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Vom Wagnis, selbst zu denken Welche Philosophie kann uns heute noch leiten? Auf den Spuren von Theodor W. Adorno, Susan Sontag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend entwirft »Geister der Gegenwart» ein großes Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit. Wolfram Eilenberger erzählt mitreißend vom Aufbruch in eine neue Aufklärung, der direkt zu den Bruchlinien unserer Zeit führt. Winter 1949: Theodor W. Adorno kehrt aus den USA ins zerstörte Frankfurt zurück, Paul K. Feyerabend kriegsversehrt nach Wien. Wunderkind Susan Sontag besucht Thomas Mann in Los Angeles. Der junge Michel Foucault begeht in Paris einen weiteren Selbstmordversuch. Als Folge der Weltkriegskatastrophe suchen diese vier Selbstdenker ihren Weg in ein neues Philosophieren. Über die kommenden Jahrzehnte revolutionieren sie die Art und Weise, wie wir über unsere Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft nachdenken. Wolfram Eilenberger legt erneut ein erzählerisches Meisterwerk vor, das am Beispiel dieser vier mutigen Geister von der Kraft der Philosophie kündet, einen Ausgang aus den Engen der Gegenwart zu finden. Voller überraschender Einsichten und befreiender Impulse für unsere Zeit der Krise.
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Seitenzahl: 606
Wolfram Eilenberger
Geister der Gegenwart
Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948–1984
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2024 Wolfram Eilenberger
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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung einer Abbildung von © Ieva Baklane
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98665-5
E-Book ISBN 978-3-608-12373-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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erster aufschlag / premier service / first service
I. Aufklärungen
1948–1950
Frankfurt am Main – »Deutschland«
Agenda
Engel
Dialektik der Aufklärung
Trümmermänner
Lichtblicke
Nicht da sein
Beschädigtes Leben
Mission
Transzendental
Unter dem Pflaster
Geisterstunde
Berkeley – Sexuelle Revolution
Verurteilt
Orakel
Fiktionen
Ergriffen
Körper Von Gewicht
Deutsches Requiem
Common Core
Sprung
Paris – Sorge um das Selbst
Sexualität und Wahrheit
Überwachen und Schaffen
Model S
Reifeprüfung
Engagiert
Quadriga
Bissig
Wien – Follow the Science?
Zauberberg
Allein sprechen
Jenseits von Gut und Böse
Alte Kreise
Wiederbeatmet
Ungeklärt
Ähnlich sehen
Schmutzeffekte
Philosophische Untersuchungen
Morgen, Kinder
Basics
Morgen danach
Ohne Fundament
Für Interpretation
Mythos des Gegebenen
II
. Immanenz – Engen
1957/1958
Schweden – Wahnsinn und Gesellschaft
Stockholmer Frühling
Denken und Lenken
Ans Werk
Was ist der Mensch?
Träume eines Geistersehers
Fallstricke
Radikale Imagination
Archiv des Ursprungs
Adelante
Das ist Wahnsinn
Hölle, Hölle, Hölle
Ausschluss als Einschluss
Die große Verwahrung
Realer Albtraum
Ein Kessel Buntes
Positiv abgelehnt
Die letzten Menschen
Re-Entry
England – Next Level
Existenzprobleme
Bleierne Zeit
Leuchttürme
Heiße Spur
Unheimlichkeit des Gewöhnlichen
In Anführungszeichen
Kleiderordnung
Affenkäfig
Traumwandler
Die Pfade, die sich verzweigen
Don’t Mention The Paradox
Dramatisch
Land der Träume
Harvard – unterbewusst
Röntgenblick
Kaninchenfalle
Metaphysische Anfangsgründe
Nürnberg in Harvard
Truman in Oxford
Unglückliches Bewusstsein
Abschiede
Ghost
Eine neue Privatreligion
Nicht normal?
Demokratie als Krankenhaus
Regressiv
Gegenwartsaufarbeitung
Eros und Zivilisation
Heimsuchung
Ratées
Ohne Wiederkehr
Frankfurt – Metakritisch
Umfunktioniert
Fundamentalopposition
Enthüllung
Mission Impossible
Arbeit am Bannkreis
Eingeschlossen
Auslöschung Des Anderen
Angstbereit
Logische Verwaltung
Geist der Utopie?
Kein Fernglas
Was Nicht Tun?
Fall H.
Nie Wieder Faschismus!
Endspiel
III
. Theorie und Praxis – Entfremdungen
Mai 1968
Hanoi – »Camp«
This Is Not America
Other Minds
Road Less Travelled
Genie und Wahnsinn
Reise in die Dunkelheit
Balanceakt
Kritik Der Reinen Avantgarde
Kampf Der Kulturen?
Empfindung Und Experiment
Touché
Ich bin Camp
Wann ist ein Mensch?
In Anführungszeichen
Very Next Level
Camp ist ein Anderes
Area 51
Anti-Hero
Ohne Mich
Frankfurt – Nie wieder!
Teddybärendienst
Sponti-Lager
Tragik Der Begriffe
Wache Utopie
Kritik Der Positiven Vernunft
Team Camp?
Retraumatisiert
Pranger
Grand Hotel Abgrund
Kommunikatives Handeln
Prinzip Hoffnung
Paris und Tunis – Revolutionen
Si tacuisses
Pfeil und Bogen
Der Fremde
Karte und Gebiet
Wer spricht?
Fiktive Fußnote
Der TrÏeder des Fragens
Unter uns
Täterwissenschaften
Fehler im System
Arabischer Frühling
Lektor in Fabula
Revolution der Denkart
A priori im Rücken
Herrliche Zeiten
Das Gespenst des Strukturalismus
Precioussss
Faites votre jeu?
Rien ne va plus
Beantwortung der Frage
Foucault fragt, Foucault anTwortet
Ende Gelände?
Primat der Praxis
Morgen, in der Schlacht …
Fünf Monate im Mai
Berkeley – Anything goes
California Dreaming
Wiener Abwege
Auf Sand gebaut
Letzte Hypothese
Think pink
Progressiv bleiben
Revolutionary Road
Nicht ablehnbar
Did it my way
Anarchy in the UK
Der Brief vom 17. Dezember 1967
Skandale der Vernunft
Ein halbes Blatt Papier
Post Scriptum
Die Lehren des Don Paul
Auch keine Geschichte …
IV
. Radikalisiert – Entscheidungen
1969
Aufgaben
Kinder der Revolution
Stop making sense
Rot, Hunger
Hic Vincennes
Neue Lehren
Best never rest
Meister des Übergangs?
Wider die Identitätspolitik
Kontrainduktion
staying alive
Regeln des Spiels
Souveränitätsverlust
La Isla Bonita
Permanente Revolution
Ausgetanzt
Phänomenologie der Gewalt
Take the crown
Vi ses!
Abgang
Titel und Werke
Ohne ihn
Letzter Ausgang
V. Ausgänge – Sterben lernen
1984
Mündig?
Resigniert?
Aufgabe?
Räume der Theorie
Et tu?
Nein!
Zeit des Weltbilds
Triumph des Willens
Körperwelten
Maßstab?
Nachrufe
Rage und Maschine
Verlorene Illusionen
Changer la vie?
Diskurse der Moderne
Ethos der Moderne
Grenzgänger
Probe aufs Exempel
Endlicher
Stars and Swipes
Lehren?
Anfang von allem?
Probleme?
Aufklärung, gegenwärtig
Farewell
Zum Ausgang
Dank
Werkregister
Werke Theodor W. Adorno
Briefwechsel Adorno
Werke Paul K. Feyerabend
Briefwechsel Feyerabend
Werke Michel Foucault
Werke Susan Sontag
Weitere Werke
Auswahlbibliografie
Anmerkungen
I
. Aufklärungen
II
. Immanenz – Engen
III
. Theorie und Praxis – Entfremdungen
IV
. Radikalisiert – Entscheidungen
V
. Ausgänge – Sterben lernen
Bildnachweis
Personenregister
Tafelteil
Für Pia, immer gegenwärtig
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.«
Immanuel Kant(1),Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784
»Man muss absolut modern sein.«
Arthur Rimbaud(1),Ein Sommer in der Hölle, 1873
»Im Übrigen ist Literatur nichts anderes als ein gelenkter Traum.«
Jorge Luis Borges(1),Das Aleph, 1945
Am Abend des 10. Juni 1984 steht es im Herrenfinale der French Open von Paris zwischen Ivan Lendl(1) (CZE) und John McEnroe(1) (USA) im fünften und entscheidenden Satz 6:5 und 40:30. Matchball Lendl(2).
Der Autor dieser Zeilen kann sich noch genau daran erinnern. Er hatte McEnroe(2) den Sieg gewünscht.
I. Aufklärungen
Worauf durfte er hoffen? Mit der bangen Gewissheit, lediglich »Objekt von Konstellationen, nicht eigentlich meiner selbst mächtig zu sein«, besteigt Theodor W. Adorno am 11. Oktober 1949 den »Chief« von Los Angeles nach New York.[1] Zur Verabschiedung an den Bahnsteig gekommen ist neben seiner Gattin (»unendliche Verbundenheit mit Gretel bis in den Tod«) auch eine kleine Gesandtschaft jener Künstler- und Literatenkolonie, die sich mit den Jahren des Exils auf den Namen »Deutsch-Kalifornien« getauft hat. Sowie, natürlich, Adornos bevorzugter Denkgenosse und Vorgesetzter Max Horkheimer(1), seit knapp zwei Jahrzehnten Direktor des aus Stiftungsmitteln finanzierten Instituts für Sozialforschung.
Am Gleis steckt Horkheimer(2) dem Freund noch einen Essayband aus der Feder Jean-Paul Sartres(1) zu. Bis zum Zugwechsel in Chicago vermögen die Gedanken des neuen Stars am französischen Intellektuellenhimmel indes nur bedingt zu überzeugen: »Auffällig der Widerspruch zwischen den oft schlagenden konkreten Einsichten … und den armselig leeren Kategorien wie ›sich selbst wählen‹ usw., aus denen jene angeblich hervorgesponnen sind.«[2]
Sartres(2) Ambitionen als Literat wie Philosoph, Adorno begreift es wohl, sind auch die eigenen. In Wahrheit sind es die einer ganzen Generation von Davongekommenen: Wie Befreiung nach der Befreiung denken? Wie den Ausgang in ein mündiges Leben aufzeigen? Wie, nach den Erfahrungen dieses Krieges, überhaupt noch von Selbstbestimmung sprechen? Tagebuchnotiz: »Ein Haupteinsatzpunkt der kommenden Arbeit.«
Zunächst aber gilt es, auf dem Weg zurück nach Frankfurt auch in New York vorläufig Abschied zu nehmen. Insbesondere von der verwitweten Mutter, deren erster Anblick Adorno schaudern lässt: »Vom Alter wie zerstört, das Gesicht, anstatt klar, wie in Stücke zerrissen.« Gar ist ihm, als »wäre sie nicht identisch, sondern etwa ein altes Weib, das sie selber vor 20 Jahren im Spaß imitierte«. Auch die Tatsache, dass ihre amerikanische Pflegekraft sie wie »ein Tier tätschelt« und dabei »a good girl« nennt, trägt nicht zur Beruhigung bei: »Verdacht daß sie ihr nicht genug zu essen gibt.«[3] Elementare Mangelerfahrungen, die Einzelkind Adorno selbst in den dunkelsten Kriegsjahren nie gekannt hatte. Auch zukünftig gedachte er nicht, sie in den eigenen Lebensvollzug eindringen zu lassen.
Neben freundschaftlichen Treffen wie mit dem Filmtheoretiker und Schriftsteller Siegfried Kracauer(1), in den 20er Jahren Leiter des Feuilletons der Frankfurter Zeitung (»Er ist geistig wieder besser beieinander, auch nicht mehr so sinnlos eitel, da erfolgreicher.«), sind die Tage von Terminen mit den in New York verbliebenen Kollegen des Instituts dominiert. Es geht um die Klärung administrativer Fragen sowie Projekte mit Universitäten, Ministerien oder auch des Pentagons, die das aufgrund fehlgegangener Börsenspekulationen klamm gestellte Institut ständig anwerben muss. So war Adorno nahezu den gesamten Sommer mit der Überarbeitung einer Studie über die »Autoritäre Persönlichkeit« (»Studies in the Authoritarian Personality«)[4] befasst. Ermittelt werden sollte, wie es um die etwaige Faschismusanfälligkeit in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft bestellt war. War das Aufkommen einer rechten Diktatur auch hier eine ernstzunehmende Möglichkeit?
Der Kniff der Umfrage bestand darin, Haltungen anhand von Aussagen abzufragen, die nicht direkt politischer Natur waren. Wie zum Beispiel: »Mögen viele Menschen auch spotten, es kann sich immer noch zeigen, dass die Astrologie vieles zu erklären vermag.« Oder: »Amerika entfernt sich so weit vom American Way of Life, dass es vielleicht nur noch mit Zwang wiederherzustellen ist.« Je nachdem, wie stark die Testpersonen diese Aussagen unterstützten oder ablehnten, ließ sich auf einer sogenannten F-Skala (F für Faschismus) deren Grad an rechtsradikaler Neigung ermitteln.
Bei allem Raffinement für Adorno reine Lohnarbeit, in Angang wie Umsetzung weit entfernt von seinen Kerninteressen als Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. Was er seine Kollegen vom Institut auch bei jeder denkbaren Gelegenheit spüren ließ. Anstatt auf Normalverteilungen und Skalen zu bauen, ist er der Überzeugung, das Mark des Ganzen offenbare sich am klarsten in alltäglich Übersehenem. Im Ausformulieren setzt er lieber auf prägnante Denkbilder als gestanzten Studiensprech; im Freilegen gesellschaftlicher Befindlichkeit auf irreduzible Einzelerfahrungen anstatt Multiple-Choice.
Ein Forscherethos, den es bei aller busyness vorläufig letzter Tage auch im eigenen Verhalten einzuholen gilt. So am 16. Oktober in Form eines Treffens mit Carol (gemäß Tagebuch eine Bekanntschaft früher New Yorker Tage):
Wir aßen im Rumpelmeier, ich setzte ihr das Programm auseinander, das wir streng innehielten; Genießen der Vorlust. Nach Reservation reizend im 5th Avenue. Nachmittag der äußersten Exzesse, in völliger Helle und Klarheit. Echte Masochistin: zweimal ihr Orgasmus nur beim freilich erbarmungslosen Schlagen … Ihre Kunst des Hintanhaltens, der Küsse ins Leere, <tantalizing>. Das Kunststück beim Lieben von Hinten einen ganz einzuschließen.
Adornos Analyse nach erfolgter »Reprise am Morgen«:
Große Integrität und Opferbereitschaft. Die akademische Sphäre war ihre Rettung aus einem ganz verlumpten Milieu. An Politik lernte sie, die mehrere Selbstmordversuche gemacht hatte, von sich selbst loszukommen, ans Objektive zu denken … (sie ist glücklich verheiratet).[5]
Fast ein Existenzideal.
Mehr als ein Jahrzehnt trennt Adorno von seinem letzten Aufenthalt in Europa. »Ohne die leiseste Seekrankheit«, dafür in einem »nie gekannten Zustand« zwischen »Herzklopfen – und Herzschmerzen«, verlebt er auf der Queen Elizabeth die fünftägige Überfahrt nach Cherbourg. Erst in Paris entlädt sich die Spannung des Revenant: »Auf der Place de la Concorde geheult. Am Bahnhof der Riss: kein Benjamin(1) da.«[6]
Wer anders als Walter Benjamin(2) hatte ihn in frühen Frankfurter Tagen gelehrt, die eigene Gegenwart als ein Tableau verwirkter Hoffnungen zu entschlüsseln? Jedes noch so unbedeutend scheinende Novum modernen Großstadtlebens als Index dräuender Barbarei zu deuten? Bis in die letzten Tage hatte Adorno seinen geistigen Erzieher von New York aus gestützt, den in Paris zunehmend isolierten und von der Deportation bedrohten Benjamin(3) immer wieder zur Flucht nach Übersee gedrängt. Doch als dieser nach langem Zaudern im Spätsommer des Jahres 1940 endlich von Marseille Richtung Pyrenäen aufbricht, um die spanische Grenze bei Portbou zu überqueren, wird ihm wegen einer behördlichen Nichtigkeit die Ausreise verweigert. Geistig wie körperlich entkräftet, beschließt er noch in derselben Nacht, seinem Leben mit einer Überdosis Morphium ein Ende zu setzen.
Bereits am kommenden Morgen sollte dem Rest seiner Flüchtlingsgruppe die Passage gewährt werden. Wie auch Hannah Arendt(1) nur wenige Monate darauf über die exakt selbe Route die Flucht aus dem besetzten Frankreich über Spanien und Lissabon nach Amerika gelingt. Von den engeren Freunden ist sie die letzte, die Benjamin(4) lebend sieht.
Vor seinem Aufbruch in Marseille hat er ihr ein Bündel Manuskripte übergeben, die Arendt(2), da es sich um eine Art geistiges Vermächtnis handelte, Adorno übergeben sollte. Dabei verbindet Arendt(3) mit »Wiesengrund« (wie sie Adorno konsequent bei dessen zweiten, väterlichen Familiennamen nennt) bereits seit Ende der 20er Jahre herzlichste Abneigung. Wie auch ein Brief Arendts(4) an Benjamins(5) Jugendfreund, den Judaisten Gershom Scholem(1), von New York nach Jerusalem aus dem Jahre 1943 zum Ausdruck bringt:
Mit Wiesengrund zu verhandeln, ist schlimmer als sinnlos. Was die mit dem Nachlass angestellt haben oder anzustellen gedenken, weiß ich nicht. Ich habe mit Horkheimer(3), der im Sommer hier war, gesprochen: ohne jedes Resultat. Behauptet, die Kiste sei in einem Safe (dies ist wohl sicher gelogen) und er sei noch gar nicht herangegangen … Hinzu kommt, dass das Institut selbst auf dem Aussterbeetat ist. Sie haben immer noch Geld, aber sie sind mehr und mehr der Meinung, dass sie sich damit einen ruhigen Lebensabend sichern müssen. Die Zeitschrift kommt nicht mehr heraus, ihr Ruf hier ist nicht gerade erstklassig, sofern man überhaupt weiß, daß sie existieren. Wiesengrund und Horkheimer(4) leben in Californien in großem Stil. Das Institut ist hier rein administrativ. Was administriert wird, außer Geldern, weiß kein Mensch.[7]
Keine wohlwollende, sachlich indes zutreffende Beschreibung damaliger Zustände. Der straffe Eigensinn, andere sprachen von Selbstherrlichkeit, mit dem das Duo Horkheimer(5)-Adorno die »Forschungen« von der Westküste aus bestimmt, hat mit den Jahren selbst Stammkräfte aus alten Frankfurter und auch Freiburger Bezugskreisen dazu gebracht, sich mehr und mehr vom Institut für Sozialforschung zu distanzieren. Allen voran den Psychoanalytiker Erich Fromm sowie den Philosophen Herbert Marcuse(1). Beide gehen in den USA mittlerweile eigene Wege.
Auch mit Blick auf das Schicksal von Benjamins(6) Manuskripten ahnte Arendt(5) es richtig. Sie waren Adorno und Horkheimer(6) zum Ausgangspunkt für ein eigenes, 1943 bereits in einer ersten Version abgeschlossenes Buchprojekt geworden. Auf dem mörderischen Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs binnen weniger Jahrzehnte sollte es um nicht weniger als eine »Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft« gehen. Zunächst firmierte das Projekt unter dem Titel »Philosophische Fragmente« und erschien 1944 als Institutspublikation. Drei Jahre darauf dann im niederländischen Querido Verlag, auf Adornos Einfall hin, als »Dialektik der Aufklärung«.
Die angestrebte Humanisierung der Menschheit hatte in die Todeslager des Ostens geführt, die Freisetzung der Information durch neue Medien in die Manipulation der Massen. Anstatt für das Proletariat eine wirkliche Entlastung im Arbeits- und Alltagsleben zu ermöglichen, hatte der technische Fortschritt neue Formen der Fließbandversklavung etabliert. Anstatt Frieden in global geteiltem Wohlstand zu schaffen, waren Waffen ersonnen, die den Menschen zu seiner planetaren Selbstauslöschung ermächtigten. Anstatt eine Schonung der natürlichen Ressourcen und tierischen Lebens zu bewirken, wurden deren fortgesetzte, ja intensivierte Ausbeutung und Verwertung betrieben. Anstatt Kants(2) Vision vom ewigen Frieden der Völker zu folgen, wurden die mörderischsten Kriege der Geschichte ausgelöst. Und zwar vom Zentrum Europas aus und damit dem der Aufklärung selbst. Auf welchen Gründen, gar Gesetzmäßigkeiten beruhte diese dunkle Dynamik? Aus der Vorrede:
Was wir uns vorgesetzt hatten, war nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt … Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich … als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärerischen Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkret historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt die Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sich ihr eigenes Schicksal.[8]
Bevor erneut von einem Ausgang in eine bessere Zukunft die Rede sein konnte, war die Aufklärung über den Gehalt ihrer eigenen Impulse aufzuklären, gleichsam inmitten deren Trümmer eine neue philosophische Sichtung vorzunehmen.
Die leitende Perspektive dafür entnimmt das Autorenduo Benjamins(7) Manuskripten. Insbesondere dessen letztem Text »Über den Begriff der Geschichte« aus dem Jahr 1940. In dieser Collage aus Denkbildern imaginiert Benjamin(8) das Bild eines »Engels der Geschichte«:
Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[9]
Was sich in Form der Weltkriegszerstörungen nun offenbarte, war für Benjamin(9) nur vorläufiger Kulminationspunkt eines sogenannten Fortschrittsprozesses, unter dessen Banner spätestens seit dem 19. Jahrhundert die westliche Zivilisation einer zunehmenden Technisierung und Warenförmigkeit, Verzweckung und also Verdinglichung allen Seins und Daseins erlag. Genau diese Vision vom Fortschritt als Rückschritt, vom paradiesischen Aufbruch, der in himmelhoher Zerstörung endet, hatten sich Adorno und Horkheimer(7) zu eigen gemacht. Wenn überhaupt, galt es fortan, mit dem Rücken zur Zukunft voranzuschreiten. Denn inmitten dieser Trümmer wähnten die Autoren bei allem Unheil etwas verschüttet, das es unbedingt zu bergen, gar für einen etwaigen Neuaufbau zu wahren galt: die Vision einer Gesellschaft freier Individuen, die diesen Namen nicht nur trüge, sondern verdiente.
An der Bestimmtheit dieser Haltung hatte sich auch 1949 nichts geändert. Nur ein Kind schließlich konnte glauben, mit dem sogenannten Ende des Krieges sowie der feierlichen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahre 1948 seien auch die dunklen Kräfte der Gegenwart erloschen. Dass in der siegreichen Sowjetunion Stalins(1) mit ihrer »Praxis der als Volksdemokratien getarnten Militärdiktaturen nichts anderes zu sehen ist als eine neue Form der Repression«,[10] bleibt Adorno und Horkheimer(8) nicht nur aus Selbstschutz wichtig zu betonen. Gerade im Jahre 1949, als in den USA mit den Kongressanhörungen unter Joseph McCarthy(1) eine Ära systematischer Kommunistenjagd beginnt. Es ergibt sich für sie aus dem mörderisch unfreien Wesen der betreffenden Sache selbst.
Genau so wenig, wie sie nach mehr als zehn Jahren auf amerikanischem Boden noch irgendwelche Illusionen hinsichtlich der Rede eines »Lands der Freien« hegen. Nirgendwo war die massenmedial befeuerte, systemgewollte Verflachung des zukünftigen Konsummenschen klarer zu besichtigen als in der Umgebung von Pacific Palisades, gleich neben Hollywood. Nirgendwo waren monopolisierende Kartellbildungen und die Verflechtung von Staat und Trusts weiter fortgeschritten als in Roosevelts(1) New-Deal-Ökonomie.
Was sich im Zeichen der Blockbildung der unmittelbaren Nachkriegszeit als echte Systemalternativen auswies, waren aus Sicht der kritischen Gesellschaftstheoretiker nur zwei Spielarten einer im Grunde identischen Herrschaftslogik: Beide setzten unter rhetorischen Denkmänteln auf ausbeuterische Vereinheitlichung des Wirtschaftens sowie kulturelle Verflachung mit den Mitteln massenmedialer Ablenkung. Hatte man die Trümmer der Gegenwart nur gründlich genug gesichtet, walteten hinter den Moskauer Schauprozessen dieselben anti-aufklärerischen Impulse wie hinter den Showeinlagen Hollywoods.
Für die alles andere als aufklärerische Zielform dieser neuen, zunehmend globalen Dynamik prägten Adorno und Horkheimer(9) den Begriff der »Totalintegration«, verwendeten quasi synonym aber auch »Verblendungszusammenhang«, »Einheitsgesellschaft« oder »Freiluftgefängnis«.
Es lag im totalisierenden Wesen des beschriebenen Prozesses, dass kein Ort auf der Erde sich dem Mahlstrom würde entziehen können. Auch wenn es hier und da Inseln der Hoffnung gab. Wie etwa das frisch befreite Paris, Stadt des Lichts, Ursprung der Revolution, Metropole des 19. Jahrhunderts und spätestens seit diesem Aufbruch eigentliche Herzenshauptstadt eines jeden freiheitssehnenden Kulturmenschen. So meldet ein gegen jede theoretische Einsicht bis an die Hoffnungsgrenze euphorisierter Adorno seinem Denkgenossen Horkheimer(10) am 28. Oktober 1949 aus dem Hotel Lutetia nach Los Angeles:
Lieber Max(11), …
Die Rückkehr nach Europa hat mit einer Gewalt mich ergriffen, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Und die Schönheit von Paris leuchtet durch die Fetzen der Armut rührender noch als je zuvor. Die hilflosen Versuche, dem anderen sich anzupassen, heben das womöglich nur noch mehr hervor. Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber daß es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört auch zum geschichtlichen Bild und birgt die schwache Hoffnung, daß etwas vom Menschlichen, trotz allem überlebt. Ich übersehe all das Negative nicht, den Mangel dicht unter der lockenden Oberfläche, das Rückständige, die törichten Schwierigkeiten eines täglichen Lebens, in dem die Lifts nicht fahren und man kein Telephonbuch aufs Zimmer bekommt. Aber was ist das alles dagegen, daß das Leben noch lebt. Gewiß möchte ich unsere Entscheidung nicht präjudizieren, aber meine Tendenz kann ich nicht verleugnen.[11]
Das alte Europa, es hatte Adorno wieder. Und mit ihm die allzu menschliche Aussicht auf einen erneuten Anfang: existenziell, institutionell, philosophisch. Freilich, die eigentlich entscheidenden Erfahrungen standen aus. Noch hatte Adorno keinen Fuß auf deutschen Nachkriegsboden gesetzt. Wobei mehr als fraglich war, was das im Jahre 1949 noch bedeuten sollte: »Deutschland«.
Adorno ist Teil einer ganzen Welle von Intellektuellen, die 1949 aus dem Exil erstmals wieder ins Land des Hitlerismus(1) zurückkehren. Unter ihnen Hannah Arendt(6), Ernst Bloch(1), Ludwig Marcuse(1) sowie, als strahlkräftigste Verkörperung der einstigen Kulturnation: Thomas Mann(1) (»Wo ich bin, ist Deutschland«). Zur Entgegennahme des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt reist der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1929 im Juli 1949 aus Los Angeles (seine dortige Villa lag in Sichtweite von Horkheimers(12) Bungalow) in die gerade einmal zwei Monate alte Bundesrepublik Deutschland. Nur sechs Tage nach der Verleihung in der Frankfurter Paulskirche wird Mann(2) einen weiteren Goethe-Preis feierlich annehmen. Diesen im Nationaltheater zu Weimar, auf dem Gebiet eines bald zweiten deutschen Staates. Er wird am 7. Oktober 1949 unter der Bezeichnung Deutsche Demokratische Republik offiziell ausgerufen.
Und nicht nur in Europa gewinnen 1949 die Strukturen und Konfliktlinien kommender Jahrzehnte an Kontur. In China nehmen die Truppen Mao Zedongs(1) Peking ein und erlangen darauf binnen weniger Wochen die Kontrolle über das gesamte Land. Im Nahen Osten kann der junge Staat Israel sich gegen seine arabischen Nachbarn im sogenannten Unabhängigkeitskrieg (arabisch: Nakba) erfolgreich behaupten, gar Gebietszuwächse erreichen. Im Resultat führen sie zur Flucht und auch Vertreibung hunderttausender Palästinenser in den Libanon und nach Syrien. Indien erklärt nach langem Kampf seine Unabhängigkeit; ein Schritt, den das einst zugehörige Pakistan in der Form einer islamischen Republik bereits zwei Jahre zuvor vollzogen hatte.
Die beiden Deutschlande bilden die Bruchstelle der neuen Weltenteilung. Was sie militärisch einerseits besonders exponierte, bei günstigem Gang aber auch in spezifischer Weise zu schützen vermochte. Noch immer in Trümmern, gewinnt der Wiederaufbau in den großen Städten sichtbar an Zug. Auch die millionenstarken Flüchtlingsbewegungen – seit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht hatten sich mehr als zehn Millionen Menschen von den ehemaligen Ostgebieten Pommern und Schlesien auf den Weg gen Westen begeben – kommen an ihr Ende.
Adorno trifft am 3. November 1949 in tiefer Nacht am Frankfurter Hauptbahnhof ein. Nur wenige Stunden zuvor haben Abgeordnete des ersten Deutschen Bundestags entschieden, das rheinische Bonn anstatt Frankfurt zur neuen Hauptstadt der Bundesrepublik zu küren. Zu mehr als einem schauerlichen Blick auf »das teils zerstörte, teils ausgebrannte Westend« reicht es bei der Taxifahrt in die Pension Zeppelin nicht, wo der offenbare »Übereifer und die Servilität der Menschen« viel eher den Eindruck von »Lakaien als Nazis« vermitteln.
Zum echten »nightmare …, in dem man alles an der falschen Stelle sieht«, wird bei einer Begehung am folgenden Morgen indes die ausgebombte Altstadt: »Erst auf dem Eisernen Steg kam mir das Phantastische des Ganzen recht ins Gefühl, mir war als wäre ich nicht da.«[12] Unwirklich, ungeheuer, unbeschreiblich – die im Tagebuch vorherrschenden Adjektive bezeugen einen Eindruck des Gespenstischen. Erfahrungen absoluten Abbruchs – die Kirche der Konfirmation ist zerstört – paaren sich mit absurd anmutenden Kontinuitäten: »Die Welt ist untergegangen, aber ich habe, wie in der Kindheit, den Unterschied der Trambahnstraßen 1 und 4 daran erkannt, daß jene 2 grüne Lichter hat, diese ein graues und ein weißes.« Auch im Nachtleben offenbaren sich dem Gesellschaftsanalytiker mit male gaze seltsam resiliente Eigenheiten: »Cocktail im Frankfurter Hof, ein ebenso teurer wie schlechter Manhattan … Ekelhafte, kalte Protzatmosphäre. Keine hübschen Frauen.«[13]
Neben Berlin war Frankfurt vor dem Krieg nicht nur die andere große Verlagsstadt, sondern auch zweites Zentrum deutsch-jüdischen Kulturlebens. Adorno ist nach langer Absenz überrascht, an alter Wirkungsstätte über das zu verfügen, was man »einen Namen« nennt. Vor allem die »Dialektik der Aufklärung« hat in den kleinen Kreisen dortiger Buchmenschen Kultstatus erlangt. Lektor Friedrich Podszus(1), der Adornos gesamter Überseeproduktion penibel gefolgt zu sein schien, will ihn für den in Gründung befindlichen Suhrkamp Verlag gewinnen. An fertiggestellten Manuskripten mangelt es dem Rückkehrer nicht. Vor allem für einen Band aphorismusgetränkter Denkbilder, die Adorno über die Jahre des amerikanischen und zuvor englischen Exils unter dem Titel »Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben« zusammengestellt hatte, will er möglichst schnell im Druck sehen. Das Werk ist ein von Alltagsbeobachtungen und Kindheitserinnerungen ausgehendes Vademecum für die untergehende Individualität in einer untergehenden Welt.
Bereits die Horkheimer(13) gewidmete »Zueignung« des Werkes verdeutlicht, wie weit Adornos Verständnis des Philosophierens sich von dem seiner akademischen Zeitgenossen absetzt:
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird.[14]
Fürderhin gab es, auch das eine Sentenz aus den »Minima Moralia«, »kein richtiges Leben im falschen«.[15] Nach Adornos Überzeugung musste es deshalb aufklärende Therapie genug sein, die gewahrte Ausweglosigkeit anhand möglichst schlagender Detailbeschreibungen sowie offen paradoxaler Sentenzen zu Bewusstsein zu führen. Denn:
Es gibt nichts Harmloses mehr … Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt … Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat … Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann … Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske für stillschweigendes Akzeptieren des Unmenschlichen. … Es gibt aus dieser Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten lässt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.[16]
Die festgehaltenen Spannungen sind existenziell empfundene. Das gilt bei Adorno nicht nur für das ihm uneinholbar bleibende Ideal eines bescheidenen, vor allem unprätentiösen Benehmens. Mit seiner Rückkehr nach Frankfurt aufs Schärfste intensiviert, zeigte sich zudem die Frage nach zumutbar scheinenden Formen des Mittuns im Land der Täter. Der einst beträchtliche Familienbesitz – der 1946 verstorbene Kaufmannsvater Oscar Alexander Wiesengrund(1), bis zur Flucht in die USA 1938 in Frankfurt vor allem als Weinhändler tätig – ist über die Jahre des Exils nahezu aufgebraucht. Für die Mutter ist im Jahr 1949, wie Adorno sich eingestehen musste, gar »nur noch eineinhalb Jahre gesorgt«. Und auch mit Reparationen für einstige Immobilien der Familie ist, wie Adorno der Mutter nun nach New York melden musste, kaum zu rechnen:
Die Rückerstattungsangelegenheit ist langwierig und sieht nicht sehr gut aus. Mein Vater hat alles so unglücklich gemacht wie überhaupt nur möglich – und dazu kam das Pech, daß das Haus auf der Aussicht ganz und das in Oberrad weitgehend zerstört ist.[17]
Gegeben Adornos entschiedenen Willen, sich vorrangig an die immense Minderheit der Leserschaft zu richten, war zudem nicht in fernsten Träumen abzusehen, wie sein ihm noch immer alltäglicher Lebensstil mit Flügel und eigenem Musikzimmer als freier Schriftsteller aufrechtzuerhalten sein würde. Zu alt, um noch auf zweite Chancen zu hoffen, hat er im Jahr 1949 zwischen zwei Alternativen zu wählen: die von Arendt(7) angespielte freiwillige Frühverrentung auf dem Aussterbeetat des Instituts mit dem Ziel, sich unter kalifornischen Palmen ganz auf das Schreiben von Werken »Kritischer Theorie« zu konzentrieren; oder dieses Projekt als verbeamteter deutscher Professor an der Universität Frankfurt zu realisieren – und im Bestfall gleichzeitig die dortige Wiederansiedlung des Instituts zu erreichen.
Das ist die Mission, die zu sondieren und gegebenenfalls voranzutreiben Adlatus Adorno von Horkheimer(14) nach dem in amerikanischer Besatzungszone liegenden Frankfurt am Main entsandt war. Bis schließlich der Zeitpunkt kommen mochte, an dem der in Sachen nordamerikanischer Netzwerkpflege mittlerweile beispiellos beschlagene Institutsdirektor sich einschiffen würde, um vor Ort letzte Details unterschriftsreif zu klären.
Die transatlantische Korrespondenz von Adorno und Horkheimer(15) gleicht im Winter des Jahres 1949/50 tonal zwei Geheimagenten, die mit dem Feind einen hochrangigen Gefangenenaustausch bei Morgengrauen zu organisieren haben. Zunehmend im Bannkreis selbst gesponnener Verschwörungsvermutungen pendelt insbesondere Adornos Stimmungslage zwischen momenthaft durchbrechendem Optimismus und proaktiv-passiver Paranoia – also einer Haltung zur Welt und Mitwelt, die seine durchaus regen Kritiker vor Ort bald als kennzeichnend für dessen gesamtes Philosophieren karikieren.
Nur eins steht für Adorno nach dessen ersten Wochen in Frankfurt fest: Er will nicht zurück nach Kalifornien. Es liegt nicht zuletzt an den Studenten. Von Beginn an strömen sie in seine Vorlesungen und Seminare und zeigen sich, bei allem kriegsbedingten »Bruch zwischen Intelligenz und Bildung«, dort so »ungeheuer ernst, fleißig und eifrig«, dass es sogar möglich ist, mit »ihnen differenziert über die schwierigsten Dinge zu reden, ohne die Sabotage des gesunden Menschenverstands fürchten zu müssen.«[18] Eine dialogische Erfahrung, die Adorno in Amerika wohl mehr als jede andere gefehlt hatte.
Wo Thomas Mann(3) seine Rückkehr unter das Zeichen von Goethes(1) großmütigem Erbe stellte, beginnt Adorno seine Lehrtätigkeit mit einer Veranstaltung zu Immanuel Kants(3) »Kritik der reinen Vernunft«. Mit besonderem Schwerpunkt auf Teilen der »Transzendentalen Dialektik« und damit dem anspruchsvollsten und zentralen Part dieses Schlüsselwerks der deutschen Aufklärung. Nach Kant(4) neigt menschliche Vernunft wesenhaft zur Selbstverwirrung und bedarf deshalb begrifflicher Klärungsmanöver, die mit dem Ziel ausgeführt werden, absolute Grenzen des sinnvoll Behauptbaren aufzuzeigen. Und zwar insbesondere mit Blick auf die eigentlich entscheidenden metaphysischen Fragen einer jeden menschlichen Existenz: wie der Frage nach der Freiheit des Willens, der Existenz Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele.
In all diesen Bereichen gilt es nach Kant(5), »das Wissen auf(zu)heben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.[19] Also im Zeichen der Vernunft dort auf öffnende Hoffnung zu setzen, wo zuvor dogmatisch behauptete Scheinsicherheit regierte: Aufklärung als fortlaufende Therapie vor sprachlich bedingter Selbstüberhebung. Aufklärung als produktive Destruktion überzogener Geltungsansprüche. Aufklärung als kritische Antiideologie. Und nicht zuletzt – hier setzte Adorno sich, wie ihm schien, entscheidend von dem Erbe Kants(6) und insbesondere Hegels(1) ab – Aufklärung als Mut des Geistes zu erkennen, dass »die Realität nicht in allem ihm gleicht, sondern einer bewußtlosen und fatalen Dynamik unterliegt«.[20]
So wie Adorno die Klassiker des Deutschen Idealismus auslegt, bleibt da stets ein Riss zwischen Sagen und Sein, zwischen Begriff und Anschauung, zwischen willentlichem Begreifen und unwillkürlichem Ergriffen-Werden. Im Zeichen des auf Totalität abzielenden »Verblendungszusammenhangs« wird es damit zur zentralen Aufgabe gegenwärtigen Philosophierens, ein Bewusstsein für die Gegebenheit dieses Risses wachzuhalten. Immer wieder auf der uneinholbaren Nicht-Identität zu bestehen, die das, was ist und dereinst sein mag, von dem trennt, was hier und jetzt mit unbedingtem Wissensanspruch behauptet wird. Sei es von Seiten der Wissenschaften, der Politik – oder auch der Philosophie selbst.
Gerade in Zeitaltern einer global diagnostizierten »Totalintegration« unter dem Zeichen der »Verzweckung« und »Rationalisierung« alles Lebendigen bedeutet das aufzeigende Beharren darauf, dass es außerhalb des Bannkreises jeweiliger Wirklichkeitsbestimmung noch etwas »anderes« gibt und immer geben wird, für Adorno letztlich die Rettung des Menschen und eigentlich Lebendigen selbst. Das Aufzeigen eines aufklärerischen Ausgangs aus kulturell dominanter Unmündigkeit.
Was dieses »Andere«, »Nicht-Identische« jenseits des jeweils geltenden Begriffsnetzes konkret war und sein mochte? Nun, exakt angeben ließ sich das nicht. Darin bestand ja gerade sein heilsamer, rettender Witz. Dennoch war es möglich, auf dessen Existenz gestoßen zu werden, und zwar philosophisch mit den Mitteln der Dialektik, der zweideutigen, ambivalent bleibenden Rede sowie des offenen Paradoxes, die Adorno in seinem eigenen Schreiben kultiviert. Sowie natürlich durch die Künste, die es nach Adorno in ihren höchsten Ausprägungen auszeichnete, sich nicht auf den Begriff reduzieren zu lassen. Für ihn als studierten Komponisten und Pianisten galt diese Eigenheit vor allem für die begriffsfernste unter allen Künsten: also die Musik. Metaphysik und Musik – für Adorno bildet diese, eingestanden urdeutsche Bekenntnisdyade, den Ausgang auch seines kritischen Denkens.
Wo wäre der Wahrheitskern solch kritischer Lehren wichtiger zu vermitteln als im gespaltenen Ursprungsland der neuen Weltenteilung, also »Deutschland«. Der abgründige Riss durch dessen Mitte, er war nicht nur politisch vollzogen und alltäglich zu spüren, sondern in Frankfurt buchstäblich auf offener Straße zu sehen: »Mir am auffälligsten: der Zerfall des Straßenpflasters. Dazwischen kommt – durch Bomben – die nackte Erde heraus.«[21]
Viel, wenn nicht alles, würde zukünftig davon abhängen, nicht diese braune Muttererde als neues Fundament eines Wiederaufbaus, gar Basis eines neu zu gewinnenden Deutschlandbilds zu verkennen.
»Das entscheidende«, summiert Theodor W. Adorno am 28. Dezember 1949 in einem Brief an Thomas Mann(4) nach Kalifornien die Eindrücke der vorangegangenen Wochen,
scheint mir: Deutschland hat aufgehört, überhaupt politisches Subjekt zu sein. Politik wird bloß noch tragiert, und das wissen alle, denn dumm sind sie nicht. Sie fühlen sich als Momente im Konflikt beider Kraftfelder, sie suchen dabei im buchstäblichen Sinne zu profitieren, aber daß im Ernst noch einer daran dächte, von Deutschland aus Geschichte zu bestimmen – das ist mir so wenig im Gedanken bis jetzt begegnet als im Ton.[22]
Zumindest dieser deutsche Dämon schien fürderhin besiegt. Auch auf die für Thomas Mann(5) eigentlich drängende Frage – seine Frau Katia(1) war Jüdin wie damit auch die sechs Kinder des Paares –, ob die Deutschen noch oder wieder Nazis seien, wagt Adorno eine erste Antwort: »Ich glaube es nicht, und hoffe, dass ich an diesem entscheidenden Punkt mich nicht verblenden lasse.«[23]
Zur Plausibilisierung seiner Unsicherheit berichtet er Mann von einem Studenten, einem »im übrigen wirklich anständigen Schüler«, der behauptet hatte: »›Wir Deutschen haben den Antisemitismus nie ernst genommen.‹ Er meinte es ehrlich, doch ich mußte ihn an Auschwitz erinnern.«[24] Die je individuelle Neigung zur Verdrängung war so unabweisbar wie die Dynamik, »daß die unsägliche Schuld gleichsam ins Wesenlose zerrinnt«. Dennoch schließt Adorno seine erste Depesche an den unschlüssig in Kalifornien weilenden Dichterfürsten:
Was ich da an leidenschaftlicher Teilnahme finde, entzieht sich der Schilderung … Das reicht von Äußeren Dingen, wie daß kaum ein Abbrechen der Seminarstunden zu erreichen ist, und daß die Kinder mich baten, daß Seminar während der Ferien fortzuführen, bis zu dem Diskussionsgang selber. Es wird über höchst undurchsichtige Fragen an der Grenze von Logik und Metaphysik verhandelt, als ginge es um Politik – vielleicht, weil es diese in Wahrheit nicht mehr gibt. Der Vergleich mit einer Talmud-Schule drängt sich auf; manchmal ist mir zumute, als wären die Geister der ermordeten Juden in die deutschen Intellektuellen gefahren. Es ist dafür besonders charakteristisch, daß es fast immer um Auslegungsfragen, kaum um solche einer Theorie selber geht.[25]
Ganz ohne Hoffnung schien sie in gegebener Konstellation nicht, Adornos Hoffnung, fortan mit dem Rücken zur Zukunft in kritischen Kontakt mit den Geistern seiner Gegenwart zu treten.
Nur einen Tag nachdem Theodor W. Adorno sich in Frankfurt am Main an den Schreibtisch gesetzt hatte, um Thomas Mann(6) sein Bild der geistigen Lage in Deutschland zu vermitteln, notiert dieser bei »noch immer mildem Wetter« am 29. Dezember 1949 in sein Tagebuch: »Nachmittag Interview mit 3 Chicagoer Studenten über den ›Magic Mountain‹. Viel Post, Bücher, Manuskripte.«[26]
Eingefädelt war erwähnter Besuch von Gene Marum(1), einem der drei zu empfangenden Gäste. Noch in Deutschland geboren, sind seine Eltern (die übliche Route: Paris, Lissabon, New York) in Los Angeles lose mit Katia Mann(2) bekannt. Die anderen beiden Studenten, die der Nobelpreisträger zu Tee und Plätzchen erwartete, sind Genes(2) ehemalige Klassenkameraden an der North Hollywood Highschool, Merril Rodin(1) sowie Susan Lee Rosenblatt, später bekannt als Susan Sontag.
Bereits eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit sitzen die drei Fragezeichen in Merrils(2) blauem Chevrolet, keine 100 Meter über der Einfahrt zu Manns(7) Villa am San Remo Drive, und sprechen den geplanten Ablauf noch einmal durch. Vor allem der 16-jährigen Susan, aufgrund früh übersprungener Klassen zwei Jahre jünger als ihre Begleiter, ist die Sache schon jetzt unsagbar peinlich. Was eigentlich versprach man sich nun von der Begegnung? Ein Interview-Scoop für ihre Studentenzeitung jedenfalls nicht. Viel eher war es die Flause dreier gelangweilter College-Kids. Als Merril(3) die Handbremse löst, um den Wagen lautlos vor die Einfahrt der Villa am San Remo Drive 1550 hinunterrollen zu lassen, graut Susan geradezu vor der Vorstellung, der große Dichter aus der alten Welt könnte sich durch irgendeine Dummheit der Dreien gekränkt fühlen.
Mit peinigenden Erfahrungen, die notwendig entstehen, sofern man mit Menschen konfrontiert ist, deren Niveau weit unter dem eigenen liegt, glaubte sie sich nicht nur als intime Kennerin der Werke Manns(8) vertraut. Rückblickend hatte ihre Kindheit aus nichts anderem bestanden. Seit ersten Erinnerungen erkannte sie sich von einer Stumpfheit umgeben, so tief und allumfassend, dass sie in deren fortwährendem Gefasel geradezu zu ersaufen drohte. Das betraf die »fröhliche Phrasendrescherei von Klassenkameraden und Lehrern« ebenso wie die
unerträglichen Platituden, die ich zu Hause zu hören bekam. Und dann die wöchentlichen Hörfunkkomödien, die mit Gelächter aus der Konserve garniert waren, die süßliche Hitparade, die hysterischen Baseball- und Boxkampfreportagen, die … unter der Woche abends und am Wochenende fast den ganzen Tag das Wohnzimmer erfüllte.[27]
Eine amerikanische Jugend als Leben »im falschen« par excellence. Die familiären Umstände taten ein Übriges. Nach dem frühen Tuberkulosetod ihres Vaters Jack Rosenblatt(1) – er war als Pelzhändler vor allem in China tätig gewesen – hatte Susans Mutter nach dem Krieg wie aus dem Nichts einen ehemaligen Bomberpiloten der U.S. Air Force geheiratet. Soweit zu begreifen, bestand dessen vorrangige Qualität neben unerschütterlicher Arglosigkeit darin, aufgrund einer erlittenen Kriegsverletzung impotent zu sein. Von diesem Ereignis abgesehen aber wäre es Susan schwergefallen zu sagen, was genau am eigenen Alltag wohl am unerträglichsten blieb: die Apathie der Mutter, die Munterkeit des Stiefvaters oder aber der Zwang, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester nun zu viert Familie zu spielen.
An dem Gefühl, in Form ihrer Kindheit zu einer einzigen, nicht enden wollenden Freiheitsstrafe verurteilt zu sein, ändert sich auch mit dem Umzug der Familie von der Wüstenstadt Tucson nach Los Angeles kaum etwas. Nicht, dass sie sich von ihrer alkoholkranken Mutter nicht geliebt fühlte. Aber genau diese Liebe drohte sie davon abzuhalten, zu tun, was unausweichlich schien.
Nach Abschluss der Highschool im Sommer 1948 ist die 15-Jährige, wie sie ihrem Tagebuch anvertraut, keinesfalls sicher, dem kalifornischen Sog der Totalintegration entkommen zu können – oder auch nur zu sollen.
19. 8. 48
… Wie gern ergäbe ich mich! Wie einfach wäre es, mir einzureden, das Leben meiner Eltern sei plausibel! Wenn ich ein Jahr lang nur sie und ihre Freunde sähe, mich fügte – Kapitulation? Muss meine »Intelligenz« regelmäßig am Jungbrunnen der Unzufriedenheit anderer belebt werden, um nicht abzusterben? …
Wie kann ich mir selbst helfen, mich unbarmherzig machen?[28]
Immerhin hatte Susan mit dem Umzug nach Los Angeles ein eigenes Zimmer erhalten, wo sie bis tief in die Nacht der einzigen Tätigkeit nachgehen konnte, die neben dem Hören von klassischer Musik das Geschenk ermöglichte, ihrer gefühlten Gefangenschaft zu entkommen: »Lesen und Musik hören: der Triumph, nicht ich zu sein.«[29]
Literatur als Heilung vom gefangenen Selbst. Fiktion als Mutreserve für den Ausgang aus der allzu vertrauten Unmündigkeit. Romane als Anstoß zu notwendiger biografischer Grausamkeit. Irgendwo auf dieser Welt – die Werke André Gides(1) und Fjodor M. Dostojewskis(1), John Keats’(1) und Jane Austens(1), Lord Byrons(1), Rainer Maria Rilkes(1), Franz Kafkas(1) und natürlich Thomas Manns(9) schienen es zu beweisen –, war ein Leben möglich, dessen Drift und Zug sich fundamental von der offenbaren Alltagsverzweiflung ihres sogenannten Elternhauses unterschieden. Irgendwo mochte gar in ihrem eigenen Land ein Ort existieren, an dem es eine Vielzahl ihresgleichen gab. Es mussten ja nicht gleich die kommenden Strawinskys oder Manns ihrer Altersgruppe sein. Zumindest für das letzte Highschooljahr hatten es in den Hügeln um Hollywood auch Gene(3) und Merril(4) getan.
Katia Mann(3), »schmal, graues Haar und Gesicht«, öffnet die Tür und geleitet die drei ins geräumige Wohnzimmer, wo ihr Gatte einen großen schwarzen Hund am Halsband zurückhält, dessen Gebell schon vom Eingang aus zu hören war. Zu Susans Überraschung gleicht der Gastgeber – beiger Anzug, braune Krawatte, weiße Schuhe –, exakt jener Person, die sie von den Autorenfotos kennt. Einmal im Arbeitszimmer, die Wände, natürlich, dicht mit Buchregalen, entfaltet sich das Gespräch (»er redet langsam und präzis«) in geplanten Bahnen. Noch am selben Abend hält Susan die Antworten Thomas Manns(10) per Erinnerungsprotokoll in ihrem Tagebuch fest.
Zum Zauberberg: …
»ein pädagogisches Experiment«
»allegorisch«
»es ist ein Bildungsroman, wie alle deutschen Romane«
»Ich habe versucht, eine Summa aller Probleme zu geben, die sich Europa vor dem Ersten Weltkrieg stellten«
»Es geht darum, Fragen zu stellen, nicht Lösungen zu präsentieren – das wäre anmaßend« …[30]
Am oberen Rand dieses Erinnerungsprotokolls fügt die 16-Jährige für sich hinzu: »Die Kommentare des Autors verraten sein Werk durch ihre Banalität.«[31]
Anmerken ließ Susan sich die Enttäuschung nicht. Dafür war sie, »ugly eater«, als die sie sich wusste, viel zu eingenommen von der Herausforderung, die von Katia Mann(4) bald auf einem Silbertablett hereingereichten Kekse nicht auf Kleid und Sofa zu krümeln.
Zumindest für Susan hatte Thomas Mann(11) die Jahre zuvor all das symbolisiert, wofür es sich überhaupt zu sein, zu lesen und gegebenenfalls gar zu schreiben lohnte. War er für sie der eigentliche Repräsentant eines Lebens gewesen, das sie lebendig hielt: die paradigmatische, vollends unamerikanische Verkörperung eines philosophischen Schriftstellerdaseins höchster moralischer Integrität und Festigkeit. Symbol nicht nur einer ganzen, im Untergang begriffenen Kulturnation, sondern Existenzform.
Und jetzt saß er da, gleich einem Abziehbild seiner selbst und formulierte wie auf Knopfdruck überraschend akzentfrei Sätze, die für Susan viel eher nach einer Rezension seiner Bücher als den Werken selbst klangen. Gerade so, als habe Mann(12) für sich jede Differenz zwischen Sein und Schein, Mensch und Künstler, Haltung und Pose, Persönlichkeit und Rolle gelöscht. Als ob es keine noch so winzigen Risse mehr gebe zwischen dem, was er für sich selbst war – und für andere repräsentieren wollte. Und damit unfreiwilliges Leibessymbol jener abgründigen Botschaft, die sein gesamtes Schreiben zu tragen schien. Nämlich der, dass die Aufhebung zwischen Sein und Schein selbst nur in der Form des Scheins zu haben war.
Auch das hoch gewachsene Valley-Girl Susan hatte es in Sachen Verstellungskunst mit den Jahren zur Meisterschaft gebracht. Der grundlegenden Anderstourigkeit ihres Bewusstseinsstroms von Kindesbeinen gewahr, traf Susan früh die Entscheidung, sich in ihrem falschen Leben nach außen möglichst normal zu geben, gar allgemeine Beliebtheit anzustreben. Bis zur Schulsprecherin der North Hollywood High war die chronisch Klassenbeste auf diesem Wege der Oberflächenkonformität aufgestiegen.
Doch lebenslang, auch das hatte sie spätestens in ihren letzten Schuljahren begriffen oder vielmehr erfahren, würde sich diese Strategie nicht durchhalten lassen. Vor allem nicht angesichts der vulkanischen Energien, die in ihrem Inneren zugange waren und sich immer machtvoller regten.
25. 12. 48
… Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden. Manchmal gibt es – glaube ich – (wie bedacht ich diese Worte niederschreibe) – flüchtige (ach so rasch verflogene) Momente, in denen ich, so sicher wie heute Weihnachten ist, weiß, dass ich über einen bodenlosen Abgrund dahintaumele –
Was, so frage ich, treibt mich ins Chaos? Welche Diagnose kann ich mir stellen? Ich verspüre nur ein sehr unmittelbares, ausgesprochen qualvolles Bedürfnis nach körperlicher Liebe und seelischer Gemeinsamkeit – ich bin noch sehr jung, vielleicht wächst sich dieser verstörende Aspekt meiner sexuellen Wünsche noch aus – ehrlich gesagt, ist es mir egal.[32]
Anstatt dies Begehren wie einen riesigen Hund lebenslang in den eigenen vier Wänden am Halsband zu halten, will Susan das College zum Ausgang in ein neues, endlich eigenes Leben nutzen. »Mein ganzes Leben scheint angespannt, erwartungsvoll«, notiert sie am Silvestertag des Jahres 1948, und bereits am 19. Februar 1949, als frisch eingeschriebene Studentin der Philosophie und Literatur an der University of California in Berkeley: »Tja, da wär ich nun.«[33]
Was sie erhofft, glaubt sie genau zu wissen, nämlich »Selbstachtung und persönliche Integrität finden«.[34] Eine Mission, die sie auf den Traumpfaden ihrer Jugend mit dem Lebensentwurf einer literarisch-akademischen Großstadtexistenz verbindet:
… Ich möchte schreiben – ich möchte in einer intellektuellen Atmosphäre leben – ich möchte in einem kulturellen Zentrum leben, wo ich jede Menge Musik hören kann … das Entscheidende ist, dass wohl keine Tätigkeit meinen Bedürfnissen so gut entspricht wie die der Universitätsdozentin.[35]
Die Kurse und Vorträge am Philosophiedepartment Berkeleys gebären in Fragen angestrebter Befreiung allerdings nichts als Enttäuschungen. Anstatt existenzieller Ermutigung wird sie Zeugin freudlos vorgetragener Fetischisierung kleinster Differenzen. Selbst bei Themen wie »Die Kategorie des Sinns in den Geisteswissenschaften« (»Meaning in the Arts«), gehalten von dem Philosophen George Boas (damals Visiting Professor in Berkeley), protokolliert die Erstsemesterin als frühes Gesamturteil über die bereits damals vorherrschenden Formen akademischen Philosophierens am Orte so:
Es war ein spritziger, unterhaltsamer Vortrag, der die Fehler der wichtigsten kritischen Schulen seit und einschließlich Aristoteles(1) herausstellte, aber nichts wirklich greifbares Eigenes zu bieten hatte – nur das gewitzte und sterile Hervorheben mannigfaltiger Fehler.[36]
Zum Zeitpunkt des Eintrags, Ende Mai 1949, ist ihr erstes Semester in den Hügeln der Bucht von San Francisco fast zu Ende. Und Susans Leben ein bereits gewandeltes. Keine Spur mehr von dem Traum einer akademischen Existenz:
26. 5. 1949
Mit meinem neuen Blick unterziehe ich das Leben um mich herum einer kritischen Betrachtung. Besonders erschreckend ist es, zu sehen, dass ich wirklich um ein Haar ins akademische Leben hineingeschlittert wäre. Es wäre so einfach gewesen … ich hätte nur weiter gute Noten schreiben müssen (ich wäre wohl bei Englisch geblieben – habe einfach nicht die Mathefähigkeiten für Philosophie), wäre mit einer Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni geblieben, um meinen M. A. zu machen, hätte ein paar Aufsätze über obskure Themen geschrieben, die niemanden interessieren, und mit sechzig wäre ich dann hässlich, angesehen und ordentliche Professorin gewesen. … Meine Güte! Auf was hätte ich mich da beinahe eingelassen![37]
Wie sehr Sontags Transformation in den Maiwochen des Jahres 1949 einer religiösen Erweckung gleicht, bezeugt nicht zuletzt die Innenseite des Notizhefts, das ihr zum ersten Semester als Tagebuch dient. Auf ihr steht in Großbuchstaben: »I AM REBORN.«
Woher der radikale Sinneswandel? An dem ein oder anderen enttäuschenden philosophischen Vortrag wird es kaum gelegen haben. Angesprochen worden war sie in der Bibliothek des Englischdepartments, bald zu einem »ethnic dinner« eingeladen (»ich zeigte mich unentspannt, nahm meine sardonisch-intellektuelle Snob-Pose ein«) und schon am darauffolgenden Abend in die Bars auf der anderen Seite der Bucht mitgenommen. Also dorthin, wo gemäß Harriet(1) (»fast 1,80 m – nicht hübsch, aber trotzdem attraktiv … von einer umwerfenden, einzigartigen Lebendigkeit«)[38] die »besten Leute San Franciscos« zu finden waren. Was folgt, ist eine Nacht, die Susan bislang allenfalls in Romanen (und nicht in denen Thomas Manns(13)) durchlebt hatte.
Nach einem Dinner beim Chinesen schlendert die Gruppe zuerst ins Mona’s, wo die »meisten Gäste lesbische Paare waren« und eine sehr große blonde Frau in langem Abendkleid mit bemerkenswert durchdringender Stimme Schlager zum Besten gibt (»Harriet(2) [musste] mich – lächelnd – darauf hinweisen, dass die Sängerin ein Mann war.«).[39] Schließlich in das Paper Doll, und, ein gutes Dutzend Biere später, weit nach Mitternacht in den Tin Angel rüber nach Sausalito, also
über die Golden Gate Bridge, und während A und Harriet(3) neben mir miteinander schmusten, schaute ich auf die Bucht hinaus und fühlte mich warm und lebendig … Ich hatte niemals wahrhaft verstanden, dass es tatsächlich möglich war, ohne jene abscheuliche Dichotomie einzig und allein mit dem eigenen Körper zu leben … Es ist bereits nach 4 Uhr morgens, als wir zu Bett gingen … und ich Harriet(4) zum ersten Mal küsste … All das, was sich angespannt hatte, was in meiner Magengrube schmerzte, verging in dem Biegen gegen sie, das Gewicht ihres Körpers auf mir, das Kosen ihres Mundes und ihre Hände … Ich wusste in diesem Moment alles, noch habe ich es jetzt vergessen … Und was bin ich jetzt, da ich dies schreibe? Nichts Geringeres als eine vollständig andere Person … Die Erfahrungen dieses Wochenendes hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können – Und ich war so nah dran, mich komplett zu verleugnen, mich ein für alle Mal zu ergeben.[40]
Die Anspannung einer gesamten Adoleszenz mit einer Nacht gelöst. Und als Folge die Geburt eines neues Erkenntnisprogramms, in dessen Zentrum nicht mehr die Befreiung des Geistes und seiner Ideale, sondern des Leibes und seines Begehrens steht. Eine Art sexuell fundierte Erkenntnisrevolution: Ausleben statt sublimieren. Intensivieren statt distanzieren. Monismus statt Dualismus. Ozeanische Fluidität anstatt terrestrischer Identität. Ganzheitlichkeit statt Aggregation. Mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein skizziert von einer hochbegabten 16-jährigen amerikanischen Philosophiestudentin des Frühjahrs 1949 in Berkeley, Kalifornien. Die früh erwachte Stimme eines kommenden Zeitalters, das von San Francisco aus im Namen einer neuen Subjektivität die ganze Welt befreien mochte:
23. 5. 1949
Bisexualität als Ausdruck der Fülle einer Persönlichkeit – und ehrliche Zurückweisung der – ja: – Perversion, das sexuelle Erleben einzuschränken, es zu entkörperlichen …[41]
Ich weiß jetzt etwas mehr darüber, was in mir steckt … Ich weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will, es ist alles so einfach … Ich will mit vielen Leuten schlafen – ich will leben und ich will nicht sterben müssen – ich werde nicht unterrichten oder einen Masterabschluss machen … Ich habe nicht vor, mich von meinem Verstand dominieren zu lassen, und schon gar nicht will ich das Wissen als solches oder Menschen, die über großes Wissen verfügen, aufs Podest heben! Ich gebe einen Scheiß auf irgendwelche Faktensammlungen, egal von wem, es sei denn, dass sich darin eine gewisse Sensibilität widerspiegeln sollte, die ich sehr wohl erwarte … Ich habe vor, alles zu tun … und dies nach einem einzigen Bewertungskriterium … bereitet es mir Vergnügen oder Schmerz, und dabei sehr sorgsam darauf zu achten, das Schmerzhafte nicht zu vermeiden … ich werde die Lust überall aufspüren und auch finden, weil sie überall ist! Ich werde mich voll und ganz auf alles einlassen … alles ist wichtig! Ich bin am Leben … Ich bin schön … was braucht es mehr?[42]
24. 5. 1949
… Den eigenen Körper zu lieben und richtig mit ihm umzugehen, das ist das Entscheidende … Und ich weiß, dass ich das kann, denn ich bin jetzt befreit …[43]
Wie aus bösem Schlummer erwacht, schließt Susans energetisch neu aufgeladener Bewusstseinsstrom des Mai 1949 den grundamerikanischen Willen zum Aufbruch mit neuesten Gedanken des französischen Existentialismus kurz:
25. 5. 1949
Heute ist mir ein Gedanke gekommen – es ist so offensichtlich, war es schon immer! Es war absurd, es plötzlich zu begreifen – ich war richtig taumelig, leicht hysterisch: Es gibt nichts, nichts, was mich davon abhält, was auch immer zu tun – abgesehen von mir selbst … Was hält mich davon ab, einfach meine Sachen zu packen und loszuziehen? Nichts als die von mir verinnerlichten Druckverhältnisse meiner Umgebung, die auf mich allerdings immer so allmächtig gewirkt haben, dass ich niemals wagte, diese zu verletzen … Aber was eigentlich hindert mich daran? Furcht vor meiner Familie – insbesondere Mutter? … Gott, es ist gewaltig am Leben zu sein![44]
Und zwar in der Bucht von San Francisco, wo eine neue Generation gerade erst erkundet, was ein wirklich befreiter Körper alles vermögen würde! Umgehend beginnt Susan, die Eigenheiten des neuen Erfahrungsraums zu studieren. Auf seitenlangen Listen, als offenbar einleuchtendster Form eines enthierarchisierten Willens zum Wissen, protokolliert sie die spezifischen Slangausdrücke in den Gay-Bars auf der anderen Seite der Bucht:
»86«, »he 86’d me«, »I was 86’d« ([aus seiner Bar, einem Restaurant] rausgeworfen werden) …
»T.S« (tough shit) …
»go commercial«, »I’m going commercial« (es für Geld machen) …
»box« = Vagina
»have a box« = eine Frau lecken …[45]
Studienbegleitend legt die damals 16-Jährige – vor allem aufgrund ihrer Größe offenbar deutlich älter wirkende Studentin – unter der Überschrift »The BI’s progress« zudem eine Liste sämtlicher sexueller Kontakte an, auf der sie Namen und Spitznamen (»Yvonne«, »Phil« oder auch: »Grandma«) ihrer One-Night-Stands protokolliert.[46]
Was Thomas Mann(14) wohl von all dem wissen mochte? Von den Bars in der Bay Area von San Francisco – oder denen gleich hier in der Nachbarschaft von North Hollywood. War er selbst schon einmal dort gewesen? Einst an vergleichbaren Orten in München oder Berlin? Hatte er nur die leiseste Vorstellung davon, was es bedeutete, im Los Angeles der frühen 1940er Jahre auf eine Highschool zu gehen? Von den Kursen in Maschinenschreiben? Den Kondomen auf den Parkplätzen? Den Mexikanern, die gleich um die Ecke des Schulhofs Haschisch feilboten? Es ist schwer zu glauben.
Jedenfalls kam Mann(15) nun, ganz gemäß Planung, auf seinen »Doktor Faustus« (Susan: »Ich weiß, wie wichtig Ihnen Musik ist.«)[47] zu sprechen. Nach Mann(16) beruhe der Roman »zum Teil auf dem Leben Nietzsches(1)«, doch sei der Protagonist eben kein Philosoph, sondern ein großer Komponist. Sowohl die Höhen wie die Tiefen der deutschen Seele spiegelten sich in ihrer Musik, sagte er betont langsam.
Besonders wertvoll scheint Susan der Hinweis, dass der »Doktor Faustus« in Kontinuität mit den »Buddenbrooks« und dem »Zauberberg« zu sehen sei (»Im literarischen Leben sind Ideen miteinander in einem Kontinuum verbunden«) und also, so hatte sie das tatsächlich noch nie gesehen, als dritter Teil einer Art Genealogie des deutschen Seelenwandels bis in den Hitlerismus(2) zu lesen sei. Mann(17) lässt Begriffe wie »das Dämonische«, »der Abgrund« und auch »das Schicksal Deutschlands« durch den Raum schweben, sowie, mehrmals auch, »Hitler(3)«. Gemäß Susans Tagebuch erzählt er den dreien auch von der Zusammenarbeit an den musikalischen Teilen »mit einem Schüler Alban Bergs(1) namens Darnoldi«.[48] Mit deutsch-kalifornischen Ohren gehört also niemand anderes als: Theodor W. Adorno.
Mann(18) hatte Adorno im Oktober 1943, nach erstem Beschnuppern im Hause gemeinsamer Bekannter aus der Nachbarschaft, brieflich zu sich in die Villa eingeladen und Adorno durch berechnende Schmeicheleien dazu ermuntert, ihm bei seinem neuen Roman in der Funktion eines »geheimen Rats« zur Seite zu stehen: »Ich brauche musikalische Intimität und charakteristisches Détail und kann sie nur durch so einen erstaunlichen Kenner wie Sie gewinnen.«[49]
Es wäre untertrieben zu behaupten, Adorno, für den Mann(19) in früher Jugend ebenfalls die Bedeutung einer literarischen Leitfigur eingenommen hatte, habe die Anfrage geschmeichelt. Im Original seines Antwortbriefs steht:
Als ich Sie, hier an der entlegenen Westküste, treffen durfte, hatte ich das Gefühl, zum ersten und einzigen Mal jener deutschen Tradition leibhaft zu begegnen, von der ich alles empfangen habe: noch die Kraft, der Tradition zu widerstehen. Dies Gefühl und das Glück, das es gewährt – Theologen würden von Segen sprechen – wird mich nie mehr verlassen.[50]
Zeilen ungebrochener Bewunderung, die Susan Sontag anlässlich ihres Zusammentreffens mit Mann(20) niemals zu Papier bringen sollte. Nicht einmal als Freshwoman des Jahreswechsels 1949/50. Nicht einmal in der Intimität ihres Tagebuchs. Als sie ihrem einstigen Gott und Lebensretter mit 16 Jahren zum ersten (und letzten) Mal leibhaftig gegenübersitzt, ist sie über derlei allzu devote Haltungen bereits hinaus und sieht im Lichte jüngster eigener Erfahrungen viel zu klar auf den dunklen Grund einer Tradition lebenslangen Verstellens, der zu widerstehen sie in den vorangegangenen Monaten den Mut gefunden hatte. Theologen würden von einem Segen sprechen. Oder eben: einer Wiedergeburt. Etwas, das sie für alle Zeit vor dem Rückfall in alte Gefangenheit schützen würde. Jedenfalls glaubte sie das.
Dabei war Berkeley nicht eigentlich Susans erste Wahl gewesen. Sofern sie sich des Nachts in ihrem Kinderzimmer bei Taschenlampe und Thomas Mann(21) an Orte geträumt hatte, in denen »es viele meinesgleichen« gab, stand ihr neben New York, wo ihre bevorzugten Literaturmagazine wie die Partisan Review erschienen, insbesondere die University of Chicago vor dem geistigen Auge.
Als Gegenentwurf zum Gros der sich unter dem Druck steigender Studentenzahlen rasant verändernden staatlichen Universitäten widersetzte sich Chicago unter Leitung ihres Präsidenten Robert Maynard Hutchins mit dem bereits damals legendären »Common Core Programm« jeder Form von zeitgeistiger Lehrplananpassung, Kanonaufweichung und grassierender Noteninflation. Stattdessen wurde dort ganz auf Benotung verzichtet, wie auch auf die Unterscheidung zwischen Geistes- (Arts/Humanities) und Naturwissenschaften. Quantenphysik war für die Anfänger in Chicago nicht weniger wichtig als Soziologie. Karl Marx(1) und Sigmund Freud(1) zum Verstehen der eigenen kulturellen Situation ebenso relevant wie Albert Einstein(1) und Marie Curie. Vor allem aber würde all das notwendig in der Luft hängen, hätte man die jungen Geister nicht mit den eigentlichen Quellen westlicher Kultur vertraut gemacht: den alten Griechen. Ihre Erschließung bildete das eigentliche Fundament dortiger Bildungsanstrengungen.
Unterrichtet wurde in Kleinstgruppen nach sokratischem Muster, bei einem jeweiligen Lesevolumen, das gern über dem doppelten nominell vergleichbarer Kurse an anderen Universitäten lag. Und mochte Susan von all diesen Eigenheiten nicht bereits genug begeistert gewesen sein, so war es endgültig um sie geschehen als sie erfuhr, dass Chicago als einzige Universität des Landes kein eigenes Footballteam besaß.
Anhand eines eigenen, anonymisierten Testverfahrens nahm man nur die besten jungen Köpfe des Landes an (was in diesen Nachkriegsjahren dazu führte, dass der Prozentsatz von Studierenden aus insbesondere säkular-jüdischen Elternhäusern annähernd 50 Prozent betrug).[51] Wie Susan.
Voll finanziert durch ein erhaltenes Hochbegabtenstipendium sowie dem mutmaßlich ureigenen Willen zu lustbetonten Selbsttransformation, besteigt Sontag nur eine Woche nach dem Treffen mit Mann(22) am Bahnhof von Los Angeles den Chief nach Chicago. Neben ihren ehemaligen Schulkameraden Gene(4) und Merril(5) trifft sie dort auf neue Kommilitonen, wie etwa Carl Sagan (1)oder Philip Roth(1). Seite um Seite sind die Tagebücher des Jahres 1950 von Literaturlisten und Lektüreeindrücken gefüllt – kaum etwas anderem.
Erst der 21. November 1950 bezeugt einen neuen Einschlag:
Gestern Abend hervorragend inszenierte Aufführung von Don Giovanni (City Center). Und heute habe ich ein wunderbares Angebot bekommen – für einen Soz[iologie]-Dozenten namens Philip Rieff(1), der unter anderem an einem Lehrbuch über Politische + Religionssoziologie arbeitet, selbst wissenschaftlich zu arbeiten. Endlich die Gelegenheit, mich unter fachkundiger Anleitung intensiv mit einem einzelnen Themenbereich zu befassen.[52]
Am 2. Dezember 1950 dann die Meldung von einer abermals radikalen Wende.
Gestern Abend, oder war es schon heute früh (Samstag)? – mit Philip Rieff(2) verlobt.[53]
Nur einen Monat darauf notiert die noch 17-jährige Susan Rieff:
Ich heirate Philip(3) im vollem + beklemmenden Bewusstsein meines Drangs zur Selbstzerstörung.[54]
Bei der Zeremonie in Los Angeles sind lediglich Susans Mutter, die jüngere Schwester sowie der Stiefvater zugegen. Der Riss zwischen schonungsloser Selbsterkenntnis und öffentlich gewähltem Selbstbild war in ihr Leben zurückgekehrt. Im vollen Bewusstsein der damit verbundenen Chancen wie auch Abgründe. Sowie unter veränderten existenzialistischen Vorzeichen. Die neuen Wahlverwandten ihrer Existenz lauten nun nicht mehr Sartre(3) oder Freud(2), sondern Rilke(2) und Kierkegaard(1):
13. 2. 1951
… Aus Rilke(3):
»… die großen Fragedynastien … Wenn wir immerfort im Lieben unzugänglich, im Entschließen unsicher + dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich dazusein?«
Dennoch sind wir da + bejahen das. Wir bejahen das Leben der Lust. Und trotzdem ist da noch mehr. Man flüchtet nicht, wie Freud(3) behauptet, vor seiner eigentlichen, animalischen Natur, dem Es, zu einem selbstquälerischen, von außen auferlegtem Gewissen, dem Über-Ich – sondern genau umgekehrt, so wie es Kierkegaard(2)