Das Rad der Zeit 7. Das Original - Robert Jordan - E-Book
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Das Rad der Zeit 7. Das Original E-Book

Robert Jordan

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Beschreibung

Aus den Nebeln der Zeit erhebt sich eine düstere Macht … Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache, hat die Bestimmung die Völker im Krieg gegen die Fintsernis zu einen. Nun bricht er nach Illian auf, um den Verlorenen Sammael vom Thron zu stoßen. Indessen versuchen seine Vertrauten Elayne, Aviendha und Mat, der Schale der Winde habhaft zu werden, welche die Macht besitzt, das vom Dunklen manipulierte Wetter wieder ins Gleichgewicht zu bringen ... Die Buch-Serie zur großen prime video-Serie »Das Rad der Zeit«!

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Für Harriet, der das Verdienst erneut gebührt.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin König

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen überarbeiteten Neuausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95938-4

© 1996 Robert Jordan Titel der amerikanischen Originalausgabe: »A Crown of Swords«, Tom Doherty Associates, Tor Books, New York, 1996 © Piper Verlag GmbH, München 2004, 2005 Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München in vier Bänden: »Die zerbrochene Krone« (1998), »Wolken über Ebou Dar« (1998), »Der Dolchstoß« (1999), »Die Schale der Winde« (1999) Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Josh Finney, San Diego, USA Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Uns kann weder Gesundheit innewohnen noch kann etwas Gutes in uns gedeihen, da das Land eins ist mit dem Wiedergeborenen Drachen und er eins ist mit dem Land. Mit einer Seele aus Feuer und einem Herzen aus Stein siegt er stolz und zwingt die Stolzen nachzugeben. Er fordert die Berge auf, sich niederzuknien, und die Meere, sich zu teilen, und den Himmel selbst, sich zu verneigen. Betet, dass sich das Herz des Steins an die Tränen und die Seele aus Feuer an die Liebe erinnern.

– Aus einer stark umstrittenen Übersetzung der Prophezeiungen des Drachen des Dichters Kyera Termendal von Shiota, die vermutlich zwischen FJ 700 und FJ 800 veröffentlicht wurde.

PROLOG

Blitze

Von dem hohen Bogenfenster fast achtzig Spann über dem Boden aus, nicht weit von der obersten Spitze der Weißen Burg entfernt, konnte Elaida viele Meilen über Tar Valon bis zu den wogenden Ebenen und den Wäldern hinaussehen, die an den breiten, von Nordwesten heranwogenden Fluss Erinin angrenzten, bevor er sich um die weißen Mauern der großen Inselstadt herum teilte. Unten überlagerten die langen Morgenschatten die Stadt, aber von diesem erhöhten Standpunkt aus schien alles hell und klar. Nicht einmal die sagenhaften Türme von Cairhien konnten wirklich mit der Weißen Burg mithalten. Und sicherlich auch keiner der niedrigeren Türme Tar Valons, auch wenn die Menschen nah und fern von ihnen und ihren gewölbten Himmelsbrücken sprachen.

In dieser Höhe linderte eine beständige Brise die unnatürliche Hitze, die die Welt gefangen hielt. Da das Lichterfest vorüber war, hätte Schnee den Boden bedecken sollen, aber das Wetter entsprach eher dem Höhepunkt eines Hochsommers. Ein weiteres Omen dafür, dass die Letzte Schlacht bevorstand und der Dunkle König die Welt berührte – wenn noch weitere Zeichen nötig gewesen wären. Elaida ließ sich natürlich auch beim Abstieg nicht von der Hitze berühren. Die Brise war nicht der Grund dafür, dass sie ihre Unterkunft, trotz der Unbequemlichkeit so vieler Stufen, hier oben in diese schlichten Räume verlegt hatte.

Man konnte die einfachen rostroten Bodenfliesen und die weißen, mit nur wenigen Wandteppichen geschmückten Marmorwände nicht mit der Erhabenheit des Arbeitszimmers der Amyrlin und den dazugehörigen Räumen weiter unten vergleichen. Sie benutzte jene Räume noch gelegentlich – manche hielten sie für die Macht des Amyrlin-Sitzes für unerlässlich –, aber sie lebte und arbeitete wegen der Aussicht häufiger hier. Aber nicht auf die Stadt oder den Fluss oder die Wälder, sondern auf das, was am Fuß der Burg begann.

Gewaltige Fundamentierungen waren ausgeführt worden. Hohe Holzkräne und Blöcke geschnittenen Marmors und Granits erstreckten sich jetzt über den ehemaligen Übungshof der Behüter. Steinmetze und Arbeiter schwärmten wie Ameisen über den Platz, und endlose Ströme von Wagen krochen durch die Tore in den Burghof und brachten weitere Steine heran. Auf einer Seite stand ein hölzernes ›Arbeitsmodell‹, wie die Steinmetze es nannten, das ausreichend groß war, dass Männer gebückt hineingehen und sich sehr genau ansehen konnten, wo jeder einzelne Stein platziert werden sollte. Es war so groß wie einige Herrenhäuser. Die meisten der Arbeiter konnten jedoch nicht lesen – weder Worte noch Bauzeichnungen.

Wenn ein König oder eine Königin einen Palast besaß – warum sollte der Amyrlin-Sitz dann auf Räume verwiesen werden, die kaum besser waren als jene gewöhnlicher Schwestern? Ihr Palast würde der Weißen Burg in seiner Pracht gleichkommen und eine zehn Spann höhere Spitze als die Burg selbst aufweisen. Alles Blut war aus dem Gesicht des Steinmetzmeisters gewichen, als er das gehört hatte. Die Burg war von Ogiern unter Mithilfe von Schwestern, die die Macht gebrauchen konnten, erbaut worden. Ein Blick auf Elaidas Gesicht veranlasste Meister Lerman jedoch, sich nur zu verbeugen und stotternd hervorzubringen, dass natürlich alles ihren Wünschen gemäß ausgeführt würde. Als habe das jemals infrage gestanden.

Sie verzog verbittert den Mund. Sie hatte wieder Ogier-Steinmetze einsetzen wollen, aber die Ogier beschränkten sich aus irgendeinem Grund auf ihre Steddings. Ihre Aufforderung an den nächstgelegenen Stedding in den Schwarzen Hügeln war abschlägig beschieden worden. Höflich, aber dennoch abschlägig und ohne Erklärung, auch nicht für den Amyrlin-Sitz. Ogier blieben lieber für sich. Oder vielleicht zogen sie sich auch nur aus einer unruhigen Welt zurück. Ogier hielten sich von menschlichem Hader fern.

Elaida verbannte die Ogier energisch aus ihrem Geist. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, Mögliches von Unmöglichem unterscheiden zu können. Ogier waren eine Nebensächlichkeit. Sie hatten bis auf die Städte, die sie vor so langer Zeit gebaut hatten und die sie jetzt nur besuchten, um Instandsetzungen durchzuführen, keinen Anteil an der Welt.

Sie betrachtete die Menschen dort unten, die wie Käfer über das Gelände krochen, mit leichtem Stirnrunzeln. Der Bau schritt zollweise voran. Ogier standen nicht zur Verfügung, aber vielleicht konnte die Eine Macht wieder benutzt werden. Nur wenige Schwestern besaßen die wahre Kraft, Erde zu verweben, aber es war nicht so viel Kraft erforderlich, um Steine zu verstärken oder Stein mit Stein zu verbinden. Ja … Der Palast war vor ihrem geistigen Auge bereits vollendet, Kolonnadengänge und große Kuppeln schimmerten weiß und golden, und diese eine Spitze, die bis in den Himmel reichte … Sie hob den Blick zum wolkenlosen Himmel, zu der Stelle, wo die Spitze aufragen würde, und sie seufzte tief. Ja. Die entsprechenden Befehle würden heute ausgegeben werden.

Die hohe Kastenuhr im Raum hinter ihr schlug, und auch in der Stadt läuteten Gongs und Glocken die Stunde, was hier – so hoch oben – nur schwach zu hören war. Elaida trat lächelnd vom Fenster fort, glättete ihr cremefarbenes Seidenkleid mit den roten Schlitzen und richtete die breite, gestreifte Stola des Amyrlin-Sitzes um ihre Schultern.

An der mit reichen Goldverzierungen versehenen Uhr bewegten sich mit dem Geläut kleine Gold-, Silber und Emaillefiguren. Gehörnte, rüsselbewehrte Trollocs flohen auf einer Ebene vor einer mit einem Umhang bekleideten Aes Sedai. Auf einer anderen Ebene versuchte ein Mann, der einen falschen Drachen darstellte, silberne Lichtblitze abzuwehren, die von einer zweiten Schwester geschleudert wurden. Über dem Zifferblatt, das sich über Elaidas Kopf befand, knieten ein gekrönter König und eine Königin vor der Amyrlin mit ihrer Emaillestola, und die Flamme von Tar Valon, aus einem großen Mondstein gehauen, ruhte auf einem goldenen Bogen über ihrem Kopf.

Elaida war nicht oft fröhlich, aber beim Anblick der Uhr konnte sie ein leises, erfreutes Lachen nicht unterdrücken. Cemaile Sorenthaine, von den Grauen erhoben, hatte sie in Auftrag gegeben, nachdem sie von einer Wiederkehr zu der Zeit vor den Trolloc-Kriegen geträumt hatte, als kein Regent einen Thron ohne Billigung der Burg innehaben konnte. Aus Cemailes großartigen Plänen wurde jedoch nichts, und die Uhr stand drei Jahrhunderte lang in einem staubigen Lagerraum – eine Verlegenheit, die niemand herzuzeigen wagte. Bis Elaida kam. Das Rad der Zeit drehte sich. Was einmal war, konnte wieder sein. Würde wieder sein.

Die Kastenuhr beherrschte den Eingang zu ihrem Wohnzimmer und den dahinterliegenden Schlaf- und Ankleideräumen. Edle Wandteppiche, gold- und silberdurchwirkte, farbenprächtige Arbeiten aus Tear und Kandor und Arad Doman, hingen jeweils genau gegenüber ihrem Pendant. Elaida war schon immer für Ordnung gewesen. Der rot-grün-gold gemusterte Teppich, der den größten Teil der Fliesen bedeckte, kam aus Tarabon. In jeder Ecke des Raumes stand eine mit schlichten senkrechten Ornamenten verzierte Marmorsäule mit einer weißen Vase aus zerbrechlichem Meervolk-Porzellan mit zwei Dutzend sorgfältig arrangierten roten Rosen darauf. Die Eine Macht war erforderlich, um jetzt Rosen erblühen zu lassen, besonders bei der Dürre und Hitze – ihrer Meinung nach eine sinnlose Gewohnheit. Vergoldete Schnitzereien in starrem cairhienischen Stil verzierten sowohl den einzigen Stuhl – niemand saß in ihrer Gegenwart – als auch den Schreibtisch. Ein einfacher Raum mit einer kaum zwei Spann hohen Decke, und doch würde er genügen, bis ihr Palast fertiggestellt war. Mit dieser Aussicht würde er genügen.

Die hohe Rückenlehne mit der aus ausgesuchten Mondsteinen gestalteten Flamme von Tar Valon ragte über ihrem dunkelhaarigen Kopf auf, als sie sich hinsetzte. Nichts verunstaltete die polierte Tischplatte außer drei zufällig angeordneten Schachteln, eine altaranische Lackarbeit. Sie öffnete die Schachtel mit dem Bild goldener Jagdfalken zwischen weißen Wolken und nahm einen schmalen Streifen dünnen Papiers auf einem Stapel Berichten und Briefen heraus.

Zum vielleicht hundertsten Mal las sie die Nachricht, die vor zwölf Tagen durch eine Brieftaube aus Cairhien überbracht worden war. Nur wenige in der Burg wussten davon. Niemand außer ihr kannte den Inhalt der Nachricht oder hätte auch nur eine Ahnung, was sie bedeutete, wenn sie sie gekannt hätten. Der Gedanke ließ sie beinahe erneut lachen.

Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.

Ich erwarte eine erfreuliche Reise zum Markt.

Es stand keine Unterschrift darunter, aber das war auch nicht nötig. Nur Galina Casban konnte diese herrliche Nachricht geschickt haben. Galina, der Elaida zutraute, was sie sonst nur sich selbst zugetraut hätte. Nicht dass sie irgendjemandem vollkommen vertraut hätte, aber der Anführerin der Roten Ajah vertraute sie doch mehr als sonst jemandem. Sie war immerhin selbst von den Roten erhoben worden und betrachtete sich in vielen Belangen noch immer als Rote.

Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.

Rand al’Thor – der Wiedergeborene Drache, der Mann, der kurz davorgestanden zu haben schien, die Welt zu vereinnahmen, der Mann, der bereits entschieden zu viel davon vereinnahmt hatte – war abgeschirmt und stand unter Galinas Kontrolle. Und niemand, der ihm vielleicht geholfen hätte, wusste davon. Bestünde auch nur die Möglichkeit, wäre der Wortlaut der Nachricht ein anderer gewesen. Aus verschiedenen früheren Nachrichten konnte man schließen, dass er das Schnelle Reisen wiederentdeckt hatte, ein Talent, das den Aes Sedai seit der Zerstörung der Welt verloren gegangen war, und doch hatte ihn das nicht gerettet. Es hatte Galina sogar in die Hände gespielt. Rand hatte offenbar die Angewohnheit, ohne Ankündigung zu kommen und zu gehen. Wer würde vermuten, dass er dieses Mal nicht gegangen war, sondern gefangen genommen wurde?

Innerhalb einer Woche – höchstenfalls zwei – wäre al’Thor in der Burg, streng überwacht, bis zur Letzten Schlacht sicher in Gewahrsam, und seine Verwüstung der Welt war aufgehalten. Es wäre Wahnsinn, einen Mann, der die Macht lenken konnte, frei herumlaufen zu lassen, aber vor allem gebe das Licht, dass es, trotz der Dürre, noch Jahre dauern möge, bis der Mann dem Dunklen König in der Letzten Schlacht gegenübertreten würde, wie es die Prophezeiung voraussagte. Es würde Jahre dauern, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, wobei man damit beginnen müsste, rückgängig zu machen, was al’Thor getan hatte.

Natürlich war der von ihm verursachte Schaden nichts im Vergleich zu dem Schaden, den er als freier Mann noch hätte verursachen können. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass er hätte getötet werden können, bevor er gebraucht wurde. Nun, dieser stürmische junge Mann würde so sicher wie ein Kind in den Armen seiner Mutter geborgen sein, bis es an der Zeit war, ihn zum Shayol Ghul zu bringen. Danach, wenn er überlebte …

Elaida schürzte die Lippen. Die Prophezeiungen des Drachen schienen zu besagen, dass er nicht überleben würde, was unleugbar das Beste wäre.

»Mutter?« Elaida zuckte bei Alviarins Anrede fast zusammen. Wie konnte sie eintreten, ohne anzuklopfen! »Ich habe Nachricht von den Ajahs, Mutter.« Die schlanke und kühl wirkende Alviarin trug, passend zu ihrem Kleid, die schmale, weiße Stola der Bewahrerin der Chroniken, die zeigte, dass sie von den Weißen erhoben worden war, aber aus ihrem Munde wurde das Wort ›Mutter‹ weniger zu einem Ehrentitel als zur Anrede einer Gleichstehenden.

Alviarins Anwesenheit genügte, um Elaidas gute Stimmung zu beeinträchtigen. Der Umstand, dass die Bewahrerin der Chroniken aus den Reihen der Weißen und nicht der Roten kam, war stets eine unangenehme Erinnerung an Elaidas Schwäche zu der Zeit, als sie gerade erhoben worden war. Sicherlich war diese Schwäche teilweise überwunden, aber nicht vollständig. Noch nicht. Sie war es leid, bedauern zu müssen, dass sie nur so wenige persönliche Augen-und-Ohren außerhalb Andors hatte und ihre und Alviarins Vorgängerinnen entkommen waren – dass man ihnen zur Flucht verholfen hatte; sie mussten Hilfe gehabt haben! –, bevor man den Zugang zu den Informationen der Amyrlins erfahren konnte.

Sie benötigte diesen Zugang, der ihr rechtmäßig zustand, überaus dringend. Aufgrund fester Tradition ließen die Ajahs der Bewahrerin der Chroniken jedes Quäntchen Information ihrer eigenen Augen-und-Ohren zukommen, an dem sie die Amyrlin teilhaben lassen wollten, aber Elaida war davon überzeugt, dass die Frau sogar von diesem Wenigen noch etwas zurückhielt. Und doch konnte sie die Ajahs nicht um direkte Informationen bitten. Es war schon schlimm genug, schwach zu sein, auch ohne die Welt noch um etwas bitten zu müssen, und die Burg ohnehin, die gerade den wichtigsten Teil der Welt darstellte.

Elaida behielt einen ebenso kühlen Gesichtsausdruck wie Alviarin bei und gewährte ihr nur ein Nicken als Antwort, während sie vorgab, Papiere aus der Lackschachtel durchzusehen. Sie wandte sie langsam eines nach dem anderen um und legte sie ebenso langsam wieder in die Schachtel zurück, ohne wirklich ein Wort aufzunehmen. Es war bitter, Alviarin warten zu lassen, weil es kleinlich war, aber sie konnte jemandem, der ihre Dienerin hätte sein sollen, nur mit Kleinlichkeit beikommen.

Eine Amyrlin konnte jede gewünschte Verfügung erlassen, da ihr Wort Gesetz und daher unumschränkt war. Praktisch bedeuteten viele jener Verfügungen ohne Unterstützung des Saals der Burg jedoch verschwendete Tinte und Papier. Keine Schwester würde einer Amyrlin den Gehorsam verweigern, zumindest nicht direkt, aber die Ausführung vieler Verfügungen bedingten hundert andere anzuordnende Dinge. In den besten Zeiten konnte dies langsam geschehen und gelegentlich so langsam, dass es niemals geschah.

Alviarin stand kühl und regungslos da. Elaida schloss die altaranische Schachtel, behielt aber den Streifen Papier in der Hand, der ihren sicheren Sieg bedeutete. Sie betastete den Streifen unbewusst wie einen Talisman. »Haben Teslyn oder Joline sich endlich herabgelassen, über mehr als nur ihre sichere Ankunft zu berichten?«

Diese Frage sollte Alviarin daran erinnern, dass niemand sich als geschützt betrachten durfte. Niemanden kümmerte es, was in Ebou Dar geschah – Elaida am wenigsten von allen. Die Hauptstadt Altaras könnte im Meer versinken – außer den Händlern würden es nicht einmal die übrigen Einwohner bemerken. Aber Teslyn war fast fünfzehn Jahre lang die Vorsitzende des Saals gewesen, bevor Elaida ihr befohlen hatte, auf ihr Amt zu verzichten. Wenn Elaida eine Sitzende – eine Rote Sitzende – fortschicken konnte, die ihren Aufstieg von einer Gesandten zur Inhaberin eines mit Fliegenschmutz befleckten Throns unterstützt hatte, während niemand sicher wusste warum, aber hundert Gerüchte umgingen, konnte sie jedermann beherrschen. Aber mit Joline verhielt es sich anders. Sie hatte den Vorsitz der Grünen Ajah nur wenige Wochen innegehabt. Niemand zweifelte daran, dass die Grünen sie nur auserwählt hatten, um zu verdeutlichen, dass sie sich von der neuen Amyrlin nicht einschüchtern lassen würden, die ihr eine schreckliche Buße auferlegt hatte. Natürlich durfte sie diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen und hatte es auch nicht getan. Auch das wusste jedermann.

Es sollte Alviarin daran erinnern, dass sie verwundbar war, aber die schlanke Frau lächelte nur ihr kühles Lächeln. Solange der Saal seine gegenwärtige Zusammensetzung beibehielt, war sie geschützt. Sie blätterte die Papiere in ihrer Hand durch und zog dann eines hervor. »Kein Wort von Teslyn oder Joline, Mutter, nein, obwohl Ihr mit den Nachrichten, die Ihr bis jetzt von den Thronen erhalten habt …« Das Lächeln vertiefte sich beinahe zu einer Belustigung. »Sie möchten alle versuchen festzustellen, ob Ihr so stark wie … wie Eure Vorgängerin seid.« Selbst Alviarin besaß genug Verstand, den Namen Sanche in Elaidas Gegenwart nicht zu nennen. Es entsprach jedoch der Wahrheit: Alle Könige und Königinnen und sogar einfache Adlige schienen die Grenzen ihrer Macht auszuloten. Sie musste Exempel statuieren.

Alviarin fuhr mit auf das Schreiben gerichtetem Blick fort: »Aber wir haben Nachricht aus Ebou Dar, von den Grauen.« Hatte sie das betont, um den Dorn noch tiefer einzutreiben? »Anscheinend befinden sich Elayne Trakand und Nynaeve al’Meara dort. Sie geben sich Königin Tylin gegenüber mit dem Segen der aufrührerischen … Abordnung … als Vollschwestern aus. Außerdem sind dort noch zwei andere, deren Identität noch nicht bekannt ist und die vielleicht das Gleiche tun. Die Listen derer, die sich bei den Aufrührern aufhalten, sind unvollständig. Vielleicht begleiten sie sie auch nur. Die Grauen sind sich nicht sicher.«

»Warum, unter dem Licht, sollten sie sich in Ebou Dar aufhalten?«, fragte Elaida herablassend. Darüber hätte Teslyn bestimmt berichtet. »Die Grauen geben jetzt wohl schon Gerüchte weiter. Tarnas Nachricht besagte, dass sie bei den Aufrührern in Salidar seien.« Tarna Feir hatte auch berichtet, Siuan Sanche dort gesehen zu haben. Und Logain Ablar, der jene boshaften Lügen verbreitete, die zu bestätigen – und noch viel weniger zu bestreiten – keine der Roten Schwestern sich herablassen konnte. Die Sanche-Frau hatte mit diesen Unannehmlichkeiten zu tun, oder die Sonne würde morgen im Westen aufgehen. Warum hatte sie nicht einfach davonkriechen und sterben können, hübsch außer Sicht, wie andere gedämpfte Frauen?

Es kostete sie Mühe, nicht tief durchzuatmen. Logain konnte in aller Stille gehängt werden, sobald die Aufrührer unterworfen waren. Die meisten Menschen hielten ihn ohnehin schon lange für tot. Die üble Nachrede der Roten Ajah, dass er ein falscher Drache sei, würde mit ihm sterben. Und wenn die Aufrührer unter Kontrolle waren, konnte die Sanche-Frau dazu gebracht werden, der Amyrlin den Zugang zu den Augen-und-Ohren zu nennen. Und die Namen der Verräter, die ihr zur Flucht verholfen hatten. Es war töricht zu hoffen, dass Alviarins Name darunter wäre. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass das al’Meara-Mädchen nach Ebou Dar läuft und eine Aes Sedai zu sein behauptet. Und bei Elayne kann ich es mir noch weniger vorstellen.«

»Ihr habt befohlen, dass Elayne gefunden werden soll, Mutter. Ihr sagtet, es sei genauso wichtig, wie al’Thor unter Kontrolle zu bringen. Als sie sich in Salidar unter dreihundert Aufrührern befand, konnte nichts getan werden, aber sie wird im Tarasin-Palast nicht so gut geschützt sein.«

»Ich habe keine Zeit für Geschwätz und Gerüchte.« Elaida stieß jedes einzelne Wort verächtlich aus. Wusste Alviarin mehr, als sie wissen sollte, da sie al’Thor und die Tatsache erwähnte, dass er unter Kontrolle gebracht werden sollte? »Ich schlage vor, dass Ihr Tarnas Bericht erneut lest und Euch dann fragt, ob selbst Aufrührer zulassen würden, dass eine Aufgenommene die Stola zu besitzen behauptet.«

Alviarin wartete mit sichtlicher Geduld, dass sie zum Ende käme, überprüfte dann erneut ihr Bündel Papiere und zog vier weitere Blätter daraus hervor. »Der Vertreter der Grauen hat Skizzen gesandt«, sagte sie sanft, während sie die Seiten darbot. »Er ist kein Künstler, aber Elayne und Nynaeve sind wiederzuerkennen.« Kurz darauf, als Elaida die Zeichnungen nicht entgegennahm, steckte sie die Blätter unter den Stapel Papiere.

Elaida spürte sich vor Zorn und Verlegenheit erröten. Alviarin hatte sie bewusst so weit gebracht, indem sie die Skizzen nicht sofort gezeigt hatte. Sie sagte nichts dazu – alles andere wäre noch beschämender gewesen –, aber ihre Stimme wurde kalt. »Sie sollen gefangen genommen und zu mir gebracht werden.«

Der Mangel an Neugier auf Alviarins Gesicht ließ Elaida sich erneut fragen, wie viel die Frau von dem wusste, was sie nicht wissen sollte. Das al’Meara-Mädchen könnte sich sehr wohl als Handhabe gegen al’Thor erweisen, da beide aus demselben Dorf stammten. Alle Schwestern wussten das, genauso wie sie wussten, dass Elayne die Tochter-Erbin Andors und ihre Mutter tot war. Die vagen Gerüchte, die Morgase mit den Weißmänteln in Verbindung brachten, waren vollkommener Unsinn, da sie die Kinder des Lichts niemals um Hilfe gebeten hätte. Sie war tot, ohne dass auch nur ein Leichnam zurückgeblieben war, und Elayne würde Königin sein – wenn man sie von den Aufrührern losreißen konnte, bevor die andoranischen Häuser stattdessen Dyelin auf den Löwenthron brachten. Es war keineswegs allgemein bekannt, was Elayne größere Wichtigkeit als anderen Adligen mit einem starken Anspruch auf den Thron verlieh. Natürlich zusätzlich zu der Tatsache, dass sie eines Tages eine Aes Sedai wäre.

Elaida besaß manchmal die Gabe des Vorhersagens, ein Talent, das viele vor ihr verloren glaubten, und sie hatte vor langer Zeit vorhergesagt, dass das Königliche Haus von Andor die Lösung zum Sieg in der Letzten Schlacht in Händen hielt. Fünfundzwanzig Jahre und mehr waren vergangen, und sobald deutlich wurde, dass Morgase Trakand den Thron in der Erbfolge einnehmen würde, hatte Elaida sich an die Fersen des Mädchens geheftet, das sie damals noch war. Elaida wusste nicht, wie entscheidend Elayne in dieser Sache war, aber das Vorhersagen entsprach niemals der Unwahrheit. Manchmal hasste sie dieses Talent beinahe. Sie hasste Dinge, die sie nicht kontrollieren konnte.

»Ich will sie alle vier, Alviarin.« Die anderen beiden waren gewiss unwichtig, aber sie würde kein Risiko eingehen. »Überbringt Teslyn auf der Stelle meinen Befehl. Sagt ihr – und Joline –, dass sie sich wünschen werden, niemals geboren worden zu sein, wenn sie von jetzt an nicht regelmäßig Bericht erstatten. Und gebt auch die Nachricht von der Macura-Frau an sie weiter.« Sie verzog bei diesen letzten Worten den Mund.

Der Name ließ auch Alviarin sich unbehaglich regen, was nicht verwunderlich war. Ronde Macuras böser kleiner Aufguss könnte jeder Schwester Unbehagen bereiten. Spaltwurzel war nicht tödlich – zumindest wachte man wieder auf, wenn man nur eine Dosis zum Einschlafen genommen hatte –, aber wenn man eine Dosis einsetzte, die die Fähigkeit einer Frau, die Macht zu lenken, schwächte, schien dies unmittelbar gegen Aes Sedai gerichtet. Bedauerlich, dass die Nachricht nicht eingetroffen war, bevor Galina fortging. Wenn Spaltwurzel bei Männern genauso gut wirkte wie anscheinend bei Frauen, hätte es ihre Aufgabe erheblich erleichtert.

Alviarins Unbehagen hielt nur einen kurzen Moment an, dann gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück und wurde erneut so unnachgiebig wie eine Eismauer. »Wie Ihr wünscht, Mutter. Sicherlich werden sie sofort gehorchen, wie es gewiss auch sein sollte.«

Jäher Zorn ergriff Elaida wie Feuer eine trockene Weide. Das Schicksal der Welt lag in ihren Händen, aber ständig gerieten ihr unwichtige Stolpersteine in den Weg. Schlimm genug, dass sie sich um Aufrührer und widerspenstige Herrscher kümmern musste, aber zudem brüteten und murrten zu viele Sitzende hinter ihrem Rücken, was den anderen Frauen eine gute Grundlage bot. Sie hatte nur sechs Sitzende fest unter Kontrolle, und sie vermutete, dass mindestens ebenso viele Alviarin genau zuhörten, bevor sie abstimmten. Sicherlich wurde vom Saal nichts Wesentliches genehmigt, wenn Alviarin nicht zustimmte. Es ging nicht um offen gezeigte Zustimmung, die bestätigt hätte, dass Alviarin mehr Einfluss oder Macht besaß, als sie eine Bewahrerin der Chroniken besitzen sollte, aber wenn Alviarin gegen etwas war … Zumindest waren sie nicht so weit gegangen, etwas zurückzuweisen, was Elaida ihnen sandte. Sie verzögerten Dinge einfach nur und ließen ihre Wünsche zu oft verkümmern. Sie musste eigentlich noch dankbar sein. Einige Amyrlins waren zu kaum mehr als Marionetten geworden, wenn der Saal erst Geschmack daran gefunden hatte zu verwerfen, was jene vorantrieben.

Sie rang die Hände, und der Papierstreifen knisterte leise.

Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.

Alviarin wirkte so gefasst wie eine Marmorstatue, aber es kümmerte Elaida nicht mehr. Der Schafhirte war auf dem Weg zu ihr. Die Aufrührer würden zerschlagen, der Saal eingeschüchtert, Alviarin auf die Knie gezwungen und jeder einzelne widerspenstige Regent zur Räson gebracht werden – von Tenobia von Saldaea, die sich vor ihrer Abordnung verbarg, bis zu Mattin Stepaneos von Illian, der sich erneut nicht festlegen wollte, sondern mit ihr und den Weißmänteln und, soweit sie wusste, auch mit al’Thor übereinzustimmen versuchte. Elayne würde auf den Thron in Caemlyn gebracht werden, ohne dass ihr dabei ihr Bruder in den Weg geriet, und sie wäre sich vollkommen bewusst, wer sie dorthin gebracht hatte. Ein wenig erneut in der Burg verbrachte Zeit würde sie zu Wachs in Elaidas Händen werden lassen.

»Ich will, dass jene Männer vernichtet werden, Alviarin.« Es war nicht nötig zu sagen, wen sie meinte. Die halbe Burg sprach von nichts anderem als von jenen Männern in der Schwarzen Burg, und die andere Hälfte flüsterte heimlich über sie.

»Es gibt beunruhigende Berichte, Mutter.« Alviarin sah ihre Papiere noch einmal durch, aber Elaida glaubte, dass es nur ihre Unruhe verbergen sollte. Sie zog keine weiteren Blätter hervor, und wenn die Frau auch nichts lange beunruhigte – dieser unselige Misthaufen außerhalb Caemlyns musste es tun.

»Noch mehr Gerüchte? Glaubt ihr die Geschichten über angeblich Tausende, die als Antwort auf jene garstige Amnestie in Caemlyn zusammenströmen?« Es war nicht al’Thors geringste Tat, aber kaum ein Grund zur Besorgnis. Nur ein Haufen Schmutz, der beseitigt werden musste, bevor Elayne in Caemlyn gekrönt wurde.

»Natürlich nicht, Mutter, aber …«

»Toveine soll anführen. Für diese Aufgabe sind die Roten zuständig.« Toveine Gazal war fünfzehn Jahre von der Burg fort gewesen, bis Elaida sie zurückberief. Die beiden anderen Roten Sitzenden, die verzichtet und sich gleichzeitig ›freiwillig‹ zurückgezogen hatten, waren nervöse Frauen, aber anders als Lirene und Tsutama war Toveine in ihrem einsamen Exil nur härter geworden. »Sie soll fünfzig Schwestern zur Verfügung gestellt bekommen.« Elaida hegte keinen Zweifel, dass sich höchstens zwei oder drei Männer in dieser Schwarzen Burg befanden, die tatsächlich die Macht lenken konnten. Fünfzig Schwestern sollten sie leicht überwältigen. Und doch könnten noch andere dort sein, mit denen sie sich beschäftigen müssten. Nachläufer, Zivilisten, die der Truppe nachzogen, Toren voller sinnloser Hoffnungen und unvernünftigem Ehrgeiz. »Und sie soll hundert – nein, zweihundert – Angehörige der Wache mitnehmen.«

»Seid Ihr sicher, dass das klug ist? Die Gerüchte über Tausende sind verrückt, aber ein Spion der Grünen in Caemlyn behauptet, dass sich in dieser Schwarzen Burg über vierhundert Mann aufhalten. Ein schlauer Bursche. Anscheinend hat er die Proviantwagen gezählt, welche die Stadt verlassen. Und Ihr seid Euch doch der Gerüchte bewusst, dass Mazrim Taim bei ihnen sein soll.«

Elaida behielt nur mühsam einen gelassenen Gesichtsausdruck bei. Sie hatte verboten, dass Taims Name erwähnt würde, und es war bitter, dass sie es nicht wagte – nicht wagte! –, Alviarin eine Strafe aufzuerlegen. Die Frau sah ihr unverwandt in die Augen. Das Fehlen eines auch nur oberflächlichen ›Mutter‹ war bezeichnend. Und die Frechheit, sie zu fragen, ob ihr Handeln klug sei! Sie war der Amyrlin-Sitz! Nicht die Erste unter Gleichgestellten – der Amyrlin-Sitz!

Sie öffnete die größte der Lackschachteln, und geschnitzte Elfenbeinminiaturen auf grauem Samt wurden sichtbar. Häufig tröstete es sie schon, wenn sie ihre Sammlung nur berührte, aber vor allem ließ es, genau wie das Stricken, das sie genoss, denjenigen, wer auch immer sie aufsuchte, seinen Platz erkennen, wenn sie den Miniaturen anscheinend mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Worten des Betreffenden. Sie betastete zuerst eine auserlesene Katze, schlank und geschmeidig, dann eine sorgfältig gekleidete Frau mit einem eigentümlichen kleinen Tier, ein Phantasieprodukt des Schnitzers, fast wie ein in Haar gehüllter Mann, der auf ihrer Schulter kauerte, aber letztendlich erwählte Elaida einen Fisch, der so fein gearbeitet war, dass er trotz des vom Alter gelb gewordenen Elfenbeins fast echt erschien.

»Vierhundert Mann aus dem Pöbel, Alviarin.« Sie fühlte sich bereits ruhiger, da Alviarins Mund zu einer schmalen Linie geworden war. Nur ein wenig, aber sie genoss jeden Riss in der Fassade der Frau. »Wenn es so viele sind. Und nur ein Narr könnte glauben, dass mehr als einer oder zwei von ihnen die Macht lenken können. Höchstens! Wir haben in zehn Jahren nur sechs Männer mit dieser Fähigkeit gefunden. Und nur vierundzwanzig während der letzten zwanzig Jahre. Ihr wisst, wie das Land gesäubert wurde. Und was Taim betrifft …« Der Name brannte auf ihrer Zunge. Der einzige falsche Drache, der jemals entkommen konnte und gedämpft wurde, sobald er in den Händen der Aes Sedai war. Das wollte sie nicht in der Chronik über ihre Regierungszeit lesen, und sicher nicht, bevor sie nicht beschlossen hatte, wie darüber berichtet werden sollte. Gegenwärtig sagte die Chronik noch nichts über die Zeit nach seiner Gefangennahme aus.

Sie strich mit dem Daumen über die Fischschuppen. »Er ist tot, Alviarin, sonst hätten wir schon längst etwas von ihm gehört, und er dient nicht al’Thor. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass er zunächst behauptete, der Wiedergeborene Drache zu sein, um diesem dann zu dienen? Könnt Ihr Euch vorstellen, dass er in Caemlyn wäre, ohne dass Davram Bashere zumindest versuchen würde, ihn zu töten?« Sie bewegte den Daumen schneller über den Elfenbeinfisch, als sie sich in Erinnerung rief, dass der Generalmarschall von Saldaea in Caemlyn Befehle von al’Thor entgegennahm. Worauf wollte Tenobia hinaus? Elaida behielt dies alles jedoch für sich und hielt ihr Gesicht ausdruckslos.

»Es ist gefährlich, die Zahl vierundzwanzig laut zu nennen«, sagte Alviarin unheilvoll ruhig, »genauso gefährlich wie die Zahl zweitausend. Die Chronik berichtet nur von sechzehn. Wir dürfen diese Jahre nicht Wiederaufleben lassen oder Schwestern, die nur wissen, was ihnen gesagt wurde, die Wahrheit herausfinden lassen. Selbst diejenigen, die Ihr zurückgerufen habt, bewahren Schweigen.«

Elaidas Gesicht nahm einen gedankenverlorenen Ausdruck an. Soweit ihr bekannt war, hatte Alviarin die Wahrheit über jene Jahre erst erfahren, nachdem sie zur Bewahrerin der Chroniken erhoben worden war, aber ihr Wissen war persönlicherer Natur. Nicht dass Alviarin sich dessen bewusst sein könnte – jedenfalls nicht mit Gewissheit. »Tochter, was auch immer sich daraus ergibt – ich habe keine Furcht. Wer wird mir eine Strafe auferlegen und wofür?« Damit war die Wahrheit hübsch verhüllt, aber das beeindruckte die andere Frau offenbar überhaupt nicht.

»Die Chroniken berichten über einige Amyrlins, die aus einem üblicherweise unklaren Grund eine öffentliche Strafe auf sich nahmen, aber mir schien es stets, als hätte eine Amyrlin es vielleicht so aufschreiben lassen, wenn sie keine andere Wahl hatte als …«

Elaida schlug mit der Hand auf den Tisch. »Genug, Tochter! Ich bin das Burggesetz! Was verborgen wurde, wird verborgen bleiben, aus dem gleichen Grund, aus dem es zwanzig Jahre lang verborgen blieb – zum Nutzen der Weißen Burg.« Erst dann spürte sie den Schmerz in ihrer Handfläche. Sie hob die Hand und offenbarte den entzweigebrochenen Fisch aus Elfenbein. Wie alt war er gewesen? Fünfhundert Jahre? Tausend Jahre? Es kostete sie erhebliche Mühe, nicht vor Zorn zu beben. Ihre Stimme war sicherlich davon beeinträchtigt. »Toveine soll fünfzig Schwestern und zweihundert Angehörige der Burgwache nach Caemlyn zu dieser Schwarzen Burg führen, wo sie jeden Mann dämpfen sollen, der die Macht lenken kann. Hängt jeden zusammen mit so vielen anderen, wie sie lebend gefangen nehmen können.« Alviarin blinzelte angesichts dieser Verletzung des Burggesetzes nicht einmal. Elaida hatte die Wahrheit ausgesprochen, wie sie sie sah. Die Amyrlin war das Burggesetz. »Und hängt auch die Toten. Sie sollen eine Warnung für jedermann sein, der auch nur daran denkt, die Wahre Quelle zu berühren. Toveine soll zu mir kommen. Ich will ihren Plan hören.«

»Alles wird Euren Befehlen gemäß ausgeführt werden, Mutter.« Die Antwort der Frau erfolgte genauso kühl und beherrscht, wie ihr Gesicht es war. »Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte – vielleicht möchtet Ihr noch einmal darüber nachdenken, so viele Schwestern von der Burg fortzuschicken. Anscheinend fanden die Aufrührer Euer Angebot unzulänglich. Sie befinden sich nicht mehr in Salidar, sondern sie sind auf dem Marsch. Die Berichte kommen zwar aus Altara, aber sie dürften inzwischen bereits in Murandy sein. Und sie haben sich selbst eine Amyrlin erwählt.« Sie überflog das erste Blatt ihres Stapels Papier, als suche sie nach dem Namen. »Es ist anscheinend Egwene al’Vere.«

Dass Alviarin dies – die wichtigste Nachricht – bis jetzt aufgespart hatte, hätte Elaida vor Zorn zerspringen lassen müssen. Stattdessen warf sie den Kopf zurück und lachte. Die Überraschung auf Alviarins Gesicht ließ sie noch lauter lachen, bis sie sich die Augen wischen musste.

»Ihr erkennt es nicht«, sagte sie, als sie zwischen Wogen der Heiterkeit wieder sprechen konnte. »Ihr seid zum Glück die Bewahrerin der Chroniken, Alviarin, und keine Sitzende. Im Saal würden die anderen Euch, blind wie Ihr seid, innerhalb eines Monats beiseiteschieben und Euch nur noch heranholen, wenn sie Eure Stimme brauchten.«

»Ich erkenne genug, Mutter.« Alviarins eiseskalte Stimme enthielt keinerlei Empfindung. »Ich sehe dreihundert und vielleicht mehr aufrührerische Aes Sedai, die mit einem von Gareth Bryne – der als großer Feldherr anerkannt ist – angeführten Heer auf Tar Valon zumarschieren. Auch wenn man die eher lächerlichen Berichte mit Vorsicht betrachtet, könnte dieses Heer über zwanzigtausend Mann umfassen, und da Bryne es anführt, werden in jedem Dorf und jeder Stadt, durch die sie ziehen, weitere hinzukommen. Ich will damit natürlich nicht sagen, dass ihre Hoffnung, die Stadt einzunehmen, berechtigt wäre, aber diese Angelegenheit ist wohl kaum ein Grund zur Heiterkeit. Chubain sollte befohlen werden, weitere Erhebungen für die Burgwache durchzuführen.«

Elaida senkte den Blick ungehalten auf den zerbrochenen Fisch, und dann stand sie auf und schritt, Alviarin den Rücken zugewandt, zum nächstgelegenen Fenster. Der im Bau befindliche Palast vertrieb den bitteren Geschmack – das und der Streifen Papier, den sie noch immer umklammert hielt.

Sie lächelte auf ihren zukünftigen Palast hinab. »Dreihundert Aufrührer, ja, aber Ihr solltet Tarnas Bericht abermals lesen. Mindestens einhundert Aufrührer sind bereits kurz davor, sich loszulösen.« Sie vertraute Tarna in gewissem Umfang. Sie war eine Rote, die keine unsinnigen Gedanken hegte, und sie sagte, die Aufrührer seien bereit, den Schatten anzugreifen. Stille, verzweifelte Schafe, die nach einem Hirten suchen, sagte sie. Sie war natürlich eine Wilde, aber dennoch vernünftig. Tarna sollte bald zurückkehren und einen vollständigeren Bericht abgeben können. Nicht dass er nötig wäre. Elaidas Pläne zeigten unter den Aufrührern bereits ihre Wirkung. Aber das war ihr Geheimnis.

»Tarna war sich stets sicher, Menschen zu etwas bringen zu können, das sie nicht tun wollten.« War dies mit besonderer Betonung geäußert worden, mit einem bedeutungsvollen Unterton? Elaida beschloss, es zu ignorieren. Noch durfte sie zu vieles an Alviarin nicht beachten, aber der Tag würde kommen. Bald.

»Aber vom Heer sagt sie, Tochter, es seien höchstens zwei- oder dreitausend Mann. Wenn es mehr wären, hätten sie sich ihr gezeigt, um uns einzuschüchtern.« Elaida glaubte, dass Augen-und-Ohren stets übertrieben, um ihre Neuigkeiten wertvoller erscheinen zu lassen. Nur Schwestern konnte man wahrhaft vertrauen. Roten Schwestern jedenfalls. Einigen von ihnen. »Aber es würde mich auch nicht kümmern, wenn sie zwanzig- oder fünfzig- oder hunderttausend Mann stark wären. Könnt Ihr Euch auch nur annähernd vorstellen, warum?« Als sie sich umwandte, war Alviarins Gesicht ausdruckslos und gefasst, eine Maske über verständnislosem Unwissen. »Ihr scheint mit allen Gesichtspunkten des Burggesetzes vertraut zu sein. Welche Strafe droht Aufrührern?«

»Anführer«, antwortete Alviarin zögerlich, »werden gedämpft.« Sie runzelte leicht die Stirn, und ihre Röcke schwangen kaum sichtbar, als sie sich nervös regte. Sogar Aufgenommene wussten das, und sie konnte sich nicht vorstellen, warum Elaida danach fragte. Gut. »Und vielen anderen droht dieselbe Strafe.«

»Vielleicht.« Die meisten Anführer könnten der Strafe vielleicht entgehen, wenn sie sich angemessen ergaben. Die gesetzliche Mindeststrafe war, vor den versammelten Schwestern in der Großen Halle gezüchtigt zu werden, gefolgt von mindestens einem Jahr und einem Tag öffentlicher Buße. Aber nichts besagte, dass die Strafe sofort abgebüßt werden musste. Ein Monat hier, ein Monat da – und sie würden ihre Verbrechen in zehn Jahren immer noch wiedergutmachen, eine ständige Erinnerung daran, was geschah, wenn man sich ihr widersetzte. Einige würden natürlich gedämpft werden – Sheriam und einige der bekannteren sogenannten Sitzenden –, aber nur, um die anderen einzuschüchtern, ohne dass die Burg geschwächt würde. Die Weiße Burg musste ihre Einheit bewahren, und sie musste stark bleiben. Stark, und fest in ihrem Griff.

»Nur eines der von ihnen begangenen Verbrechen fordert das Dämpfen.« Alviarin öffnete den Mund. Es hatte immer schon Auflehnungen gegeben, so geheim, dass nur wenige unter den Schwestern davon wussten. Die Chroniken schwiegen darüber. Die Listen der Gedämpften und Hingerichteten waren in Berichten zu finden, die nur der Amyrlin, der Bewahrerin der Chroniken und den Sitzenden zugänglich waren, abgesehen von den wenigen Bibliothekaren, die sie hüteten. Elaida gab Alviarin keine Gelegenheit zu sprechen. »Jede Frau, die unrechtmäßig Anspruch auf den Titel der Amyrlin erhebt, muss gedämpft werden. Wenn sie auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hätten, wären Sheriam oder Lelaine oder Carlinya oder eine der anderen ihre Amyrlin.« Tarna berichtete, dass Romanda Cassin ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatte. Romanda hätte die Stola sicherlich mit beiden Händen ergriffen, wenn sie auch nur die geringste Gelegenheit gesehen hätte. »Stattdessen haben sie eine Aufgenommene auserwählt!«

Elaida schüttelte merkwürdig belustigt den Kopf. Sie konnte jedes Wort des Gesetzestextes zitieren, der den Vorgang zur Wahl einer Amyrlin beschrieb – sie hatte ihn immerhin auch zu ihrem eigenen Nutzen gebraucht –, und nicht ein einziges Mal forderte dieser Text, dass die Frau eine vollwertige Schwester sein musste. Aber offensichtlich musste sie es dennoch sein, sodass jene, die das Gesetz formuliert hatten, es nicht festschrieben, und die Aufrührer hatten diese Lücke genutzt. »Sie wissen, dass ihre Sache hoffnungslos ist, Alviarin. Sie wollen sich brüsten und sich aufspielen, indem sie versuchen, einen Schutz vor ihnen drohender Strafe zu finden, und bringen das Mädchen als Opfer ein.« Was bedauerlich war. Das al’Vere-Mädchen war eine weitere mögliche Handhabe gegen al’Thor, und wenn sie die Eine Macht vollkommen beherrschte, musste sie eine der Stärksten der letzten tausend Jahre sein. Wahrhaft bedauerlich.

»Gareth Bryne und sein Heer empfinde ich kaum als Prahlerei. Ihr Heer wird fünf oder sechs Monate brauchen, bis es Tar Valon erreicht. In dieser Zeit könnte Chubain die Anzahl der Wachen erhöhen …«

»Ihr Heer«, höhnte Elaida. Alviarin war eine Närrin! Auch wenn sie sich äußerlich gelassen gab, war sie im Grunde ein Angsthase. Als Nächstes würde sie den Unsinn der Sanche-Frau über die freigelassenen Verlorenen hervorbringen. Sie kannte das Geheimnis natürlich nicht, aber genauso gut … »Bauern führen Spieße, Schlachter führen Bogen und Schneider reiten! Und bei jedem vom Weg abweichenden Schritt denken sie an die Leuchtenden Mauern, die Artur Falkenflügel im Zaum hielten.« Nein, kein Hase, ein Wiesel. Und doch wäre sie früher oder später Wieselfellbesatz an Elaidas Umhang. Das Licht vollbringe es bald. »Und bei jedem vom Weg abweichenden Schritt werden sie einen – wenn nicht zehn – Mann verlieren. Ich wäre nicht überrascht, wenn unsere Aufrührerinnen lediglich mit ihren Behütern erschienen.« Zu viele Menschen wussten von der Spaltung der Burg. Aber wenn der Aufstand gebrochen war, konnte alles als List dargestellt werden, vielleicht als Teil der Ergreifung al’Thors. Es wäre eine jahrelange Bemühung, aber Erinnerungen verblassten mit den Generationen. Jede letzte Aufrührerin würde auf Knien dafür bezahlen.

Elaida ballte die Fäuste, als packe sie bereits alle Aufrührerinnen an der Kehle. Oder Alviarin. »Ich werde sie zerbrechen, Tochter. Sie werden wie eine verfaulte Melone zerspringen.« Ihr Geheimnis stellte das sicher, gleichgültig, an wie viele Bauern und Schneider sich Bryne klammerte, aber sollte die Frau doch glauben, was sie wollte. Plötzlich griff ihr Talent des Vorhersagens, zeigte ihr mit absoluter Sicherheit Dinge, die sie nicht deutlicher hätte erkennen können, wenn sie offen vor ihr ausgelegt worden wären. »Die Weiße Burg wird wieder eine Einheit bilden – bis auf wenige Übrigbleibende, die verstoßen und verachtet werden –, eine Einheit und stärker denn je. Rand al’Thor wird dem Amyrlin-Sitz gegenübertreten und ihren Zorn erkennen. Die Schwarze Burg wird von Blut und Feuer zerrissen werden, und Schwestern werden dort einhergehen. Das prophezeie ich.«

Wie üblich zitterte sie nach dem Vorhersagen und rang nach Atem. Sie zwang sich, still und aufrecht zu stehen und langsam zu atmen. Sie ließ niemals Schwäche erkennen. Aber Alviarin … Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen geteilt, als habe sie die Worte vergessen, die sie hatte aussprechen wollen. Ein Blatt entglitt dem Stapel Papieren in ihren Händen und fiel beinahe herab, bevor sie es auffing. Das brachte sie zu sich. Sie setzte blitzartig wieder ihre Maske der Gelassenheit auf, ein vollkommenes Bild der Aes Sedai-Ruhe, aber sie war eindeutig bis ins Mark erschüttert. Oh, sehr gut. Sollte sie an Elaidas sicherem Sieg zu kauen haben. Sollte sie kauen und sich die Zähne daran ausbeißen.

Elaida atmete tief durch, setzte sich dann wieder hinter ihren Schreibtisch und legte den zerbrochenen Fisch zur Seite, wo sie ihn nicht ansehen musste. Es war an der Zeit ihren Vorteil zu nutzen. »Wir haben heute zu arbeiten, Tochter. Die erste Nachricht muss Lady Caraline Damodred überbracht werden …«

Elaida legte ihre Pläne dar und erweiterte Alviarins Wissen, weil eine Amyrlin letztendlich durch ihre Bewahrerin der Chroniken wirken musste, wie sehr sie die Frau auch hasste. Es war eine Genugtuung, Alviarins Augen zu beobachten, ihre Verwunderung darüber zu erkennen, was sie wohl sonst noch alles nicht wusste. Aber während Elaida ihre Befehle erteilte und die Welt zwischen dem Aryth Meer und dem Rückgrat der Welt aufteilte und zuwies, tanzte vor ihrem geistigen Auge das Bild des jungen al’Thor, der wie ein eingesperrter Bär auf dem Weg zu ihr war, um zu lernen, wie er für eine Mahlzeit tanzen sollte.

Die Chroniken konnten die Jahre der Letzten Schlacht kaum festhalten, ohne den Wiedergeborenen Drachen zu erwähnen, aber sie wusste, dass ein Name größer geschrieben würde als alle anderen. Elaida do Avriny a’Roihan, jüngste Tochter eines kleineren Hauses im Norden Murandys, die als der größte und mächtigste Amyrlin-Sitz aller Zeiten in die Geschichte eingehen würde. Als die Frau, die die Menschheit rettete.

Die Aiel, die in einer tiefen Senke der niedrigen, mit braunem Gras bewachsenen Hügel standen, wirkten wie geschnitzte Figuren, da sie den durch einen heftigen Wind herangetragenen Staub nicht beachteten. Es störte sie nicht, dass zu dieser Jahreszeit hoher Schnee den Boden hätte bedecken sollen. Niemand von ihnen hatte jemals Schnee gesehen, und diese Bruthitze, obwohl die Sonne ihren Zenit noch nicht erreicht hatte, war weniger stark als dort, wo sie herkamen. Ihre Aufmerksamkeit blieb auf die südliche Anhöhe gerichtet. Sie warteten auf das Zeichen, welches das Eintreffen des Schicksals der Shaido-Aiel ankündigen würde.

Sevanna wirkte äußerlich wie die anderen, obwohl sie durch einen Kreis von Töchtern des Speers um sie herum hervorgehoben wurde, die ruhig auf den Fersen hockten, die dunklen Schleier bereits über die Gesichter gezogen, sodass nur die Augen frei blieben. Sie wartete ebenfalls und ungeduldiger, als sie schien, aber doch nicht so ungeduldig, dass alles andere ausgeschlossen gewesen wäre. Das war ein Grund, warum sie befahl und die anderen folgten. Der zweite Grund war, dass sie erkannte, was sein konnte, wenn man sich nicht von veralteten Bräuchen und starrer Tradition die Hände binden ließ.

Zu ihrer Linken befanden sich zwölf Männer und eine Frau, die jeder einen runden Schild und drei oder vier Kurzspeere trugen und mit dem graubraunen Cadin’sor bekleidet waren, der sich der Landschaft hier genauso gut anpasste wie im Dreifaltigen Land. Efalin, deren kurze, bereits ergrauende Haare unter der um ihren Kopf gewickelten Shoufa verborgen waren, schaute hin und wieder in Sevannas Richtung. Wenn man von einer Tochter des Speers behaupten konnte, dass sie beunruhigt war, dann galt dies für Efalin. Einige Shaido-Töchter des Speers waren nach Süden gezogen, um sich den um Rand al’Thor herumscharwenzelnden Toren anzuschließen, und Sevanna bezweifelte nicht, dass andere darüber sprachen. Efalin musste sich fragen, ob es genügte, wenn sie als Ausgleich eine Eskorte von Töchtern des Speers für Sevanna bereitstellte, als wäre sie selbst einst eine Far Dareis Mai gewesen. Zumindest zweifelte Efalin nicht daran, wo die wahre Macht lag.

Wie Efalin führten auch die Männer Shaido-Kriegergemeinschaften, und sie beäugten einander hin und wieder, während sie die Anhöhe beobachteten – besonders der wuchtige Maeric, der ein Seia Doon war, und der narbengesichtige Bendhuin von Far Aldazar Din. Nach den heutigen Ereignissen würde die Shaido nichts mehr davon abhalten, einen Mann nach Rhuidean zu schicken, der zum Clanhäuptling erklärt würde, wenn er überlebte. Bis das geschah, sprach Sevanna als Clanhäuptling, da sie die Witwe des letzten Häuptlings war. Der letzten beiden Häuptlinge. Sollten doch diejenigen, die murrten, sie bringe Pech, daran ersticken.

Goldene und elfenbeinerne Armreife klangen leise, als Sevanna das dunkle Schultertuch um ihre Arme und ihre Halsketten richtete. Auch Letztere waren überwiegend aus Gold und Elfenbein, nur eine Kette bestand aus einer Ansammlung von Perlen und Rubinen, die einer adligen Feuchtländerin gehört hatten – der Frau, die jetzt Weiß trug und die anderen Gai’chain zurück in die ›Brudermörders Dolch‹ genannten Berge brachte. Einer der Rubine von der Größe eines kleinen Hühnereis schmiegte sich zwischen ihre Brüste. Die Feuchtlande hielten reiche Beute bereit. Ein großer Smaragd an ihrem Ring fing das Sonnenlicht in grünem Feuer ein. Fingerringe waren einer der Bräuche der Feuchtländer, die es wert waren, sie sich zu eigen zu machen, ungeachtet der häufig auf sie abzielenden Blicke. Sie besäße noch mehr Ringe, wenn sie diesem in seiner Pracht entsprächen.

Die meisten Männer glaubten, dass Maeric oder Bendhuin als Erster die Erlaubnis der Weisen Frauen erhielte, sich nach Rhuidean durchzuschlagen. Von dieser Gruppe vermutete nur Efalin, dass niemand die Erlaubnis bekäme. Aber sie war klug genug, ihre Vermutung vorsichtshalber nur Sevanna und niemandem sonst gegenüber auszusprechen. Sie konnten sich nicht vorstellen, das Alte abzulegen, und tatsächlich war sich Sevanna bewusst, auch wenn sie das Neue ungeduldig annehmen wollte, dass sie die Weisen Frauen langsam darauf hinführen musste. Vieles Hergebrachte hatte sich bereits geändert, seit die Shaido die Drachenmauer in die Feuchtlande überquert hatten – die im Vergleich zum Dreifaltigen Land noch immer fruchtbar waren –, und dennoch würde sich noch mehr ändern. Wäre Rand al’Thor erst in ihrer Hand, und hätte sie den Car’a’carn erst geheiratet, den Häuptling aller Aiel-Häuptlinge – dieser Unsinn vom Wiedergeborenen Drachen war Feuchtländer-Geschwätz –, würden Clanhäuptlinge und auch Septenhäuptlinge und vielleicht sogar die Oberhäupter der Kriegergemeinschaften auf andere Art benannt. Rand al’Thor würde sie benennen – natürlich nach ihren Anweisungen. Und das wäre erst der Anfang. Beispielsweise würde sich auch die Vorstellung der Feuchtländer ändern, den Rang an die Kinder und Enkel weiterzugeben.

Der Wind frischte einen Moment auf und wehte südwärts. Er würde die Geräusche der Feuchtländerpferde und der Wagen übertönen.

Sie richtete erneut ihr Schultertuch und versagte es sich, das Gesicht zu verziehen. Sie durfte um keinen Preis beunruhigt wirken. Ein Blick nach rechts vertrieb die Sorge sofort wieder. Über zweihundert Weise Frauen der Shaido hatten sich dort versammelt, und normalerweise beobachteten zumindest einige sie wie Geier, auch wenn aller Augen auf die Anhöhe gerichtet waren. Nicht nur eine der Frauen richtete unbehaglich ihr Schultertuch oder glättete bauschige Röcke. Sevanna schürzte die Lippen. Schweiß perlte auf einigen jener Gesichter. Schweiß! Wo war ihre Ehre geblieben, dass sie bei jedem Blick nervös wurden?

Alle erstarrten ein wenig, als ein junger Sovin Nai auf der Anhöhe erschien und im Hinabsteigen seinen Schleier senkte. Er kam direkt zu Sevanna, wie es angemessen war, aber zu ihrer Verärgerung sprach er ausreichend laut, dass alle ihn hören konnten. »Einer ihrer dreisten Kundschafter ist entkommen. Er war verletzt, ist aber dennoch zu Pferde geflüchtet.«

Die Anführer der Gemeinschaften stürmten voran, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Das durfte sie nicht durchgehen lassen. Sie würden im eigentlichen Kampf die Führung übernehmen – Sevanna hatte niemals in ihrem Leben mehr getan, als einen Speer nur in der Hand zu halten –, aber sie würde sie keinen Moment vergessen lassen, wer sie war. »Erhebt jeden einzelnen Speer gegen sie«, befahl sie laut, »bevor sie sich vorbereiten können.« Sofort scharten sie sich wie ein Mann um sie.

»Jeden Speer?«, fragte Bendhuin ungläubig. »Ihr meint, außer den Vorposten …«

Maeric unterbrach ihn mit finsterem Gesicht. »Wenn wir keine Reserve zurückbehalten, können wir …«

Sevanna schnitt ihnen beiden das Wort ab. »Jeden Speer! Wir haben es mit Aes Sedai zu tun. Wir müssen sie augenblicklich überwältigen!« Efalin und die meisten der anderen nahmen einen unbewegten Gesichtsausdruck an, aber Bendhuin und Maeric runzelten nachdenklich die Stirn. Narren. Sie hatten ein Dutzend Aes Sedai vor sich, und doch wollten sie, trotz der mehr als vierzigtausend Algai’d’siswai, auf denen sie bestanden hatten, ihren Kundschafter-Vorposten und ihre Reservespeere bewahren, als müssten sie noch weiteren Aiel oder einem Feuchtländer-Heer gegenübertreten. »Ich spreche als Clanhäuptling der Shaido.« Sie müsste das eigentlich nicht erwähnen, aber andererseits konnte eine Erinnerung daran nicht schaden. »Sie sind nur eine Handvoll.« Sie wählte jetzt jedes Wort mit Verachtung. »Sie können überwältigt werden, wenn die Speere schnell genug sind. Ihr wart bei Sonnenaufgang noch bereit, Desaine zu rächen. Rieche ich jetzt Angst? Angst vor ein paar Feuchtländern? Haben die Shaido ihre Ehre verloren?«

Diese Worte ließen ihre Gesichter, wie beabsichtigt, versteinern. Sogar Efalins Augen wirkten wie polierte graue Edelsteine, als sie sich verschleierte. Sie gab in der Zeichensprache Anweisungen, und als die Anführer der Gemeinschaften die Anhöhe hinaufstürmten, folgten ihnen die Töchter des Speers um Sevanna. Das hatte sie nicht beabsichtigt, aber zumindest bewegten sich die Speerträger. Sie konnte sogar vom tiefsten Punkt der Senke aus erkennen, dass scheinbar kahler Boden Cadin’sor-bekleidete Gestalten ausspie, die mit langen Schritten, die sogar Pferde überrunden konnten, südwärts eilten. Es galt, keine Zeit zu verschwenden. Mit dem Gedanken, später mit Efalin zu sprechen, wandte Sevanna sich den Weisen Frauen zu.

Aus denen erwählt, die die Eine Macht lenken konnten, kamen sechs oder sieben Weise Frauen der Shaido auf jede Aes Sedai um al’Thor, und doch sah Sevanna Zweifel, den sie hinter versteinerten Gesichtern zu verbergen suchten, aber er war dennoch da, an unruhigen Blicken und die Lippen benetzenden Zungen erkennbar. Heutzutage wurden viele Traditionen abgelegt, Traditionen, die so alt und stark waren wie das Gesetz. Weise Frauen nahmen nicht an Schlachten teil. Weise Frauen hielten sich weit von Aes Sedai fern. Sie kannten die uralten Geschichten, dass die Aiel ins Dreifaltige Land geschickt wurden, um die Pläne der Aes Sedai zu durchkreuzen, und dass sie vernichtet würden, wenn sie ihnen jemals wieder einen Plan verdarben. Sie hatten gehört, dass Rand al’Thor vor allen behauptet haben sollte, die Aiel hätten als Teil ihres Dienstes an den Aes Sedai geschworen, keine Gewalt anzuwenden.

Sevanna war einst sicher gewesen, dass jene Geschichten Lüge waren, aber in letzter Zeit glaubte sie, dass die Weisen Frauen sie als wahr erachteten. Natürlich hatte keine von ihnen ihr das gesagt. Es war nicht wichtig. Sie selbst hatte niemals die beiden Reisen nach Rhuidean unternommen, die erforderlich waren, um eine Weise Frau zu werden, aber die anderen hatten sie dennoch, wenn auch zum Teil widerwillig, akzeptiert. Jetzt hatten sie keine andere Wahl, als sie weiterhin zu akzeptieren. Nutzlose Traditionen würden neu gestaltet werden.

»Aes Sedai«, sagte sie leise. Sie beugten sich mit gedämpft klingenden Armreifen und Halsketten zu ihr, um ihr Flüstern verstehen zu können. »Rand al’Thor, der Car’a’carn, ist in ihrer Gewalt. Wir müssen ihn befreien.« Einige runzelten die Stirn. Die meisten glaubten, sie wollte den Car’a’carn lebend gefangen nehmen, um den Tod Couladins, ihres zweiten Ehemannes, zu rächen. Sie verstanden das, aber deshalb waren sie nicht hergekommen. »Aes Sedai«, zischte sie verärgert. »Wir haben unser Versprechen gehalten, aber sie haben ihres gebrochen. Wir haben nichts verletzt, sie aber alles. Ihr wisst, wie Desaine ermordet wurde.« Natürlich wussten sie es. Die sie beobachtenden Blicke gewannen jäh an Schärfe. Eine Weise Frau zu töten, kam dem Töten einer schwangeren Frau, eines Kindes oder eines Schmieds gleich. Einige blickten sehr streng drein – Theravas, Rhiales und andere. »Wenn wir diese Frauen ungeschoren davonkommen lassen, dann sind wir weniger als Tiere, dann haben wir keine Ehre. Ich aber halte an meiner Ehre fest.«

Mit diesen Worten raffte sie würdevoll ihre Röcke und erklomm mit hocherhobenem Kopf und ohne zurückzuschauen die Anhöhe. Sie war sich sicher, dass die anderen ihr folgen würden. Therava und Norlea und Dailin würden dafür sorgen, und auch Rhiale und Tion und Meira und die anderen, die sie vor einigen Tagen begleitet hatten, um zuzusehen wie Rand al’Thor von den Aes Sedai geschlagen und wieder in seine Holzkiste gesteckt wurde. Ihre Mahnung hatte noch mehr den dreizehn als den anderen gegolten, und sie wagten es nicht, sie zu enttäuschen. Desaines Tod schweißte sie zusammen.

Weise Frauen mit gerafften Röcken konnten nicht mit den Algai’d’siswai in ihren Cadin’sors mithalten, wie sehr sie es auch versuchten. Sie liefen fünf Meilen über jene wogenden Hügel – kein langer Weg –, erreichten einen Hügelkamm und sahen, dass der Tanz der Speere bereits begonnen hatte. In gewisser Weise.

Tausende von verschleierten Algai’d’siswai in Grau- und Brauntönen drängten sich um einen Kreis von Feuchtländer-Wagen. Dieser Wagenkreis umschloss eine der kleinen Baumgruppen, die in dieser Gegend hin und wieder zu finden waren. Sevanna atmete verärgert ein. Die Aes Sedai hatten sogar Zeit gehabt, alle ihre Pferde heranzubringen. Die Speerträger umzingelten die Wagen, bedrängten sie, ließen Pfeile auf sie herabregnen, aber die vorne befindlichen Soldaten schienen gegen eine unsichtbare Mauer zu stoßen. Zunächst gelangten die am höchsten fliegenden Pfeile über diese Mauer, aber dann trafen auch sie irgendwo ungesehen auf und prallten zurück. Leises Murmeln erhob sich unter den Weisen Frauen. »Erkennt Ihr, was die Aes Sedai tun?«, fragte Sevanna, als könne sie die Gewebe der Einen Macht ebenfalls sehen. Sie schnaubte verächtlich. Die Aes Sedai mit ihren ruhmreichen Drei Eiden waren Narren. Wenn sie schließlich beschlössen, die Macht als Waffe zu benutzen, anstatt sie nur dazu zu verwenden, Barrieren aufzubauen, wäre es zu spät. Vorausgesetzt, die Weisen Frauen standen nicht zu lange da und schauten nur zu. Irgendwo in jenen Wagen befand sich Rand al’Thor, vielleicht noch immer geduckt in einer Kiste, darauf wartend, dass sie ihn befreite. Wenn die Aes Sedai ihn festzuhalten vermochten, dann konnte auch sie es, mithilfe der Weisen Frauen. Und mithilfe eines Versprechens. »Therava, führt Eure Hälfte jetzt westwärts. Haltet Euch zum Angriff bereit, wenn ich es tue. Für Desaine und das Toh, das die Aes Sedai uns schulden. Wir werden sie ihrem Toh begegnen lassen, wie niemand jemals zuvor seinem Toh begegnet ist.«

Es war töricht und anmaßend davon zu sprechen, dass jemand eine Verpflichtung erfüllen sollte, die er nicht anerkannt hatte, aber Sevanna hörte in dem zornigen Murmeln anderer Frauen weitere heftig geäußerte Versprechen, die Aes Sedai ihrem Toh begegnen zu lassen. Nur jene, die Desaine auf Sevannas Befehl hin getötet hatten, blieben stumm. Therava presste kurz die schmalen Lippen zusammen, aber schließlich sagte sie: »Es wird Euren Befehlen gemäß geschehen, Sevanna.«

An einer leicht zugänglichen Anhöhe führte Sevanna ihre Hälfte der Weisen Frauen zur östlichen Seite des Kampfplatzes. Sie hatte auf dem Hügel bleiben wollen, von wo aus sie einen guten Überblick gehabt hätte – auf diese Weise führte ein Clanhäuptling oder ein Schlachtführer den Tanz der Speere –, aber in diesem einen Punkt fand sie bei Therava und den anderen, die das Geheimnis um Desaines Tod teilten, keine Unterstützung. Die Weisen Frauen bildeten einen scharfen Kontrast zu den Algai’d’siswai, als sie diese in ihren weißen Algodeblusen und den dunklen Tuchröcken und Schultertüchern, mit den glitzernden Armreifen und Halsketten und ihrem von dunklen Stirntüchern zurückgebundenen, hüftlangen Haar aufmarschieren ließ. Trotz ihrer Entscheidung, dass sie, wenn sie an einem Tanz der Speere teilnehmen sollten, mitten hineingehen und nicht auf einem abseitsstehenden Hügel warten würden, glaubte Sevanna nicht, dass sie bereits erkannten, dass der wahre Kampf heute ihre Aufgabe war. Nach dem heutigen Tag würde nichts bleiben, wie es war, und Rand al’Thor festzusetzen, war der geringste Teil ihrer Aufgabe.

Unter den Algai’d’siswai konnte man nur von der Höhe aus Männer von Töchtern des Speers unterscheiden. Schleier und Shoufas verbargen Köpfe und Gesichter, und Cadin’sors waren, abgesehen von den Unterschieden im Schnitt, die Clan, Sept und Gemeinschaft kennzeichneten, Cadin’sors. Jene am äußeren Rand der Einkreisung schienen verwirrt und murrten, während sie darauf warteten, dass etwas geschähe. Sie waren mit der Bereitschaft hierhergekommen, mit Aes Sedai-Blitzen zu tanzen, und jetzt bewegten sie sich ungeduldig im Kreis, zu weit hinten, um die Hornbogen einzusetzen, die noch immer in Lederfutteralen auf ihren Rücken hingen. Sie würden nicht mehr allzu lange warten müssen, wenn es nach Sevanna ging.

Die Hände auf den Hüften, wandte sie sich an die anderen Weisen Frauen. »Diejenigen, die südlich von mir stehen, werden unterbinden, was die Aes Sedai gerade tun. Diejenigen, die nördlich von mir stehen, werden angreifen. Vorwärts mit den Speeren!« Mit diesem Befehl wandte sie sich um und wollte die Vernichtung der Aes Sedai beobachten, die geglaubt hatten, sie müssten nur Stahl gegenübertreten.

Aber nichts geschah. Vor ihr brodelte erfolglos die Masse der Algai’d’siswai, und das lauteste Geräusch war das gelegentliche Trommeln der Speere auf Schilde. Sevanna nahm all ihren Zorn zusammen, spulte ihn wie einen Faden von einer Spindel ab. Sie war so sicher gewesen, dass sie, nachdem ihnen Desaines hingeschlachteter Leichnam gezeigt worden war, bereit wären, aber wenn es ihnen noch immer unvorstellbar war, Aes Sedai anzugreifen, würde sie sie in den Kampf jagen, wenn es sein musste, um sie alle so sehr zu beschämen, bis sie verlangten, das Gai’chain-Weiß anlegen zu dürfen.

Plötzlich schoss eine Kugel reiner Flammen von der Größe des Kopfes eines Mannes im Bogen zischend auf die Wagen zu, dann eine weitere, Dutzende. Der Knoten in ihrer Magengrube löste sich. Weitere Feuerkugeln kamen von Westen, wo sich Therava und die anderen befanden. Rauch begann von den brennenden Wagen aufzusteigen, zunächst graue Rauchfäden, dann dichte schwarze Wolken. Das Murmeln der Algai’d’siswai änderte seine Tonlage, und obwohl sich die Frauen unmittelbar vor ihr kaum bewegt hatten, erkannten sie plötzlich, vorwärtsgehen zu müssen. Rufe hallten von den Wagen her – Männer, die vor Zorn schrien und vor Schmerz brüllten. Welche Barrieren auch immer die Aes Sedai errichtet hatten, sie waren niedergerissen. Es hatte begonnen, und nur ein Ende war möglich. Rand al’Thor würde ihr gehören. Er würde ihr die Aiel liefern, damit sie die Feuchtlande einnehmen konnte, und würde ihr, bevor er starb, die Töchter und Söhne geben, welche die Aiel nach ihr führen würden. Vielleicht würde es ihr sogar gefallen. Er sah in der Tat recht gut aus und war stark und jung.

Sie hatte nicht erwartet, dass die Aes Sedai leicht zu besiegen wären, und so war es auch, Feuerkugeln fielen zwischen Speere, verwandelten in den Cadin’sor gekleidete Gestalten in Fackeln, Blitze zuckten aus einem klaren Himmel und schleuderten Menschen und Erde in die Luft. Die Weisen Frauen lernten jedoch durch das, was sie sahen, oder vielleicht hatten sie es bereits gewusst und vorher nur gezögert. Die meisten lenkten die Macht so selten, besonders dort, wo es außer den Weisen Frauen niemand sehen konnte, dass nur eine andere Weise Frau erkannte, ob jemand von ihnen die Macht lenken konnte. Was auch immer der Grund dafür war – die Blitze fielen erst zwischen die Shaido-Speere, als weitere die Wagen anzugreifen begannen.

Nicht alle erreichten ihr Ziel. Feuerkugeln zischten durch die Luft, einige so groß wie Pferde, Silberblitze fuhren wie Himmelsspeere in den Boden und schossen manchmal seitwärts, als wären sie auf einen unsichtbaren Schild getroffen, explodierten mitten im Flug oder verschwanden einfach völlig. Donnern und Krachen erfüllte die Luft und kämpfte gegen Rufe und Schreie an. Sevanna betrachtete verzückt den Himmel. Es erinnerte an die Schaustellungen der Feuerwerker, über die sie gelesen hatte.

Plötzlich wurde die Welt in ihren Augen weiß. Sie schien zu schweben. Als sie wieder sehen konnte, lag sie ein Dutzend Schritte von ihrem vorherigen Standplatz entfernt flach auf dem Boden, alle Muskeln schmerzten, sie rang nach Atem und war von Schmutz bespritzt. Das Haar stand ihr zu Berge. Andere Weise Frauen lagen ebenfalls am Boden, rund um ein gezacktes Loch im Boden von einem Spann Durchmesser. Dünne Rauchfäden stiegen von den Gewändern einiger der Frauen auf. Nicht alle lagen am Boden – die Himmelsschlacht aus Feuer und Blitzen wurde fortgeführt –, aber zu viele. Sie musste sie wieder in den Kampf schicken.

Sie zwang sich zu atmen und rappelte sich hoch, ohne sich die Mühe zu machen, sich abzuklopfen. »Schwingt die Speere!«, rief sie. Sie ergriff Estalaines kantige Schultern und wollte die Frau hochziehen, erkannte dann aber an ihren starren blauen Augen, dass sie tot war, und ließ sie zurücksinken. Stattdessen zog sie eine benommene Dorailla hoch, entriss einer gefallenen Donnergängerin den Speer und schwang ihn hoch in die Luft. »Vorwärts mit den Speeren!« Einige der Weisen Frauen schienen dies wörtlich zu nehmen und tauchten in die Menge der Algai’d’siswai ein. Andere behielten einen kühleren Kopf und halfen jenen, die aufstehen konnten. Der Feuer- und Blitzsturm ging weiter, während Sevanna entlang der Reihen der Weisen Frauen wütete, ihren Speer schwenkte und schrie: »Schwingt die Speere! Vorwärts mit den Speeren!«

Sie verspürte den Drang zu lachen. Sie lachte. Schmutzbespritzt und mitten im Kampfgeschehen, war sie noch niemals zuvor in ihrem Leben so erheitert gewesen. Sie wünschte fast, sie hätte sich entschieden, eine Tochter des Speers zu werden. Fast. Eine Far Dareis Mai konnte genauso wenig ein Clanhäuptling werden, wie ein Mann eine Weise Frau werden konnte. Der Weg einer Tochter des Speers zur Macht bedingte, dass sie den Speer aufgab und eine Weise Frau wurde. Als Frau eines Clanhäuptlings hatte sie die Macht aber schon in einem Alter geführt, in dem einer Tochter des Speers kaum zugetraut wurde, einen Speer zu tragen, oder einem Lehrling zur Weisen Frau zugetraut wurde, Wasser zu holen. Und jetzt hatte sie alles – als Weise Frau und Clanhäuptling –, obwohl noch einiges zu tun war, um diesen letzteren Titel wahrhaftig führen zu können. Titel waren unwichtig, solange sie die Macht hatte, aber warum sollte sie nicht beides bekommen?