Das Rad der Zeit 1 - Robert Jordan - E-Book
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Das Rad der Zeit 1 E-Book

Robert Jordan

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Beschreibung

In dem abgeschiedenen Dorf Emondsfelde erzählt man sich noch immer die alten Geschichten um den Dunklen König und die Magierinnen der Aes Sedai, die das Rad der Zeit drehen. Niemand ahnt, auch der junge Bauernsohn Rand al'Thor nicht, wie viel Wahrheit in diesen Legenden steckt. Dann jedoch überfallen blutrünstige Trollocs, die Häscher des Dunklen Königs, das Dorf und brennen den Bauernhof von Rands Familie nieder. Die Magierin Moiraine verhilft dem Jungen in letzter Minute zur Flucht. Eine phantastische Reise beginnt, während der Rand in sein Schicksal hineinwachsen wird, der Wiedergeborene Drache und der Retter der Welt zu sein …

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Seitenzahl: 1648

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Aus dem Amerikanischen von Uwe Luserke

© Robert Jordan 1990

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Eye of the World«,

Tom Doherty Associates, Tor Books, New York 1990

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2004

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München in zwei Bänden:

»Drohende Schatten« (1993), »Das Auge der Welt« (1993)

© der Vorgeschichte zum Rad der Zeit: The Bandersnatch Group, 2002.

Im amerikanischen Original erschienen unter dem Titel »Ravens« in dem Band »From the two Rivers«. Starscape Books, New York 2002

Übersetzung der Vorgeschichte: Andreas Decker

Karte: Ellisa Mitchell

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Markus Weber, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von GettyImages

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Karte

Die Vorgeschichte

Raben

Prolog

Der Drachenberg

Gedichte

Kapitel 1

Eine einsame Straße

Kapitel 2

Fremde

Kapitel 3

Der fahrende Händler

Kapitel 4

Der Gaukler

Kapitel 5

Winternacht

Kapitel 6

Der Westwald

Kapitel 7

Aus dem Wald hinaus

Kapitel 8

Eine sichere Zuflucht

Kapitel 9

Was das Rad sagt …

Kapitel 10

Abschied

Kapitel 11

Die Straße nach Taren-Fähre

Kapitel 12

Über den Taren

Kapitel 13

Entscheidungen

Kapitel 14

Zum Hirsch und Löwen

Kapitel 15

Fremde und Freunde

Kapitel 16

Die Dorfheilerin

Kapitel 17

Beobachter und Jäger

Kapitel 18

Die Straße nach Caemlyn

Kapitel 19

Drohende Schatten

Kapitel 20

Wie Staub im Wind

Kapitel 21

Lausche dem Wind

Kapitel 22

Der eingeschlagene Weg

Kapitel 23

Wolfsbruder

Kapitel 24

Flucht auf dem Arinelle

Kapitel 25

Das fahrende Volk

Kapitel 26

Weißbrücke

Kapitel 27

Zuflucht vor dem Sturm

Kapitel 28

Fußspuren in der Luft

Kapitel 29

Gnadenlose Augen

Kapitel 30

Kinder des Schattens

Kapitel 31

Verdiene dir dein Essen!

Kapitel 32

Vier Könige unter dem Schatten

Kapitel 33

Die Dunkelheit wartet

Kapitel 34

Das letzte Dorf

Kapitel 35

Caemlyn

Kapitel 36

Das Muster wird gewebt

Kapitel 37

Die lange Hatz

Kapitel 38

Rettung

Kapitel 39

Das Gewebe formt sich

Kapitel 40

Das Gewebe festigt sich

Kapitel 41

Alte Freunde und neue Bedrohungen

Kapitel 42

Erinnerungen an Träume

Kapitel 43

Entscheidungen und Erscheinungen

Kapitel 44

Dunkelheit über den Kurzen Wegen

Kapitel 45

Was im Schatten folgt

Kapitel 46

Fal Dara

Kapitel 47

Noch mehr darüber, was das Rad schon webte

Kapitel 48

Die große Fäule

Kapitel 49

Der Dunkle König rührt sich

Kapitel 50

Zusammentreffen am Auge

Kapitel 51

Gegen den Schatten

Kapitel 52

Es gibt weder Anfang noch Ende

Kapitel 53

Das Rad dreht sich

Glossar

Die Vorgeschichte

Raben

Ein gutes Stück von Emondsfelde entfernt, auf halbem Weg zum Wasserwald, lag das von Bäumen gesäumte Ufer der Weinquelle. Es waren hauptsächlich Weiden, deren dicht mit Blättern bewachsene Äste in Ufernähe Schatten spendeten. Der Sommer war nicht mehr fern, die Sonne stieg dem Zenit entgegen, doch hier in den Schatten kühlte eine leichte Brise den Schweiß auf Egwenes Haut. Sie verknotete den braunen Wollrock oberhalb der Knie und watete ein Stück in den Fluss hinein, um ihren Holzeimer zu füllen. Die Jungen gingen einfach so ins Wasser, ihnen war egal, ob ihre eng sitzenden Hosen nass wurden. Einige der Mädchen und Jungen, die Eimer füllten, lachten und spritzten einander mit den Schöpfkellen voll, aber Egwene hatte beschlossen, das Gefühl der Strömung an ihren nackten Beinen zu genießen, und ihre Zehen gruben sich in den sandigen Grund, als sie wieder herausstieg. Sie war nicht zum Spielen hier. Mit neun Jahren trug sie das erste Mal Wasser, aber sie würde die beste Wasserträgerin aller Zeiten sein.

Sie blieb am Ufer stehen und stellte den Eimer ab, um den Rock zu lösen und bis zu den Knöcheln fallen zu lassen. Und um das dunkelgrüne Halstuch neu zu binden, das ihr Haar im Nacken zusammenhielt. Sie wünschte sich, sie hätte es an den Schultern abschneiden dürfen, oder sogar noch kürzer, so wie die Jungen. Schließlich würde sie noch viele Jahre kein langes Haar brauchen. Warum nur musste man etwas tun, nur weil es immer schon so gemacht wurde? Aber sie kannte ihre Mutter, und sie wusste, dass ihr Haar lang bleiben würde.

Etwa hundert Schritte flussabwärts standen Männer knietief im Wasser und wuschen die schwarzgesichtigen Schafe, die man später scheren würde. Sie gaben sich große Mühe, die blökenden Tiere sicher in den Fluss und auch wieder hinaus zu bekommen. Das Wasser der Weinquelle floss hier nicht so schnell wie in Emondsfelde, aber es war auch nicht gerade langsam. Ein Schaf, das den Halt verlor, konnte unter Umständen ertrinken, bevor es sich am Ufer in Sicherheit bringen konnte.

Ein großer Rabe flog über den Fluss und ließ sich nahe der Stelle, an der die Männer die Schafe wuschen, hoch oben im Geäst einer Pappel nieder. Schon im nächsten Augenblick schoss ein Rotbauch auf den Raben herab, ein blutroter Blitz, der laut schnatterte. Der Rotbauch musste in der Nähe ein Nest haben. Der Rabe flog jedoch nicht davon und griff den kleineren Vogel auch nicht an; er schob sich auf dem Ast nach vorn zu einer Stelle, an der ihm ein paar kleinere Äste ein wenig Schutz boten. Er schaute auf die arbeitenden Männer herunter.

Raben schreckten die Schafe manchmal auf, aber es war mehr als ungewöhnlich, dass er die Versuche des Rotbauchs, ihn zu verjagen, einfach ignorierte. Darüber hinaus hatte Egwene das seltsame Gefühl, dass der schwarze Vogel die Männer beobachtete und nicht die Schafe. Was natürlich albern war, es sei denn … Manche Leute behaupteten, Raben und Krähen seien die Augen des Dunklen Königs. Dieser Gedanke verursachte ihr auf den Armen und sogar auf dem Rücken eine Gänsehaut. Es war eine alberne Idee. Was sollte es für den Dunklen König bei den Zwei Flüssen schon Interessantes zu sehen geben? Bei den Zwei Flüssen geschah nie etwas.

»Was ist los, Egwene?«, wollte Kenley Ahan wissen und blieb neben ihr stehen. »Du kannst heute nicht mit den Kindern spielen.« Er war zwei Jahre älter als sie und hielt sich sehr aufrecht, um größer zu erscheinen, als er tatsächlich war. Für ihn war es das letzte Jahr, in dem er bei der Schafschur Wasser tragen musste, und er benahm sich, als würde ihm das irgendeine Art von Autorität verleihen.

Sie warf ihm einen energischen Blick zu, aber er hatte nicht die erhoffte Wirkung.

Er runzelte die Stirn. »Wenn dir schlecht wird, geh zur Dorfheilerin. Wenn nicht … nun, dann kümmere dich um deine Arbeit.« Als hätte er ein Problem gelöst, eilte er nach einem schnellen Nicken los und gab sich große Mühe, dass auch alle sehen konnten, wie er den Eimer mit einer Hand ein Stück weit von seinem Körper hielt. Das wird er nicht lange durchhalten, wenn er erst einmal außerhalb meiner Sicht ist, dachte Egwene mürrisch. Was diesen Blick betraf, da würde sie noch dran arbeiten müssen. Sie hatte gesehen, wie er bei älteren Mädchen funktionierte.

Der Schöpflöffel verrutschte auf dem Eimerrand, als sie ihn mit beiden Händen anhob. Der Eimer war schwer, und sie war nicht besonders groß für ihr Alter, aber sie folgte Kenley so schnell, wie sie konnte. Nicht wegen seinen Worten, das bestimmt nicht. Sie hatte ihre Arbeit zu erledigen, und sie würde die beste Wasserträgerin aller Zeiten sein. Auf ihrer Miene zeigte sich Entschlossenheit. Die vermoderten Reste der Blätter des Vorjahres raschelten unter ihren Füßen, als sie durch den Schatten der Uferbäume hinaus ins Sonnenlicht trat. Die Hitze war nicht besonders schlimm, aber ein paar kleine weiße Wolken hoch am Himmel schienen die Helle des Morgens zu unterstreichen.

Witwe Aynals Wiese – sie hieß seit Menschengedenken so, obwohl niemand zu sagen vermochte, nach welcher Witwe der Aynals sie benannt worden war –, eine von Bäumen umringte Wiese, war den größten Teil des Jahres ein beschauliches Plätzchen, aber jetzt drängten sich hier Menschen und Schafe, und zwar viel mehr Schafe als Menschen. An einigen Stellen ragten große Steine aus dem Boden, ein paar erreichten fast Mannshöhe, aber sie behinderten die Aktivitäten auf der Wiese keineswegs. Bauern aus der ganzen Umgebung von Emondsfelde kamen aus diesem Anlass zusammen, und Leute aus dem Dorf waren da, um ihren Verwandten zu helfen. Im Dorf hatte jeder Verwandte auf den Bauernhöfen. Überall bei den Zwei Flüssen würde jetzt die Schafschur stattfinden, von Devenritt bis hinauf nach Wachhügel. Nicht in Taren-Fähre, da natürlich nicht. Viele der Frauen trugen lose über die Arme drapierte Schultertücher und Blumen im Haar; einige der älteren Mädchen folgten ihrem Beispiel, auch wenn sie das Haar im Gegensatz zu den Frauen nicht zu einem langen Zopf geflochten trugen. Ein paar von ihnen trugen sogar Kleider mit Stickereien am Hals, als würde es sich tatsächlich um einen Festtag handeln. Die meisten Männer und Jungen hingegen gingen ohne Mantel, einige trugen die Hemden sogar unverschnürt. Egwene konnte nicht verstehen, warum man ihnen das erlaubte. Die Arbeit der Frauen war keinesfalls weniger schweißtreibend als die der Männer.

Die geschorenen Schafe waren in großen Holzpferchen am anderen Ende der Wiese untergebracht, in anderen warteten jene, die noch gewaschen werden mussten. Sie wurden von Jungen bewacht, die zwölf Jahre und älter waren. Die Schafhunde, die um die Pferche herum am Boden lagen, waren für diese Arbeit nicht zu gebrauchen. Die älteren Jungen trieben die Schafe mit Holzstäben zum Fluss, danach hielten sie die Tiere davon ab, sich auf den Boden zu legen und wieder schmutzig zu machen, bis sie trocken genug waren, zu den Männern an diesem Ende der Wiese gebracht zu werden, die das Scheren besorgten. Danach trieben die Jungen die Schafe zurück zu den Pferchen, während die Männer das Vlies zu den langen Tischen trugen, an denen die Frauen die Wolle sortierten und zu Ballen zusammenpackten. Sie führten Buch und mussten sorgfältig darauf achten, die Wolle verschiedener Besitzer nicht durcheinander zu bringen. Vor den Bäumen zu Egwenes Linken bereiteten andere Frauen auf langen aufgebockten Tischplatten das Mittagessen vor. Wenn sie beim Wasserreichen gut genug war, würden sie ihr vielleicht schon im nächsten Jahr erlauben, beim Essen oder bei der Wolle zu helfen, statt erst in zwei Jahren. Wenn sie die beste Leistung erbrachte, würde sie niemand je wieder als Kind bezeichnen.

Sie suchte sich einen Weg durch die Menge, trug den Eimer manchmal mit beiden Händen, wechselte ihn auch von der einen in die andere und blieb stehen, wenn jemand nach einer Kelle Wasser verlangte. Bald fing sie wieder an zu schwitzen, und dunkle Flecken zeichneten sich auf ihrem Wollkleid ab. Vielleicht waren die Jungen mit ihren offenen Hemden doch nicht so dumm. Sie ignorierte die kleineren Kinder, die umherliefen und Reifen drehten oder Bälle warfen oder Fangen spielten.

Jedes Jahr gab es nur fünf Anlässe, an denen so viele zusammenkamen: zu Bel Tine, das bereits hinter ihnen lag; zur Schafschur; wenn die Kaufleute kamen, um Wolle einzukaufen, was erst in einem Monat bevorstand; nach dem Sonnentag, wenn die Kaufleute für den getrockneten Tabak kamen; und im Herbst beim Narrenfest. Natürlich gab es noch andere Festtage, aber keinen, an denen alle zusammenkamen. Ihre Blicke schweiften umher und musterten die Menge. Bei all diesen Menschen war es schnell passiert, dass sie einer ihrer vier Schwestern über den Weg lief. Nach Möglichkeit ging sie ihnen aus dem Weg. Berowyn, die Älteste, war die Schlimmste. Knochenbruchfieber hatte sie vergangenen Herbst zur Witwe gemacht und im Frühling nach Hause zurückkehren lassen. Es fiel schwer, für Berowyn kein Mitleid zu empfinden, aber sie machte um alles so viel Aufhebens und wollte Egwene anziehen und ihr das Haar kämen. Manchmal weinte sie und erklärte ihr, wie froh sie doch war, dass das Fieber nicht auch ihre kleine Schwester dahingerafft hatte. Es wäre Egwene viel leichter gefallen, Verständnis für Berowyn aufzubringen, hätte sie den Gedanken verdrängen können, dass ihre Schwester sie manchmal als das Baby betrachtete, das sie zusammen mit ihrem Mann verloren hatte. Vielleicht sogar immer. Und so hielt sie Ausschau nach Berowyn. Oder einer der anderen drei. Das war alles.

In der Nähe der Schafpferche blieb sie stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Der Eimer war jetzt leichter, und es bereitete keine Mühe mehr, ihn mit einer Hand zu halten. Verstohlen betrachtete sie einen Hund, der auf sie zutrottete, ein großes Tier mit kurzhaarigem, lockigem, grauem Fell und intelligenten Augen, die zu wissen schienen, dass sie keine Bedrohung für die Schafe darstellte. Aber er war sehr groß und reichte einem erwachsenen Mann fast bis zur Hüfte. In der Hauptsache halfen die Hunde, die weidenden Herden zu bewachen; sie beschützten sie vor Wölfen und Bären und den großen Bergkatzen. Egwene wich langsam vor dem Hund zurück. Drei Jungen gingen an ihr vorbei und trieben ein paar Dutzend Schafe dem Fluss entgegen. Sie waren alle fünf oder sechs Jahre älter und hatten kaum einen Blick für sie übrig; ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die Schafe gerichtet. Das Treiben war nicht schwer – das hätte sie auch gekonnt, davon war sie überzeugt –, aber sie mussten darauf achten, dass keines der Schafe Gelegenheit zum Grasen erhielt. Ein Schaf, das vor dem Scheren fraß, konnte Luftnot bekommen und sterben. Ein schneller Blick in die Runde verriet ihr, dass sie mit keinem der Jungen in der Nähe sprechen wollte. Nicht, dass sie nach einem bestimmten Jungen Ausschau gehalten hätte. Sie sah sich lediglich um. Davon abgesehen würde sie den Eimer bald wieder auffüllen müssen. Es war Zeit, den Rückweg zur Weinquelle anzutreten.

Diesmal entschied sie sich, an den aufgebockten Tischen vorbeizugehen. Die Gerüche waren verführerisch, so gut wie an jedem Feiertag, von gebratener Gans bis zu Honigkuchen war alles vorhanden. Das würzige Aroma der Honigkuchen stieg ihr noch verlockender in die Nase als alles andere. Jede Frau, die gekocht hatte, würde ihr Bestes für die Schafschur gegeben haben. Während Egwene an den Tischen vorbeiging, bot sie jeder der Frauen, die das Essen vorbereiteten, Wasser an, aber die lächelten sie nur an und schüttelten den Kopf. Sie machte jedoch weiter, und das nicht nur wegen der Gerüche. Zwar brodelte hinter den Tischen Teewasser über Kochfeuern, trotzdem hatten einige der Frauen ja vielleicht Lust auf einen Schluck kühles Flusswasser. Nun ja, mittlerweile war es vielleicht nicht mehr ganz so kühl, aber …

Ein Stück voraus schlich Kenley an den Tischen vorbei und versuchte dabei nicht länger, sich größer zu machen, als er war. Er schien sich höchstens noch kleiner zu machen. Er trug den Eimer noch immer mit einer Hand, aber der Art und Weise nach zu urteilen, wie er herumbaumelte, musste er leer sein, also konnte Kenley unmöglich noch Trinkwasser anbieten. Egwene runzelte die Stirn. Es gab nur ein Wort, das auf ihn passte: Verstohlen. Was hatte er bloß …? Plötzlich schoss seine Hand vor und schnappte sich vom Tisch einen Honigkuchen. Egwene blieb der Mund offen stehen. Und er hatte den Nerv, sie als Kind zu bezeichnen? Er war genauso schlimm wie Ewin Finngar!

Bevor Kenley einen Schritt machen konnte, war Frau Ayellin über ihm wie ein zuschlagender Jagdfalke; mit der einen Hand ergriff sie sein Ohr und mit der anderen den Honigkuchen. Es waren ihre Honigkuchen. Corin Ayellin, eine schlanke Frau mit einem dicken grauen Zopf, buk die besten Kuchen von ganz Emondsfelde. Mit Ausnahme von Mutter, fügte Egwene in Gedanken hinzu. Aber sogar ihre Mutter behauptete, dass Frau Ayellin besser war. Jedenfalls, was Kuchen anging. Frau Ayellin verteilte knusprige Plätzchen und Kuchenstücke mit freigebiger Hand, vorausgesetzt, es war nicht gleich Essenszeit oder eine Mutter hatte sie gebeten, es nicht zu tun, aber sie konnte fuchsteufelswild werden, wenn Jungen versuchten, hinter ihrem Rücken etwas zu stibitzen. Sie nannte es Stehlen, und Stehlen konnte Frau Ayellin nicht ertragen. Sie hielt Kenley noch immer am Ohr gepackt, fuchtelte mit dem Finger vor seiner Nase herum und sprach leise und eindringlich auf ihn ein. Kenleys Gesicht war ganz verzerrt, so als würde er gleich losheulen, und er schrumpfte in sich zusammen, bis er noch kleiner als Egwene erschien. Sie nickte zufrieden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so bald wieder versuchen würde, jemandem Befehle erteilen zu wollen.

Sie rückte ein Stück von den Tischen ab, während sie an Frau Ayellin und Kenley vorbeiging, damit niemand auf die Idee kam, sie würde versuchen, Kuchen zu stehlen. Der Gedanke war ihr nie gekommen. Jedenfalls nicht so richtig, also zählte das nicht.

Plötzlich beugte sie sich vor und blickte an den Leuten vorbei, die sie passierten. Ja. Da war Perrin Aybara, ein stämmiger Junge, der für sein Alter sehr groß war. Und er war ein Freund von Rand. Sie schoss durch die Menge, ohne darauf zu achten, ob jemand Wasser haben wollte oder nicht, und blieb nicht eher stehen, bis sie ein paar Schritte von Perrin entfernt war.

Er stand bei seinen Eltern, und seine Mutter hielt Paetram auf dem Arm, das Baby, und die kleine Deselle klammerte sich mit einer Hand an ihren Rockschößen fest. Allerdings schaute sich Perrins kleine Schwester dabei interessiert die vielen Leute und sogar die Schafe an. Adora, seine andere Schwester, stand mit über der Brust verschränkten Armen und einem mürrischen Gesichtsausdruck da, den sie allerdings vor ihrer Mutter zu verbergen versuchte. Adora würde erst nächstes Jahr Wasser tragen müssen, und vermutlich hatte sie es eilig, mit ihren Freundinnen zu spielen. Die letzte Person in der Gruppe war Meister Luhhan. Als der größte Mann von Emondsfelde hatte er Arme wie Baumstämme und eine Brust, die das weiße Hemd spannte, und er ließ Meister Aybara hager statt nur schlank aussehen. Er unterhielt sich mit Meister Aybara und seiner Frau. Das überraschte Egwene. Meister Luhhan war der Schmied von Emondsfelde, aber weder Meister Aybara noch seine Frau würden die ganze Familie mitbringen, um sich nach einer Schmiedearbeit zu erkundigen. Er war auch Mitglied des Dorfrats, aber da galt das Gleiche. Davon abgesehen würde Frau Aybara genauso wenig etwas zu Dorfratsangelegenheiten sagen wie Meister Aybara zu Dingen des Frauenkreises. Egwene mochte erst neun Jahre alt sein, aber so viel wusste sie schon. Worüber auch immer sie sprachen, sie waren damit fast fertig, und das war gut. Es interessierte Egwene nicht, worüber sie sich unterhalten hatten.

»Er ist ein guter Junge, Joslyn«, sagte Meister Luhhan. »Ein guter Junge, Con. Er wird das gut machen.«

Frau Aybara lächelte zufrieden. Joslyn Aybara war eine hübsche Frau, und wenn sie lächelte, wollte man glauben, die Sonne würde besiegt den Kopf hängen lassen. Perrins Vater lachte leise und strich ihm über die lockigen Haare. Perrins Wangen färbten sich blutrot, und er sagte nichts. Aber er war auch schüchtern und sagte sowieso nur selten etwas.

»Lass mich fliegen, Perrin«, sagte Deselle und streckte ihm die Arme entgegen. »Lass mich fliegen.«

Perrin brachte so gerade eben eine höfliche Verbeugung für die Erwachsenen zustande, bevor er die Hände seiner Schwester ergriff. Sie gingen ein paar Schritte von den anderen fort, und Perrin fing an sich zu drehen, und zwar immer schneller, bis Deselles Füße sich schließlich vom Boden hoben. Er wirbelte sie im Kreis umher, immer höher, während sie vor Freude kreischte.

Nach ein paar Minuten sagte Frau Aybara: »Das reicht, Perrin. Lass sie runter, bevor ihr schlecht wird.« Aber sie sagte es auf eine nette Weise und mit einem Lächeln.

Sobald Deselles Füße wieder auf festem Boden standen, klammerte sie sich mit beiden Händen an Perrins Hand fest und schwankte etwas, vielleicht war ihr tatsächlich schon etwas übel. Aber sie lachte noch immer und verlangte von ihm, sie noch länger fliegen zu lassen. Er schüttelte den Kopf und ging in die Hocke, um mit ihr zu sprechen. Er war immer so ernst. Er lachte nicht oft.

Plötzlich wurde sich Egwene bewusst, dass da noch jemand war, der Perrin beobachtete. Cilia Cole, ein Mädchen mit rosigen Wangen, das ein paar Jahre älter als sie war. Sie stand mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht nur ein paar Schritte weit entfernt und himmelte ihn an. Und er musste bloß den Kopf wenden, um sie zu sehen! Egwene verzog angeekelt das Gesicht. Sie würde niemals so dumm sein und wie ein Wollkopf mit großen Augen einen Jungen anstarren. Davon abgesehen war Perrin nicht mal ein Jahr älter als Cilia. Drei oder vier Jahre älter, das war am besten. Egwenes Schwestern mochten keine Zeit haben, sich mit ihr zu unterhalten, aber sie hörte anderen Mädchen zu, die alt genug waren, um Bescheid zu wissen. Perrin warf Egwene und Cilia einen Blick zu und fuhr dann fort, leise mit Deselle zu sprechen. Egwene schüttelte den Kopf. Cilia mochte vielleicht blöd sein, aber sie hätte er zumindest zur Kenntnis nehmen können.

Eine Bewegung auf den Ästen der großen Wassereiche hinter Cilia erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie zuckte zusammen. Dort oben saß der Rabe, und er schien noch immer alles zu beobachten. Und auf der hohen Kiefer saß noch ein Rabe, und auf dem Nebenbaum auch, und auf dem Walnussbaum und … Sie konnte neun oder zehn Raben sehen, und sie alle schienen etwas zu beobachten. Aber das konnte nur ihre Einbildung sein. Nur ihre …

»Warum starrst du ihn an?«

Erschrocken zuckte Egwene zusammen und drehte sich so schnell um, dass sie sich den Eimer gegen das Knie schlug. Gut, dass er fast leer war, sonst hätte sie sich eine Beule geholt. Sie suchte sich einen festen Stand und wünschte, sie hätte sich das Knie reiben können. Adora stand vor ihr und schaute mit verblüffter Miene zu ihr hoch, aber sie konnte unmöglich überraschter sein als Egwene.

»Wen meinst du, Adora?«

»Perrin, natürlich. Warum hast du ihn angestarrt? Alle sagen, dass du Rand al’Thor heiraten wirst. Wenn du älter bist, meine ich, und dein Haar als Zopf trägst.«

»Was soll das heißen, alle sagen das?« Egwene bemühte sich um einen drohenden Tonfall, aber Adora kicherte bloß. Es war zum Verzweifeln. Heute klappte nichts, wie es sollte.

»Perrin sieht natürlich gut aus. Das sagen viele Mädchen, das habe ich gehört. Und viele Mädchen sehen ihn an, so wie du und Cilia gerade.«

Egwene blinzelte und schaffte es, die letzten Worte in Gedanken von sich zu weisen. Sie hatte ihn nicht so wie Cilia angesehen! Aber Perrin, ein gut aussehender Junge? Perrin? Sie blickte über die Schulter, um zu sehen, ob sie an ihm etwas Gutaussehendes entdecken konnte. Er war weg! Sein Vater stand noch da, seine Mutter und Paetram und Deselle auch, aber Perrin war nirgendwo in Sicht. Verflixt! Sie hatte ihm folgen wollen.

»Fühlst du dich ohne deine Puppen nicht einsam, Adora?«, sagte sie zuckersüß. »Ich glaube nicht, dass du das Haus jemals ohne mindestens zwei Stück im Arm verlässt.«

Adoras wütender Blick war ziemlich befriedigend.

»Entschuldigung«, sagte Egwene und schob sich an ihr vorbei. »Einige von uns sind alt genug, um Pflichten zu haben.« Sie schaffte es, auf dem Weg zum Fluss nicht zu humpeln.

Diesmal blieb sie nicht stehen, um den Männern bei der Schafwäsche zuzusehen, und sie bemühte sich, nicht nach einem Raben Ausschau zu halten. Sie untersuchte ihr Knie, aber es war nicht mal ein blauer Fleck da. Als sie den gefüllten Eimer zurück zur Wiese schleppte, weigerte sie sich zu humpeln. Es war nur ein kleiner Zusammenstoß gewesen.

Sie hielt vorsichtshalber nach ihren Schwestern Ausschau und blieb nur dann mit ihrem Eimer stehen, wenn jemand eine Kelle voll trinken wollte. Und sie sah sich nach Perrin um. Mat wäre genauso gut wie Perrin gewesen, aber ihn konnte sie ebenfalls nicht entdecken. Verflixte Adora! Sie hatte kein Recht, solche Dinge zu behaupten!

Als Egwene zwischen den Tischen vorbeiging, auf denen die Frauen die Wolle sortierten, blieb sie wie angewurzelt stehen. Da war ihre jüngste Schwester. Sie hoffte, dass Loise in die andere Richtung sah, nur einen Augenblick lang. Das hatte sie nun davon, dass sie außer nach ihren Schwestern auch nach Perrin und Mat Ausschau hielt. Loise war erst fünfzehn, aber sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und trug eine wütende Miene zur Schau, während sie sich mit Dag Coplin stritt. Egwene konnte sich nie dazu überwinden, ihn auch im Geiste Meister Coplin zu nennen; das tat sie nur, wenn sie ihn erwähnte, um höflich zu sein; ihre Mutter hatte gesagt, dass man selbst zu jemandem wie Dag Coplin höflich sein musste.

Dag war ein faltiger alter Mann mit grauem Haar, das er nicht oft wusch. Vielleicht auch gar nicht. Der Anhänger, der an einem Faden vom Tisch hing, trug ein Zeichen, das mit den Ohrmarkierungen seiner Schafe übereinstimmte. »Das ist gute Wolle, die du da zur Seite legst«, knurrte er Loise an. »Ich lasse mich nicht betrügen, Mädchen. Tritt zur Seite, und ich zeige dir, was wohin gehört.«

Loise rührte sich keinen Fingerbreit. »Wolle vom Bauch, den Hinterbeinen und den Schwänzen muss noch einmal gewaschen werden, Meister Coplin.« Sie betonte das ›Meister‹. Sie war in schnippischer Stimmung. »Ihr wisst so gut wie ich, sollten die Händler zweimal gewaschene Wolle in einem Ballen finden, jeder weniger für seine Schur bekommt. Vielleicht kann Euch das mein Vater ja besser erklären, als ich es kann.«

Dag zog das Kinn ein und murmelte etwas Unhörbares. Er wusste es besser, als es bei Egwenes Vater versuchen zu wollen.

»Ich bin sicher, meine Mutter könnte es so erklären, dass Ihr es versteht«, fuhr Loise gnadenlos fort.

Dags Wangen zuckten, und er setzte ein kriecherisches Grinsen auf. Er murmelte etwas in der Art, dass er Loise vertraute, wich zurück und eilte dann los, fing beinahe schon an zu laufen. Er war nicht so dumm, die Aufmerksamkeit des Frauenkreises zu erregen, wenn er es vermeiden konnte. Loise sah ihm mit einem zufriedenen Blick hinterher.

Egwene nutzte die Gelegenheit, um zu verschwinden, und atmete erleichtert auf, als Loise nicht hinter ihr herrief. Loise sortierte lieber Wolle, statt beim Kochen zu helfen, aber viel lieber wäre sie auf Bäume geklettert oder im Wasserwald geschwommen, und es war ihr egal, dass die meisten Mädchen ihres Alters derartige Aktivitäten bereits aufgegeben hatten. Und sie hätte ihre Arbeit an Egwene abgewälzt, falls sich dazu eine Gelegenheit geboten hätte. Egwene wäre gern mit ihr schwimmen gegangen, aber Loise betrachtete ihre Gesellschaft als Ärgernis, und sie war zu stolz zum Betteln. Sie runzelte die Stirn. Alle ihre Schwestern behandelten sie wie ein kleines Kind. Selbst Alene, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nahm. Alene hatte die meiste Zeit ihre Nase in einem Buch stecken und las sich durch die Bibliothek ihres Vaters, um dann wieder von vorn anzufangen. Er besaß fast vierzig Bücher! Egwenes Lieblingsbuch war Die Reisen von Jain Weitläufer. Sie träumte davon, all die seltsamen Länder zu sehen, von denen er geschrieben hatte. Aber wenn sie ein Buch las und Alene es haben wollte, behauptete sie immer, es sei zu ›kompliziert‹ für Egwene, und nahm es ihr einfach weg! Alle vier waren einfach furchtbar!

Einige der Wasserträger machten Pause im Schatten oder erzählten sich Witze, aber sie ging weiter, obwohl ihre Arme schmerzten. Egwene al’Vere würde nicht schlapp machen. Und sie hielt weiterhin Ausschau nach ihren Schwestern. Und nach Perrin. Und Mat. Verflixte Adora! Ach was, sie alle waren furchtbar!

Sie ging langsamer, als sie sich der Dorfheilerin näherte. Doral Barran war die älteste Frau von Emondsfelde, vielleicht sogar von den Zwei Flüssen, mit weißem Haar und gebrechlich, aber ihr Blick war noch immer scharf, und sie ging kein bisschen gebückt. Die Schülerin der Dorfheilerin, Nynaeve, kehrte Egwene auf den Knien den Rücken zu und kümmerte sich um Bili Congar; sie legte an seinem Bein einen Verband an. Seine Hosenbeine waren abgeschnitten. Bili, der auf einem Baumstumpf saß, war noch ein Erwachsener, bei dem es Egwene schwer fiel, ihm den nötigen Respekt zu erweisen. Er tat ständig dumme Sachen und verletzte sich dabei. Er war im gleichen Alter wie Meister Luhhan, sah aber mindestens zehn Jahre älter aus; seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

»Ihr habt in der Vergangenheit oft genug den Narren gespielt, Bili Congar«, sagte Frau Barran streng, »aber bei der Arbeit mit einer Wollschere zu trinken ist schlimmer, als den Narren zu spielen.« Merkwürdigerweise blickte sie nicht auf ihn herunter, sondern auf Nynaeve.

»Ich hatte doch bloß einen Schluck Ale, Dorfheilerin«, winselte er. »Wegen der Hitze. Nur einen Schluck.«

Die Dorfheilerin schnaubte ungläubig, schaute Nynaeve aber weiterhin wie ein Falke zu. Das war überraschend. Frau Barran lobte Nynaeve oft öffentlich dafür, dass sie so gelehrig war. Sie hatte Nynaeve drei Jahre zuvor in die Lehre genommen, nachdem ihre damalige Schülerin an einer Krankheit gestorben war, die nicht einmal sie hatte heilen können. Nynaeve war kurz zuvor zur Waise geworden, und viele Leute waren der Meinung, die Dorfheilerin hätte sie nach dem Tod ihrer Mutter zu ihren Verwandten im Landesinneren schicken und eine Ältere zur Schülerin machen sollen. Egwenes Mutter sagte das nicht, aber Egwene wusste, dass sie genauso dachte.

Als Nynaeve mit dem Verband fertig war, richtete sie sich auf und nickte zufrieden. Und zu Egwenes Überraschung kniete Frau Barran nieder und wickelte ihn wieder ab, hob sogar den Brotumschlag, um sich den Riss in Bilis Oberschenkel anzusehen, bevor sie den Lappen erneut um sein Bein band. Sie sah tatsächlich … enttäuscht aus. Aber warum? Nynaeve fing an, mit ihrem Zopf herumzuspielen, an ihm zu ziehen, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war oder Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken wollte, dass sie jetzt eine erwachsene Frau war.

Wann wird sie damit wohl endlich aufhören?, dachte Egwene. Der Frauenkreis hatte Nynaeve vor fast einem Jahr erlaubt, ihr Haar zu flechten.

Eine flatternde Bewegung in der Luft erregte Egwenes Aufmerksamkeit, und sie starrte hin. In den Bäumen um die Wiese hockten jetzt noch mehr Raben. Dutzende von ihnen, und sie alle beobachteten. Sie wusste, dass sie das taten. Nicht einer von ihnen unternahm den Versuch, etwas von den Tischen mit den Speisen zu stehlen. Das war einfach unnatürlich. Wenn man es genau betrachtete, würdigten die Vögel die Tische mit keinem Blick. Auch nicht die Tische, an denen die Frauen mit der Wolle arbeiteten. Sie beobachteten die Jungen, die die Schafe trieben. Und die Männer, die die Schafe schoren und die Wolle wegbrachten. Und auch die Jungen, die Wasser trugen. Keines der Mädchen und auch keine der Frauen, nur die Männer und Jungen. Darauf wäre Egwene jede Wette eingegangen, auch wenn ihre Mutter sagte, dass sie nicht wetten sollte. Sie öffnete den Mund, um die Dorfheilerin zu fragen, was das zu bedeuten hatte.

»Hast du nichts zu tun, Egwene?«, sagte Nynaeve, ohne sich umzudrehen.

Ohne es zu wollen, zuckte Egwene zusammen. Das tat Nynaeve schon seit dem vergangenen Herbst; sie wusste, dass Egwene da war, ohne hinsehen zu müssen. Egwene wünschte, sie würde damit aufhören.

Nynaeve wandte jetzt den Kopf und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Es war ein energischer Blick von der Art, die Egwene bei Kenley ausprobiert hatte. Sie musste für Nynaeve nicht springen, nicht, wie sie es für die Dorfheilerin getan hätte. Nynaeve wollte sich bloß dafür schadlos halten, dass Frau Barran ihre Arbeit angezweifelt hatte. Egwene zog kurz in Erwägung, ihr zu sagen, dass Frau Ayellin sie wegen eines Kuchens sprechen wollte. Aber ein Blick in Nynaeves Gesicht ließ sie zu dem Schluss kommen, dass das vermutlich keine gute Idee war. Davon abgesehen hatte sie sowieso genau das getan, was sie unbedingt hatte vermeiden wollen, sie hatte faul herumgestanden und Nynaeve und der Dorfheilerin zugesehen. Sie machte einen Knicks, so gut das mit dem Eimer in der Hand ging – in die Richtung der Dorfheilerin, nicht Nynaeves – und wandte sich ab. Dabei humpelte sie nicht, und das nicht, weil Nynaeve sie ansah. Mit Sicherheit nicht. Und sie beeilte sich auch nicht. Sie ging bloß wieder an die Arbeit.

Aber sie ging immerhin so schnell, dass sie, bevor es ihr bewusst wurde, wieder zu den Tischen kam, an denen die Frauen die Wolle bearbeiteten. Und zwar Angesicht zu Angesicht mit ihrer Schwester Elisa. Sie faltete das Vlies für die Ballen zusammen, und sie machte es schlecht. Elisa schien abgelenkt, nahm ihre Schwester nicht mal richtig wahr, und Egwene kannte den Grund dafür. Elisa war achtzehn, aber ihr taillenlanges Haar war noch immer mit einem blauen Tuch zusammengebunden. Nicht, dass sie ans Heiraten gedacht hätte – die meisten Mädchen warteten mindestens ein paar Jahre –, aber sie war ein Jahr älter als Nynaeve. Elisa sorgte sich oft laut, warum der Frauenkreis sie noch immer für zu jung hielt. Es fiel schwer, kein Mitleid für sie zu haben. Vor allem, weil Egwene jetzt schon seit Wochen über Elisas schwierige Situation nachdachte. Nun, nicht genau über ihr Problem, aber die Sache hatte sie nachdenklich gemacht.

Neben der Tischreihe unterhielt sich Calle Coplin mit ein paar jungen Männern von den Bauernhöfen, kicherte und fummelte an ihren Röcken herum. Sie war immer damit beschäftigt, mit irgendeinem Mann zu sprechen, dabei sollte sie eigentlich Vlies falten. Aber das war nicht der Grund, weswegen sie Egwenes Aufmerksamkeit erregte.

»Elisa, du solltest dir nicht so viele Sorgen machen«, sagte sie leise. »Gut, dann haben Berowyn und Alene eben mit sechzehn den Zopf geflochten bekommen …« So wie die meisten Mädchen, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie verspürte nicht nur Mitgefühl. Elisa hatte die Angewohnheit, mit Sprichwörtern um sich zu werfen. »Eine verschwendete Stunde kommt nicht wieder« oder »Ein Lächeln macht die Arbeit leichter«. Und zwar so lange, bis einem die Zähne schmerzten. Egwene wusste genau, dass ein Lächeln ihren Eimer nicht mal eine Schöpfkelle leichter machen würde. »… aber Calle ist zwanzig, und ihr Namenstag ist in wenigen Monaten. Ihre Haare sind nicht geflochten, und sieht sie etwa mürrisch aus?«

Elisa arbeitete noch immer an dem Vlies, das auf dem Tisch vor ihr lag. Aus irgendeinem Grund hielten sich die anderen Frauen die Hände vor den Mund und versuchten, ihre Heiterkeit zu verbergen. Und aus irgendeinem Grund verfärbte sich Elisas Gesicht rot. Sogar puterrot.

»Kinder sollten nicht …«, stotterte sie. Ihr Gesicht glühte vielleicht wie die Sonne, aber trotz des Stotterns war ihre Stimme so kalt wie Winterschnee. »Ein Kind, das spricht, wenn … Kinder, die …« Jillie Lewin, die ein Jahr jünger als Elisa war und deren schwarzes Haar in einem dicken Zopf bis unterhalb der Taille hing, sank auf die Knie, weil sie so angestrengt in ihre Hand prustete. »Verschwinde, Kind!«, fauchte Elisa. »Die Erwachsenen wollen hier arbeiten!«

Egwene wandte sich mit indigniertem Blick ab und ging von den Ballentischen fort, und der Eimer schlug bei jedem Schritt gegen ihr Bein. Da versuchte man, jemandem zu helfen, ihm Mut zu machen, und was war der Dank? Ich hätte ihr sagen sollen, dass sie keine Erwachsene ist, dachte sie wütend. Nicht, bis der Frauenkreis ihr erlaubt, sich das Haar zu flechten. Das hätte ich erwidern sollen.

Der Zorn blieb ihr erhalten, bis der Eimer wieder leer war, und als sie ihn erneut füllte, nahm sie entschlossen die Schultern zurück. Wenn man etwas tun wollte, dann musste man es eben einfach auch tun. So schnell sie konnte, ging sie direkt zu den Schafpferchen und ignorierte jeden, der einen Schluck Wasser haben wollte. Das war kein Müßiggang. Die Jungen würden auch Wasser brauchen.

Die etwa ein Dutzend Jungen, die an den Pferchen darauf warteten, die Schafe zu treiben, schenkten ihr überraschte Blicke, als sie die Kelle anbot, und einige meinten, sie könnten doch etwas trinken, wenn sie am Fluss waren, aber sie machte weiter. Und sie stellte immer dieselbe Frage. »Habt ihr Perrin gesehen? Oder Mat? Wo kann ich sie finden?«

Ein paar erzählten ihr, Perrin und Mat würden Schafe zum Fluss bringen, andere wiederum hatten sie gesehen, wie sie bereits geschorene Schafe hüteten, aber sie hatte nicht vor loszustürmen, nur um sie dann doch nicht mehr anzutreffen. Schließlich musterte ein Junge mit großen Augen namens Wil al’Sleen von einem der Höfe südlich von Emondsfelde sie misstrauisch und sagte: »Was willst du von ihnen?« Manche Mädchen waren der Meinung, dass Wil gut aussah, aber Egwene fand, das seine Ohren komisch aussahen.

Sie wollte ihm einen energischen Blick zuwerfen, überlegte es sich dann aber anders. »Ich … ich muss sie etwas fragen«, sagte sie. Es war nur eine kleine Lüge. Sie hoffte wirklich, dass einer von ihnen ihr half, die richtigen Antworten auf ein paar Fragen zu finden. Er schwieg lange Zeit und musterte sie, und sie wartete. Geduld zahlt sich immer aus, pflegte Elisa oft zu sagen. Zu oft. Sie wünschte sich, Elisas Sprichwörter vergessen zu können. Sie versuchte, es zu vergessen. Aber Wil vor das Schienbein zu treten würde ihr nicht weiterhelfen. Selbst wenn er es verdiente.

»Sie sind hinter dem Pferch«, sagte er schließlich und deutete ruckartig mit dem Kopf auf die Ostseite der Wiese. »Der mit den Schafen, die Paet al’Caars Ohrenzeichen tragen.« Die Jungen, die die Schafe trieben, mussten so reden, selbst wenn es sich nicht gehörte, auf die richtige Anrede zu verzichten, aber sonst würde keiner wissen, ob sie Paet al’Caars oder Jac al’Caars oder die Schafe von dem Dutzend anderer al’Caars meinten. »Sie machen gerade Pause. Bring sie nicht in Schwierigkeiten, indem du jemand etwas anderes sagst.«

»Danke, Wil«, sagte sie, nur um zeigen, dass sie selbst zu einem Wollkopf höflich sein konnte. Als würde sie rumgehen und klatschen! Er sah verblüfft aus, und sie überlegte, ihn trotzdem vors Schienbein zu treten.

Der große Pferch mit Paet al’Caars geschorenen Schafen befand sich fast an den Bäumen der Wasserwald-Seite der Wiese. Meister al’Caars große schwarze Schafhündin, die vor dem Pferch lag, hob den Kopf, als Egwene herankam, und beobachtete sie einen Moment lang, bevor sie ihn wieder hinlegte. Egwene warf der Hündin einen argwöhnischen Blick zu. Sie hatte nicht viel für Hunde übrig, was aber wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber sobald sie nahe genug heran war, um alles sehen zu können, dachte sie nicht länger an die Hündin. Die Balken des Pferchs boten wenig Schutz, und sie konnte dahinter eine Gruppe von Jungen sehen. Aber sie konnte nicht genau erkennen, wer es war.

Sie setzte den Eimer vorsichtig ab und ging an dem Schafpferch vorbei. Sie schlich sich nicht an. Sie wollte nur nicht so viel Lärm machen, für den Fall, dass … dass ihre Schritte die Schafe aufschreckten; das war es. Sie blieb am Ende stehen und spähte um den Eckpfosten herum.

Perrin war da, und Mat Cauthon, genau wie Wil gesagt hatte, und noch ein paar andere Jungen im gleichen Alter, alle mit offenem Hemd und verschwitzt. Da waren Dav Ayellin und Lem Thane, Ban Crawe und Elam Dowtry. Und Rand, ein dürrer Junge, fast so groß wie Perrin, mit Händen und Füßen, die zu groß für seine Statur waren. Er war immer bei Mat oder Perrin zu finden, es war nur eine Frage der Zeit. Rand, von dem jeder behauptete, sie würde ihn eines Tages heiraten. Sie unterhielten sich und lachten und boxten einander gegen die Schultern. Warum taten Jungen das bloß?

Mit finsterem Blick wich sie von dem Eckpfosten zurück und lehnte sich gegen die Latten. Eines der Schafe im Pferch schnüffelte an ihrem Rücken, aber sie ignorierte es. Sie hatte Frauen über sie und Rand reden gehört, aber sie hatte nicht gewusst, dass alle das sagten. Verflixte Elisa! Hätte Elisa nicht angefangen, wegen ihrem Haar zu jammern und zu stöhnen, hätte Egwene niemals angefangen, über Ehemänner nachzudenken. Sie würde sicher eines Tages heiraten – das taten die meisten Frauen von den Zwei Flüssen –, aber sie war nicht wie diese albernen Gänse, die nur darüber redeten, dass sie es kaum erwarten konnten. Die meisten Frauen warteten wenigstens ein paar Jahre, nachdem ihr Haar zu einem Zopf geflochten war, und sie … sie wollte die Länder sehen, von denen Jain Weitläufer geschrieben hatte. Was würde ein Ehemann wohl davon halten, dass seine Frau in fremde Länder aufbrechen wollte? Soweit sie wusste, verließ niemand jemals die Zwei Flüsse.

Ich werde gehen, schwor sie sich stumm.

Selbst wenn sie heiratete, würde Rand einen guten Ehemann abgeben? Sie war sich nicht sicher, was einen guten Ehemann ausmachte. Jemand wie ihr Vater, der mutig und freundlich und klug war. Sie hielt Rand für freundlich. Er hatte ihr eine Flöte geschnitzt und ein Pferdchen, und er hatte ihr eine Adlerfeder mit schwarzer Spitze geschenkt, als sie gesagt hatte, dass sie sie hübsch fand, obwohl sie noch immer glaubte, dass er sie lieber behalten hätte. Und er bewachte die Schafe seines Vaters auf der Weide, also musste er mutig sein. Der Schafhund würde helfen, falls Wölfe kamen oder ein Bär, aber der Junge, der sie bewachte, musste mit seiner Schleuder oder, falls er alt genug war, mit seinem Bogen bereit sein. Bloß … Sie sah ihn jedes Mal, wenn er und sein Vater von ihrem Hof kamen, aber eigentlich kannte sie ihn nicht näher. Sie wusste kaum etwas über ihn. Der jetzige Zeitpunkt war genauso gut wie jeder andere, um damit anzufangen, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Sie schob sich zu dem Pfosten und spähte wieder um die Ecke.

»Ich wäre gern ein König«, sagte Rand. »Das wäre ich gern.« Er schwenkte den Arm und brachte eine unbeholfene Verbeugung zustande, dabei lachte er, um zu zeigen, dass er scherzte. Was auch gut so war. Egwene verzog das Gesicht. Ein König! Sie studierte seine Züge. Nein, er sah nicht gut aus. Nun, vielleicht doch. Vielleicht spielte das gar keine Rolle. Aber möglicherweise wäre es nett gewesen, einen Ehemann zu haben, den sie gern ansah. Seine Augen waren blau. Nein, grau. Sie schienen sich zu verändern, wenn man genau hinsah. Niemand von den Zwei Flüssen hatte blaue Augen. Manchmal zeigten seine Augen einen traurigen Ausdruck. Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war, und Egwene glaubte, dass er Jungen mit Müttern beneidete. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Mutter zu verlieren. Sie wollte es nicht mal versuchen.

»Ein König der Schafe!«, prustete Mat. Er war kleiner als die anderen und balancierte stets auf den Zehen. Ein Blick in sein Gesicht, und man wusste, dass er es nicht abwarten konnte, jemandem einen Streich zu spielen. Er war immer auf Unsinn aus – für gewöhnlich mit Erfolg. »Rand al’Thor, König der Schafe.« Lem kicherte gehässig. Ban boxte ihn gegen die Schulter, Lem schlug zurück, dann kicherten beide. Egwene schüttelte den Kopf.

»Es ist besser, als fortlaufen zu wollen und niemals arbeiten zu müssen«, sagte Rand sanft. Er schien nie wütend zu werden. Jedenfalls hatte sie das noch nie beobachtet. »Wie willst du ohne zu arbeiten leben, Mat?«

»Schafe sind gar nicht so übel«, sagte Elam und rieb sich die lange Nase. Sein Haar war kurz geschnitten, aber an seinem Hinterkopf sträubten sich ein paar in die Höhe. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schaf.

»Ich werde eine Aes Sedai retten, und sie wird mich belohnen«, gab Mat zurück. »Ich suche jedenfalls keine Arbeit, wenn es mehr als genug Arbeit gibt, ohne danach suchen zu müssen.« Er grinste und bohrte den Finger in Perrins Schulter.

Perrin rieb sich verlegen die Nase. »Manchmal muss man vernünftig sein, Mat«, sagte er langsam. »Manchmal muss man vorausdenken.« Perrin sprach immer langsam, wenn er überhaupt sprach. Und er bewegte sich bedächtig, als hätte er Angst, er könnte etwas zerbrechen. Rand sprach manchmal, bevor er nachdachte, und er sah immer aus, als wäre er bereit, loszustürmen und nicht stehen zu bleiben, bis er den Horizont erreicht hatte.

»›Vernünftig‹ bedeutet, dass ich in der Mühle meines Vaters arbeite.« Lem seufzte. »Und sie vermutlich eines Tages erbe. Ich hoffe, nicht zu bald. Ich würde gern vorher ein Abenteuer erleben, du nicht auch, Rand?«

»Natürlich.« Rand lachte. »Aber wo finde ich bei den Zwei Flüssen ein Abenteuer?«

»Da muss es doch eine Möglichkeit geben«, murmelte Ban. »Vielleicht gibt es ja oben in den Bergen Gold. Oder Trollocs?« Er klang plötzlich, als wäre er sich nicht mehr so sicher, in die Berge steigen zu wollen. Glaubte er wirklich, dass es Trollocs gab?

»Ich will mehr Schafe besitzen als jeder andere von den Zwei Flüssen«, sagte Elam entschieden. Mat rollte verzweifelt mit den Augen.

Dav hatte auf den Fersen gehockt und zugehört, und jetzt schüttelte er den Kopf. »Du siehst wie ein Schaf aus, Elam«, murmelte er. Immerhin hatte sie das nicht laut gesagt, dachte Egwene. Dav war größer als Mat und stämmiger, aber in seinen Augen leuchtete das gleiche Funkeln. Seine Kleider waren grundsätzlich von etwas in Unordnung gebracht, das er nicht hätte tun dürfen. »Hört zu, ich habe eine tolle Idee.«

»Ich habe aber eine bessere«, unterbrach Mat ihn schnell. »Kommt. Ich zeige es euch.« Er und Dav starrten einander an.

Elam, Ban und Lem sahen bereit aus, einem von ihnen oder auch beiden zu folgen, falls sie gewusst hätten, wie sie das hätten anstellen sollen. Aber Rand legte Mat die Hand auf die Schulter. »Warte. Lasst erst mal diese tollen Ideen hören.« Perrin nickte nachdenklich.

Egwene seufzte. Dav und Mat schienen miteinander wetteifern zu wollen, wer sich mehr Ärger einhandeln konnte. Und Rand klang vielleicht vernünftig, aber wenn er im Dorf war, gelang es den anderen oft, ihn mit hineinzuziehen. Und Perrin auch. Die anderen drei würden bei allem mitmachen, was Mat oder Dav vorschlugen.

Besser, wenn sie jetzt verschwand. Sie würde ihnen nicht folgen und sehen können, was sie vorhatten, jedenfalls nicht, ohne gesehen zu werden. Und sie würde eher sterben, als Rand auf die Idee zu bringen, dass sie ihn wie eine dumme Gans beobachtet hatte. Und ich habe nicht mal was erfahren.

Als sie an dem Schafpferch vorbei zu der Stelle zurückging, an der sie ihren Eimer stehen gelassen hatte, ging Dannil Lewin an ihr vorbei. Mit dreizehn war er noch dürrer als Rand und hatte eine große Nase. Sie zögerte über den Eimer gebeugt und lauschte. Zuerst hörte sie nur Gemurmel, aber dann …

»Der Bürgermeister will mich sehen?«, rief Mat aus. »Das kann nicht sein! Ich habe nichts getan!«

»Er will euch alle sehen, und zwar schnell«, sagte Dannil. »Ich an eurer Stelle würde mich beeilen.«

Egwene ergriff schnell den Eimer, entfernte sich mit langsamen Schritten und hielt auf den Fluss zu. Rand und die anderen kamen kurz darauf an ihr vorbei, da sie in dieselbe Richtung gingen. Egwene lächelte, es war ein schmales Lächeln. Wenn ihr Vater nach jemandem schickte, dann kam derjenige auch. Selbst der Frauenkreis wusste, dass Brandelwyn al’Vere kein Mann war, mit dem man sich anlegen wollte. Egwene hätte das eigentlich nicht wissen dürfen, aber sie hatte Frau Luhhan und Frau Ayellin und ein paar der anderen bei einem Gespräch mit ihrer Mutter belauscht. Sie hatten behauptet, ihr Vater sei stur und dass ihre Mutter dagegen etwas unternehmen müsse. Egwene ließ die Jungen ein Stück vorausgehen – nur ein kleines Stück – und beschleunigte dann ihre Schritte, um mitzuhalten.

»Ich verstehe das nicht«, knurrte Mat, als sie sich der Reihe der scherenden Männer näherten. »Manchmal weiß der Bürgermeister schon in dem Augenblick, in dem ich etwas mache, dass ich es mache. Genau wie meine Mutter. Aber wieso?«

»Vermutlich berichtet es der Frauenkreis deiner Mutter«, murmelte Dav. »Die sehen alles. Und der Bürgermeister ist der Bürgermeister.« Die anderen nickten düster.

Ein Stück voraus sah Egwene ihren Vater, einen korpulenten Mann mit dünner werdendem, grauem Haar, die Ärmel bis über die Ellbogen aufgerollt, eine Pfeife zwischen den Zähnen stecken, eine Schere in der Hand. Und zehn Schritte von den Schafscherern entfernt stand Frau Cauthon, Mats Mutter, flankiert von ihren beiden Töchtern, und sah den Jungen entgegen. Natti Cauthon war eine ruhige, beherrschte Frau, was sie bei einem Sohn wie Mat auch sein musste, und im Augenblick zeigte sie ein zufriedenes Lächeln. Bodewhin und Eldrin zeigten ein beinahe identisches Lächeln, und sie betrachteten Mat doppelt so streng wie ihre Mutter. Bode war noch nicht alt genug, um auch schon Wasser tragen zu dürfen, und es würde noch zwei Jahre dauern, bis Eldrin so weit war. Rand und die anderen müssen blind sein!, dachte Egwene. Jeder, der über Augen verfügte, konnte sehen, wieso Frau Cauthon immer alles wusste.

Frau Cauthon und ihre Töchter reihten sich in die Menge ein, als die Jungen sich Egwenes Vater näherten. Keiner der Burschen schien Egwene zu bemerken. Sie hatten alle nur Augen für ihren Vater und machten einen verlegenen Eindruck. Bis auf Mat; er zeigte ein breites Grinsen, das ihn schuldig aussehen ließ. Rands Vater schaute von dem Schaf auf, über das er gebeugt stand, und schenkte ihm ein Lächeln, nach dem er weniger wie ein zur Flucht bereiter Reiher aussah.

Egwene fing an, den Scherern in der Nähe ihres Vaters Wasser anzubieten; es waren alles Mitglieder des Dorfrats. Nun, Meister Cole lag mit dem Rücken an einen hüfthohen Stein gelehnt, der aus dem Boden ragte, und schien ein Schläfchen zu machen. Er war so alt wie die Dorfheilerin, vielleicht sogar noch älter, obwohl er noch über alle Haare verfügte, auch wenn es weiß war. Aber die anderen schoren, und das Vlies fiel in dicken weißen Bündeln von den Schafen. Meister Buie, der Dachdecker, ein knorriger, aber munterer Mann, murmelte bei der Arbeit unhörbar vor sich hin; die anderen schafften zwei Schafe, während er mit dem ersten gerade fertig war, aber jeder schien in die Arbeit vertieft. Wenn ein Mann so weit war, entließ er das Schaf in die Obhut der wartenden Jungen, die es dann forttrieben, während man ihm das nächste brachte. Egwene ließ sich Zeit, um einen Vorwand zum bleiben zu haben. Sie trödelte nicht herum, jedenfalls nicht richtig; sie wollte einfach nur wissen, was los war.

Ihr Vater musterte die Jungen einen Augenblick lang, schürzte die Lippen und sagte dann: »Nun, Jungs, ich hoffe, ihr habt hart gearbeitet.« Mat warf Rand einen überraschten Blick zu, und Perrin zuckte unbehaglich mit den Schultern. Rand nickte bloß, wenn auch unsicher. »Denn ich dachte, es wäre jetzt Zeit für die Geschichte, die ich euch versprochen habe«, fuhr ihr Vater fort. Egwene grinste. Ihr Vater erzählte die besten Geschichten.

Mat hob den Kopf. »Ich will etwas über Abenteuer hören.« Der Blick, den er Rand diesmal zuwarf, war trotzig.

»Ich über Aes Sedai und Behüter«, stieß Dav eilig hervor.

»Und ich über Trollocs«, fügte Mat hinzu, »und … und … und einen falschen Drachen!«

Dav öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Allerdings schaute er Mat böse an. Es war ihm unmöglich, den falschen Drachen zu übertreffen, und das wusste er auch.

Egwenes Vater schmunzelte. »Ich bin kein Gaukler, Jungs. Solche Geschichten kenne ich nicht. Tam? Willst du es nicht versuchen?«

Egwene blinzelte. Woher sollte Rands Vater solche Geschichten kennen, wenn sie ihrem Vater unbekannt waren? Meister al’Thor war vom Dorfrat auserwählt worden, für die Bauern rings um Emondsfelde zu sprechen, aber so weit sie wusste, hatte er wie alle anderen auch bloß Schafe gezüchtet und Tabak gepflanzt.

Meister al’Thor sah unangenehm berührt aus, und Egwene hoffte, dass er keine solchen Geschichten kannte. Sie wollte nicht, dass jemand ihren Vater übertraf. Natürlich mochte sie Rands Vater, also wollte sie auch nicht, dass er sich zum Gespött machte. Er war ein stämmiger Mann mit grauen Strähnen im Haar, ein stiller Mann, und jedermann mochte ihn gut leiden.

Meister al’Thor schor sein Schaf zu Ende, und als man ihm das nächste brachte, tauschte er mit Rand ein Lächeln aus. »Zufällig kenne ich eine ähnliche Geschichte«, sagte er. »Ich erzähle euch vom echten Drachen, nicht von einem falschen.«

Meister Buie richtete sich so schnell von seinem zur Hälfte geschorenen Schaf auf, dass das Tier ihm um ein Haar entkommen wäre. Er kniff die Augen zusammen, obwohl sie immer ziemlich schmal waren. »Davon wollen wir nichts hören, Tam al’Thor«, knurrte er mit seiner kratzigen Stimme. »Das ist nichts für anständige Ohren.«

»Immer mit der Ruhe, Cenn«, sagte Egwenes Vater beschwichtigend. »Es ist bloß eine Geschichte.« Aber er sah Rands Vater dabei an, und offensichtlich war er sich nicht so sicher, wie er vorgab.

»Manche Geschichten sollten nicht erzählt werden«, beharrte Meister Buie auf seinem Standpunkt. »Manche Geschichten sollten nicht bekannt werden! Das ist nicht richtig, sage ich! Es gefällt mir nicht. Wenn sie etwas über Kriege hören müssen, erzählt ihnen etwas über den Hundertjährigen Krieg oder die Trolloc-Kriege. Da haben sie ihre Aes Sedai und Trollocs, wenn man schon über solche Dinge sprechen muss. Oder den Aiel-Krieg.« Einen Augenblick lang hatte Egwene den Eindruck, dass sich Meister al’Thors Gesicht veränderte. Einen Augenblick lang erschien er härter. Hart genug, um die Wächter der Kaufleute wie Schwächlinge erscheinen zu lassen. Sie bildete sich heute viele Dinge ein. Für gewöhnlich erlaubte sie ihrer Vorstellungskraft nicht, mit ihr auf diese Weise durchzugehen.

Meister Cole schlug die Augen auf. »Er will bloß eine Geschichte erzählen, Cenn. Eine Geschichte, Mann.« Er schloss die Augen wieder. Man wusste nie genau, wann Meister Cole wirklich schlief.

»Du hast noch nie etwas gehört, gerochen oder gesehen, das dir gefiel, Cenn«, sagte Meister al’Dai. Er war Bilis Großvater, ein schlanker Mann mit dürrem weißem Haar und genauso alt wie Meister Cole, wenn nicht sogar noch älter. Die meiste Zeit musste er beim Gehen einen Stock benutzen, aber seine Augen blickten klar und scharf, und für seinen Verstand galt das Gleiche. Er war mit der Schafschere fast so schnell wie Meister al’Thor. »Ich rate dir, Cenn, kau stumm auf deiner Leber herum und lass Tam erzählen.«

Meister Buie gab mürrisch klein bei und brummte vor sich hin. Er warf Rands Vater einen finsteren Blick zu und beugte sich wieder über sein Schaf. Egwene schüttelte überrascht den Kopf. Sie hatte oft gehört, wie Meister Buie anderen Leuten erzählte, wie wichtig er im Dorfrat war und dass die anderen Männer immer auf ihn hörten.

Die Jungen traten näher an Meister al’Thor heran und hockten sich in einem Halbkreis auf die Fersen. Jede Geschichte, die im Dorfrat für eine Auseinandersetzung sorgte, war bestimmt interessant. Meister al’Thor fuhr mit dem Scheren fort, aber in einem langsameren Rhythmus. Er wollte nicht riskieren, das Schaf zu schneiden, da er seine Aufmerksamkeit teilen musste.

»Das ist nur eine Geschichte«, sagte er und ignorierte Meister Buies Stirnrunzeln, »weil niemand alles weiß, was geschehen ist. Aber es ist tatsächlich passiert. Ihr habt vom Zeitalter der Legenden gehört?«

Ein paar der Jungen nickten zögernd. Auch Egwene nickte unwillkürlich. Sie hatte die Erwachsenen sagen hören »vielleicht im Zeitalter der Legenden«, wenn sie etwas nicht glaubten, das tatsächlich geschehen war, oder anzweifelten, dass etwas möglich war. Es war nur ein anderer Ausdruck für »Wenn Schweine Flügel hätten«. Zumindest glaubte sie das.

»Es war vor dreitausend und noch mehr Jahren«, fuhr Rands Vater fort. »Es gab große Städte voller Gebäude höher als die Weiße Burg, und das ist so hoch, dass danach nur noch die Berge kommen. Von der Einen Macht angetriebene Maschinen beförderten Menschen schneller als jedes Pferd über den Boden, und manche behaupten, dass Maschinen sogar Menschen durch die Luft trugen. Es gab keine Krankheiten. Keinen Hunger. Keinen Krieg. Und dann berührte der Dunkle König die Welt.«

Die Jungen zuckten zusammen, Elam kippte sogar um. Er rappelte sich mit rotem Gesicht wieder auf und versuchte so zu tun, als wäre er gar nicht gefallen. Egwene hielt die Luft an. Der Dunkle König. Vielleicht lag es daran, dass sie zuvor an ihn gedacht hatte, aber in diesem Augenblick erschien er besonders beängstigend. Sie hoffte, dass Meister al’Thor ihn nicht beim Namen nannte. Er würde den Dunklen König nie beim Namen nennen, dachte sie, aber das hielt sie nicht von der Befürchtung ab, dass er es möglicherweise doch tat.

Meister al’Thor lächelte die Jungen an, um seine Worte abzuschwächen, fuhr aber fort. »Im Zeitalter der Legenden, heißt es, konnte man sich nicht mal an den Krieg erinnern, aber sobald der Dunkle König die Welt berührte, lernten sie es sehr schnell. Das war kein Krieg wie die, von denen ihr hört, wenn die Kaufleute die Wolle und den Tabak abholen, die zwischen zwei Nationen. Dieser Krieg überzog die ganze Welt. Später nannte man ihn den Krieg der Schatten. Jene, die für das Licht eintraten, standen genauso vielen gegenüber, die auf der Seite des Schattens kämpften, und außer unzählbaren Schattenfreunden gab es Heere von Myrddraal und Trollocs, die größer waren als alles, was die Große Fäule während der Trolloc-Kriege ausspie. Auch Aes Sedai liefen zum Schatten über. Man nannte sie die Verlorenen.«

Egwene fröstelte und war froh zu sehen, dass einige der Jungen sich mit den Armen hielten. Mütter erschreckten ihre Kinder mit den Verlorenen, wenn sie unartig waren. Wenn du weiter lügst, kommt Semirhage und holt dich. Lanfear wartet auf Kinder, die stehlen. Egwene war froh, dass ihre Mutter so etwas nicht tat. Aber Moment mal. Die Verlorenen waren Aes Sedai gewesen? Sie hoffte, dass Meister al’Thor das nicht so laut sagte, oder der Frauenkreis würde sich auf ihn stürzen. Außerdem waren einige der Verlorenen Männer, also musste er sich irren.

»Ihr erwartet von mir, dass ich euch vom Glanz der Schlachten erzähle, aber das werde ich nicht tun.« Einen Augenblick lang klang er grimmig, aber nur einen Augenblick lang. »Niemand weiß etwas über diese Schlachten, nur dass sie gewaltig waren. Vielleicht haben die Aes Sedai darüber Aufzeichnungen, aber wenn das der Fall ist, bekommt sie niemand außer anderen Aes Sedai zu Gesicht. Ihr habt von den großen Schlachten während Artur Falkenflügels Aufstieg und des Hundertjährigen Krieges gehört? Hunderttausend Mann auf jeder Seite?« Er bekam eifriges Nicken zu sehen. Auch von Egwene, obwohl sie nicht so eifrig nickte. All die Männer, die sich gegenseitig umbringen wollten … Sie fand das nicht so aufregend wie die Jungen. »Nun«, fuhr Meister al’Thor fort, »im Krieg der Schatten hätte man diese Schlachten als klein bezeichnet. Ganze Städte wurden bis auf die Grundmauern zerstört. Dem Land außerhalb der Städte erging es genauso schlimm. Wo auch immer eine Schlacht geschlagen wurde, hinterließ sie nur Zerstörung. Der Krieg zog sich über Jahre hin, auf der ganzen Welt. Und langsam fing der Schatten an zu gewinnen. Das Licht wurde immer wieder zurückgedrängt, bis es den Anschein hatte, als würde der Schatten alles erobern. Hoffnung schmolz wie Nebel in der Sonne. Aber das Licht hatte einen Anführer, der niemals aufgab, einen Mann namens Lews Therin Telamon. Der Drache.«

Einer der Jungen keuchte überrascht auf. Egwene war zu sehr damit beschäftigt, die Augen weit aufzureißen, um zu bemerken, wer es war. Sie vergaß sogar vorzutäuschen, dass sie noch immer Wasser anbot. Der Drache war der Mann, der alles zerstört hatte! Sie wusste nicht viel über die Zerstörung der Welt – nun, in Wahrheit eigentlich so gut wie nichts –, aber so viel wusste doch jeder. Bestimmt hatte er für den Schatten gekämpft!

»Lews Therin sammelte Männer um sich herum, die Hundert Gefährten, und ein kleines Heer. Klein in dem Sinne, wie man damals solche Dinge zählte. Zehntausend Mann. Heute ist das kein kleines Heer, oder was meint ihr?« Die Worte schienen eine Einladung zum Lachen zu sein, aber in Meister al’Thors ruhiger Stimme lag keine Belustigung. Er hörte sich beinahe so an, als wäre er dabei gewesen. Egwene jedenfalls lachte mit Sicherheit nicht, und von den Jungen tat es auch keiner. Sie hörte weiter zu und versuchte dabei nicht zu vergessen, wie man atmete. »Mit verzweifelter Hoffnung griff Lews Therin das Tal von Thakan’dar an, das Herz des Schattens selbst. Hunderttausende Trollocs warfen sich ihnen entgegen, Trollocs und Myrddraal. Trollocs leben nur, um zu töten. Ein Trolloc kann einen Mann mit bloßen Händen in Stücke reißen. Myrddraal sind