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Historischer Roman – Krimi – Politthriller!
Gisbert Haefs kehrt zurück nach Karthago, der eindrucksvollen Kulisse seiner erfolgreichsten Romane. Und mit ihm Bomilkar, Leiter der Stadtwächter und hartnäckiger Ermittler ohne Angst vor der Obrigkeit. Als ein Ratsherr ermordet wird, gerät Bomilkar in die Mühlen einer Intrige um Macht und unbeglichene Rechnungen.
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Seitenzahl: 426
Das Buch
Karthago 229 v. Chr. – Es ist Wahlkampf, und die Edlen und weniger Edlen streben nach Macht und Einfluß als hohe Richter oder Ratsherren. Die Stadt liegt unter einer Decke von Gerüchten und Intrigen, und ausgerechnet in dieser Situation muß Bomilkar, Herr der Stadtwächter und einst Kämpfer an der Seite des Strategen Hamilkar Barkas, den Mord an einem hohen Ratsherrn und das gleichzeitige Verschwinden des heiligen Schwertes aufklären. Der Täter ist schnell gefaßt, aber Bomilkar zweifelt am Motiv des kleinen Totschlägers, und die Oberen der Stadt werfen ihm bei den Ermittlungen nur Steine in den Weg. Dann wird einer seiner Ermittler getötet, und Bomilkar selbst entgeht nur knapp einem Anschlag. Mit Hilfe eines alten Bekannten aus Rom verläßt Bomilkar bei Nacht und Nebel Karthago und folgt der Spur des Schwertes bis nach Iberien. Doch erst an einem Ort unsagbarer Schrecken in der libyschen Wüste scheint sich der Kreis zu schließen. Und ein letztes Zusammentreffen mit dem gefürchteten Hanno steht Bomilkar noch bevor.
Das Schwert von Karthago schließt an den Roman Hamilkars Garten (in der Neuausgabe unter dem Titel Das Gold von Karthago erschienen) an.
»Gisbert Haefs hat die Leichtigkeit der hellenischen Literatur in seinen Krimi getragen und mit unserer Sprache verknüpft. Das ist herausragende Literatur.«
Berliner Zeitung
Der Autor
Gisbert Haefs, 1950 in Wachtendonk am Niederrhein geboren, lebt und schreibt in Bonn. Als Übersetzer und Herausgeber ist er unter anderem für die neuen Werkausgaben von Ambrose Bierce, Rudyard Kipling und Jorge Luis Borges und zuletzt von Bob Dylan zuständig. Zu schriftstellerischem Ruhm gelangte er nicht nur durch seine Kriminalromane, sondern vor allem auch durch seine farbenprächtigen historischen Romane.
Im Heyne Verlag liegen vor: Hannibal – Alexander – Alexander in Asien – Troja – Roma – Das Gold von Karthago – Das Schwert von Karthago – Mord am Millionenhügel/Und oben sitzt ein Rabe
GISBERT HAEFS
DAS SCHWERT VON KARTHAGO
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Vollständige Taschenbuchausgabe 01/2007
Copyright © 2005 by Gisbert Haefs
Copyright © 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: © Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München–Zürich
ISBN: 978-3-641-25027-0V001
www.heyne.de
1
[229 v. Chr.] Zabugu hatte getötet; deshalb mußte er sterben. Wenn er einen Bettler erschlagen oder einen anderen kleinen Schurken erstochen hätte, würde ihm vielleicht ein langwieriger Tod beschieden: Arbeit in einem der Steinbrüche, lebendig begraben und dennoch nützlich für die anderen. Mord an einem reichen, einflußreichen Mann war durch Tod am Kreuz zu sühnen; wenn der Richter nichts anderes anordnete, würde man den Mörder an ein Kreuz binden, ihm Arme und Beine brechen und das übrige der Sonne, dem Durst und den Schmerzen überlassen. Aber Zabugu hatte das Verbrechen – schlimmer: die Dummheit – begangen, einen Reichen zu töten, der zu den zweihundert Richtern gehörte. Dafür würde einer der anderen Richter zweifellos einen abschreckenden Tod verhängen.
Die Büttel, die unter Bomilkars Leitung den Frieden und die Ordnung der Stadt hüteten, hatten Zabugu zur Großen Mauer gebracht und in eines der Verliese gesteckt.
Es gab einiges am Hergang, das Bomilkar mißfiel, weil Fragen blieben. Fragen, die er Zabugu stellen wollte, ehe einer der einfallsreichen Henker ihm den Mund für immer schloß.
Während er darauf wartete, daß die Hüter des Verlieses mit Zabugu erschienen, überflog Bomilkar noch einmal die Papyrosfetzen, die sein Stellvertreter Autolykos bekritzelt hatte. Nichts an alledem gefiel ihm; dabei sagte er sich mit einem leisen Glucksen, daß kein Mörder verpflichtet sei, sich nach den Vorlieben des Herrn der Wächter der Stadt zu richten.
Der Mord war am Vorabend geschehen, als Bomilkar mit seiner Gefährtin Aspasia in einer Schänke des Hafenviertels aß und den wüsten Geschichten eines Erzählers lauschte. Autolykos hatte den Mörder in die Festung gebracht und offenbar mit Nägeln und Zähnen vor einigen Ratsdienern geschützt, die ihn gleich in den Kerker des Gerichtsgebäudes schleifen wollten.
»Gut so«, murmelte Bomilkar. Er hatte Autolykos auch schon gründlich gelobt. Die Richter und ihre Folterer würden sich früh genug mit Zabugu vergnügen.
Und er selbst hatte sich viel früher mit ihm befassen wollen, gleich am Morgen. Aber dann war eine jener unausweichlichen Formen wiederkehrenden Unheils über ihn gekommen: Ratsherren oder solche, die es werden wollten. Jährlich wurde ein Drittel des Rats neu gewählt, die Wahlen fanden im Spätsommer statt, und zuvor zogen alle, die wieder oder erstmals zur Wahl antraten, durch die Stadt. Um mit Bürgern zu reden, Beschwerden zu lauschen, Verheißungen abzusondern.
Bomilkar, geboren in der ältesten der punischen Städte, Ityke, hätte längst das Bürgerrecht von Qart Hadasht beantragen können, um sich an solchen Wahlen zu beteiligen. Besitz, Verdienste oder Ämter waren die Voraussetzungen. Er besaß weder Boden noch ein Haus oder ein Geschäft, aber er hatte in Iberien gekämpft und hütete den Frieden der Stadt. Eigentlich wußte er gar nicht, warum er sich nie bemüht hatte; vielleicht, weil er ohnehin zuviel mit Politikern umgehen mußte.
Wie an diesem Morgen, als acht Männer, die er alle nicht kannte, zuerst die Wachstube und dann die Festung besichtigen wollten. Einer seiner Stellvertreter, der Punier Achiqar, hatte sie geführt, und zwei Stunden lang hatten sie Fragen gestellt, in Aufzeichnungen geblättert, Vorschläge gemacht. Einige waren umgänglich gewesen, von gewissermaßen erhabener Freundlichkeit, andere schroff und anmaßend, grenzten sich als Nachweis ihrer Zugehörigkeit zu den besseren Schichten durch überdeutliche Aussprache und gewählte Redeweise von ihm und anderem minderen Volk ab. Zeitverlust, der ihn an Wichtigerem gehindert hatte. Zabugu, vor allem.
Er blickte von den Papyrosfetzen auf und lauschte. Die Räume der Ordnungshüter – darunter die eigentliche Wachstube und der Nebenraum, in dem er zuweilen übernachtete – lagen in jenem Teil der Mauer, der sich vom Tynes-Tor nach Süden bis zur Ufermauer am Binnensee erstreckte; durch den gewöhnlichen Vormittagslärm vom Tor und von der Großen Straße war nun das Klirren von Ketten zu hören. Ein paar Lidschläge später tauchten vor dem Eingang vier Männer auf: zwei zum Wachdienst befohlene Fußkämpfer, Zabugu und Achiqar.
»Hier ist das Geschenk«, sagte er; mit dem Kinn wies er auf den Gefangenen. »Gut eingewickelt, hoffe ich.«
»Ich danke euch, Männer.« Bomilkar nickte den beiden Kriegern zu. »Es wird eine Weile dauern. Geht zurück; wir rufen euch, wenn wir fertig sind.«
Zabugu war ein stämmiger Numider – ›Massyler, wahrscheinlich‹, dachte Bomilkar; er trug nichts als einen ledernen Leibschurz und dazu Ketten an den Füßen und Handgelenken. Die Zehen waren lang und schmutzig, die Fußsohlen von Hornhaut überkrustet. Als der Mann sich halb umdrehte, um einen Blick in den Wachraum zu werfen, sah Bomilkar Spuren eines Peitschenschlags auf der Schulter und ein paar verfärbte Hautstellen, vermutlich von Stößen mit Lanzenschäften. An den Händen und im Gesicht gab es kleinere Schwellungen, die von Insektenstichen herrühren mochten.
»Setz dich«, sagte Bomilkar; er deutete auf einen Schemel.
Zabugu wirkte ein wenig verblüfft, ließ sich dann aber ohne ein Wort auf den Schemel sinken. Achiqar lehnte mit der linken Schulter im Eingang, das kurze Schwert in der rechten Hand.
Bomilkar musterte das Gesicht des Mörders. Und zum hundertsten Mal fragte er sich, warum man Beruf und Neigung oder Fähigkeiten eines Menschen nicht am Gesicht erkennen konnte. Zabugu hätte Bauer sein können, Lastträger, Matrose, einfacher Krieger; das stopplige Kinn, der breite Mund, die etwas zu kurze Nase, die müden dunkelbraunen Augen – nichts war ungewöhnlich. ›Keine besonderen Geistesgaben‹, dachte Bomilkar, ›aber auch keine Anzeichen von Blutdurst oder bemerkenswerter Grausamkeit‹.
»Warum?« sagte er.
Zabugu blickte einen Punkt über Bomilkars Kopf an, vielleicht einen Fleck in der Tünche der Wand. Er hob die Schultern.
»Sie haben es eilig mit dir.« Bomilkar lehnte sich in dem schlichten Scherensessel zurück und nahm ein Messer, das zum Beschweren von Papyros gedient hatte. Mit der Spitze deutete er auf Zabugu. »Morgen früh wird sich ein Richter mit dir befassen. Morgen mittag, nehme ich an, wird man beginnen, dir ein langes Sterben zu bereiten.«
Zabugu schien ihn nicht zu hören. Er hatte den Kopf gesenkt und blickte auf den Boden, vielleicht auf die Eisenringe an den Knöcheln oder die Kette dazwischen.
»Hörst du?«
Zabugu hob den Kopf, ganz langsam, und sah Bomilkar an. »Ich höre, Herr der Wächter«, sagte er leise, »aber ich lauschte nicht.«
»Warum nicht?«
»Es wäre nutzlos.«
»Ich werde später, heute abend, mit Himilko reden, dem Sufeten. Er weiß vielleicht schon, welcher Richter deinen Fall übernimmt. Himilko könnte, wenn er einen Grund dafür hätte, mit dem Richter sprechen. Ihn bitten, aus bestimmten Gründen einen schnelleren und weniger schmerzhaften Tod zu verfügen.«
Zabugu kaute auf der Unterlippe. »Das wäre …« Er hustete. »Wozu sollte ein Sufet sich um mich kümmern?«
»Das stimmt.« Bomilkar legte das Messer wieder auf die Papyrosabrisse. »Warum sollte er? Es gibt in dieser Stadt zwei Sufeten, zweihundert Richter, dreihundert Ratsherren, dreißig Älteste und zehntausend Zabugus. Wen kümmert ein Zabugu?«
»Zweihundertvier Richter«, sagte Achiqar mit einem Glucksen. »Hundertvier Edle, die sich um Belange des Staats kümmern, und hundert weniger edle für die alltäglichen Dinge. Zehntausend Zabugus, zehntausend Achiqars. Und wieviel Bomilkars?«
»Mehr als genug. Aber einer dieser Zabugus hat etwas getan, was all die edlen, reichen und mächtigen Männer berührt. Bekümmert. Deshalb kümmern sie sich so schnell um dich.«
Zabugu verdrehte die Augen und schwieg.
»Ich sehe die Dinge so«, sagte Bomilkar. »Du hast den edlen Abdosir mit einer Lanze durchbohrt, als er eben den Eschmun-Tempel verließ. Dein Gesicht war verhüllt, aber du bist über eine Mauer geklettert, um den Sklaven zu entkommen, die dich verfolgt haben, und dabei haben die Zweige eines Baums dir den Schleier abgestreift. Die Sklaven von Abdosir konnten ihren Herrn nicht schützen, aber sie haben dich gesehen, ebenso die der drei anderen Ratsherren, die mit Abdosir im Tempel gewesen waren. Alle haben laut geschrien, und ein paar meiner Wächter, die zufällig ganz in der Nähe waren, haben dich geschnappt, als du den Garten wieder verlassen hast.«
Achiqar öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, als Bomilkar ihm einen unfreundlichen Blick zuwarf.
»Dies wird der Richter bedenken, nicht mehr. Ein Nichts namens Zabugu hat einen Großen der Stadt getötet; es gibt keinen Zweifel daran, also auch keinen Zweifel an der Verurteilung.«
Der Massyler bleckte die Zähne. »Wozu dann dies Gerede, Herr?«
»Weil mich ein paar andere Dinge bekümmern, o Zabugu. Ich will sie dir darlegen, damit du sie – und mich – verstehst.«
Zabugu seufzte leicht. »Nutzlos.«
»Wir werden sehen. Als die Fürstin Elissa vor fast sechshundert Jahren aus Tyros hierhersegelte, um die neue Stadt zu gründen, hatte sie zwei Steuerleute. Einer war Ahiram, Vorfahr des Strategen Hamilkar, der in Iberien kämpft. Der andere war Baalyaton, Vorfahr des Ratsherrn und Richters Abdosir. Zahllose Sufeten, Hohe Priester, Strategen, Richter, Ratsherren. Eine der wichtigsten Familien. Unter den Mächtigen und Alten, den reinen Chanani, deren Ahnen aus Chanaan hergesegelt sind, eine der angesehensten. Mit Einfluß, mit einflußreichen Verwandten und Freunden. Mit Geld im Handel und in Häusern, mit Landgütern.«
Bomilkar machte eine Pause und betrachtete den Mörder. Zabugu verzog keine Miene.
»Und du – Sohn eines massylischen Kameltreibers. Dein Vater, lese ich hier, war Karawanenmann, und soweit wir wissen, hat er nie etwas mit Abdosir oder dessen Sippe zu tun gehabt. Du bist vor acht Jahren in die Stadt gekommen, nach dem Ende des Kriegs gegen die Söldner, und hast seitdem hier gearbeitet. Als Lastträger, als Tierpfleger, als Stauer im Hafen, in den letzten drei Jahren als … etwas anderes. Handlanger von Gulussa, der bis zu seinem Tod im vorigen Jahr einer der Fürsten der Unterwelt war. Für wen hast du seitdem gearbeitet?«
Zabugu hob die Schultern. »Für jeden, der mich bezahlt.«
»Hat Abdosir dich bezahlt? Wofür?«
»Abdosir?« Zabugu hatte die Augen weit geöffnet; seine Stimme klang, als wolle er Bomilkar des Wahnsinns bezichtigen.
»Hat Abdosir versäumt, dich zu bezahlen?«
Diesmal gab es nur ein stummes Kopfschütteln. Bomilkar sagte sich, die Behauptung, der Mond sei bis vorgestern eine vor der Hafeneinfahrt vertäute Boje gewesen, wäre ähnlich überzeugend wie die Annahme, einer wie Abdosir hätte auch nur gewußt, daß es Zabugu gab.
»Also keine Verbindung zwischen euch? Na schön – aber warum hast du ihn dann getötet?«
Zur Abwechslung grinste Zabugu nun. »Mir war eben danach«, sagte er.
Bomilkar nickte. »Das kann vorkommen. Du erwartest aber sicher nicht, daß ich das glaube.«
»Ich erwarte gar nichts.«
»Doch. Einen unerfreulichen Tod. Sie werden dafür sorgen, daß andere abgeschreckt werden. Es gibt fähige Folterer. Was meinst du, Achiqar – zwei Tage?«
Der Punier setzte ein schräges Lächeln auf. »Für den Mord an einem der Großen der Stadt? Drei Tage. Und Nächte.«
Bomilkar beugte sich vor. »Lange bevor du stirbst, wirst du nicht mehr schreien können«, sagte er langsam. »Sie werden dir stückchenweise die Haut abziehen und das Fleisch darunter mit Salz einreiben. Sie werden …«
Zabugu unterbrach. »Ich weiß; ich habe schon einmal zugesehen. Was willst du von mir?«
»Wissen, warum du es getan hast. Ich will dir auch sagen, warum ich es wissen will. Du hattest einen Auftrag. Jemand hat dir gesagt, du sollst Abdosir töten. Vielleicht hat er dir auch gesagt, er würde dir bei der Flucht helfen. Und zweifellos hat er dir gesagt, du sollst nicht reden. Hast du eine Frau? Kinder?«
Zabugu schwieg; er starrte wieder auf den Boden.
»Wenn du redest, werden sie deine Familie und deine Freunde bestrafen, nicht wahr? Du siehst, ich versuche gar nicht, dir etwas vorzumachen. Aber ich könnte deine Leute schützen. Und ich könnte dafür sorgen, daß niemand etwas erfährt.«
Draußen waren Schritte zu hören, dann eine Stimme. Achiqar verließ die Wachstube und wechselte ein paar Worte mit jemandem auf dem kleinen Platz.
»Wenn es um Geld geht«, sagte Bomilkar, »geht es um Macht. Bei Abdosir geht es zweifellos um viel Geld und viel Macht. Für dich wird alles vorbei sein – demnächst. In vier Tagen vielleicht. Für mich wird es weitergehen, denn wenn dies einmal geschieht, geschieht es auch ein zweites und drittes Mal. Deshalb will ich wissen, und deshalb will ich mit dem Sufeten reden, der vielleicht den Richter dazu bringt, einen schnelleren Tod zu beschließen.«
»Vielleicht«, sagte Zabugu, »vielleicht nicht. Deine Sorgen, Herr der Wächter, kümmern mich nicht.«
Achiqar kam zurück in die Stube, begleitet von einem anderen Büttel.
»Um Vergebung, Herr«, sagte dieser, »aber du wirst gebraucht.«
2
Der Wächter, der sich ein etwas verqueres Grinsen vom Gesicht wischen mußte, brachte Bomilkar mit einem leichten Wagen zum Hafen. Unterwegs erzählte er vom Diebstahl, den ein wichtiger Händler (und Freund mehrerer Ratsherren) erlitten habe, und von den Schwierigkeiten, die der Stallmeister des Ratsgebäudes wegen des Wagens und der beiden Pferde gemacht hatte.
»Bring sie zurück«, sagte Bomilkar, als sie die Agora erreicht hatten. »Den Rest gehe ich zu Fuß. Wo sind sie?«
»Auf der Seeseite, ungefähr in der Mitte. Shunuks Schänke. Du wirst den Händler sofort erkennen.«
Bomilkar sprang vom Wagen. »Wieso? Woran?«
Der Büttel zuckte mit den Schultern. »Denk an den elenden ptolemaischen Kornsack.«
Kunstvoll gekräuseltes Haar, das von Duftölen glänzte, Hängebacken, eine golddurchwirkte Schärpe, die feinstes weißes Leinen über dem Wanst zusammenhielt – tatsächlich hätte Eurylochos Vorbild für den feisten Händler sein können, der fester Bestandteil so vieler Komödien war. Vielleicht nicht nur in Qart Hadasht, aber Bomilkar wußte zu wenig über die Gepflogenheiten der Theater in anderen Weltgegenden, und zweifellos war nun nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Neben dem Händler (dem Handelsherrn, besser gesagt: Vertreter eines der großen Häuser, die im Auftrag und zum Nutzen des Herrschers in der gesamten bewohnten Welt Geschäfte machten) saß der Ratsherr Mago. Trotz der Hitze trug er einen steilen, fellbesetzten Kopfputz. Hinter ihm standen zwei mit Lanzen bewaffnete Ratswachen, und eben brachte nicht etwa ein Schanksklave, sondern der Wirt selbst den vornehmen Gästen einen Krug aus bläulichem Glas, der wahrscheinlich Bier enthielt. Es war sicherlich nicht der erste Krug.
»Der Herr der Büttel«, sagte Mago. Seine Familie besaß riesige Güter im Binnenland, etliche Handwerksbetriebe und Anteile an mindestens zwei Werften und einer Markthalle. Er gehörte zu den »Neuen«, die man nach ihrem in Iberien weilenden Führer Hamilkar Barkas auch »Barkiden« nannte. Bomilkar hatte gelegentlich mit ihm zu tun gehabt und fand ihn herzhaft widerwärtig.
Eurylochos hielt es für unnötig, einen Büttel zu begrüßen; er zeterte gleich los, und Bomilkar bemühte sich, aus dem Wortschwall die wichtigen Tatsachen herauszuseihen. Als der Alexandrier nach längerem Reden tief Luft holte, legte Mago ihm eine Hand auf den Arm und blickte an seiner Nase entlang Bomilkar an.
»Es ist schändlich«, sagte er, »daß weitgereiste Handelsherren in unserem Hafen nicht mehr sicher sind. Schändlich. Für uns alle, besonders aber für jene, die dafür bezahlt werden, Ordnung und Sicherheit der Stadt zu wahren.«
Bomilkar deutete eine Verneigung an, eher ein langwieriges Nicken. »Ich weiß, Herr, und ich bin geziemend zerknirscht. Meine Leute werden den Bodensatz der Stadt umgraben, um das Verschwundene zu finden. Allerdings …« Er machte eine Pause und überlegte, ob er das, was ihm auf der Zunge lag, wirklich ausspeien sollte. Bomilkar, zuvor Führer einer Hundertschaft von Fußkämpfern unter Hamilkar in Iberien, nun Herr der Büttel, vom Rat angewiesen, für einen Tageslohn von vier Schekeln – zwölfmal soviel, wie ein einfacher Krieger erhielt – die Ordnung zu hegen, und der reiche Ratsherr, der tausend Bomilkars bezahlen konnte, ohne dadurch ärmer zu werden. ›Bezahlen‹, dachte er, ›aber nicht kaufen.‹ Er beschloß, nur die Hälfte dessen zu verschlucken, was er sagen wollte.
»Allerdings was?« Mago legte den Kopf in den Nacken und blickte noch hochmütiger an der eigenen Nase entlang.
»Allerdings dürfen sich die edlen Herren dann nicht beschweren, wenn aus dem aufgewühlten Bodensatz Gestank an ihre feinen Nüstern dringt.«
»Manche Männer gehören täglich ausgepeitscht, damit sie ihren Platz im Gefüge der Dinge nicht vergessen«, sagte ein Mann an einem der anderen Tische. Ein Punier, mit scharfer Aussprache und scharfer, heller Stimme. Einer der Bewerber um einen Platz im Rat, die morgens in der Wachstube gewesen waren. Er zupfte seinen gelben Umhang zurecht. Neben ihm saß ein hagerer Mann mit dünnem Hals und riesigem Kehlkopf, der hüpfte, als er dem Gelbgewandeten etwas zuflüsterte.
Der Ratsherr hob die rechte Hand; an den Fingern steckten drei Ringe, deren Wert Bomilkar, auf den die Finger wiesen, nicht zu schätzen wünschte.
»Schon gut, mein Freund«, sagte er zu einem der beiden am Nebentisch. Dann starrte er Bomilkar an. »Du willst nicht etwa frech werden, Büttel?«
»Keineswegs, Herr. Es war nur eine vorsichtige Warnung. Der Sufet Himilko, dein Parteifreund, würde mich tadeln, wenn ich nicht gründlich genug im Schlamm wühlte; die Folgen des Wühlens sollten mir daher nicht deine Mißbilligung eintragen.«
Die Erwähnung eines der beiden höchsten Amtsträger schien Mago zu besänftigen.
»Nun ja«, knurrte er. »Kümmere dich um die Sache.«
Die Sache war ebenso einfach wie aussichtslos. Eurylochos’ Schiff lag seit vier Tagen im Hafen. Der ägyptische Makedone hatte teure Güter gebracht, auf den Warenwert zehn Hundertstel Zoll entrichtet und die vergangenen Tage damit verbracht, »edle Männer zu bewirten und ihnen gute Waren zu verkaufen«, wie er sagte. An diesem Vormittag war er ohne Sklaven oder andere Begleiter vom Gasthaus am Byrsahang zum Hafen gegangen. Vor einer der zwischen Lagerschuppen verkeilten Schänken an der Landseite hatte ihn ein Bettler am Arm gepackt und gezerrt, und erst als er diesen abgeschüttelt hatte, bemerkte er, daß ihm inzwischen ein anderer den Beutel von der Schärpe geschnitten hatte.
»Wie du siehst«, sagte Eurylochos; er hielt zerschnittene Reste von Lederriemchen hoch.
»Was war im Beutel?«
»Drei Minen in Silbermünzen – hundertachtzig shiqlu in Einer-, Zweier- und Vierermünzen. Und drei teure Ringe, Gold mit grünen Steinen. Wert noch einmal drei Minen.«
Beschwichtigen, versprechen, andeuten, behaupten, Männer mit unausführbaren Aufträgen losschicken … Und nun, viel später, stützte sich Bomilkar auf die Brüstung der Seemauer, den Rücken zum Hafenbecken, und starrte hinaus auf die Bucht. Der Zwei-Horn-Berg am Ostufer schien im Dunst zu schweben. Wie der ganze Tag, der gestohlene Beutel, die aufstrebenden Politiker und Zabugus Verbrechen. Das Wasser in der Bucht war Öl unter einem Himmel aus Blei. ›Frisch geschmolzenes Blei‹, dachte Bomilkar; von oben sickerte es unsichtbar durch die fetten Schichten abgestandener Luft, verwandelte sich zu Schweiß, drang in die Poren, lähmte den Leib und erstickte das Atmen. Einzelne schwere Regentropfen platzten auf den Quadern der Mauer, und im fernen Westen raste lautloses Feuer über den Himmel. Wetterleuchten, Vorzeichen eines gewaltigen Frühsommergewitters. Wenn das Bleigefäß oben endlich barst, würde Regen die Luft reinigen, die niedrigeren Viertel der Stadt überfluten und alle Zisternen füllen.
Öliges Meer, feuchte Luft, Schweiß … Mit einem Lächeln dachte Bomilkar an den Geschichtenerzähler, dem er und Aspasia am vorigen Abend gelauscht hatten, und an seine Ausführungen über Flüssigkeiten. Wichtige, von der Zunft der Erzähler geheiligte Flüssigkeiten, ohne die jede Geschichte karg und trocken sei: Blut und Schweiß, Wein und jene Säfte, die Männer und Frauen bei der Liebe absondern. Schweiß hatte er genug, Wein fehlte, Blut würde er am nächsten Morgen sehen müssen, und was die Säfte anging … Jetzt heimgehen, zu Aspasias Wohnung hinaufsteigen, die er seit vielen Monden teilte, einander mit kühlem Wasser und danach mit der Erzeugung jener Säfte ergötzen, neue alberne, verwickelte oder witzige Namen für die daran beteiligten Körpergegenden erfinden, und später Wein und Braten.
Aber es war müßig, derlei Gedanken zu hegen; sie würden wuchern und all das noch unerfreulicher machen, was wirklich zu erledigen war. Was er längst hätte tun sollen und nicht hatte tun können, weil er dem Gezeter des Händlers verfallen war. Verfallen und darin gefangen. Jeder seiner Leute hätte sich ebensogut um Eurylochos kümmern können, aber ein reicher Mann, wichtig, mit hochrangigen Geschäftsfreunden, edlen Puniern … Besser, daß sich der Herr der Wächter gleich selbst um ihn kümmerte. Lästig, aber weniger lästig als spätere Anwürfe edler Ratsherren.
Zu allem Überfluß hatte der Alexandrier als Stimme etwas verwendet, was Bomilkar bestenfalls als schrilles Scheppern bezeichnen mochte. Vielleicht hatte der Büttel, der ihn holen mußte, deswegen so gegrinst? Immerhin klirrten seine Ohren nicht mehr; eine kleine Weile, über hundert Atemzüge der Stille auf der Seemauer, war heilsam gewesen.
Widerstrebend riß er sich von der Brüstung los, die ihn festzuhalten schien – rauher Stein am schweißnassen Leibrock. Während er zum rechteckigen Becken des Handelshafens hinabstieg, versuchte er, seine nächsten Schritte in eine sinnvolle Reihe zu bringen. Einen Bericht schreiben, diesen zum Ratsgebäude bringen lassen, Meldungen der Wächter anhören, die Wachstube an der Agora aufsuchen. Kleinkram. Zwischendurch im Stehen etwas essen. Er sah voraus, daß es Abend werden würde, bis er endlich dazu kam, Zabugu weiter zu befragen.
Unterhalb der Mauer, im Gedränge vor den Schuppen und Lagerhäusern östlich des Hafens, war die Luft noch stickiger. Alles schwitzte: Stauer, Lastträger, Händler, Aufseher. Die Peitsche in der Hand eines gähnenden Treibers, die Ochsen vor einem Karren aufmuntern sollte, klang eher verdrossen denn belebend.
Vor Shunuks Schänke lehnten ein paar Handwerker und Arbeiter. Mit langsamen Bewegungen hoben sie Becher, tranken langsam und schienen zu träge zum Sprechen. Der Gelbgewandete und der Mann mit dürrem Hals und seltsamem Kehlkopf waren verschwunden, und Eurylochos und Mago hatten sich vermutlich in kühlere Gefilde begeben: verdunkelte Räume des Ratsgebäudes oder eines der Häuser der Reichen oben auf dem Byrsahügel. Dort mochte die Luft atembarer sein; aber Bomilkar wußte nicht, wo Mago wohnte.
Er wandte sich nach Norden, hatte aber kaum die Hälfte der vielleicht zehn Dutzend festgemachten Schiffe abgeschritten, als für die Dauer einiger Atemzüge das Getriebe zu stocken schien; plötzlich starrte alles nach Süden.
Die Klappbrücke über der Zufahrt hob sich, um drei Penteren vom Meer her einzulassen. Wie müde Tausendfüßler krochen die Kampfschiffe hintereinander durch die Mitte des Beckens, nach Norden, zum runden Kriegshafen. Mit dumpfem Dröhnen schlossen sich die Bronzetore hinter ihnen, und wie an der südlichen Einfahrt klappte auch hier die Brücke wieder herab. ›Müde Tausendfüßler auf dem Wasser‹, dachte Bomilkar, ›und mürbe Möwen in der Luft‹. Eine sah er, die mit schlappen Schlägen wie durch dicke Brühe schwamm und sich auf die Rah eines vertäuten Frachtseglers setzte – nein, eher legte: eine Möwe wie ein nasser Tuchbeutel.
Kurz vor Sonnenuntergang hing das Unwetter noch immer über der Stadt, wie eine unerfüllte Drohung oder Verheißung. Alles war seltsam still geworden. Gewöhnlich trieben sich zu dieser Zeit die Menschen auf den Straßen und Plätzen herum, besuchten Freunde, aßen und tranken mit anderen oder lauschten den Erzählern und Musikern, die durch die Viertel zogen. Heute nicht. Hier und da wurden Fackeln entzündet, und aus einigen Häusern fiel mattes Licht. Gleichsam geduckt wartete die Stadt auf den gewaltigen Regen.
Bomilkar stöhnte leise. Mit dem halblangen Ärmel seines kitun suchte er sich das Gesicht zu trocknen, aber der Stoff war längst feucht.
Hinter ihnen verschloß der Numider Duush das Tor zur Werkstatt, in der immer ein paar Männer Karren bauten oder ausbesserten. Männer, die zu den Wächtern gehörten, aber keine Rüstungen und nicht immer Waffen trugen; bei ihrer heiklen Arbeit war zunächst die Schärfe von Augen und Ohren wichtiger als die von Schwertern.
»Bis morgen, Häuptling«, sagte der Numider. Das zuckende Licht einer nahen Fackel machte aus seinem Grinsen eine böse Fratze. »Mit etwas Glück schaffen wir’s noch trocken nach Hause.«
»Du vielleicht«, sagte Bomilkar. »Ich muß noch ein wenig laufen.«
»Wohin? So weit ist es doch nicht bis zu Aspasia.«
»Ich muß noch zur Mauer.«
»Drei Meilen laufen?« Duush klackte mit der Zunge. »Bei dem Wetter? Und was willst du da?«
»Zabugu.«
Duush seufzte. »Er wird nicht reden.«
»Habt ihr schon was rausgekriegt?«
»Alle, die ihre Ohren in die wesentlichen Ritzen schieben können, wissen Bescheid. Hast du denn eine Ahnung, wonach genau sie suchen sollen?«
Bomilkar runzelte die Stirn. »Wenn ich mehr wüßte … Jemand muß ihn beauftragt haben. Davon gehe ich aus, solange mir keiner eine unmittelbare Verbindung zwischen Zabugu und Abdosir bieten kann.«
»Schon recht, aber irgendwie …« Duush rümpfte die Nase. »Eine Verbindung zwischen Abdosir und einem der Fürsten der Finsternis kommt mir genauso unwahrscheinlich vor. Angeblich hat er das einem Edlen geziemende makellose Leben geführt.«
»Wer hat noch mal gesagt, die meisten Götter seien maskierte Daimonen?« sagte Bomilkar. »Außerdem sollten wir an ein größeres Netz denken. Der edle Eins mag den edlen Abdosir nicht, deshalb redet er mit dem edlen Zwei, der einem Halbedlen sagt, er solle einem der Fürsten der Unterwelt Grüße ausrichten. Dieser Fürst leitet die Grüße weiter an einen anderen, und der erteilt einen Auftrag.«
»Ei.« Duush grinste. »Tut das nicht weh, so umwegig zu denken? Und wenn es so wäre – wie sollen wir das je herauskriegen? Vor allem wozu?«
»Weil das, wenn es so ist, arg aufwendig wäre. Aufwand macht man nicht für etwas Geringfügiges. Und wenn es groß ist, sollten wir es wissen. Um uns rüsten zu können.«
»Du meinst, wir hören undeutliche Mückenmusik, zu der tatsächlich im Stockwerk über uns ein Elefant tanzt?«
Bomilkar lachte. »So ähnlich. Und das wüßte ich gern, bevor er durch die Decke kracht und über uns kommt.«
»Vielleicht hast du recht. Geld und Macht … nichts für Mücken. Wir werden die Ohren aufstellen.«
»Tut das. Ich gehe jetzt durch die Nacht, um die Mücke Zabugu noch einmal gründlich zu befragen.«
Aber er ging dann doch nicht. Drei Meilen am Ende eines quälenden Tages. Die Stallungen, die zum Ratsgebäude gehörten, waren nicht weit: die Straße der Segelmacher hinauf bis zur Großen Straße, ein paar hundert Schritte nach rechts zur Agora, an deren Nordseite die Räte und Richter und Sufeten sich versammelten, wenn es Dinge zu beraten gab, und zur Rückseite des Gebäudes. Der Stallmeister, der nachmittags angeblich gezetert hatte, wagte es dem Herrn der Ordnungshüter gegenüber nicht, auch nur das Gesicht zu verziehen. Bomilkar ließ ihn ein Pferd vor einen leichten Wagen spannen.
Die Große Straße, die am Südrand der Agora begann und drei Meilen nach Westen verlief, zum Tynes-Tor, war nahezu leblos. Hier und da streunte ein Köter, und zweifellos trieben sich ein paar Dirnen und Diebe in den dunkelsten Winkeln herum. Während er in die Nacht fuhr, die durch schnelle Bewegung nicht weniger stickig wurde – kein Fahrtwind, eher eine Breibrise –, erwog er einige Atemzüge lang, daß er sich in einem Angsttraum aufhalten könnte, in dem alles Leben aus der Stadt sickerte und sich an einem unvorstellbar grauenhaften Ort verdickt und verdichtet sammelte; dann dachte er wieder an Zabugu und alles, was an diesem Namen hing.
Und an dem anderen Namen, Abdosir. Ränke, an denen die Hohen und Mächtigen beteiligt waren, endeten selten mit dem Tod eines Großen. Wenn aber die Großen einander zu meucheln begannen, würden sie bald auch gegenseitig die abhängigen Kleinen schlachten. Die sich vorsehen mußten, aber weitestgehend ohnmächtig waren.
Bomilkar bemerkte, daß etwas Kaltes ihm den Rücken hinabrann. Er kannte dieses Gefühl. Er war neunundzwanzig Jahre alt, seit drei Jahren in der Hauptstadt, und in dieser Zeit hatte er es drei- oder viermal verspürt. Vorher, als Kämpfer bei Hamilkars Truppen in Iberien, Dutzende Male. Wenn er und seine Leute in einen Hinterhalt gerieten, oder geraten könnten; wenn ein Feind im Dunkel lauerte; wenn ein Pfeil, dem er nicht würde ausweichen können, aus einem Gesträuch kommen mochte.
Die Nackenhaare hatten sich noch nicht wieder gelegt, als er die große Festungsmauer erreichte und vor dem Tor nach Süden abbog, zum kleinen Platz vor der Wachstube. Er schlang die Zügel um einen Pfosten, tätschelte den Hals des Pferdes und ging langsam zur erleuchteten Tür. Ohne zu wissen, warum, hielt er plötzlich sein Messer in der Hand. Verschwommen, wie eine weit hinten im Kopf abgelagerte Erinnerung, kam ihm der Gedanke, daß er einige Tage lang nicht geübt hatte. Messerwerfen, Bogenschießen, Zweikampf mit Holzschwertern …
Dann trat er in die Wachstube. Sein Stellvertreter Autolykos saß hinter dem Tisch und kritzelte auf Papyros; drei Öllampen gaben genug Licht, um zu sehen, daß außer dem grauhaarigen kampanischen Hellenen nur ein weiterer Mann im Raum war, einer der Wächter, ausgestreckt auf einer Liege. Bomilkar stieß die angehaltene Luft aus und schob das Messer wieder in die Scheide.
Autolykos blickte auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte eher betrübt denn besorgt.
»Was gibt’s?« sagte Bomilkar.
»Wieso sollte es etwas geben?«
»Ich sehe es dir an.«
Autolykos nickte und schob die Unterlippe vor. »Vielleicht sollte ich eine Maske tragen«, sagte er. »Wie die Schauspieler in den alten Komödien.« Er langte nach einem Papyrosabriß und hielt ihn Bomilkar hin. »Hier.«
»Was ist es?«
Irgendwie war Bomilkar nicht überrascht, als Autolykos sagte: »Der Befehl des Richters Tybon, den Gefangenen Zabugu sofort zu überstellen.«
3
Bomilkar starrte einige Zeit auf das Siegel, ohne es wirklich zu sehen. Schließlich legte er das Papyrosstück neben sich auf die Bank und blickte auf.
»Es gibt Tage, die man am besten im Regal lassen sollte«, sagte er. »Manche davon beginnen mit dem Besuch angehender Ratsherren und enden mit dieser Form von Kamelscheiße.«
»So wie du sahen die Helden der Vorzeit aus, ehe sie in den Krieg zogen.« Autolykos saß immer noch an Bomilkars Tisch. Er hatte das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt und kniff die Augen zusammen.
»Unsinn.« Bomilkar rutschte auf der Bank nach hinten, bis er den Rücken an die Wand lehnen konnte. »Krieg, bah. Kennst du Tybon?«
»Nein. Das heißt, ich habe den Namen schon gehört. Warum?«
»Einer von den Alten«, sagte Bomilkar. »Ein enger Vertrauter von Hanno.«
Autolykos stöhnte leise. »Nicht schon wieder!«
Rab Hanno. Hanno der Große. Mächtigster Mann der Stadt, Herr über große Güter im Hinterland, Führer der Partei der »Alten«, in den letzten Jahren des Römischen Kriegs Gegenspieler von Hamilkar und allen, die den Sieg gewollt hatten, weil sie nicht an Roms Willen zu einer Verständigung glaubten. Ratsherr, Oberster Priester des Baal Melqart, Besitzer von Sklaven und Schiffen und Werkstätten. Vor einem Jahr hatten Bomilkar und seine Männer das zweifelhafte Vergnügen gehabt, Hanno ein wenig zu nahe zu kommen. Die Aufklärung des Mordes an einem römischen Händler war zu einem schwindelerregenden Schwertertanz geworden, an dem die Unterwelt und die höchste Macht der Stadt, kleine Totschläger und großes Geld sich blutig beteiligten. Hanno, Schlangenaugen wie aus Obsidian … Immer noch war es ein kalter Hauch, die Berührung einer eisigen Klinge, eine Lanzenspitze im Rücken: der bloße Gedanke an Hanno, die Erwähnung seines Namens.
»Nein, bestimmt nicht schon wieder«, sagte Bomilkar. »Was sollte Hanno denn mit Zabugu und Abdosir zu tun haben?«
»Gibt es in der Stadt etwas, womit Hanno nichts zu tun hat?«
»Wenn er Abdosir beseitigen wollte, hätte er ganz andere Möglichkeiten.« Bomilkar schüttelte den Kopf. »Er würde keinen kleinen Schurken mieten.«
»Mieten lassen vielleicht?«
»Was … Ah nein, mein Freund; das ist nicht Hannos Art. Jedenfalls sieht es nicht so aus. Noch nicht.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber Tybon ist einer seiner Leute.«
Bomilkar nahm den Papyros wieder auf und betrachtete das Siegel. Kein altes ägyptisches Rollsiegel mit den Namen irgendeines verblichenen Herrschers, wie es so viele edle Punier verwendeten, sondern der kreisrunde Abdruck eines Siegelrings mit der Palme und dem Kopf eines Pferdes: Siegel der Stadt, nicht des Mannes.
»Tybon«, sagte er, »ist Richter. Und einer der Dreihundert. Ich glaube, er will sich sehr früh mit Zabugu befassen.«
»Meinst du, um möglichst schnell ein abschreckendes Urteil zu fällen? Oder um die Sache hinter sich zu bringen? Weil sie ihn an wichtigeren Dingen hindert?«
Bomilkar stand auf und begann, in der Wachstube auf und ab zu gehen. »Könnte sein. Ein Richter und Mitglied der Dreihundert wird ermordet, der Mörder steht fest, wozu also lange mit der Verurteilung warten? Wahrscheinlich hat er im Laufe des Tages wichtige Dinge zu erledigen und will …«
Er brach ab; im Gehen hatte er Autolykos’ Gesicht mit einem Blick gestreift und die Spur eines Lächelns gesehen.
»Was gibt’s da zu grinsen?«
Der Kampanier verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke. »Du übersiehst etwas.«
»Was denn?«
»Wann ist Abdosir gestorben?«
»Gestern. Ah.«
»Genau. Ah. Der Duft des Verwesens, Herr.«
Bomilkar fühlte sich plötzlich müde, alt und dumm. »Natürlich. Sie werden ihn morgen feierlich bestatten. Wie es einem reichen Ratsherrn und Richter zukommt.«
»Eben. Und die anderen Richter und Ratsherren werden an der Bestattung teilnehmen. Wie üblich. Deshalb die Eile.« Nach kurzer Pause setzte er hinzu: »Und nicht etwa, um dir Zabugu zu entziehen.«
Bomilkar ging zurück zur Bank und ließ sich fallen. Eines der Lämpchen erlosch plötzlich, als das Öl aufgebraucht war. Autolykos stand auf, holte aus einem der offenen Gestelle ein Gefäß mit Schnabel und fühlte die Lampe auf. Über die Schulter sagte er dabei:
»Jedenfalls nicht nur. Vielleicht legt er ja Wert darauf, daß du Zabugu nicht gründlich verhörst. Warum auch immer. Aber die Bestattung ist sicher der Hauptgrund.«
»Irgend etwas«, sagte Bomilkar dumpf, »treibt mir Zweifel und Sorge durchs Gedärm.«
»Schlimm für dein Gedärm.« Mit einem Span, den er in die Flamme eines der anderen Lämpchen hielt, zündete Autolykos den Docht der dritten Lampe wieder an. »Was sind das für Sorgen?«
Bomilkar versuchte, ihm in wenigen Worten seine Befürchtungen auseinanderzusetzen. »Du siehst«, schloß er, »ich glaube nicht, daß alles mit dem Urteil und der Vollstreckung beendet sein wird.«
»Also kämen furchtbare Dinge auf uns zu?« Autolykos wackelte mit dem Kopf. »Meinst du, das könnte alles etwas mit dieser anderen Sache zu tun haben?«
»Welcher anderen Sache?«
Autolykos klang geduldig, beinahe nachsichtig, als er sagte: »Vor ein paar Tagen hast du mir doch von dem Gespräch mit Himilko berichtet, dem Sufeten.«
»Ah, das.« Bomilkar schloß einen Atemzug lang die Augen. Der Sufet hatte ihn zu sich kommen lassen, um ihn zu gezieltem Nichtstun zu bewegen. In den nächsten Tagen werde eine besondere Gruppe von Männern besondere Dinge tun. Was für Männer und welche Dinge? hatte Bomilkar gefragt. Es gebe, hatte der Sufet gesagt, gewisse Hinweise darauf, daß neue römische und auch ägyptische Spitzel in der Stadt seien; man wolle diese überwachen und möglicherweise ausschalten. Einige Männer, die sich für höhere Ämter bewerben wollten, sollten ihre Eignung nachweisen, indem sie auf diese Weise der Stadt und ihrer Sicherheit dienten.
»Glaube ich nicht.« Er öffnete die Augen wieder.
»Hast du denn eigentlich von diesen rätselhaften Vorgängen etwas bemerkt?«
»Nein«, sagte Bomilkar. »Ich will auch nichts davon bemerken. Du und ich, wir könnten Himilko die Namen aller Spitzel auswendig heruntersagen …«
»Nicht, wenn Neue dabei sind.«
»Keine neuen Leute, das stimmt. Aber wenn die edlen Herren des Rats beschließen, schwierige Wächterarbeit von Leuten ausführen zu lassen, die dafür nicht ausgebildet sind, will ich sie nicht daran hindern.«
»Wir müssen nur hinterher, wie üblich, die Trümmer beseitigen«, sagte Autolykos.
»Das ist richtig, und wir beide wissen, daß es Trümmer sein werden, die ohne die Herren des Rats gar nicht da wären. Aber das ist unwichtig, und mit Zabugu und Abdosir hat es sicher nichts zu tun.«
Autolykos runzelte die Stirn. »Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht. Aber was kannst du jetzt noch mit Zabugu machen? Falls er wirklich reden würde?«
Bomilkar lachte plötzlich; er klatschte in die Hände. »Ich glaube, ich weiß was.«
»Was denn?«
»Erzähl ich dir später. Du hältst hier die Stellung?«
»Ich halte sie nicht; ich werde gleich heimgehen. Mutumbal ist dran.«
»Dann sehen wir uns morgen früh.«
»Nun sag schon, was du tun willst!«
»Zabugu zum Reden bringen.«
»Aber wie?« Autolykos klang eher verzweifelt denn neugierig. »Er muß schweigen, um seine Familie zu schützen – wenn er redet, weiß er genau, was den anderen geschieht. Und wie willst du ihn zum Reden bringen, wenn es dir hier, als er noch in deiner Hand war, nicht gelungen ist?«
Bomilkar breitete die Arme aus. »Vielleicht gelingt es mir nicht. Du wirst es erfahren.«
Als er mit dem geliehenen Wagen zurück Richtung Agora fuhr, brach endlich der langerwartete Regen los. Innerhalb weniger Atemzüge riß die stickige Decke, die alles eingehüllt hatte, und die ganze Stadt lag unter einem Wasserfall. Hier und da flackerten ein paar Fackeln noch einmal auf, ehe sie unter den Fluten von oben starben. Das Pferd wieherte, und für Bomilkar klang es fast wie ein Aufstöhnen der Erleichterung. Er selbst war ein paar Lidschläge nach Beginn des Regens durchnäßt bis auf die Haut. Vom Pflaster der Großen Straße spritzte das Wasser bis zur Wagenkante hoch; in den ungepflasterten Gassen mußten sich bereits teichgroße Pfützen gebildet haben.
Aus vielen Häusern traten Leute. Bomilkar sah einige, die fast oder ganz nackt im Regen standen, die Arme gespreizt, die Gesichter zum Himmel gewandt. Genießer? Verehrer der alten Regengottheiten? Oder wollte sich vielleicht jemand aufrecht ertränken?
Etwa nach der Hälfte der Strecke von der Festungsmauer zur Agora lenkte Bomilkar den Wagen in eine Nebenstraße, die nach links führte. Unterhalb des Byrsahügels, der den Reichen und den Tempeln vorbehalten war, verlief von der Agora im Osten bis hierhin die alte »innere« Byrsamauer, die hier nach Norden schwenkte. Etwas mehr als eine Meile weiter nördlich traf sie auf die äußere Byrsamauer, die weiter nach Westen bis zum Festungswall reichte. Jenseits, im Norden, erstreckten sich bis zur Küstenbefestigung die Felder, Gärten und Landgüter der Megara; diesseits drängten sich die unansehnlichen Häuser und Werkstätten der Färber und Gerber. Hinter der kleinen Brücke über den teils offenen, teils unterirdischen Kanal, der die stinkenden Abwässer zu einer Bucht im Nordwesten beförderte, gab es eine Wachstube der Büttel.
Zwei Männer hielten sich dort auf; einer stand im Eingang und starrte in den Regen, der andere hatte sich auf einer mit Decken belegten Steinbank im Haus ausgestreckt und versuchte wohl zu schlafen.
»Du siehst, wir wachen«, sagte der Mann im Eingang, als Bomilkar vom Wagen gestiegen war und die Zügel um einen Pfosten schlang. »Aber was treibt dich jetzt her? Zu dieser Stunde, bei diesem Wetter?«
»Sind die anderen unterwegs?« sagte Bomilkar.
»Ja, Herr, wie immer. Rundgänge.«
Die Besatzung – zwölf Wächter – arbeitete in zwei Schichten; vier Büttel mußten also durch das Viertel streifen und sich durchnässen lassen. Und die Ordnung der Stadt hüten.
»Ich brauche einen kleinen Gauner«, sagte Bomilkar. »Am besten sinnlos betrunken. Habt ihr so was vorrätig?«
Der Mann auf der Liege richtete sich auf. »Zweifach«, sagte er. »Aber wozu kann man so was gebrauchen?«
»Es gibt ein Verlies, das dringend gefüllt werden muß.«
»Darf man fragen …«
»Man darf nicht. Es wäre auch besser, wenn ihr mich heute nicht lange aufhieltet.«
»Dann, Herr, schenken wir dir einen besonderen Fang.« Der Mann, der im Eingang gestanden hatte, grinste plötzlich breit. »Er hat wohl seit heute früh versucht, überzähliges Geld zu vertrinken. Oder sich zu ertränken; wer weiß das schon? Später wollte er dann Messerspiele spielen, und weil keiner mitmachen mochte, ist er ein wenig ausfallend geworden. Deshalb ist er jetzt hier, und ich glaube nicht, daß er vor morgen früh wieder zu sich kommt.«
»Bringt ihn her«, sagte Bomilkar. »Aber was ist an diesem Fang Besonderes?«
»Sein Name. Er heißt Bomilkar.«
Der Gefangene erinnerte ihn an die Möwe vom Nachmittag; er hatte die Anmut und Widerständigkeit eines nassen Lappens. Immer wieder drohte er aus dem nach hinten offenen Wagenkorb zu rollen. Bomilkar mußte ihn mit den Füßen festhalten.
Es goß immer noch, als sie endlich die Agora erreichten. Am Südende des großen Platzes, der sich zum Hafenviertel senkte, mußten sie eine Art Bach durchqueren, durch den das vom Himmel auf die Erde gestürzte Wasser zum Meer strömte. Das Pferd wieherte, und wieder klang es wie ein erleichtertes Aufstöhnen – diesmal wahrscheinlich wegen der Nähe des Stalls.
Der Stallmeister hatte alles einem der älteren Sklaven übergeben und war heimgegangen. Bomilkar befahl dem Pferdewächter, sich um Tiere und Wagen zu kümmern – beide waren gründlich verdreckt – und einen weiteren Sklaven herzuschaffen. »Einen, der etwas tragen kann.«
Als dieser auftauchte, wies Bomilkar ihn an, das Bündel, das irgendwann wieder ein Mensch sein würde, vom Wagen zu heben und ihm zu folgen. Er ging unter dem vorspringenden Obergeschoß des Ratsgebäudes zur nächsten Ecke, hinter der der Zugang zu den Verliesen des Gerichts lag.
Zwei Männer hielten im Vorraum Wache; der Kerkermeister selbst war nicht mehr da.
»Ihr kennt mich?« sagte Bomilkar.
»Natürlich, Herr der Wächter«, sagte einer der beiden, die vor der schweren, eisenbeschlagenen Tür auf Schemeln saßen.
»Ich habe einen, der ins Verlies gehört, bis zum Morgen; dann werde ich ihn herausholen und zu einem Richter bringen.«
Einer der Männer erhob sich, streifte den Umhang ab, der ihn vermutlich gegen die in acht Monden beginnende Nachtkälte schützen sollte, und stemmte den dicken Balken hoch. Die Angeln waren geölt und quietschten kaum, als er die Tür öffnete. Dahinter, an der Wand, flackerte in einer eisernen Faust eine Fackel. Der Wächter nahm eine zweite aus einem Eimer, zündete sie an der ersten an und ging voraus, die Treppe hinab.
Der Gerichtskerker war nicht dazu gedacht, viele Gefangene viele Tage lang aufzunehmen – nur bis zur Verhandlung. Daher gab es keine große Menge einzelner Räume, sondern lediglich einen Gang mit dem für Folter und Verhör gedachten Raum zur Rechten und einem langen Verlies links, durch Gitter in sechs kleinere Käfige unterteilt. Auf dem Gangboden stand ein großes Öllicht. Im ersten Käfig lag ein Mann, den Bomilkar nicht kannte; er war angekettet und schnarchte. Im zweiten Käfig saß Zabugu.
Während der Wächter den dritten Käfig aufschloß, betrachtete Bomilkar den Massyler. Zabugu saß auf ein paar locker verstreuten Strohhalmen. Seine Hände waren frei. Um beide Fußknöchel lagen Ringe, miteinander verbunden durch eine kurze Kette. Diese wiederum hing an einer etwas längeren, die zu einem Ring an der Wand führte.
Der Sklave ließ den Betrunkenen unsanft auf den Käfigboden gleiten.
»Noch etwas, Herr?«
»Es ist gut; du kannst gehen.« Bomilkar stieß den Betrunkenen mit der Fußspitze an; der Mann schien es nicht zu bemerken.
»Stroh?« sagte der Wächter.
Bomilkar tat, als ob er zögere. Als der Sklave treppauf verschwunden war, sagte er:
»Stroh, ja, dazu einen Napf mit Wasser. Und einen Bottich. Vielleicht habt ihr ja Glück, daß er nicht das ganze Verlies besudelt, wenn er sich übergibt.«
Der Wächter grinste flüchtig. »Sofort, Herr.«
Als er mit der Fackel zum Folterraum ging, in dem sich vermutlich alle nötigen Dinge befanden, murmelte Bomilkar kaum hörbar:
»Kannst du bis zum Gitter gehen?«
Zabugu nickte. Im kargen Licht der Lampe auf dem Gangboden konnte Bomilkar sein Gesicht kaum sehen, und das Flakkern der Fackel des Wächters im Nebenraum half nicht.
»Ich werde den hier« – er berührte den Betrunkenen wieder mit dem Fuß – »am Gitter liegen lassen. Ihn und seine Kleider. Wenn du mir einen Namen sagst.«
Der Numider holte tief Luft. Das Fackellicht im Folterraum bewegte sich; der Wächter würde gleich zurückkommen.
»Bodaschtart der Grüne«, hauchte Zabugu.
Dann schwieg er und sah scheinbar teilnahmslos zu, wie der Wächter Stroh auf den Boden warf, einen Bottich hinstellte und in den Gang zurückkehrte, um aus einem großen Krug einen Napf mit Wasser zu füllen.
»Gut«, sagte Bomilkar. »Laß uns hinaufgehen. Braucht ihr seinen Namen? Weitere Befehle?«
»Dein Name genügt, Herr.«
4
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Bis Bomilkar jedoch die Agora überquert hatte, war er wieder durchnäßt, und als er die Große Straße erreichte, zog er die Tunika aus. ›Besser so‹, sagte er sich, ›als das Gefühl, mit einem Sumpf bekleidet zu sein. Und es ist nicht sinnlos, gleich ohne kitun bei Aspasia einzutreffen.‹
Er ging vier Blocks nach Westen, dann bog er links in die Straße der Stempelschneider und kam nach ein paar Dutzend Schritten zum Torbogen, der ins Innere des Gevierts führte. Aspasias Wohnung lag im dritten Stock eines fünfgeschossigen Gebäudes, Teil eines Blocks, der nach Norden an die Große Straße grenzte. Man hatte jeweils zwei große Häuser mit den Rücken aneinandergebaut; die Läden und Wohnungen des einen Teils schauten nach außen, auf die nächste Straße, die des anderen nach innen. Um den Innenraum des Gevierts liefen hölzerne Wandelgänge, zu denen sich die Wohnungen öffneten, und an jeder der vier Seiten stieg eine Treppe vom Hof bis hinauf zum Dach.
Im Hof, in dem es Gemeinschaftsbäder, Gärten, Ställe für kleine Tiere und zahlreiche Schuppen und Werkstätten gab, brannten abends gewöhnlich ein paar Feuer, an denen sich Bewohner des Blocks trafen; nun gab es nicht einmal Fackeln auf den Treppen oder vor den Wohnungen. Das matte Flackern von Lampen oder Feuerstellen in den Häusern machte das Dunkel nur noch finsterer. Und, wie er fand, irgendwie sogar nasser.
Bomilkar wrang den Chiton aus, streifte die Sandalen ab, wickelte sie in das Gewand und tastete sich die Treppe hinauf. Barfuß fühlte er sich auf dem glitschigen Holz nicht ganz so unsicher.
Aspasias Wohnung war offen; in der Tür hingen sanft knisternde Glasperlenschnüre, und aus beiden Fenstern hatte man die Läden entfernt. Bis auf den Wandelgang roch es nach Würsten, heißem Brot und Wein, und während Bomilkar sich dem Licht und den gedämpften Stimmen näherte, bemerkte er, daß er Hunger hatte. Entsetzlichen Hunger – ›nein‹, dachte er, ›es ist ein besonders köstlicher Hunger, der gleich eines labenden Todes sterben wird.‹
Gegenüber dem Eingang, hinter dem niedrigen Tisch, saß Aspasia; sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, halb verborgen hinter dem Becher, den sie eben zum Mund hob. Neben ihr saßen zur Linken Tazirat und ihr derzeitiger Geliebter Idnibal, auf der anderen Seite der Araber Amidi und ein weiterer Mann, den Bomilkar nicht kannte.
Amidi legte ein Stück Brotfladen auf den Tisch und klatschte in die Hände. »Barfuß und nur mit Leibschurz, den Rest unterm Arm – scheint eilig zu sein, Aspasia, obwohl ihr euch schon so lange kennt. Sollen wir sofort gehen, oder hat es noch Zeit?«
»Ein Hungernder, der aus der Nässe hereinkommt, hat vielerlei Bedürfnisse.« Bomilkar drückte sich hinter dem Fremden und Amidi vorbei, ohne das Gestell mit Gefäßen und Vorräten zu berühren. Er hauchte Aspasia einen Kuß ins Haar. »Nichts davon sollte jedoch zur Vertreibung von Gästen dienen.«
»Naß und kalt«, sagte sie. »Ich glaube, du bist ein Fisch. Das da ist Taqur, ein weitgereister Seefahrer und Händler. Mehr dazu, wenn du trocken und nutzbar bist.«
Bomilkar winkte und ging durch den Vorhang aus Schnüren in den Nebenraum. Am Ende des breiten, niedrigen Betts gab ein Öllämpchen, das auf einem Hocker stand, mattes Licht. ›Mürrisches Leuchten?‹ dachte er, ›oder mühselige Erhellung?‹ An Nägeln, die in den Putz und in Fugen zwischen den Steinen getrieben waren, hingen unterschiedlich große Flechtkörbe. Aus einem nahm er einen frischen Chiton, aus einem anderen einen Leibschurz und warf beide aufs Bett. Vor dem kaum zweimal zwei Schritte großen abgetrennten Geviert neben dem Fenster hängte er die nassen Kleidungsstücke über ein Gestell. Danach erleichterte er sich auf dem Sitzbottich, wusch die nicht vom Regen gereinigten Teile und trocknete sich ab. Als er den Wohnraum wieder betrat, blickte Tazirat ihm entgegen, hob die Hand, deutete auf ihn und begann zu lachen.
»Feiner kitun, bei allen Göttern!« sagte sie.
Bomilkar blickte an sich hinab. Im kargen Licht des Schlafraums hatte er eine besondere Tunika erwischt, Geburtstagsgeschenk von seinen Männern aus dem Karrenschuppen. Die Vorderseite war mit phallischen Pfeilen bestickt, die zum Gemächt wiesen; zwischen ihnen stand in dicken roten Fäden zu lesen: Suchende Hand mehrt den Fund.
»O diese Dringlichkeit!« sagte Amidi. »Darf ich dich so einbauen?«
»Wo und wie?«
»Ich soll die Wand einer Verkaufshalle bemalen. Für einen reichen Tuchhändler.« Amidi kicherte. »Macht sich bestimmt gut da.«
»Nur, wenn dieser kitun auch lieferbar ist«, sagte Bomilkar. »Und ohne mein Gesicht; es könnte abschrecken.«
Er ließ sich neben Aspasia auf dem groben, mit Lumpen gestopften Lederkissen nieder. »Hunger, Fürstin dieses Palasts«, sagte er dabei. »Feiert ihr etwas Bestimmtes oder einfach so?«
»Wir feiern deine Ankunft«, sagte Aspasia. Sie beugte sich vor und ergriff zwei Holzspachtel. Auf dem Tisch stand ein Bronzebecken, in dem Holzkohle glomm. Würste, aus denen hin und wieder etwas zischend in die Glut tropfte, und Brotfladen lagen auf dem Rost aus dünnen Eisenstäben.
»Und vorher«, sagte Idnibal, »haben wir die Vorfreude auf dein Eintreffen gefeiert.«
Aspasia nahm zwei Würste vom Rost, legte sie zusammen mit einem Brotfladen auf ein Brett und reichte es Bomilkar. »Stärke dich«, sagte sie.
»Gibt es einen Grund für Stärke?«
»Spätere Schwächung.« Amidi gluckste.
»Könnte mal jemand diesen Araber knebeln?« Bomilkar goß Wein und Wasser in einen Becher.
»Welchen?« Tazirat blickte zur anderen Seite des Tischs. »Da sind zwei.«
Taqur deutete eine leichte Verneigung an und lächelte, sagte aber nichts.
»Schweigende muß man nicht knebeln. Ich freue mich, euch alle zu sehen, und während ich zu trinken und zu essen versuche, könnte mich vielleicht jemand über die wichtigen Dinge des Lebens aufklären. Nein, du nicht, Amidi.«
»Zufälle«, sagte Idnibal. »Wie die meisten wichtigen Dinge. Tazirat und ich sind nach der Arbeit zu Aspasia gegangen, um mit ihr über Möglichkeiten der Gestaltung des Abends zu reden. In ihrem Laden standen gerade Amidi und Taqur nutzlos herum.«
»Und weil die Garküche unten, nebenan, überfüllt war und keiner von uns Lust hatte, weit zu laufen, haben wir einfach ein paar Würste und Brot gekauft und hier oben alles warm gehalten.« Aspasia legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. »Ich hoffe, es findet deinen Beifall.«
Er nahm die kräftige Hand mit den Schwielen, hob sie an die Lippen und sagte: »Und wenn nicht?«
»Ändert es nichts.« Sie lachte leise. »Du könntest allenfalls umziehen.«
»Das fände ich übertrieben.« Bomilkar biß in die erste Wurst. Mit halbvollem Mund sagte er: »Araber, wie?«
Taqur grinste. »Ich nehme an, das betrifft mich.«
Sein Punisch war nahezu makellos, jedenfalls diese wenigen Wörter; Bomilkar nickte und versuchte, die kaum merklichen Abweichungen von der Sprache der Hauptstadt einzuordnen.
»Araber, aus Kane – falls das außer meinem Landsmann hier jemandem etwas sagt.«
»Die Chanani sind zwar dämlich«, sagte Amidi, »aber sie machen ja überall Geschäfte. Deshalb werden sie …«
»Knebeln«, sagte Aspasia. »Laß Taqur ausreden. Wo ist Kane? Ich weiß es jedenfalls nicht.«