Das Ruhrgebiet - Wolfram Eilenberger - E-Book

Das Ruhrgebiet E-Book

Wolfram Eilenberger

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Das Ruhrgebiet gibt es (noch) nicht! Erkenne dich selbst! Was würde es für das heutige Ruhrgebiet bedeuten, diesem Imperativ zu folgen? Zunächst die Einsicht, dass es (noch) nicht wirklich existiert. Es ist nirgends amtlich registriert, seine Grenzen sind nicht beschrieben. Es ist Mythos und doch Heimat. Wolfram Eilenberger, einer der besten Philosophen des Landes, versucht, diesem Paradox nachzugehen. Denn als Kernregion Europas ist das Ruhrgebiet am Ende ein Modell für uns alle. Ein Jahr ist der Philosoph Wolfram Eilenberger vor Ort in Mülheim an der Ruhr. Seine dortige Mission: das Ruhrgebiet verstehen, gar lieben lernen. Aber wie eine Region lieben, die sich selbst oft missversteht? Auf keiner Landkarte verzeichnet, in keinem Register vermerkt, in keinem Kunstwerk verewigt, ist das Ruhrgebiet bis heute auf der Suche nach sich selbst. Irgendwo zwischen Kumpel und Kohlen, Stadien und Halden, Brachen und Lachen, bleibt er also zu bergen: der Schatz eines Reviers, das aus mehr bestehen will als nostalgischer Rückschau.

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Seitenzahl: 108

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Wolfram Eilenberger

Das Ruhrgebiet

Versuch einer Liebeserklärung

Tropen Sachbuch

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Zero-Media.net, München

Foto: © plainpicture /Kniel Synnatzschke

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50507-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11707-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

I Hömma, somma nomma?

Abwärts

Horizonte

Ein Kind mit vielen Namen

DU-Wedau

Künstliche Paradiese

Frühe Fühlung

Ohne Leiter

Hört die Signale

Schlafgebiet

Wir? Im Revier

Zwei Stücke, liegend

Entwurzelungen

Ohne Gerüst

Eingehaucht

Auf ein Neues

II Willi, wat is mit dir?

Blume des Reviers

Das Narrativ

Ruhr und Rührung

Jenseits von Oberhausen

Rückkehr nach Herne

Ruhr und Resilienz

Woanders ist auch scheiße

Nowak ermittelt

Seiltanz

Aufwachen

III Schluss mit die Fissematenten!

Satt im Pott

Mauvaise foi

Todeskreisel

Sonnenkinder

Götzendienste

Betonköpfe

Faust auf Faust

Parasit

Weil wir dich lieben

Das Ruhr-Paradox

Wer wir waren

Die Spur der Spuren

Wir können auch anders

Wo die Gefahr am größten war

IV Wat soll dat denn werdn, wenns fettich is?

Der Wille zur Zukunft

Radikale Hoffnung

Leben, nicht überleben

Erden-Kumpel

Das Revier der Meerraben

Anfänge

Essen in Düsseldorf

Familienähnlichkeiten

Ein neues Epos?

Berge bauen

Pott-Luck

Anmerkungen

Verwendete Literatur

Dank

I Hömma, somma nomma?

Abwärts

Alles Erkennen ist Erinnern. Doch wie sich an einen Ort erinnern, an dem man nie war?

Gut eine Fahrstunde südwestlich der Porta Westfalica – die Überlebensschlacht mit den Kleintransportern Osteuropas ist lang geschlagen – geht es noch immer leicht bergab. Just an der Stelle, da der Blick sich befreiend weitet, ragt der Betonkessel eines Kraftwerks dampfend aus der Ebene. Und dann erscheint es, nicht autobahnblau, nicht bundeslandweiß, sondern erdbraun informativ: Deutschlands denkwürdigstes Straßenschild.

Unter der Strichsilhouette einer angedeuteten Skyline zwei Worte. Keine eingetragene Stadt oder Gemeinde wird hier angekündigt, keine historische Stätte, ja nicht einmal eine konkret benennbare Sehenswürdigkeit. Sondern etwas durch und durch Imaginäres. Das kompromissgestählte Artefakt Dutzender Ausschusssitzungen, Ursprung gewiss zahlloser innerparteilicher Fehden, zentrales Produkt einer millionenschweren Imagekampagne: »Metropole Ruhr«. Auf keiner Karte dieser Welt verzeichnet, in keiner Verwaltungsdatei vermerkt, in keinem Förderplan als solche erwähnt. Ein klassischer »Nicht-Ort«. Oder, in vielleicht nicht allzu alten Worten: ein »U-Topos«. Nicht einmal Mama Google weiß, wie dorthin zu gelangen wäre.

Dennoch glaubt man, sofort zu erfassen, was gemeint ist. Zumal es konkrete Hilfen gibt. Gemäß dazugehöriger Premium-Website handelt es sich bei der »Metropole Ruhr« um eine

einzigartige Mischung aus mehr als fünf Millionen Menschen und 53 Städten. Eine Mischung, die so in Europa nicht zu finden ist. Eine Mischung, die die Region zu einer der großen Metropolen des Kontinents macht, … um eine Stadt der Städte.[1]

Ja, was denn nun? Merke: Jede Beschreibung ist eine Problembeschreibung.

Die mit der Wortfolge »Metropole Ruhr« verbundene Perplexität ist natürlich weder neu noch gelöst. Vielmehr begleitet sie besagtes Gebiet von dessen imaginärem Ursprung an.[2] Also seit mindestens 100 Jahren, als der Soziologe und Volkskundler Wilhelm Brepohl den Begriff des »Ruhrvolkes« ersann, um damit eine etwaige habituelle Eigenheit und regionale Selbstständigkeit des Menschenschlages zwischen Westfalen und dem Rheinland zu markieren. Nur zehn Jahre darauf, zu Ende der auch für das Ruhrgebiet – oder zumindest dessen Barone – Goldenen Zwanziger Jahre, wies der Publizist Erik Reger auf die bleibende Problemlage hin, die betreffende Region und deren Menschen auf einen Begriff zu bringen:

Die Ruhr ist jung und unbekannt … ein von hundert widersprüchlichen Fluchtlinienfestsetzungen ineinander geschachteltes Straßendickicht, ein von widersprüchlichen Ideologien überschwemmtes und von den Heuschreckenschwärmen sogenannter Kulturträger heimgesuchtes Menschenmaterial. Viele sprechen davon, wenige haben es gesehen, keiner hat es durchschaut.[3]

Wie ein spätes Echo auf Reger wird Heinrich Böll seinen Essay »Im Ruhrgebiet« im Jahre 1958 dann mit den Sätzen beginnen:

Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden: die Provinz, die diesen Namen trägt, weil man keinen anderen für sie fand, ist weder in ihren Grenzen noch in ihrer Gestalt genau zu bestimmen. Entdeckt ist das Ruhrgebiet noch nicht. Es bleibt Mystik oder Begriff und ist doch Heimat, so geliebt wie jede andere Heimat.[4]

So verstanden ist die Prägung »Metropole Ruhr« das vorläufig letzte Glied einer seit 100 Jahren währenden Unpässlichkeit. Das »Ruhrgebiet« ist ein sprachliches Zeichen ohne bestimmbaren Referenten. Und doch, wie Böll seinen ersten Paragrafen schließt, ein Menschengebiet: »Heimat, so geliebt wie jede andere Heimat.«

Horizonte

Meine erste bewusste Erinnerung an das Ruhrgebiet ist ein Fernsehsketch von Adolf Tegtmeier. Wenn Tegtmeier auf dem Bildschirm erschien, rief meine Mutter verlässlich aus: »Den kann ich nicht verputzen!«

Mit klassisch schiefer Mundbeuge und ebenjener Schiebermütze, die, wer weiß schon genau wie und weshalb, über Bertolt Brecht und Willi Brandt zum Habitus-Marker des denkwilligen Proletariats geworden war, sitzt Tegtmeier in meiner Erinnerung mit Bierglas in einer Kneipe und – ja, wie darf man es nennen? – philosophiert: »Dieset Bier, zum Beispiel, allet Atome. Dat ganze Bier, nix als Atome.«

Ich erinnere mich – wohl im neunten Lebensjahre wird es gewesen sein – noch genau an den mit dieser Tegtmeier-These verbundenen Existenz-Schock. Vor allem an dessen letzte, da unüberbietbare Kränkung: Klar, es gab keinen Weihnachtsmann. Auch mein Leben würde irgendwann enden. Und ja, selbst die eigenen Eltern hatten Sex. Das alles war schon enttäuschend genug. Aber jetzt noch das: der Fernseher, der Hausdackel, Jesus Christus, mein Bewusstsein, all dies, in Wahrheit »nix als Atome«, zielblinde Materie? Das gesamte Sein, ein unentwegtes, sinnloses Aufeinanderprallen kleinster Partikel?

In der ersten Ruhrgebiets-Erinnerung meines Lebens wurde dann sofort umgeschaltet. Wie gesagt, meine Mutter konnte diesen Adolf nicht verputzen. Und auch derart gottlose Thesen und Fragen schätzte sie in unserem Hause nicht. Wir hatten also, will ich sagen, zu Beginn der achtziger Jahre keinen allzu guten Start, das Ruhrgebiet und ich.

Ein Kind mit vielen Namen

Die Frage nach dem Sinn stellt sich bekanntlich erst, wenn der Sinn nicht mehr da ist. Die nach der Gegenwart, wenn die dazugehörige Zukunft fehlt. Die nach der Identität, wenn die alten Wege nicht mehr leiten. Das gilt für sämtliche menschlichen Bereiche und unterscheidet sie von allem anderen, was sonst noch aus Atomen bestehen mag. Von allem also, was damit zufrieden scheint, durch andere benannt zu werden, anstatt sich selbst zu bestimmen.

Forscht man ein wenig länger nach, erweist sich »Metropole Ruhr« als eine Marketing-Schöpfung des Jahres 2005. Es ist der aufgefrischte Nachfolger eines einst krachend gescheiterten Großprojekts, nämlich der infrastrukturellen Zusammenführung der Region zu einer einzigen »Ruhrstadt«, welches wiederum auf dem »Regionalverband Ruhr« auflehnt, dessen Ursprünge in die zwanziger Jahre zurückreichen, als die damals vier größten Städte des Gebiets – Essen, Dortmund, Duisburg und Bochum – zu einer Verwaltungseinheit zusammengefasst werden sollten. Nichts davon hat je wirklich gegriffen, weshalb wohl auch die Bezeichnung »Metropole Ruhr«, wie Wikipedia lakonisch kommentiert, »nicht in die Alltagssprache der Menschen einging«.[1]

Zumal die Alltagssprache ja bereits verschiedene, bestens verankerte Eigennamen zu bieten hatte und hat. Allen voran die geografisch nüchterne, wenn auch sachlich kaum gedeckte Bezeichnung »Ruhrgebiet« (sieht man auf die Karte, wäre »Emschergebiet« ebenso treffend). Nebst deren gängigsten Synonymen, also das männlich beinhebende »Revier« sowie das nach wie vor bestens sitzende, da zärtlich eigen-deprivierende, »Pott«.

Die Kosenamen offenbaren es. Was dem Ruhrgebiet, anders als fast allen Regionen Deutschlands, seine distinkte Identität verleiht, ist weder eine landschaftliche Prägung noch eine adelshistorische Tradition. Vielmehr handelt es sich als eingrenzbares Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft um eine Region, die ihre kulturelle Existenz weitestgehend einer bestimmten Form des Arbeitens verdankt. Genauer gesagt, dem »Abbauen« und »Fördern«, dem »Schachten« und »Schichten«, dem »Bohren« und »Bergen«. Wäre die Identität des Ruhrgebiets am Ende eine selbst gegrabene Grube, in die es permanent zurückfällt, aus Scheu vor dem Licht eines neuen Tages?

Andererseits, was würde dieser Region, gerade jetzt, da die endgültig letzte Schicht des Reviers am 31.12.2018 gefahren wurde, mehr entsprechen, als sich im Angesicht seiner triefenden Abgründe und gebietsübergreifenden Aushöhlung der Aufgabe zu stellen, einen weiteren Anfang zu bergen? Einmal mehr als eine Art Modellregion hervorzutreten, die in ihrem mutigen Bergungsdrang etwas zutage fördert, dessen Bedeutung und Wert weit über die eigenen Grenzen hinaus wirkt?

DU-Wedau

Über den eigenen Rand hinauszusehen, leicht macht es einem dieser Pott nicht. Bereits in der Anfahrt zeigt sich: Das real existierende Ruhrgebiet des Jahres 2020 ist eine Ebene, der jedes Gefühl von Weite abgeht. Wohl nichts hat dem Ruhrgebiet in den letzten Jahrzehnten mehr geschadet als die Zähigkeit seines Verkehrs. Sich an einem diesigen Herbsttag per Auto durch das Revier zu bewegen, gleicht der Erfahrung, durch ein 100-Kilometer-Becken Erbseneintopf zu tauchen. Ein frühes Gefühl der Verlorenheit stellt sich ein. Befeuert von Walter Benjamins Losung für den echten Flaneur und Stadtschreiber:

Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Wald verirrt, braucht Schulung. Da müssen die Straßennamen zu dem Irrenden sprechen wie das Knacken trockner Reiser.[1]

Und tatsächlich, nach mehr als sieben Stunden, das Navi ermuntert zum Spurwechsel, ein erstes sprechendes Zeichen, ja, mehr als das, eine unheimlich persönliche Ansprache. Das betreffende Autobahnausfahrtsschild lockt mit einem: »DU-Wedau«.

Duisburg-Wedau, Ort meiner frühesten Träume, Mutter aller jugendlichen Ziele!

Damals wie noch heute treffen sich die besten JahrgangsfußballerInnen in der Sportschule Duisburg-Wedau, um dort mit ihren Landesauswahlen Sichtungsturniere für die jeweiligen Jugendnationalmannschaften zu bestreiten. Die mittelrheinische Auswahl trifft auf die aus Oberbayern, die hessische auf die nordbadische … weshalb diesem Ort in den Herzen von Millionen junger Sportler bis heute eine geradezu mythische Bedeutung zukommt. So auch einst bei einem 14-jährigen Kreisauswahl-Linksaußen auf den Sportplätzen der Sporthochschule Schöneck bei Karlsruhe.

Was ein süddeutscher Pubertierender der späten achtziger Jahre darüber hinaus Anziehendes mit dem Ruhrgebiet verband? Ich wüsste es beim besten Willen nicht zu gestehen. In der Vorstellungswelt der Meinen war das Ruhrgebiet vor allem ein Ort, an dem man um keinen Preis leben wollte. An dem nichts lockte. Der nichts versprach. Alles, wofür dieses Gebiet stand – und, soweit bekannt, stehen wollte –, stand windschief zu den Aspirationen einer Reihenhausjugend in einer badischen Beamtenvorstadt: von den traditionsbeschämten Fußballvereinen zu den traditionsfreien Universitäten, von der einschlägigen Automarke (Opel) zum Politikverständnis (Gewerkschafts-SPD). Bereits der Klang dortiger Städtenamen hatte etwas von chronischen Atemwegserkrankungen: Bottrop, Castrop-Rauxel, Herne, Moers.

Unter den Meinen war das Ruhrgebiet Synonym für sozialen Abstieg und nachhaltiges Losertum. Wir hingegen fühlten uns aus tiefstem Inneren zu Höherem berufen. Das Wort »neoliberal« benutzte damals zwar noch keiner, die damit verbundenen Aspirationshorizonte waren aber bereits fest verankert. Das Ruhrgebiet hatte darin allenfalls den Platz einer Kontrastfolie.

Nach Wedau schaffte ich es übrigens nie. Und auch heute, am Tag der Anreise, führt der letzte Abzweig in die andere Richtung. Tiefer in den Forst hinein, nach Mülheim-Uhlenhorst, ins saturierte Ruhr-Randgebiet, von wo aus alle Wege nach Düsseldorf weisen. Nur noch wenige Hundert Meter. Der Trend geht zum Drittauto. Überparkte Spielstraßen. Selbstbewusste Kleinkinder auf Stützrädern. Augen und Jalousien. Die Neugier der Ereignisbefreiten.

Zur Begrüßung zwei Flaschen Wein auf dem Esstisch. Fast eine Heimkehr.

Künstliche Paradiese

Eine erste Begehung ergibt: Irgendwann ab Ende der achtziger Jahre hat hier jemand richtig Geld in die Hand genommen. Und viel Gutes gewollt. Die Kellersauna finnisch, der Garten japanisch, die tragenden Marmorsäulen dorisch, die Treppe hinauf eine integrierte, zweistöckige Rotundenbibliothek samt Humidor im holzverkleideten Biedermeier. Ansonsten aber wird das Haus von kaltem Marmor regiert, »straight outta München-Bogenhausen«, aus der Zeit, als Derrick dort noch ermittelte.

Die Decke des kathedralgleichen Wohnzimmers reicht bis in den dritten Stock, schwindlig eng hingegen die gusseisernen Wendeltreppen. Nichts in dieser einstigen Doppelhaushälfte gehorcht menschlichen Maßstäben oder auch nur Bedürfnissen. Nichts fügt sich wirklich. Gerade so, als sei diese Behausung zu keinem anderen Zweck einem Strukturwandel unterworfen worden als dem, die mannigfachen Fährnisse solch eines Unterfangens zu bezeugen.

Im zweiten Stock führt die Spiegeltür vom engeckigen Schlafzimmer in ein weiß gekacheltes Badezimmer. An Decke und Wand römisch gehaltene Lustfresken. Als Status-Zentrum fungiert dabei eine kreisförmige Badewanne, wie man sie sonst nur in den Rotlichtreportagen auf RTL2 zu sehen bekommt. Welcher Phantast sie einst freudig bestellt, vor allem aber, welcher hiesige Handwerksgeselle sie einst kopfschüttelnd eingesetzt haben mag? Vielleicht ein Schelmenroman. Erst mal anbaden.

Frühe Fühlung

Nach einer halben Stunde ist die überdimensionierte Wanne kaum zu einem Drittel gefüllt. Das Wasser darin bestenfalls lauwarm, derweil die Zuflüsse aus den silbernen Hähnen immer spärlicher werden. Eine Allegorie von fast unheimlicher Bündigkeit: Riesig ist der Pott, knapp und immer knapper indes seine Mittel. Wie, wenn überhaupt, kann das gut ausgehen? Oder verhält es sich gar so, dass es dieses sogenannte Ruhrgebiet in Wahrheit schon lange nicht mehr gibt, allein noch sein Name existiert, jedoch nichts mehr, was diesen noch eigentlich füllt und wärmt? Womit jedes Ansinnen, es von Neuem zu beschwören, also dem zweifelhaften Bestreben gliche, einen bereits seit mehr als Jahrzehnten verwesenden Leichnam zurück in die Existenz zu hauchen.