlich, denn er ließ sich, ebenso wie Serailla, durch nichts erschüttern. »Ihr habt doch wohl kaum von mir erwartet, dass ich Coladara zurücklasse, Ethenielle«, sagte er besänftigend. »Selbst wenn ich die Vorbereitungen vor ihr hätte geheim halten können.« Das hatte sie tatsächlich nicht erwartet. Seine Lieblingsschwester war eine Aes Sedai, und Kiruna hatte ihn zutiefst für die Burg eingenommen. Ethenielle hatte es nicht erwartet, aber sie hatte es zumindest gehofft. »Coladara hatte Besucher«, fuhr er fort. »Sieben Besucher. Es schien mir vernünftig, sie unter den gegebenen Umständen mitzubringen. Glücklicherweise musste ich sie nicht lange überzeugen. Tatsächlich überhaupt nicht.«

»Das Licht bescheine und bewahre unsere Seelen«, keuchte Ethenielle und hörte Serailla und Baldhere das Gleiche äußern. »Acht Schwestern, Paitar? Acht?« Die Weiße Burg kannte inzwischen gewiss jeden ihrer beabsichtigten Schritte.

»Und ich habe noch fünf weitere bei mir«, warf Tenobia beiläufig ein. »Sie begegneten mir, unmittelbar bevor ich Saldaea verließ. Zufällig, dessen bin ich mir sicher. Sie schienen genauso überrascht darüber zu sein wie ich. Als sie erfuhren, was ich vorhatte – ich weiß noch immer nicht, wie sie es erfuhren, aber sie wussten es –, war ich überzeugt, sie würden eiligst Memara aufsuchen.« Sie furchte finster die Stirn. Elaida hatte sich schwer verrechnet, als sie eine Schwester sandte, um Tenobia einzuschüchtern. »Stattdessen«, endete sie, »waren Illeisien und die Übrigen mehr auf Geheimhaltung bedacht als ich.«

»Dennoch«, beharrte Ethenielle. »Dreizehn Schwestern. Es muss nur eine von ihnen eine Möglichkeit finden, eine Nachricht zu übermitteln. Nur wenige Zeilen. Glaubt irgendjemand von Euch, er könne sie aufhalten?«

»Die Würfel sind gefallen«, stellte Paitar schlicht fest. Was geschehen war, war geschehen. Arafeller waren für Ethenielle fast ebenso seltsam wie Saldaeaner.

»Weiter südlich«, fügte Easar hinzu, »wird es vielleicht von Nutzen sein, dreizehn Aes Sedai unter uns zu haben.« Schweigen folgte, während greifbar war, was die Worte bedeuteten. Aber niemand wollte es aussprechen. Dies war etwas vollkommen anderes, als sich der Großen Fäule entgegenzustellen.

Tenobia lachte jäh unheimlich. Ihr Wallach begann zu tänzeln, aber sie beruhigte ihn. »Ich will so schnell wie möglich südwärts gelangen, aber ich lade Euch alle ein, heute Abend mit mir in meinem Zelt zu speisen. Ihr habt Gelegenheit, mit Illeisien und ihren Freunden zu sprechen, um festzustellen, ob Euer Urteil dem meinen entspricht. Und vielleicht könnten wir uns anschließend morgen Abend alle in Paitars Lager versammeln und die Freundinnen seiner Schwester Coladara befragen.« Der Vorschlag war so vernünftig, so offensichtlich notwendig, dass ihm sofort zugestimmt wurde. Und dann fügte Tenobia wie als Nachgedanken hinzu: »Mein Onkel Kalyan wäre geehrt, wenn Ihr ihm erlaubtet, heute Abend neben Euch zu sitzen, Ethenielle. Er bewundert Euch sehr.«

Ethenielle schaute zu Kalyan Ramsin – der Bursche, der hinter Tenobia schweigend auf seinem Pferd gesessen hatte, der niemals sprach und kaum jemals zu atmen schien –, sie sah ihn nur an, und einen Augenblick lang lüftete der grauhaarige Adler den Schleier vor seinen Augen. Einen Augenblick lang sah sie etwas, was sie, seit ihr Bry gestorben war, nicht mehr gesehen hatte, einen Mann, der nicht eine Königin, sondern eine Frau ansah. Diese Erkenntnis traf sie völlig unerwartet und raubte ihr den Atem. Tenobia blickte von ihrem Onkel zu Ethenielle und lächelte zufrieden.

Zorn flammte in Ethenielle auf. Dieses Lächeln ließ alles so klar erscheinen wie Quellwasser, wenn Kalyans Blick dies nicht schon bewirkt hatte. Dieses junge Ding wollte den Burschen mit ihr verheiraten? Dieses Kind nahm an …? Plötzlich überschattete Traurigkeit ihren Zorn. Sie selbst war noch jünger gewesen, als sie die Heirat ihrer verwitweten Schwester Nazelle angeordnet hatte. Eine Staatsangelegenheit – und doch hatte Nazelle Lord Ismic, trotz all ihrer anfänglichen Proteste, lieben gelernt. Sie sah Kalyan erneut und länger an. Sein ledriges Gesicht zeigte wieder angemessenen Respekt, und doch sah sie seine Augen, wie sie einstmals gewesen waren. Der Gemahl, den sie erwählte, würde ein harter Mann sein müssen, aber sie war bei den Ehen ihrer Kinder stets darauf bedacht gewesen, dass die Liebe zu ihrem Recht kam, und sie würde bei sich selbst keine niedrigeren Maßstäbe anlegen.

»Anstatt Tageslicht mit Reden zu verschwenden«, sagte sie atemloser, als ihr lieb war, »sollten wir das tun, weshalb wir hergekommen sind.« Das Licht versenge ihre Seele – sie war eine erwachsene Frau, kein Mädchen, das zum ersten Mal einem Freier begegnete. »Nun?«, fragte sie. Dieses Mal klang ihre Stimme angemessen fest.

Alle Vereinbarungen waren in jenen sorgfältig formulierten Briefen getroffen worden, aber alle Pläne würden auf dem Weg nach Süden unter veränderten Umständen angepasst werden müssen. Dieses Treffen hatte nur einen wahren Zweck, eine einfache, uralte Zeremonie der Grenzlande, über die in all den Jahren seit der Zerstörung nur siebenmal berichtet wurde. Eine schlichte Zeremonie, die sie über alle Worte hinaus, wie aussagekräftig auch immer sie sein mochten, binden würde. Die Herrscher führten ihre Pferde näher zueinander, während sich die Gefolgsleute zurückzogen.

Ethenielle stieß einen Zischlaut aus, als sie mit dem Dolch über ihre linke Handfläche schnitt. Tenobia lachte, während sie ihre Hand einritzte. Paitar und Easar hätten genauso gut nur Splitter aus ihrer Haut ziehen können. Vier Hände wurden ausgestreckt und verschränkt, das Herzblut vermischte sich, tropfte zu Boden, wurde von der steinharten Erde aufgesogen. »Wir sind eins, bis in den Tod«, sagte Easar, und sie alle sprachen die Worte mit ihm. »Wir sind eins, bis in den Tod.« Sie waren durch Blut und Erde verbunden. Jetzt mussten sie Rand al’Thor finden und tun, was getan werden musste. Ungeachtet, was es kostete.

* * *

Als sie sich überzeugt hatte, dass Turanna sich ohne Hilfe auf dem Kissen aufsetzen konnte, erhob sich Verin und ließ die zusammengesunkene Weiße Schwester zurück, die aus einem Becher trank. Oder zumindest versuchte sie, Wasser zu trinken. Turannas Zähne klapperten an den Silberbecher, was wenig verwunderlich war. Der Eingang des Zeltes war so niedrig, dass Verin sich ducken musste, um den Kopf hinauszustrecken. Schwäche vereinnahmte ihr Rückgrat, wenn sie sich bückte. Sie hatte keine Angst vor der Frau, die hinter ihr in einem rauen schwarzen Gewand zitterte. Verin hielt die von ihr aufgebaute Abschirmung fest, und sie bezweifelte, dass Turanna im Moment genug Kraft in den Beinen hatte, sie von hinten anzuspringen, selbst wenn ihr solch ein unglaublicher Gedanke käme. Weiße dachten einfach nicht auf diese Art. Zudem war es angesichts Turannas Zustand zweifelhaft, dass sie in den nächsten Stunden schon wieder die Macht lenken könnte, selbst wenn sie nicht abgeschirmt wäre.

Das Aiel-Lager bedeckte die Hügel, hinter denen Cairhien lag. Niedrige, erdfarbene Zelte füllten den Raum zwischen den wenigen Bäumen aus, die so nahe der Stadt belassen worden waren. Staubwolken hingen in der Luft, aber weder Staub noch Hitze noch der grelle Glanz einer zornigen Sonne kümmerten die Aiel. Geschäftigkeit und Zweckmäßigkeit ließen das Lager einer Stadt ähneln. In Verins Sichtfeld zerlegten Männer Wild und flickten Zelte, schärften Dolche oder verfertigten die weichen Stiefel, die alle trugen. Frauen kochten über offenen Feuern, buken Brot, arbeiteten an kleinen Webstühlen oder kümmerten sich um die wenigen Kinder im Lager. Überall eilten weiß gekleidete Gai’chain mit Lasten umher, klopften Teppiche aus oder kümmerten sich um Packpferde und Maultiere. Es waren keine Straßenhändler oder Verkaufsstände zu sehen. Und natürlich keine Karren und Wagen. Keine Stadt – es waren eher tausend an einem Ort versammelte Dörfer, obwohl weitaus mehr Männer als Frauen zu sehen waren und fast jeder Mann mit Ausnahme der Schmiede und jener, die weiß gekleidet waren, Waffen trug. Für die meisten Frauen galt dies ebenfalls.

Die Anzahl der Menschen entsprach gewiss der Einwohnerschaft großer Städte, mehr als genug Menschen, um einige wenige Aes-Sedai-Gefangene vollkommen einzuschließen, und doch sah Verin eine schwarz gewandete Frau keine fünfzig Schritte entfernt, die einen hüfthohen Stapel Steine auf einer Kuhhaut hinter sich herzog. Eine große Kapuze verdeckte ihr Gesicht, aber außer den gefangenen Schwestern trug niemand im Lager diese schwarzen Gewänder. Eine Weise Frau schlenderte dicht an der Kuhhaut vorbei und erglühte vor Macht, während sie die Gefangene abschirmte. Unterdessen flankierten zwei Töchter des Speers die Schwester und benutzten Gerten, um sie voranzudrängen, wann immer sie taumelte. Verin fragte sich, ob sie das hatte sehen sollen. Erst heute Morgen war sie an einer wild dreinblickenden Coiren Saeldain vorübergegangen, welcher der Schweiß das Gesicht herablief. Sie wurde von einer Weisen Frau und zwei Aiel-Männern begleitet und ein großer, mit Sand gefüllter Korb beugte ihren Rücken, während sie einen Hang hinaufstolperte. Und gestern war es Sarene Nemdahl gewesen. Sie hatten ihr die Aufgabe zugewiesen, mit den Händen Wasser aus einem Ledereimer in einen anderen zu schöpfen, sie schlugen sie mit der Gerte, damit sie schneller arbeitete, und schlugen sie dann für jeden dadurch vergossenen Tropfen, dass sie geschlagen wurde, um schneller zu arbeiten. Sarene hatte Verin nach dem Warum gefragt, aber nicht so, als erwarte sie eine Antwort. Verin hatte natürlich auch keine Antwort geben können, bevor die Töchter des Speers Sarene wieder an ihre sinnlose Arbeit trieben.

Sie unterdrückte ein Seufzen. Einerseits konnte sie nicht wirklich Gefallen daran finden, wenn Schwestern, aus welchen Gründen oder Notwendigkeiten auch immer, so behandelt wurden, und andererseits war es nicht zu übersehen, dass gewisse Weise Frauen wollten … Was eigentlich? Dass sie wusste, dass es hier nichts zählte, eine Aes Sedai zu sein? Lächerlich. Das war schon vor Tagen überaus offensichtlich gewesen. Oder vielleicht, dass sie auch in ein schwarzes Gewand gesteckt werden könnte? Im Moment glaubte sie, zumindest davor sicher zu sein, aber die Weisen Frauen verbargen zahlreiche Geheimnisse, die sie noch aufdecken musste und deren geringstes der Aufbau ihrer Hierarchie war. Das allergeringste Geheimnis, und doch beinhaltete dies das Überleben und eine heile Haut. Frauen, die Befehle gaben, nahmen manchmal auch Befehle von gerade jenen Frauen entgegen, denen sie zuvor Befehle erteilt hatten, und später wechselte dies dann wiederum ohne ersichtlichen Grund. Niemand befehligte jedoch jemals Sorilea – und darin lag vielleicht ein gewisses Maß an Sicherheit.

Sie konnte nicht umhin, Zufriedenheit zu verspüren. Heute Morgen im Sonnenpalast hatte Sorilea zu wissen verlangt, was Feuchtländer am meisten beschämte. Kiruna und die übrigen Schwestern verstanden nicht. Sie bemühten sich nicht wirklich zu verstehen, was hier draußen vor sich ging, vielleicht weil sie sich vor dem fürchteten, was sie erfahren könnten und dass solches Wissen ihre Eide beeinträchtigen könnte. Sie bemühten sich allenfalls, den Weg für sich selbst zu rechtfertigen, auf den das Schicksal sie verschlagen hatte, aber Verin hatte für den von ihr verfolgten Weg bereits Sinn und Zweck gefunden. Sie hatte außerdem eine Liste in der Tasche, die sie Sorilea übergeben wollte, wenn sie allein wären. Die anderen brauchten nichts davon zu wissen. Einigen der Gefangenen war sie noch niemals begegnet, aber sie glaubte, dass ihre Liste die Schwächen der meisten aufzeigte, nach denen Sorilea suchte. Das Leben würde für die Frauen in Schwarz noch weitaus schwieriger werden. Und ihre eigenen Bemühungen würden ihr mit etwas Glück weiterhin nützen.

Zwei große Aiel-Männer saßen unmittelbar vor dem Zelt und schienen in ein Fadenspiel vertieft, aber sie blickten sich sofort um, als ihr Kopf im Zelteingang erschien. Coram erhob sich trotz seiner Statur geschmeidig wie eine Schlange, und Mendan zögerte nur so lange, bis er den Faden eingesteckt hatte. In aufrechter Haltung hätte ihr Kopf kaum bis zur Brust der Männer gereicht. Aber sie hätte sie natürlich dennoch beide züchtigen können, wenn sie es gewagt hätte. Sie war hin und wieder versucht gewesen. Sie waren ihre bestellten Berater, die sie vor Missverständnissen im Lager bewahren sollten. Und sie gaben zweifellos alles, was sie sagte oder tat, weiter. Sie hätte es vorgezogen, Tomas bei sich zu haben, aber nur auf mancherlei Art. Es war weitaus schwieriger, Geheimnisse vor seinem Behüter als vor Fremden zu bewahren.

»Bitte sagt Colinda, dass ich mit Turanna Norill fertig bin«, wandte sie sich an Coram, »und ersucht sie, Katerine Alruddin zu mir zu schicken.« Sie wollte sich zunächst um die Schwestern kümmern, die keine Behüter besaßen. Er nickte einmal, bevor er wortlos davontrottete. Diese Aiel-Männer waren nicht sehr höflich.

Mendan kauerte sich wieder hin und beobachtete sie mit erschreckend blauen Augen. Einer von ihnen blieb, ungeachtet ihrer Befehle, stets bei ihr. Ein Streifen roten Tuchs war um Mendans Schläfen gebunden, der mit dem uralten Symbol der Aes Sedai gekennzeichnet war. Wie die anderen Männer, die dieses Abzeichen trugen, und wie die Töchter des Speers schien er darauf zu warten, dass ihr ein Fehler unterlief. Nun, sie waren nicht die Ersten, und bei Weitem nicht die gefährlichsten. Einundsiebzig Jahre waren vergangen, seit sie zuletzt einen ernsthaften Fehler begangen hatte.

Sie lächelte Mendan unbestimmt zu und wollte sich wieder ins Zelt zurückziehen, als plötzlich etwas ihren Blick auf sich zog. Wenn der Aiel in dem Moment versucht hätte, ihr die Kehle durchzuschneiden, hätte sie es vielleicht nicht einmal bemerkt.

Nicht weit von der Stelle entfernt, wo sie gebeugt im Zelteingang stand, knieten neun oder zehn Frauen in einer Reihe und rollten die Mühlsteine flacher Handmühlen ähnlich denen auf abgeschiedenen Bauernhöfen. Andere Frauen brachten in Körben Korn heran und trugen das grobe Mehl fort. Die Frauen in dunklen Röcken und hellen Blusen hatten ihre Haare mit gefalteten Tüchern zurückgebunden. Eine Frau, die deutlich kleiner war als die übrigen, diejenige, deren Haar nicht bis zur Taille reichte, trug weder eine Halskette noch ein Armband. Sie schaute auf, und der Groll vertiefte sich auf ihrem sonnengeröteten Gesicht, als sie Verins Blick begegnete. Jedoch nur einen Moment, bevor sie sich hastig wieder über ihre Arbeit beugte.

Verin zog sich rasch ins Zelt zurück, während ihr Magen rebellierte. Irgain gehörte der Grünen Ajah an. Oder vielmehr hatte sie der Grünen Ajah angehört, bevor Rand al’Thor sie dämpfte. Abgeschirmt zu sein, schwächte den Bund mit einem Behüter und machte ihn verschwommen, aber gedämpft zu sein, trennte ihn so sicher wie der Tod. Einer von Irgains beiden Behütern war offensichtlich vor Schreck tot umgefallen, und der andere war bei dem Versuch gestorben, Tausende von Aiel zu töten, ohne dass er zu entkommen versucht hätte. Irgain wünschte sich höchstwahrscheinlich, sie wäre ebenfalls tot. Gedämpft. Verin presste beide Hände auf ihren Magen. Sie würde sich nicht übergeben. Sie hatte schon Schlimmeres als eine gedämpfte Frau gesehen. Viel Schlimmeres.

»Es gibt wohl keine Hoffnung mehr?«, murmelte Turanna mit belegter Stimme. Sie weinte lautlos und starrte den Silberbecher in ihren zitternden Händen wie einen entfernten und erschreckenden Gegenstand an. »Keine Hoffnung.«

»Es gibt immer einen Ausweg, wenn man nur danach sucht«, erklärte Verin und tätschelte der Frau beiläufig die Schulter. »Ihr müsst stets danach suchen.«

Ihre Gedanken rasten, doch keiner berührte Turanna. Das Licht wusste, dass Irgains Dämpfung ihr Inneres sich umkehren ließ. Aber warum mahlte die Frau Korn? Und weshalb war sie wie eine Aiel-Frau gekleidet? Musste sie genau an dieser Stelle arbeiten, damit Verin sie sehen konnte? Eine törichte Frage. Selbst bei so starkem Ta’veren wie Rand al’Thors in nur wenigen Meilen Entfernung gab es Grenzen der Anzahl an Zufällen, die sie akzeptieren würde. Hatte sie sich verrechnet? Aber es konnte schlimmstenfalls kein allzu großer Fehler sein. Allerdings erwiesen sich kleine Fehler manchmal als ebenso tödlich wie große. Wie lange konnte sie aushalten, wenn Sorilea sie zu brechen beschloss? Vermutlich nur beunruhigend kurze Zeit. Sorilea war auf vielerlei Weise härter als jeder andere Mensch, dem sie jemals begegnet war. Und sie konnte nichts vorbringen, um ihr Einhalt zu gebieten. Aber darum würde sie sich ein anderes Mal sorgen. Es hatte keinen Zweck, gedanklich vorauszueilen.

Sie kniete sich hin und bemühte sich ein wenig, Turanna zu beruhigen, aber nicht allzu sehr. Ihre tröstenden Worte klangen für Turanna wohl ebenso hohl wie für sie selbst, wenn man die Leere in ihren Augen betrachtete. Nichts konnte Turannas Lage ändern außer Turanna, und das musste sie selbst vollbringen. Die Weiße Schwester weinte nur noch heftiger, wenn auch lautlos, während ihre Schultern bebten und Tränen ihr Gesicht herabströmten. Das Eintreten zweier Weiser Frauen und zweier junger Aiel-Männer, die sich im Zelt nicht aufrichten konnten, bedeutete eine gewisse Erleichterung, jedenfalls für Verin. Sie erhob sich und vollführte einen geschmeidigen Hofknicks, aber keiner der vier schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

Daviena war eine Frau mit grünen Augen und rotblondem Haar, und Losaine hatte graue Augen und dunkles Haar, das nur in der Sonne ein wenig Rot zeigte. Beide waren über einen Kopf größer als Verin und machten ein Gesicht, als sei ihnen eine unangenehme Aufgabe zugedacht worden, die sie jemand anderem wünschten. Keine konnte die Macht ausreichend stark lenken, um Turanna allein halten zu können, aber sie verknüpften sich, als hätten sie schon ihr ganzes Leben lang Zirkel gebildet, wobei das Licht Saidars um die Frauen zu verschmelzen schien, obwohl sie ein Stück voneinander entfernt standen. Verin zwang sich zu einem Lächeln, um nicht grimmig zu erscheinen. Wo hatten sie das gelernt? Sie hätte ihren ganzen Besitz darauf verwettet, dass sie es noch vor wenigen Tagen nicht gekonnt hatten.

Dann ging alles schnell und reibungslos vonstatten. Als die beiden Männer Turanna an den Armen hochzogen, ließ sie den Silberbecher fallen, der zu ihrem Glück leer war. Sie wehrte sich nicht, was ebenso gut war, weil sie bedachte, dass jeder der Männer sie wie einen Sack Mehl unter einem Arm hätte davontragen können, aber ihr Mund stand offen, und sie stieß lautlos Verwünschungen aus. Die Aiel kümmerten sich nicht darum. Daviena in der Mitte des Zirkels übernahm den Schild, und Verin ließ die Quelle vollkommen los. Keine von ihnen vertraute ihr, ungeachtet der Eide, die sie geschworen hatte, in ausreichendem Maße, um sie Saidar ohne ersichtlichen Grund festhalten zu lassen. Niemand schien es zu bemerken, aber sie hätten es gewiss gemerkt, wenn sie an der Macht festgehalten hätte. Die Männer zerrten Turanna davon, wobei ihre bloßen Füße über die auf dem Boden des Zeltes ausgelegten Teppiche schleiften, und die Weisen Frauen folgten ihnen hinaus. Dann war alles vorbei. Was mit Turanna getan werden konnte, war getan worden.

Verin atmete tief aus und sank auf eines der bunten, mit Quasten versehenen Kissen. Ein edles, goldenes, mit einem Rankenmuster verziertes Tablett stand auf den Teppichen neben ihr. Sie füllte einen der Silberbecher aus einem Zinnkrug und trank in großen Schlucken. Dies war eine schweißtreibende und ermüdende Arbeit. Es blieben noch Stunden Tageslicht, und doch fühlte sie sich bereits jetzt, als hätte sie eine schwere Kiste zwanzig Meilen weit getragen. Sie stellte den Becher wieder auf das Tablett und zog ihr kleines, ledergebundenes Büchlein aus ihrem Gürtel hervor. Es dauerte stets eine Weile, bis jene gebracht wurden, nach denen sie schickte. Einige Augenblicke, in denen sie ihre Aufzeichnungen durchgehen und neue Notizen machen konnte, wären keine vergeudete Zeit.

Es war nicht nötig, Notizen über die Gefangenen zu machen, aber das plötzliche Erscheinen Cadsuane Melaidhrins vor mittlerweile drei Tagen gab Anlass zur Sorge. Hinter was war Cadsuane her? Ihre Begleiter konnte man außer Acht lassen, aber Cadsuane selbst war eine Legende, und allein schon die glaubhaften Erzählungen machten sie in der Tat gefährlich. Gefährlich und unberechenbar. Verin nahm eine Feder aus dem kleinen hölzernen Schreibkästchen, das sie stets bei sich trug, und griff nach der verschlossenen Tintenflasche in ihrer Hülle, als erneut eine Weise Frau das Zelt betrat.

Verin sprang so rasch auf, dass ihr Büchlein herabfiel. Aeron konnte die Macht überhaupt nicht lenken, und doch vollführte Verin vor der bereits ergrauenden Frau einen weitaus tieferen Hofknicks, als sie es vor Daviena und Losaine getan hatte. Als ihr Gesicht fast den Boden berührte, ließ sie ihre Röcke los, um nach dem Büchlein zu greifen, aber Aerons Finger erreichten es zuerst. Verin richtete sich auf und beobachtete gelassen, wie die größere Frau die Seiten durchblätterte.

Himmelblaue Augen begegneten ihren. Ein Winterhimmel. »Einige hübsche Zeichnungen und sehr vieles über Pflanzen und Blumen«, sagte Aeron kalt. »Ich kann nichts über die Untersuchung entdecken, derentwegen Ihr gesandt wurdet.« Sie drückte Verin das Buch barsch in die Hand.

»Danke, Weise Frau«, sagte Verin demütig und verstaute das Büchlein wieder sicher in ihrem Gürtel. Sie vollführte sogar vorsichtshalber noch einen weiteren, ebenso tiefen Hofknicks wie den ersten. »Ich habe die Angewohnheit zu notieren, was ich sehe.« Eines Tages würde sie die Geheimschrift, die sie für ihre Aufzeichnungen benutzte, in entschlüsselter Form niederschreiben müssen. Eines Tages, aber hoffentlich nicht allzu bald. Die Schränke und Kisten in ihren Räumen über der Bibliothek der Weißen Burg waren voll mit solchen Büchern. »Was die … ehm … Gefangenen betrifft, so berichten sie bisher denselben Sachverhalt alle unterschiedlich. Der Car’a’carn sollte bis zur Letzten Schlacht in der Burg aufgenommen werden. Seine … ehm … Misshandlung begann nach einem Fluchtversuch. Aber das wisst Ihr natürlich bereits. Aber seid unbesorgt – ich werde gewiss noch mehr erfahren.« Das war nur zu wahr, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte zu viele Schwestern sterben sehen, um es zu riskieren, die anderen ohne einen sehr guten Grund ins Grab zu schicken. Schwierig war jedoch zu entscheiden, was dieses Risiko auslösen könnte. Die Umstände der Entführung des jungen al’Thor durch eine Abordnung erweckte in den Aiel Mordlust, aber was sie seine ›Misshandlung‹ nannten, erzürnte sie kaum, soweit sie es beurteilen konnte.

Gold- und Elfenbeinarmbänder klapperten leise, als Aeron ihr dunkles Schultertuch richtete. Sie betrachtete Verin, als versuche sie, deren Gedanken zu lesen. Aeron nahm unter den Weisen Frauen anscheinend einen hohen Rang ein, und obwohl Verin gelegentlich ein Lächeln jene tief gebräunten Wangen hatte kräuseln sehen, ein herzliches und unbeschwertes Lächeln, galt es jedoch niemals einer Aes Sedai. Wir hätten niemals vermutet, dass Ihr diejenigen wärt, die versagen, hatte sie Verin recht niedergeschlagen eröffnet. Ihre weiteren Worte hatten jedoch keinen Zweifel mehr gelassen. Aes Sedai besitzen keine Ehre. Gebt mir nur den geringsten Grund, Euch zu misstrauen, und ich werde Euch eigenhändig züchtigen, bis Ihr nicht mehr stehen könnt. Gebt mir einen zweifachen Grund, Euch zu misstrauen, und ich werde Euch für die Geier und Ameisen pfählen. Verin sah blinzelnd zu ihr hoch und bemühte sich, aufrichtig zu wirken. Und demütig. Sie durfte nicht vergessen, demütig zu wirken. Fügsam und willfährig. Sie empfand keine Angst. Sie hatte in ihrem Leben schon härteren Blicken standgehalten, von Frauen – und Männern –, die nicht Aerons wenn auch geringe Bedenken teilten, wenn es darum ging, ihr Leben zu beenden. Aber es hatte sie erhebliche Mühe gekostet, zu dieser Befragung geschickt zu werden. Sie konnte es sich nicht leisten, diese Mühe vergeblich aufgewendet zu haben. Wenn man diesen Aiel nur mehr an den Gesichtern ablesen könnte!

Sie wurde sich jäh der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr allein im Zelt waren. Zwei flachshaarige Mädchen waren mit einer schwarz gewandeten Frau eingetreten, die eine Handbreit kleiner als die beiden war und die sie halbwegs stützen mussten. Eines der Mädchen war Tialin, eine dünne Rothaarige, die hinter dem Licht Saidars grimmig dreinblickte und die schwarz gewandete Gefangene abschirmte. Das Haar der Schwester hing in schweißfeuchten Locken bis auf ihre Schultern herab, und einzelne Strähnen klebten an ihrem Gesicht, das so verschmutzt war, dass Verin sie zunächst nicht erkannte. Das andere Mädchen hatte hohe Wangenknochen, wenn auch nicht sehr hoch angesetzt, eine Nase mit einer leicht hakenförmigen Krümmung und kaum merklich schräg stehende braune Augen … Beldeine. Beldeine Nyram. Sie hatte das Mädchen in einigen Novizinnenkursen unterrichtet.

»Dürfte ich fragen«, begann sie vorsichtig, »warum sie gebracht wurde? Ich habe nach jemand anderem geschickt.« Beldeine hatte keinen Behüter, obwohl sie eine Grüne war – sie war erst vor knapp drei Jahren zur Stola erhoben worden, und Grüne waren häufig besonders wählerisch bezüglich ihres ersten Behüters –, aber wenn sie damit begannen, wen immer sie wollten herzubringen, könnte die nächste Gefangene vielleicht zwei oder drei Behüter besitzen. Verin glaubte, heute noch zwei weitere Befragungen bewältigen zu können, aber nicht, wenn die Frauen auch nur einen Behüter hätten. Und sie bezweifelte, dass sie ihr bei irgendeiner Gefangenen eine zweite Chance gäben.

»Katerine Alruddin ist gestern Abend entkommen«, spie Tialin fast hervor. Verin keuchte.

»Ihr habt sie entkommen lassen?«, platzte sie, ohne nachzudenken, heraus. Ihre Müdigkeit war keine Entschuldigung, aber die Worte lösten sich von ihrer Zunge, bevor sie sich dessen bewusst wurde. »Wie konntet Ihr so töricht sein? Sie ist eine Rote und weder ein Feigling noch schwach in der Handhabung der Macht! Der Car’a’carn könnte in Gefahr sein! Warum haben wir nicht unverzüglich davon erfahren?«

»Ihre Flucht wurde erst heute Morgen entdeckt«, grollte eine der Töchter des Speers. Ihre Augen hätten polierte Saphire sein können. »Eine Weise Frau und zwei Cor Darei wurden vergiftet, und der Gai’chain, der ihnen etwas zu trinken bringen wollte, wurde mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden.«

Aeron sah die Tochter des Speers kalt und mit gewölbten Augenbrauen an. »Hat sie mit Euch gesprochen, Carahuin?« Plötzlich mussten beide Schwestern Beldeine stützen. Aeron sah Tialin nur an, aber die rothaarige Weise Frau senkte den Blick. Verin wurden die nächsten Aufmerksamkeiten zugedacht. »Eure Sorge um al’Thor … ehrt Euch«, sagte Aeron widerwillig. »Er wird bewacht werden. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen.« Plötzlich wurde ihre Stimme härter. »Aber Neulinge sprechen mit Weisen Frauen nicht in diesem Ton, Verin Mathwin Aes Sedai.« Die letzten Worte klangen höhnisch.

Verin unterdrückte ein Seufzen und verfiel in einen weiteren tiefen Hofknicks, wobei sie sich fast wünschte, sie wäre noch genauso schlank wie bei ihrer Ankunft in der Weißen Burg. Sie war wirklich nicht für all diese Verbeugungen gemacht. »Vergebt mir, Weise Frau«, sagte sie demütig. Entkommen! Die Umstände machten für sie, wenn nicht für die Aiel, alles nur allzu offensichtlich. »Die Sorge muss meinen Verstand verwirrt haben.« Schade, dass sie nicht dafür sorgen konnte, dass Katerine einen tödlichen Unfall erlitt. »Ich werde mein Bestes tun, in Zukunft daran zu denken.« Nicht einmal ein Wimpernschlag deutete an, ob Aeron ihre Entschuldigung annahm. »Darf ich ihre Abschirmung übernehmen, Weise Frau?«

Aeron nickte, ohne Tialin anzusehen, und Verin umarmte schnell die Quelle und übernahm den Schild, den Tialin losließ. Es erstaunte sie immer wieder, dass Frauen, die nicht die Macht lenken konnten, Machtlenkerinnen so bereitwillig befehligten. Tialin war in der Handhabung der Macht nicht wesentlich schwächer als Verin, und doch beobachtete sie Aeron fast ebenso wachsam, wie die Töchter des Speers es taten, und als die Töchter des Speers das Zelt auf eine Geste von Aeron hin eilig verließen und Beldeine schwankend stehen ließen, folgte Tialin nur einen Schritt hinter ihnen.

Aeron ging nicht, zumindest nicht sofort. »Ihr werdet Katerine Alruddin gegenüber dem Car’a’carn nicht erwähnen«, sagte sie. »Er hat genug zu bedenken, auch ohne sich um Nichtigkeiten sorgen zu müssen.«

»Ich werde ihm nichts von ihr sagen«, bestätigte Verin rasch. Nichtigkeiten? Eine Rote mit Katerines Stärke war keine Nichtigkeit. Vielleicht sollte sie dies vermerken. Sie musste darüber nachdenken.

»Ihr solltet füglich schweigen, Verin Mathwin, sonst werdet Ihr schreien müssen.«

Darauf ließ sich nichts erwidern, sodass sich Verin auf Demut und Fügsamkeit besann und noch einen Hofknicks vollführte. Ihre Knie wollten jedoch protestieren.

Als Aeron gegangen war, erlaubte sich Verin ein erleichtertes Seufzen. Sie hatte befürchtet, dass Aeron bleiben würde. Die Erlaubnis zu erhalten, mit den Gefangenen allein zu sein, hatte fast ebenso viel Mühe gekostet, wie Sorilea und Amys zu dem Entschluss zu bringen, dass sie befragt werden müssten, und zwar durch jemanden, der mit der Weißen Burg auf vertrautem Fuße stand. Wenn sie jemals erführen, dass sie zu dieser Entscheidung hingeführt worden waren … Aber darum würde sie sich ein anderes Mal sorgen. Es gab anscheinend viele ›andere Male‹.

»Es ist genug Wasser da, dass Ihr Euch zumindest Gesicht und Hände waschen könnt«, bot sie Beldeine freundlich an. »Und wenn Ihr wollt, werde ich Euch Heilen.« Jede von ihr befragte Schwester hatte zumindest einige Striemen aufgewiesen. Die Aiel schlugen die Gefangenen bereits für das Verschütten von Wasser oder wenn sie eine andere Aufgabe verdarben – und auch die stolzesten Gegenworte ernteten, wenn überhaupt, nur höhnisches Gelächter. Die schwarz gewandeten Frauen wurden wie Tiere zusammengepfercht, durch einen Schlag mit der Gerte zum Gehen oder Umwenden oder Stehenbleiben gebracht, und sie wurden noch härter geschlagen, wenn sie nicht schnell genug gehorchten. Das Heilen erleichterte auch andere Dinge.

Schmutzig, verschwitzt und wie Schilf im Wind schwankend, verzog Beldeine die Lippen. »Ich würde lieber verbluten, als von Euch Geheilt zu werden!«, spie sie hervor. »Vielleicht hätte ich erwarten sollen, Euch vor diesen Wilden, diesen Unmenschen, kriechen zu sehen, aber ich hätte niemals gedacht, dass Ihr Euch jemals so weit erniedrigen würdet, die Geheimnisse der Burg preiszugeben! Das kommt Verrat gleich, Verin! Aufruhr!« Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. »Wenn Ihr davor nicht zurückschreckt, werdet Ihr vermutlich vor nichts haltmachen! Was habt Ihr und die Übrigen sie außer dem Verknüpfen sonst noch gelehrt?«

Verin schnalzte verärgert mit der Zunge, machte sich aber nicht die Mühe, der jungen Frau den Kopf zurechtzurücken. Ihr Nacken schmerzte davon, zu den Aiel hochzusehen – auch Beldeine war ungefähr eine Handbreit größer als sie –, ihre Knie taten weh von den Hofknicksen, und entschieden zu viele Frauen, die es besser wissen sollten, hatten sie heute mit blinder Verachtung und törichtem Stolz bedacht. Wer sollte es besser als eine Aes Sedai wissen, dass eine Schwester der Welt viele Gesichter zeigen musste? Man konnte Menschen nicht immer einschüchtern oder zu etwas zwingen. Zudem war es weitaus besser, sich wie eine Novizin zu verhalten, denn als eine solche bestraft zu werden, besonders wenn es einem nur Schmerz und Erniedrigung einbrachte. Selbst Kiruna musste den Sinn dessen schließlich einsehen.

»Setzt Euch, bevor Ihr zusammenbrecht«, sagte sie und ließ sich auf einem Kissen nieder. »Lasst mich raten, was Ihr heute getan habt. Bei all diesem Schmutz würde ich sagen, dass Ihr ein Loch gegraben habt. Mit Euren bloßen Händen, oder haben sie Euch einen Löffel gegeben? Wenn sie beschließen, dass es fertig ist, werden sie es Euch einfach wieder zuschütten lassen. Nun, lasst mich sehen. Ihr seid überall schmutzig, aber Euer Gewand ist sauber, also vermute ich, dass sie Euch nackt graben ließen. Wollt Ihr bestimmt nicht Geheilt werden? Sonnenbrand kann sehr schmerzhaft sein.« Sie füllte einen weiteren Becher mit Wasser und ließ ihn auf einem Strang Luft durch das Zelt schweben, bis er vor Beldeine verharrte. »Eure Kehle muss ausgedörrt sein.«

Die junge Grüne betrachtete den Becher einen Moment unsicher, und dann gaben ihre Beine plötzlich nach; mit einem bitteren Lachen brach sie auf einem Kissen zusammen. »Sie … tränken mich häufig.« Sie lachte erneut, obwohl Verin nichts Belustigendes daran erkennen konnte. »So viel ich will, solange ich alles schlucke.« Sie betrachtete Verin zornig, hielt inne und fuhr dann mit gepresster Stimme fort. »Dieses Gewand steht Euch sehr gut. Meines haben sie verbrannt. Ich habe sie dabei beobachtet. Sie haben mir alles außer dem gestohlen.« Sie berührte den goldenen Schlangenring um ihren linken Zeigefinger, ein breites goldenes Schimmern zwischen all dem Schmutz. »Sie fanden vermutlich nicht den Mut, mir auch den Ring zu nehmen. Ich weiß, was sie beabsichtigen, Verin, aber es wird ihnen nicht gelingen. Nicht bei mir – bei keiner von uns!«

Sie war noch immer vorsichtig. Verin stellte den Becher auf den Blumenteppich neben Beldeine, nahm dann ihren eigenen Becher hoch und trank, bevor sie sprach. »So? Was ist denn ihre Absicht?«

Dieses Mal klang das Lachen der anderen Frau sowohl brüchig als auch hart. »Brecht uns, und Ihr wisst es! Lasst uns al’Thor gegenüber Eide sprechen, wie Ihr es getan habt. Oh, Verin, wie konntet Ihr? Treue zu schwören! Und noch schlimmer – einem Mann gegenüber, ihm gegenüber! Auch wenn Ihr Euch dazu überwinden konntet, gegen den Amyrlin-Sitz zu rebellieren, gegen die Weiße Burg …« Bei ihr klang beides sehr ähnlich. »… wie konntet Ihr das nur tun?«

Verin fragte sich einen Moment, ob die Dinge besserstünden, wenn die Frauen, die jetzt im Aiel-Lager gefangen gehalten wurden, wie sie selbst aufgehalten worden wären, ein Holzsplitter in den Fluten von al’Thors Ta’veren-Strudel. Die Worte waren aus ihrem Munde gedrungen, bevor sie darüber hatte nachdenken können. Keine Worte, die sie niemals selbst hätte aussprechen können – so beeinflusste einen das Ta’veren nicht –, sondern Worte, die sie unter diesen Umständen vielleicht einmal unter tausend Malen gesagt hätte, einmal unter zehntausend Malen. Nein, es war lange und heftig darüber gestritten worden, ob die auf diese Weise geleisteten Eide gehalten werden müssten, und der Streit darüber, wie sie zu halten seien, wurde auch jetzt noch fortgeführt. Es war weitaus besser so. Sie betastete gedankenverloren einen harten Gegenstand in ihrer Gürteltasche, eine kleine Brosche, ein durchscheinender Stein, zu einem Gebilde geschnitten, das wie eine Lilie mit zu vielen Blättern aussah. Sie trug sie niemals, aber sie befand sich seit fast fünfzig Jahren in ihrer Reichweite.

»Ihr seid Da’tsang, Beldeine. Das müsst Ihr doch schon gehört haben.« Sie brauchte Beldeines knappes Nicken nicht. Eine Geschmähte zu benennen war genauso Teil der Aiel-Gesetze, wie ein Urteil zu verkünden. So viel wusste sie, wenn auch kaum mehr. »Eure Kleidung wurde verbrannt, weil kein Aiel etwas besitzen möchte, was einst einer Da’tsang gehört hat. Alles Übrige wurde zerhackt oder zerschlagen und unter einer für eine Latrine ausgehobenen Grube vergraben.«

»Auch mein … mein Pferd?«, fragte Beldeine angstvoll.

»Die Pferde haben sie nicht getötet, aber ich weiß nicht, wo Eures ist.« Es wurde wahrscheinlich an einen Städter verkauft oder war vielleicht einem Asha’man überlassen worden. Ihr das zu sagen, könnte vielleicht mehr schaden als nützen. Verin erinnerte sich daran, dass Beldeine eine jener jungen Frauen war, die sehr tief für ihre Pferde empfanden. »Sie lassen Euch den Ring behalten, um Euch daran zu erinnern, wer Ihr wart, und um Eure Scham zu verstärken. Ich weiß nicht, ob sie Euch al’Thor Treue schwören lassen würden, wenn Ihr darum batet. Es würde wohl etwas Unglaubliches von Eurer Seite erfordern.«

»Das würde ich ohnehin nicht tun! Niemals!« Die Worte klangen jedoch hohl, und Beldeines Schultern sackten herab. Sie war erschüttert, aber noch nicht in ausreichendem Maße.

Verin setzte ein herzliches Lächeln auf. Jemand hatte ihr einmal gesagt, dieses Lächeln erinnere ihn an seine geliebte Mutter. Sie hoffte, dass er zumindest in diesem Punkt nicht gelogen hatte. Er hatte kurz darauf versucht, ihr einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen, und ihr Lächeln war das Letzte gewesen, was er jemals gesehen hatte. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum Ihr es tun würdet. Nein, ich fürchte, Ihr habt nur sinnlose Arbeit vor Euch. Das halten sie für beschämend. Zutiefst beschämend. Wenn sie natürlich erkennen, dass Ihr es nicht so seht … Oje. Ich wette, es hat Euch nicht gefallen, nackt zu graben, selbst wenn Töchter des Speers Euch bewachten, aber stellt Euch einmal vor, so in einem Zelt voller Männer zu stehen.« Beldeine zuckte zusammen. Verin plauderte weiter. Sie hatte das Plaudern zu einem Talent entwickelt. »Sie würden Euch natürlich nur dort stehen lassen. Da’tsang ist es nicht erlaubt, etwas Nützliches zu tun, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, und ein Aiel-Mann würde genauso bereitwillig einen Arm um einen verwesenden Kadaver legen wie … Nun, das ist wohl kein erfreulicher Gedanke. Auf jeden Fall steht Euch genau das bevor. Ich weiß, dass Ihr so lange widerstehen werdet wie möglich, obwohl ich mir nicht sicher bin, wogegen es zu widerstehen gilt. Sie werden sich nicht die Mühe machen, Informationen aus Euch herauszubekommen, oder etwas anderes versuchen, was Menschen gewöhnlich mit Gefangenen tun. Aber sie werden Euch auch nicht gehen lassen, niemals, bis sie sicher sind, dass Ihr die Scham so tief empfindet, dass nichts sonst übrig bleibt. Auch nicht, wenn dies Euer restliches Leben lang dauert.«

Beldeines Lippen bewegten sich lautlos, aber sie hätte die Worte ebenso gut aussprechen können. Mein restliches Leben lang. Sie regte sich unbehaglich auf ihrem Kissen und verzog schmerzvoll das Gesicht, vielleicht aufgrund des Sonnenbrandes oder der Striemen oder einfach wegen der ungewohnten Arbeit. »Wir werden gerettet werden«, sagte sie schließlich. »Die Amyrlin wird uns nicht im Stich … Wir werden gerettet werden, oder wir werden … Wir werden gerettet werden.« Sie ergriff jäh den neben ihr stehenden Silberbecher, legte den Kopf zurück, trank ihn leer und streckte ihn dann Verin entgegen, um mehr zu bekommen. Diese ließ den Zinnkrug hinüberschweben und stellte ihn ab, sodass die junge Frau sich selbst etwas eingießen konnte.

»Oder Ihr werdet entkommen?«, fragte Verin, und Beldeines schmutzige Hände zuckten, sodass Wasser über den Becherrand schwappte. »Seid doch vernünftig – Ihr werdet ebenso wenig entkommen, wie Ihr gerettet werdet. Ihr seid von einem Heer von Aiel umgeben. Und al’Thor kann offensichtlich einige Hundert dieser Asha’man ausheben, wann immer er will, um Euch zu verfolgen.« Die andere Frau erschauderte bei diesen Worten, und Verin fast ebenfalls. Dieses nichtige Durcheinander hätte beendet werden müssen, sobald es begonnen hatte. »Nein, ich fürchte, Ihr müsst irgendwie Euren eigenen Weg gehen. Nehmt die Dinge, wie sie sind. Ihr seid hierbei ganz allein. Ich weiß, dass sie Euch nicht mit anderen sprechen lassen. Ihr seid ganz allein«, sagte sie seufzend. Weite Augen starrten sie an, wie sie vielleicht eine rote Viper angestarrt hätten. »Wir müssen es nicht schlimmer machen, als es ist. Lasst mich Euch Heilen.«

Sie wartete kaum, bis die andere Frau jämmerlich nickte, bevor sie sich neben sie kniete und beide Hände um Beldeines Kopf legte. Die junge Frau war überaus bereit. Verin öffnete sich für weiteres Saidar und wob die Stränge des Heilens, und die Grüne keuchte und zitterte. Der halb gefüllte Becher entglitt ihren Händen, und ihr um sich schlagender Arm stieß den Krug um. Jetzt war sie vollkommen bereit.

In den Augenblicken der Verwirrung, die jedermann ergriffen, der Geheilt worden war, während Beldeine noch blinzelte und wieder zu sich zu kommen versuchte, öffnete sich Verin durch das wie eine Blume gestaltete Angreal in ihrer Tasche noch weiter. Es war kein sehr mächtiges Angreal, aber sie brauchte hierfür jedes bisschen zusätzlicher Macht, die es ihr gewähren konnte. Die Stränge, die sie nun zu weben begann, ähnelten nicht den Strängen des Heilens. Geist überwog bei Weitem, aber da waren auch Wind und Wasser, Feuer und Erde, wobei Letzteres ihr einige Schwierigkeiten bereitete, und selbst die mit Geist gewobenen Stränge mussten immer wieder geteilt und so kompliziert angeordnet werden, dass ein Weber edler Teppiche als Stümper dagestanden hätte. Selbst wenn eine Weise Frau den Kopf ins Zelt streckte, würde sie wohl kaum das seltene Talent besitzen, das notwendig war, um zu erkennen, was Verin tat. Es würde vielleicht dennoch Schwierigkeiten geben, schmerzliche Schwierigkeiten der einen oder anderen Art, aber sie konnte mit allem leben, was nicht die tatsächliche Entdeckung bedeutete.

»Was …?«, fragte Beldeine benommen. Sie hätte geschwankt, wenn Verin sie nicht festgehalten hätte, und ihre Lider waren halbwegs geschlossen. »Was habt Ihr …? Was geht hier vor?«

»Ihr werdet keinen Schaden erleiden«, sagte Verin beruhigend. Die Frau könnte als Ergebnis dieser Behandlung innerhalb eines Jahres sterben oder in zehn Jahren, aber das Gewebe selbst würde ihr keinen Schaden zufügen. »Ich verspreche Euch, dass dies keine Gefahr darstellt, dass es sogar bei einem Kind angewandt werden kann.« Natürlich hing es davon ab, was man damit tat.

Sie musste die Stränge Faden für Faden anordnen, und zu reden schien dabei eher hilfreich als hinderlich. Zudem könnte ein zu langes Schweigen Misstrauen wecken, wenn ihre beiden Wächter lauschten. Ihr Blick schweifte häufig zum Zelteingang. Sie wollte einige Antworten in Erfahrung bringen, die sie nicht zu teilen beabsichtigte. Antworten, die keine der Frauen, die sie befragte, bereitwillig gaben, selbst wenn sie etwas wussten. Eine der geringeren Wirkungen dieses Gewebes war, dass es ebenso gut die Zunge löste und den Geist öffnete wie jedes narkotische Kraut, eine Wirkung, die schnell eintrat.

Sie senkte ihre Stimme fast zu einem Flüstern und fuhr fort. »Rand al’Thor scheint zu glauben, er habe in der Weißen Burg Unterstützung irgendwelcher Art, Beldeine. Das ist natürlich ein Geheimnis. Die Helfer müssen im Verborgenen bleiben.« Selbst ein Lauscher hätte nur hören können, dass sie sich unterhielten. »Sagt mir alles, was Ihr über sie wisst.«

»Unterstützung?«, murmelte Beldeine und runzelte die Stirn. Sie regte sich schwach, obwohl man es kaum als Bewegung bezeichnen konnte. »Für ihn? Unter den Schwestern? Das kann nicht sein. Bis auf jene von Euch, die … Wie konntet Ihr, Verin? Warum habt Ihr nicht dagegen angekämpft?«

Verin schnalzte verärgert mit der Zunge. Aber nicht wegen des törichten Vorschlags, gegen einen Ta’veren anzukämpfen. Der Junge schien so siegesgewiss. Warum? Sie flüsterte weiterhin. »Habt Ihr keinen Verdacht, Beldeine? Habt Ihr keine Gerüchte gehört, bevor Ihr Tar Valon verließt? Kein Tuscheln? Niemand, der andeutete, sich ihm anders nähern zu wollen? Erzählt es mir.«

»Niemand. Wie konntet …? Niemand würde … Ich habe Kiruna so bewundert.« Beldeines schläfrige Stimme zeugte von Verlust, und die über ihre Wangen strömenden Tränen hinterließen Spuren im Schmutz. Nur Verins Hände hielten sie noch aufrecht.

Verin fuhr fort, die Stränge ihres Gewebes anzuordnen, wobei ihr Blick immer wieder zum Zelteingang huschte. Sie hatte das Gefühl, auch selbst ein wenig zu schwitzen. Sorilea könnte beschließen, dass sie bei der Befragung Hilfe benötigte. Sie könnte eine der Schwestern aus dem Sonnenpalast mit hierherbringen. Sollte irgendeine Schwester hiervon erfahren, war es sehr gut möglich, dass Verin gedämpft wurde. »Also wolltet Ihr ihn sauber gewaschen und wohlbehalten Elaida übergeben«, sagte sie mit etwas lauterer Stimme. Das Schweigen hatte zu lange gedauert. Sie wollte nicht, dass die beiden dort draußen berichteten, sie flüstere mit den Gefangenen.