Das sonnengelbe Cabrio - Maria Resco - E-Book

Das sonnengelbe Cabrio E-Book

Maria Resco

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Beschreibung

Ein bewegender Roman über Träume, Hoffnung und Wagnisse Für die achtjährige Jessy bricht eine Welt zusammen, als ihre Mutter den Ingenieur Peter kennenlernt und sie von Lübeck in eine Kleinstadt umsiedeln. Ihr einziger Trost sind nur die Sonntagsausflüge in Peters gelbem Cabrio. Stundenlang könnte sie auf der Rückbank liegen, den Himmel über sich vorbeiziehen lassen und von ihrem eigenen Cabrio träumen. Den eigenen Weg gehen Irgendwann aber erkennt sie, dass im wahren Leben kein Platz für kindliche Schwärmereien ist. Sie begegnet ihrer großen Liebe Mike und gründet eine Familie mit ihm. Der Alltag hat sie voll im Griff und bei all den Pflichten geht der Traum vom Cabrio unter. Bis an ihrem dreißigsten Geburtstag ein Fremder vor der Tür steht und plötzlich alles möglich scheint. Doch es kommt anders als erwartet ... "Das sonnengelbe Cabrio" ist ein bewegender Roman um Liebe und Verantwortung, und um den Mut, seinen eigenen Weg zu gehen.

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Seitenzahl: 554

Veröffentlichungsjahr: 2024

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ISBN: 9783987560286

© 2022 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Text: Maria Resco

Lektorat: Edelgard Rozek

Covermotiv: [email protected]@[email protected]

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Wał Miedzeszynski 217, 04-987 Warszawa, Polen

Kapitel 1 

Hamburg 2001 

Es war der Vormittag des achtzehnten April, als Jessy die Nachricht erhielt.

Die japanischen Kirschbäume, die in den Siebzigern die ganze Straße entlang gepflanzt worden waren, standen in voller Blüte, sodass man mehr als einen Kilometer weit unter einem Dach von rosa Blüten her spazieren konnte. Dieses wenige Tage währende Schauspiel war so beeindruckend, dass es jedes Jahr mehr Besucher auf den Plan rief und die Wohnstraße nachmittags einer Promenade auf der Bundesgartenschau glich. Um diese Uhrzeit allerdings hielten sich die Besucherzahlen noch in Grenzen.

Ratlos stand Jessy mit dem Goldkugelkaktus, auch unter dem Namen Schwiegermuttersitz bekannt, vor dem bis unters Dach beladenen VW-Bus und wusste nicht so recht, wohin damit.

»Muss der unbedingt mit?«, rief sie Mike zu, der die Gunst der frühen Stunde nutzte und mit fast kindlicher Begeisterung die Blütenpracht mit seiner Kamera einfing. Es würde das letzte Mal sein, dass er Gelegenheit dazu hatte.

»Den hab ich dir geschenkt. Natürlich kommt der mit.«

»Aber wir haben keinen Platz mehr.«

Mike kam zum Wagen, verstaute seine Kamera, warf einen Blick durch die Seitentür und runzelte nachdenklich die Stirn. »Gib her.«

Vorsichtig reichte Jessy ihm das Ungetüm mit den mörderischen Stacheln, während sie sich ärgerte, dass sie Mike überhaupt gefragt hatte. Sie wusste doch, dass er niemals aufgab, bevor er nicht eine Lösung gefunden hatte. Und er fand immer eine Lösung. Dabei wäre es die perfekte Gelegenheit gewesen, den Kaktus endlich loszuwerden. Sie hätte ihn zu den anderen eigenwilligen Kreaturen auf die Fensterbank im Treppenhaus stellen sollen. Mike hätte es nicht gemerkt. Doch, er hätte es gemerkt. Aber frühestens in München, und dann wäre es zu spät gewesen. So ein Pech!

Auf wundersame Weise fischte er zwischen all den Brettern, Kleinmöbeln und Kartons ein Handtuch heraus, wickelte behutsam den Kaktus darin ein, fand noch ein geschütztes Plätzchen unter dem Küchenstuhl und küsste Jessy auf die Wange.

»Danke«, sagte er und grinste schief.

»Wofür?«

»Dass du ihn nicht aus Versehen auf der Fensterbank im Treppenhaus vergessen hast.«

Er hatte sie durchschaut. »Ja, zugegeben, ich hatte den Gedanken. Ich dachte, dass er sich unter seinesgleichen wohler fühlt als so einsam auf meinem Schreibtisch.«

»Aber dann hast du es doch nicht übers Herz gebracht, ein mit Liebe ausgewähltes Geschenk von mir zurückzulassen.«

»Tja, so bin ich eben.«

Er legte seinen Arm um ihre Schulter, atmete tief durch und ließ seinen Blick nach oben an dem mehrgeschossigen Altbau hochwandern, der zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. »War ’ne schöne Zeit hier.«

»Ja, das war es«, bestätigte Jessy mit einem Hauch Wehmut. »Meine Mutter würde sagen, jetzt geht der Ernst des Lebens los.«

»Und du? Was sagst du?«

»Ich sage, jetzt steht uns die ganze Welt offen.«

Mike nickte. »Ja, stimmt. Kein Job, kein Geld, kein Dach über dem Kopf … irgendwie ist alles offen.«

Jessy boxte ihn auf den Oberarm. »Hey, wo bleibt der Abenteurer in dir?« Sie war in Bestlaune und die ließ sie sich heute nicht verderben. Es lief doch alles prima. Sie hatte gerade ihr Architekturstudium und Mike sein Referendariat beendet und Isabella hatte ihnen für heute Abend einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung in Haidhausen besorgt, einem angesagten Stadtteil von München, der direkt an die Altstadt grenzt.

»Sollten wir die Wohnung aus irgendeinem Grund nicht bekommen, dann können wir erstmal bei Isa und Stefan unterkommen. Wir müssen also nicht unter der Isarbrücke campen.« Jessy grinste Mike breit an. »Aber wir kriegen die Wohnung, mein Schatz! Ich hab ein richtig gutes Gefühl. Ich werfe schnell noch den Schlüssel in den Kasten, dann können wir starten.« Sie küsste ihn flüchtig, marschierte mit schwungvollen Schritten zum Hauseingang und warf wie vereinbart den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten der Hausmeisterin.

Mike schloss derweil die Seitentür und setzte sich hinters Steuer, Jessy stieg auf der Beifahrerseite ein. Es ging los. Endlich ging es los! Wie lange hatte sie auf den Moment gewartet. »München, wir kommen!«, stieß sie jubelnd aus und stellte den CD-Player an, während Mike den VW-Bus aus der Parklücke manövrierte.

»Hey, hörst du das? Ich glaube, dein Handy klingelt«, sagte er.

Jessy stellte die Musik leiser, kramte das Handy aus ihrer Handtasche und ging ran.

»Ja?«

»Jessy?«

Es war ihre Mutter. Und sie klang seltsam bedrückt. Jessy spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie stellte die Musik ganz ab und bedeutete Mike, rechts ranzufahren. »Mama? Was ist?«

»Jessy?«, kam es nochmal tränenerstickt vom anderen Ende der Leitung.

Panik stieg in Jessy hoch, sie richtete sich auf. »Mama, was ist denn?«

»Jessy – Peter hatte einen Unfall.«

Kapitel 2 

Lübeck 1985 

Oh nein! Ich habe meine Knieschoner zu Hause vergessen.« Jessy saß vor dem Elternhaus ihrer Cousine auf der Treppe und hatte gerade ihre Rollschuhe angeschnallt, als sie es bemerkte. Sie blickte auf zu Isa, die fix und fertig vor ihr stand und ihre Hände in die Hüften stemmte, so wie sie es immer machte, wenn Jessy mit irgendwas nicht so schnell war. Das war ganz schön unfair, denn Isa war ein Jahr älter und hatte schon viel mehr Übung.

»Du bist so vergesslich wie deine Mama«, sagte Isa erheitert.

»Blödsinn!«, widersprach Jessy vehement, obwohl sie wusste, dass Isa nicht ganz Unrecht hatte, jedenfalls, was die Vergesslichkeit ihrer Mutter anging. Die war in letzter Zeit nämlich allen aufgefallen, den Großeltern, Tante Betty, Onkel Carlo und eben auch Isa. Wenn Annette Westhusen einkaufen ging, fehlte am Ende immer irgendwas, und zwar meistens das Wichtigste. Wo sind die Eier für die Pfannkuchen?, fragte ihre Oma dann zum Beispiel, während sie den Korb mit den Einkäufen auspackte und keine Eier darin finden konnte. Oh!Sind die gar nicht da? Na sowas!, sagte Annette belustigt über ihre eigene Schusseligkeit. Dann warf sie Jessy ihren Dackelblick zu und sagte flehentlich: Ist ja nurein Katzensprung. Und weil sie wusste, dass ihre Tochter Tante Betty ungern um Lebensmittel anbettelte, strich sie ihr noch liebevoll übers Haar. Bist mein kleiner Schatz. Da konnte Jessy schlecht sagen, dass sie doch selbst gehen sollte, weil sie es schließlich war, die immer alles vergaß.

»Papa sagt, sie hat wohl was anderes im Kopf«, sagte Isa.

Jessy stellte sich den Kopf ihrer Mutter vollgestopft mit Stroh vor, was sie ziemlich ärgerte. »Was soll sie denn im Kopf haben?«

Isa zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Mama sagt jedenfalls, sie ist nicht vergesslich, sondern abgelenkt.«

Tante Betty und Onkel Carlo konnten das überhaupt nicht beurteilen, fand Jessy. Vermutlich machte ihre Mutter zu viele Überstunden und dann war sie eben müde. Das ging doch Tante Betty auch so, wenn sie Nachtschicht im Krankenhaus hatte.

Isa streckte die Arme seitlich aus und übte kleine Runden auf ihren Rollschuhen. »Komm, hol endlich deine Knieschoner. Ich warte hier.«

Jessy stand von der Treppe auf. »Bin gleich zurück. Ist ja nur ein Katzensprung.«

Isa hielt mit ihren Übungen inne und blickte mit skeptischer Miene die Häuserreihe entlang bis zum Haus der Westhusens, das ein Stück entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse stand. »Glaubst du wirklich, dass eine Katze so weit springen kann?«

»Hm«, sagte Jessy. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Mit zusammengekniffenen Augen nahm sie die Strecke ins Visier. »Was schätzt du, wieviel Meter das sind?«

Isa zog die Stirn kraus und überlegte. »Mehr als hundert, schätze ich.«

»Mehr als hundert? Aber mehr als hundert können hundertzehn sein oder auch hunderttausend. Das musst du schon genauer sagen.«

»Na gut. Dann sage ich … hundertdreiunddreißigeinhalb.«

Jessy überlegte noch einen Moment. »Ich sage hundertzweiundsechzig.«

»Dann müssen wir das jetzt aber auch ausmessen«, beschloss Isa.

Sie schnallten die Rollschuhe wieder ab, holten so viel Paketband aus Onkel Carlos Werkzeugkeller, wie sie finden konnten, knoteten die Enden zusammen, spannten das Band diagonal über die Gasse von einem Hauseingang zum anderen, vermaßen es anschließend mit dem Zollstock und kamen auf hunderteinundvierzig Meter.

»Wir haben beide falsch getippt«, sagte Isa enttäuscht.

»Nicht so schlimm«, meinte Jessy, »Jetzt wissen wir jedenfalls, wie weit ein Katzensprung ist.«

»Ja, und wir wissen, wie viele Meter wir laufen müssen, wenn wir uns besuchen wollen.«

»Aber nur, wenn nichts im Weg steht.«

»Stimmt. Meistens steht ja was im Weg, ein Fahrrad oder ein Kinderwagen, oder es hat geregnet und überall sind Pfützen.«

Die Hindernisse grob mit eingerechnet hatten sie sich darauf geeinigt, dass die Häuser hundertfünfzig Meter voneinander entfernt lagen. Mit dem guten Gefühl der Übereinstimmung holte Jessy ihre Knieschoner und sie machten sich auf den Weg zur Rollschuhbahn. Wie unterschiedlich ihre Ansichten auch waren, am Ende einigten sie sich immer, und das war das Schöne an ihrer Freundschaft.

»Das nennt man einen Kompromiss«, erklärte Annette am Abend, als Jessy ihr davon erzählte. »Wenn zwei Menschen unterschiedlicher Meinung sind, sich aber entgegenkommen und in der Mitte treffen, dann ist das ein Kompromiss. Kompromissbereitschaft ist eine wertvolle Eigenschaft fürs Leben, man zeigt dem anderen, dass man seine Ansicht schätzt und Wert darauflegt, weiterhin miteinander auszukommen.«

Kompromisse zu finden war seither Jessys größtes Bestreben.

Das kleine Fachwerkhaus, in dem Jessy mit ihrer Mutter und den Großeltern lebte, stand in der Lübecker Altstadt in einem dieser schmalen Gänge, in denen sich die Häuserreihen eng gegenüberstanden, sodass man nicht von Straßen, auch nicht von Gassen, sondern von Gängen sprach. Und die Häuser, die sich in den Gängen aneinanderreihten, nannte man dementsprechend Ganghäuser.

Mit den Sprossenfenstern, der Begrünung an den getünchten Fassaden und den Gartenbänken vor den Eingängen vermittelten die Gassen einen heimeligen Eindruck und man fühlte sich eher wie auf einer privaten Terrasse. Hier kannte jeder jeden, man grüßte sich, hielt einen Schwatz, man saß oder stand herum, trank einen Tee oder ein Bier, putzte das Fahrrad oder die Schuhe und tauschte die Neuigkeiten des Tages aus, während die Kinder Hüpfkästchen aufmalten, Seil sprangen oder fangen spielten. Auch Jessys Großeltern saßen vor der Tür auf ihrer grün lackierten Holzbank, wann immer das Wetter es zuließ, Opa mit der Zeitung, Oma mit einem Buch, einer Handarbeit oder mit einer Schüssel Kirschen, die sie entkernte. Und die Sorrentinos, Isas Familie, sowieso. Onkel Carlo war nämlich Italiener und in Italien spielte sich das Leben draußen ab. Er arbeitete in der Marzipanfabrik und brachte den Kindern Schweinchen oder andere Glücksbringer aus Marzipan mit, die viel zu schade zum Essen waren, weshalb Jessy sie sammelte und ins Regal stellte. Tante Betty war die ältere Schwester ihrer Mutter, und dann gab es da noch Chiara, Isas jüngere Schwester, die ein kleiner Teufel war. Aber abgesehen von der kleinen petzenden und Streit suchenden Zicke ging es friedlich zu in den Gängen. Mit nichts auf der Welt würde Jessy diesen Ort tauschen wollen.

An einem verregneten Herbsttag im Oktober aber nahm ein ungeahntes Drama seinen harmlosen Anfang. Jessys Mutter kam in letzter Zeit oft spät vom Drogeriemarkt nach Hause, obwohl der bereits um halb sieben schloss. Es gab im Lager noch so viel aufzuräumen, sagte sie dann, oder es sei Ware gekommen und die musste ausgezeichnet und in die Regale sortiert werden. Aber Jessy war nicht dumm. Ihr entging nicht, dass sie nach Wein und Zigaretten roch, obwohl sie gar nicht rauchte, aber vor allem entging ihr nicht, dass sie anders war als sonst. Sie hörte gar nicht richtig zu, wenn Jessy ihr von der Schule oder von ihrem Tag erzählte, und bei allem, was sie tat, summte sie ihre Kuschelrocklieder und grinste dabei vor sich hin. Sogar wenn sie das Geschirr spülte oder Staub saugte, gerade so, als würde ihr die Hausarbeit, die sie normalerweise möglichst schnell hinter sich brachte, plötzlich ungeheure Freude bereiten. Jessy nahm all das wahr, ohne sich etwas dabei zu denken, sie freute sich für ihre Mutter, dass sie so guter Dinge war, denn je öfter die unterwegs war, umso mehr Zeit konnte Jessy bei den Sorrentinos verbringen. Dennoch war da manchmal so ein komisches Gefühl, dass sie gar nicht einordnen konnte, besonders, wenn sie abends allein im Bett lag. Ihr war dann so, als könnte alles anders werden.

Wenn Onkel Carlo Frühschicht hatte, dann kochte er abends Gerichte nach den Rezepten seiner Mamma, und die waren immer ausgesprochen lecker. So auch an diesem ungemütlichen Oktoberabend. Mit seiner Lieblingsschürze – die hatte ihm seine Schwester Francesca genäht – stand er in der Küche, schnippelte und rührte und würzte und probierte, und während der Duft von Kräutern und Knoblauch und gebratenem Fleisch durch das ganze Haus strömte, jodelte er lauthals Melodien aus seiner Heimat.

»Raus mit dir!«, schimpfte er, als Tante Betty einen Blick durch die Küchentür wagte. »Ich bin heute der Koch, die Küche gehört mir!«

»Diesmal räume ich dein Schlachtfeld nicht auf!«, knurrte Tante Betty. »Garantiert nicht!«

Jessy, Isa und Chiara kannten das schon. Das sagte sie jedes Mal und dann räumte sie die Küche doch auf, denn ein Italiener mache niemals Hausarbeit, pflegte Onkel Carlo sich rauszureden.

Jessy fand das ganz schön altmodisch. »Opa packt immer mit an. Er macht den Abwasch, bringt den Müll raus, hängt die Wäsche auf, er macht alles.«

»Aber in Italien ist das anders«, verteidigte Isa ihren Vater. Dabei zuckte sie mit den Schultern, als wäre das eine unabänderliche Tatsache.

»Dann heirate ich keinen Italiener«, beschloss Jessy daraufhin. »Ich will einen Mann, der alles mit mir zusammen macht, auch die Hausarbeit.«

»Da verpasst du aber was«, sagte Onkel Carlo, der gerade die Schüssel mit der selbstgemachten Tomatensauce brachte. »Italiener sind witzig und klug und charmant und sie sind die besten Köche auf der ganzen Welt.« Er hielt Jessy die Saucenschüssel unter die Nase und fächerte ihr den Duft zu. »Na, hast du es dir anders überlegt?«

Es duftete köstlich, aber so schnell ließ sie sich nicht überzeugen. »Nö, noch nicht.«

»Ah, die Signorina ist anspruchsvoll. Warte, das Beste kommt noch.« Carlo stellte die Schüssel ab und tischte gleich darauf die Spaghetti und das gebratene Huhn auf.

Während des Essens erzählte er eine Geschichte aus seinem Dorf Airola, das in der Nähe von Neapel lag. Es waren immer dieselben Geschichten, doch er hatte eine so lustige Art zu erzählen, dass die Kinder ihm dennoch gern zuhörten. Wenn er von seiner Heimat erzählte, hatte er mit Tränen zu kämpfen. Dann wurde es für Jessy unangenehm.

»Es dauert nicht mehr lange, Papa, dann sind Winterferien und du kannst deine ganze große Verwandtschaft besuchen«, tröstete Isa ihn.

»Si, tesoro mio«, sagte er, tätschelte Isa die Hand und lächelte sein Heimweh weg. »Wir müssen noch jede Menge Weihnachtsgeschenke kaufen. Habt ihr die Liste gemacht?«

Mit Isa und Chiara sprach er viel Italienisch, damit sie sich verständigen konnten, wenn sie die Ferien in Italien verbrachten. Und das taten die Sorrentinos zweimal im Jahr, in den Sommerferien blieben sie ganze vier Wochen weg, und in den Weihnachtsferien nochmal zwei. Jessy wäre so gern einmal mitgefahren, doch es gab keinen Platz im Wagen, sagte ihre Mutter, und hier sei es doch auch ganz schön. Während Isa ihre aufregenden Ferien in Italien verbrachte, fuhr Jessy mit ihrer Mutter und den Großeltern an den See oder ans Meer. Sie verbrachten dort ein paar Stunden, aßen Fisch mit Pommes in einem Strandrestaurant und fuhren zurück nach Hause. Manchmal grillten sie in ihrem kleinen Garten hinterm Haus. Die Sommerferien waren für Jessy die langweiligste Zeit des gesamten Jahres. Ihre Oma sagte immer, sie sollte sich nicht an Isabella klammern und sich lieber noch andere Freundinnen suchen. Manchmal traf Jessy Nathalie und Kira auf der Rollschuhbahn, die waren auch ganz nett. Aber wenn sie tuschelten und kicherten, dann hatte sie das Gefühl, dass sie sie gar nicht dabeihaben wollten.

»Warum hast du eigentlich keinen Vater?«, fragte Isa überraschend an diesem Abend.

Jessy blickte sie erstaunt an. »Ich? Hm, ich weiß nicht. Manche Kinder haben keinen Vater.«

»Aber das geht nicht. Jedes Kind hat einen Vater«, protestierte Isa.

Jessy blickte fragend zu Tante Betty, die sah Onkel Carlo ratlos an, der wippte mit dem Kopf, so wie er es immer tat, wenn er keine Antwort wusste, und murmelte etwas auf Italienisch.

»Tja, also, das fragst du am besten deine Mutter«, sagte Tante Betty.

Jedes Kind hat einen Vater, wiederholte Jessy in Gedanken, während sie mit Isa und Chiara, die immer im Weg stand, den Tisch abräumte und das Geschirr in die Küche trug. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Es war eben so, sie hatte keinen Vater.

Tante Betty stellte einen Teller mit Knabbereien auf den Tisch, servierte zwei Tassen Espresso für Onkel Carlo und sich selbst und nahm Platz. »Wo deine Mama heute bleibt«, bemerkte sie beim Blick auf die Wanduhr. »Morgen ist doch Schule.«

Draußen war es längst dunkel. Immer noch ließ der Wind den Regen laut gegen die Scheiben prasseln.

»Gibt es da jemanden?« Onkel Carlo blickte seine Frau mit hochgezogener Augenbraue an.

Jessy verstand die Frage nicht. Was sollte das bedeuten: Gibt es da jemanden? Wo sollte es jemanden geben?

»Es würde mich freuen«, sagte Tante Betty.

Die Erwachsenen hatten ihre Geheimsprache, damit die Kinder nichts verstanden. Jessy wollte jetzt sowieso lieber nach Hause. Und als es gleich darauf klingelte, sprang sie auf, lief in den Flur und öffnete die Haustür.

»Mama, da bist du ja.« Jessy registrierte die leichten Schuhe mit Absatz an den Füßen ihrer Mutter und den dünnen Blazer, den sie trug und der an den Schultern ganz durchnässt war. Wenn sie selbst bei dem Wetter so rausgehen wollte, würde sie sich einen Rüffel einfangen.

»Ist etwas später geworden, mein Spatz. Wir haben noch Ware bekommen und die musste ins Regal.«

Tante Betty kam dazu. »Annette! Du bist ja ganz durchgefroren! Komm doch rein.«

»Danke, aber ich will schnell unter die Dusche. Jessy, komm, zieh dich an.«

Jessy lief in die Küche, verabschiedete und bedankte sich für das leckere Essen, lief zurück in den Flur und zog Jacke und Schuhe an.«

»Dann lass uns schnell rüber flitzen.«

Betty griff nach einem Regenschirm im Schirmständer. »Hier, nehmt den mit.«

»Ach was. Sind doch nur ein paar Meter.« Annette nahm ihre Tochter an die Hand und bedankte sich bei ihrer Schwester. Mit zusammengezogenen Schultern liefen sie durch den kalten Regen. Ein Schirm wäre nicht schlecht gewesen, denn bei diesem Wetter reichten hundertfünfzig Meter aus, um patschnass zu werden.

Ihre Großmutter musste sie gehört haben und öffnete sogleich die Wohnungstür, als sie den Flur betraten.

»Annette!«, schimpfte sie gleich los. »Schon wieder so spät?«

»Was kann ich dafür? Es ist Ware gekommen. Kennst ja den Heinze. Der will, dass alles gleich eingeräumt wird.«

»Jaja«, sagte die Oma und musterte die beiden. »Patschnass seid ihr. Jessica holt sich noch den Tod.«

Die Großmutter war die Einzige, die Jessy mit vollem Namen ansprach. Sie mochte es nicht, wenn Vornamen verniedlicht wurden. Für sie war Betty Bettina, Isa Isabella und Jessy eben Jessica. Sie selbst hieß Katharina und sie konnte es nicht leiden, wenn der Opa sie versehentlich – manchmal auch absichtlich – Kathi oder sogar Trine nannte.

Ihre Mutter wuschelte ihr durchs Haar. »Ach, das bisschen Regen. Das härtet uns ab, was, mein Spatz?«

»Wenn deine Mama lange arbeiten muss, kannst du auch bei uns zu Abend essen.«

»Ja, ich weiß. Aber heute hat Onkel Carlo Spaghetti Napoli gekocht, und dann gab es noch gebratenes Hähnchen.«

»Abends so viel zu essen ist nicht gut für die Figur«, sagte die Oma. »Das sieht man doch an Carlo.«

Annette verpasste Jessy einen Klaps. »Jetzt aber ab nach oben.«

Im Vergleich zu ihrem Großvater war Onkel Carlo tatsächlich ein bisschen rundlich, dachte Jessy, während ihre Mutter ihr die Haare trocken rubbelte. Und ihre Oma war auch schlank und drahtig, obwohl sie schon über fünfzig war. Aber ein Leben lang Abend für Abend Leberwurstbrot und eingelegte Gurken zu essen, das wäre Jessy viel zu langweilig. Was man da alles verpasste!

»Schlaf gut, mein Spatz«, sagte ihre Mutter, als Jessy im Bett lag, und fuhr ihr sanft mit der Hand über die Stirn.

»Mama?«

»Ja?«

»Isa hat mich heute gefragt, warum ich keinen Vater habe.«

»Tatsächlich? Na sowas.« Annette deckte sie zu. »So, jetzt wird geschlafen.«

»Aber warum habe ich denn keinen Vater?«

»Naja, viele Kinder haben keinen Vater. Oder keine Mutter. Oder sie haben gar keine Eltern. Das ist nicht ungewöhnlich.«

»Aber in Wirklichkeit muss jedes Kind einen Vater haben. Sonst geht das ja gar nicht.«

»Aber du hast doch Onkel Carlo, der ist fast sowas wie ein Vater.«

Jessy lächelte. »Ja, der ist immer lustig.«

»Na, siehst du. Und dann hast du ja auch noch deinen Großvater.«

»Aber was ist mit meinem richtigen Vater? Ist er tot?«

»Tot?«, entwich es Annette betroffen. «Nein! Nein, Jessy, er ist nicht tot.«

»Was ist denn mit ihm? Warum kenne ich ihn nicht? Wohnt er weit weg?«

»Ja. Ja, so ist es. Er wohnt ganz weit weg.«

»Wie weit? Kann ich ihn mit dem Zug besuchen?«

»Nein, das geht nicht. Er lebt in Amerika und dahin kommt man nicht mit dem Zug.«

»Warst du in Amerika? Habt ihr euch da kennengelernt?«

»Nein, weißt du, das war so. Seine Großeltern, die kamen aus Deutschland, aus Lübeck. Die wollte er besuchen, bevor der Ernst des Lebens losgeht.«

»Was ist der Ernst des Lebens?«

»Das ist eine Redewendung und die besagt, dass man jetzt erwachsen ist und sich um wichtige Dinge wie Beruf und Geld verdienen und Familie gründen kümmern muss.«

»Das ist eine komische Redewendung. Onkel Carlo hat doch auch viel Arbeit und eine Familie, und Geld verdient er auch, und trotzdem ist er immer lustig.«

»Ja, das stimmt. Er ist eine Frohnatur.«

»Wie ist mein Vater? Ist er auch so fröhlich?«

»Naja, nicht so wie Carlo, aber schon ein bisschen.«

»Und du hast ihn in Lübeck getroffen?«

»Ja, wir haben uns getroffen und wir mochten uns sehr, aber er musste ja zurück nach Amerika, nach Montana, und seinen Eltern helfen. Sie haben eine große Ranch mit Rindern und Pferden und die sollte er übernehmen.«

»Weiß er, dass es mich gibt?«

»Nein, das weiß er nicht.«

»Aber das muss er doch wissen. Können wir nicht hinfahren? Er wird sich freuen, dass er eine Tochter hat.«

»Naja, wie bereits gesagt, Amerika ist ganz schön weit. Und so eine Reise ist für uns viel zu teuer.«

»Dann spare ist jetzt mein ganzes Taschengeld und ich will keine Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag, sondern Geld, und ich lerne amerikanisch …«

»Englisch, mein Spatz, in Amerika spricht man Englisch.«

»Gut, ich lerne jetzt Englisch und nächstes Jahr in den Sommerferien fliegen wir nach Amerika. Versprichst du mir das?«

»Das werden wir dann sehen.«

»Nein, versprich es mir.«

»Gut, versprochen. Jetzt wird aber geschlafen.« Ihre Mutter stand auf und schaltete das Licht aus.

»Mama?«

»Ja?«

»Wie heißt er?«

»Ach so, ja, also, er heißt … er heißt Jack.«

»Jack«, wiederholte Jessy gerührt. »Er fängt mit demselben Buchstaben an wie ich.«

»Ja«, sagte ihre Mutter und schloss leise die Tür.

Zufrieden zog Jessy die Decke bis zum Kinn. Sie war Isa so dankbar, dass sie sie nach ihrem Vater gefragt hatte. Gleich morgen würde sie ihr von ihm erzählen. Es gab ihn nämlich, ihren Vater, er hieß Jack und er lebte in Amerika. Sie freute sich auf das verblüffte Gesicht ihrer Cousine.

Kapitel 3 

Was es bedeutete, sein gesamtes Taschengeld zu sparen und  nicht einen Groschen davon auszugeben, erfuhr Jessy  bereits am nächsten Tag. Gegenüber vom Schulhof befand sich ein kleiner Lebensmittelladen, in dem sich die Schüler mit Süßigkeiten, Erdnüssen und Getränken versorgten. Wegen der Versicherung, hieß es ermahnend von den Lehrern, war das nur vor oder nach dem Unterricht erlaubt, doch es gab immer ein paar Mutige, die sich nicht an die Vorschrift hielten und in den Pausen hinüberschlichen, um sich mit Proviant einzudecken.

Zu denen gehörten Jessy und Isa nicht. Sie trafen sich erst nach dem Unterricht vor dem Laden, sofern sie zur selben Zeit Schluss hatten. Das war nicht immer der Fall, denn die vierte Klasse, in die Isa ging, hatte häufig mehr Stunden als die dritte.

Während Jessy vor dem Laden auf Isa wartete, ging ihr der Spruch durch den Sinn, den ihre Oma ihr von Zeit zu Zeit mit auf den Weg gab. Kind, klammere dich nicht an Isabella, such dir deine eigenen Freundinnen, sonst wirst du irgendwann alleine sein. Ein bisschen hatte sie ja Recht und Jessy mochte gar nicht daran denken, dass Isa nach diesem Schuljahr auf das Gymnasium wechselte. Dann wäre sie allein, denn außer ihr hatte sie keine richtige Freundin. Isa dagegen hatte gleich mehrere, und sie traf sich mit ihnen, um gemeinsam die Hausaufgaben zu machen. Es war ja nicht so, dass Jessy sich nicht auch manchmal mit einer Klassenkameradin verabredete, aber zusammen trödelte und alberte man den ganzen Nachmittag herum und dann saß sie bis spät abends noch bei ihren Aufgaben. Nein, sie erledigte die lieber allein, und zwar gleich nach dem Mittagessen, dann hatte sie es schnell hinter sich und den Rest des Tages konnte sie tun, was sie wollte. Sofern die Großeltern sie nicht für irgendeine Hausarbeit oder im Garten einspannten. Aber dass Isa nicht mehr ihre beste Freundin sein konnte, damit lag die Oma falsch. Das war völlig ausgeschlossen.

Da kam sie in Begleitung von zwei Mädchen. Sie lachten und unterhielten sich lebhaft, während sie über den Schulhof auf den Laden zuliefen. Zum Glück gingen die anderen beiden gleich weiter zur Bushaltestelle.

»Da bist du ja.« Isa hakte sich bei Jessy unter und zog sie mit sich in den Laden. »Ich habe Lust auf Gummibärchen.«

Sie steuerten den Gang mit den Süßigkeiten an, Isa griff nach einer Tüte Gummibärchen, legte sie zurück und entschied sich doch für Lakritzschnecken. Jessys Blick wanderte derweil unschlüssig am Regal entlang. Ich spare mein Geld, ich spare mein Geld, wiederholte sie in Gedanken, und überlegte doch, was sie nähme, wenn sie nicht sparen würde. Lakritzschnecken konnte man so schön mit den Zähnen zu langen Bändern auseinanderziehen und dann sahen sie aus wie schwarze Spaghetti. Aber sie schmeckten viel besser. Es tat ein bisschen weh, dass sie den Laden gleich mit leeren Händen verlassen musste, aber sie war fest entschlossen, ihr Taschengeld zu sparen. Die Reise nach Amerika war viel wichtiger als dumme Lakritzschnecken.

»Was nimmst du?«

»Nichts.«

»Gar nichts? Warum nicht?«

»Hab keinen Hunger.«

Isa zuckte mit den Schultern, bezahlte an der Kasse und sie verließen den Laden.

»Ich habe eine tolle Neuigkeit«, konnte Jessy endlich stolz verkünden, als sie auf dem Heimweg waren.

»Was denn?«

»Ich habe nämlich doch einen Vater. Ich habe Mama gestern nach ihm gefragt und sie hat mir alles über ihn erzählt.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

Isa fischte eine Lakritzschnecke aus der Tüte, nahm das Ende zwischen die Zähne und rollte sie ein Stück auf, knabberte an dem Band und rollte es weiter auf. »Wer ist es? Kennen wir ihn?«, fragte sie schmatzend.

Jessy war abgelenkt, denn wenn die beste Freundin Lakritze verputzte und sie zusehen musste, dann war das nicht schön. »Äh, nein«, sagte sie, »er wohnt ganz weit weg, in Amerika. Er hat da eine Farm.«

»Wo in Amerika? In Nordamerika, in Südamerika oder in Mittelamerika?«

Jessy ärgerte sich ein bisschen, dass Isa sich mal wieder besser auskannte. Sie hatte von Nord-, Süd- und Mittelamerika noch nie etwas gehört, nur von Amerika. »In Montana«, sagte sie.

»Aha«, meinte Isa und es klang, als wisse sie genau, wo das lag. »Das ist ganz schön weit weg.«

Die Schnecke ging aufs Ende zu und verschwand komplett in ihrem Mund. Jessy wusste, wie sich das anfühlte und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

»Ja, das ist weit weg. Aber nächstes Jahr in den Sommerferien fliege ich mit Mama hin. Und dafür spare ich mein ganzes Taschengeld.«

Abrupt blieb Isa stehen. »Ach so. Deshalb hast du dir nichts Süßes gekauft.«

Jessy nickte betreten.

»Aber nach Amerika. Das ist doch ganz teuer. So viel kannst du nie sparen.«

»Weiß nicht. Es ist ja noch viel Zeit bis dahin. Sollen wir ausrechnen, wie lange ich sparen muss?«, fragte sie, denn im Rechnen war sie ihrer Cousine überlegen.

»Von mir aus. Und ich dachte, du hast wirklich keinen Hunger.« Isa hielt ihr die Tüte hin, Jessy grinste und griff freudig zu. Sie waren eben beste Freundinnen.

Am Nachmittag liefen sie in die Innenstadt zu einem Reisebüro, um sich zu erkundigen, wie teuer ein Flug nach Amerika sein würde. Die freundliche Angestellte hatte sie anfangs stirnrunzelnd angesehen, hatte dann aber verschiedene Angebote von New York herausgesucht. Das günstigste war ein Aufenthalt von vier Tagen in einem Hotel mit Frühstück für tausendeinhundertfünfzig Mark. Der Preis konnte sich allerdings bis nächstes Jahr noch ändern, meinte sie, doch damit hatten die Mädchen einen ungefähren Anhaltspunkt. Sie bedankten sich und marschierten zu Jessy nach Hause, um alles auszurechnen, was sich ausrechnen ließ.

»Wir können die Hotelübernachtungen herausrechnen. Ich will ja gar nicht in New York bleiben. Ich will nach Montana.«

»Dann musst du auch das Frühstück nicht bezahlen.«

»Stimmt, das Frühstück fällt auch weg. Wir nehmen uns ein paar Brote mit, von mir aus auch mit Leberwurst.«

»Aber wir müssen alles doppelt rechnen. Deine Mama kommt ja mit.«

»Mama muss ihre Reise selbst bezahlen! Sie verdient ja viel mehr als ich.«

»Stimmt auch. Dann rechnen wir eben aus, wie lange du sparen musst, bis du genug Geld für den Flug hast.«

»Ja, und wir können ausrechnen, wie weit es von New York nach Montana ist.«

Mit den Köpfen voller interessanter Rechenaufgaben erreichten sie Jessys Haus. Wenn sie mit ihren Berechnungen nicht weiterkamen, konnten sie den Großvater fragen. Der war Buchhalter in der Textilfabrik und kannte sich mit Zahlen aus. Außerdem hatte er einen dicken Weltatlas zwischen seinen vielen Büchern stehen, und da waren nicht nur Landkarten, sondern auch viele Bilder drin. Jessy blätterte manchmal darin herum.

»Bitte? Du willst nach Amerika?«, wunderte sich ihr Opa, als er um halb sechs von der Arbeit kam.

Jessy und Isa hatten sich an seinem Schreibtisch breitgemacht und saßen vor dem aufgeschlagenen Atlas, der die Karte von den Vereinigten Staaten zeigte.

»Ja, nächsten Sommer. Ich will meinen Vater besuchen.«

Ihr Opa hob die Augenbrauen. »Dein Vater lebt jetzt in Amerika?«

»Ja, Mama hat es mir erzählt.«

»Das hat sie dir erzählt?«

»Ja, wusstest du das gar nicht?«

»Nein, das wusste ich nicht. Aber wundern tut’s mich nicht.« Er kam näher und blickte den Mädchen über die Schulter.

»Wir wollen wissen, wie weit es von New York nach Montana ist.«

»New York haben wir schon gefunden.« Isa zeigte mit dem Finger auf die Karte. »Hier, es liegt direkt am Meer.«

»Na, dann lasst uns doch schauen.« Er setzte seine Lesebrille auf und beugte sich herunter. »Montana, Montana …«, murmelte er, »Ah, ich hab’s entdeckt. Das ist ganz schön weit weg von New York. Aber wenn ihr wissen wollt, wie weit genau … am unteren Kartenrand findet ihr immer den Maßstab. Damit könnt ihr es ausrechnen, nicht exakt auf den Kilometer, aber zumindest grob.« Er nahm das Lineal aus der Schublade, legte es an die Linie und erklärte den Mädchen, wie sie mit Hilfe des Dreisatzes die tatsächliche Entfernung errechnen konnten. Sie kamen auf ungefähr dreitausend Kilometer von New York bis nach Montana.

Jessy zog ein Gesicht. »Das hört sich aber viel an.«

»Das ist noch weiter als bis nach Airola, und das sind zweitausend Kilometer und wir sitzen ganze zwei Tage nur im Auto rum. Das ist so anstrengend!«

»Naja«, sagte der Opa. »In Montana gibt es doch sicher auch einen Flughafen. Wie heißt denn die Hauptstadt?«

Verdutzt und gleichermaßen erfreut sah Jessy zu Isa. Warum waren sie da nicht von selbst draufgekommen? Sie mussten ja gar nicht nach New York fliegen. Sie wandte sich dem Atlas zu und fand schnell die Hauptstadt, weil die Hauptstädte der Länder auf den Karten immer unterstrichen waren. »Helena!«, rief sie aus. »Wir müssen nach Helena fliegen!«

»Weißt du denn, wo dein Vater lebt?«

»Auf einer großen Farm mit Rindern und Pferden.«

»Aha, auf einer Farm also. Und weiß er, dass du ihn besuchen willst?«

»Das muss ich ihm noch schreiben. Mama muss mir noch seine Adresse geben, dann schreibe ich ihm. Er wird sich freuen.«

Lächelnd wuschelte der Opa ihr durchs Haar. Sein Lächeln wirkte mitleidig, so, als würde er nicht daran glauben, dass sie es wahrmachte und nach Amerika flog. Aber sie würde fliegen. Ganz bestimmt!

»Wenn ihr mich noch braucht, ich bin in der Küche«, sagte er und ließ die beiden allein.

Als sie dann noch ausrechneten, wie lange Jessy ihre zwei Mark Taschengeld, die sie in der Woche bekam, allein für den Flug sparen musste, nämlich ungefähr mehr als zehn Jahre, da verließ sie dann doch der Mut. Aber als sie dann darauf kam, dass die Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke noch gar nicht mit eingerechnet waren, dass sie ein höheres Taschengeld erbetteln konnte, wenigstens drei Mark in der Woche, und dass sie für gute Noten eine Belohnung herausschlagen konnte wie andere Schüler auch, dann schien ihr das Vorhaben doch wieder zum Greifen nah.

Mit jeder weiteren Woche, in der sie es nicht fertigbrachte, ihr Taschengeld zurückzulegen, schwand diese Überzeugung ein Stück mehr. Erst gab sie nur einen kleinen Teil aus, dann etwas mehr und meistens blieben keine fünfzig Pfennige übrig. Und als sie Weihnachten anstatt eines Umschlags mit Bargeld in Geschenkpapier eingewickelte Kartons unterm Weihnachtsbaum entdeckte, war die Enttäuschung riesengroß, sodass sie fast geweint hätte. Erst als sie dann die neuen Discoroller in Pink und Lila und die passenden Gelenkschoner und das pinkfarbene Stirnband auspackte, da war sie so überwältigt, dass sie ihren Plan für den Moment vergaß und ihrer Mutter und den Großeltern vor Freude um den Hals fiel. Solche Discoroller hatte sie sich sehnlichst gewünscht.

Der Frühling kam. Die Reise nach Amerika hatte Jessy nicht aufgegeben, jedoch vorerst verschoben. Sie hatte begriffen, dass es gar nicht so leicht war, Geld zu sparen, wenn man nur wenig davon hatte. Auch ihre Mutter, die jeden Tag von früh bis spät im Drogeriemarkt arbeitete und abgekämpft nach Hause kam, jammerte ständig, dass es nicht reichte, weil in der Wohnung etwas kaputt gegangen war, eine Lampe zum Beispiel, oder schlimmer noch, die Waschmaschine, oder ihr Ford brauchte eine neue Batterie – nie blieb Geld von ihrem Verdienst übrig. Jessy wollte nicht ihr Leben lang herum knapsen und sie hatte längst für sich beschlossen, sich in der Schule richtig anzustrengen, um später zu studieren und einen guten Beruf zu haben.

»Komm, Spatz, lass uns in die Stadt gehen«, sagte ihre Mutter an einem Samstag im April.

Jessy saß auf der Treppe vor ihrem Haus, hatte sich gerade ihre Discoroller angezogen und wollte auf die Rollschuhbahn. »In die Stadt?«, fragte sie ungläubig. Ihre Mutter ging selten mit ihr in die Stadt.

»Ja. Das Wetter ist so herrlich und ich dachte, wir kaufen ein bisschen ein und essen ein Eis.«

»Was denn einkaufen?«

»Naja, eine neue Jeans oder einen Pulli. Du wächst ja so schnell aus deinen Sachen raus.«

»Darf ich auch Leggings und ein Sweatshirt?«

»Da finden wir schon was Hübsches für dich.«

Im Nu hatte Jessy die Discoroller gegen ihre Schuhe ausgetauscht, stellte sie in den Hausflur und lief an der Hand ihrer Mutter in die Fußgängerzone. Eine Cousine, die ein Jahr älter und ein Stück größer war und dazu einen Katzensprung entfernt wohnte, konnte auch einen Nachteil haben, nämlich den, dass man ihre Kleidung auftragen musste. Isa hatte super tolle Klamotten und Jessy konnte es gar nicht erwarten, bis sie rausgewachsen war, aber manchmal wünschte sie sich auch ein Kleidungsstück, das sie selbst ausgewählt hatte. Ein kleiner Trost war, dass Chiara es noch blöder getroffen hatte. Sie hatte gleich zwei, deren Sachen sie auftragen musste, ihre Schwester und ihre Cousine. Abgesehen von der Unterwäsche, die die Oma regelmäßig in der Wäschefabrik für ihre Enkelinnen kaufte, kam es also nicht oft vor, dass Jessy etwas Nagelneues bekam.

Bei Karstadt in der Kinderabteilung fand sie Leggings in rosa mit grauen Punkten und ein weites hellgraues Sweatshirt mit Kapuze und einer pinkfarbenen Kordel. Ohne mit der Wimper zu zucken bezahlte ihre Mutter die Sachen an der Kasse und wuschelte ihr lächelnd durchs Haar.

»So! Jetzt kaufen wir für mich auch noch ein Kleid und dann setzen wir uns in die Eisdiele.«

Jessy hätte jetzt am liebsten einen tiefen Seufzer ausgestoßen. Ihrer Mutter beim Kleider anprobieren zuzusehen, stellte sie sich langweilig vor. Aber sie wollte auch nicht meckern, denn schließlich war die mit ihr auch geduldig gewesen. Sie gingen also in die Damenabteilung und ihre Mutter wählte drei Kleider, nachdem sie den Rundständer eine Weile durchforstet hatte, und nahm sie mit in die Umkleide. Jessy setzte sich auf einen Stuhl, den Blick auf ihre Einkaufstüte gerichtet, und stellte sich vor, wie toll sie mit ihren neuen Klamotten auf der Rollschuhbahn aussehen würde. Die Sachen passten super zu ihren Discorollern und dem Stirnband.

»Wie findest du das?« Annette präsentierte sich in einem grünen Kleid mit roten und gelben Blumen, stellte sich vor den hohen Spiegel und drehte sich mal rechts, mal links herum.

»So ein ähnliches hast du doch.«

»Naja, aber es ist mir ein bisschen eng geworden.«

»Aber das hier ist viel zu weit.«

»Findest du?«

»Ja, finde ich.«

Sie raffte den Stoff hinten in der Taille. »Man kann die Bänder enger binden. Hm, was meinst du?«

»Ja, ist ganz okay«, sagte Jessy wenig überzeugt. Und sie dachte, dass ihre Mutter tatsächlich ganz schön rund geworden war, was verwunderlich war, weil sie doch nie bei den Sorrentinos mitaß.

Sie nahm das grüne Kleid mit den Blumen und auch noch das mit dem schwarzweißen Muster, das noch weiter war als das grüne. An dem Modeschmuckständer im Erdgeschoss blieb sie stehen und Jessy durfte sich ein Teil aussuchen. Sie entschied sich für eine Haarspange mit drei rosa Herzchen.

Es war so mild an diesem Tag, dass vor der Eisdiele schon Stühle und Tische draußen standen. Sie suchten sich einen Platz, studierten die Karte und bestellten drei Kugeln mit Sahne für Jessy und eine Tasse Kaffee für ihre Mutter.

Jessy hatte an der Kasse gut aufgepasst und während sie auf das Eis warteten, rechnete sie im Kopf aus, wie viel sie insgesamt ausgegeben hatten. Sie fiel aus allen Wolken. Zweihundertfünfundachtzig Mark! Was für eine Menge Geld! Das war schon ein Viertel Flugticket nach Amerika.

»Wir haben heute zweihundertfünfundachtzig Mark ausgegeben, das Eis noch nicht mitgerechnet.«

»Ja, mein kleiner Einstein.« Ihre Mutter schmunzelte, als wäre es für sie das Normalste von der Welt, so spendabel zu sein. Zufrieden ließ sie ihren Blick durch die belebte Fußgängerzone schweifen.

Jessy ärgerte sich über ihre Unbekümmertheit. »Mama, das ist richtig viel Geld!«

»Bei besonderen Gelegenheiten darf man großzügig zu sich sein.«

Jessy überlegte, ob sie etwas vergessen hatte. Der Geburtstag ihrer Mutter war erst im Oktober und ihr eigener im September. »Was ist denn heute Besonderes? Hat einer Geburtstag?«

»Nein, Spatz, das weißt du doch. Ich wollte dir und mir eine Freude machen.«

Das Eis wurde serviert. »Lassen Sie es sich schmecken«, sagte die Bedienung und ging zum nächsten Tisch. Jessy saß vor ihrem Eis und konnte sich gar nicht mehr darüber freuen. Ihr war eine Laus über die Leber gelaufen. Noch so eine Redewendung, die ihre Mutter gern benutzte, deren Bedeutung Jessy jetzt aber zum ersten Mal nachempfand. Sie war so sauer, als wäre ihr eine echte Laus über die Leber gelaufen. Dann aber kam ihr ein Gedanke. »Kann ich meine Sachen nicht zurückbringen und lieber das Geld nehmen?«

Ihre Mutter lachte. »Gefallen sie dir nicht mehr?«

»Doch, aber ich möchte lieber nach Amerika fliegen.«

»Na, du hast Ideen.«

»Aber wenn wir die Sachen schnell hinbringen, kriegen wir das Geld zurück. Sie sind ja noch nicht getragen und die Schilder hängen auch noch dran.«

»Warum hast du dich nur so an Amerika festgebissen?«

»Weil du mir versprochen hast, dass wir hinfliegen und ich meinen Vater kennenlernen kann.«

»Ach, Jessy!« Annette stieß einen tiefen Seufzer aus und rührte mit besorgter Miene Zucker in ihren Kaffee. Dann beugte sie sich vor und sah Jessy ernst an. »Es ist so, weißt du, dein Vater, der hat inzwischen eine Familie, er hat Kinder, und er hat die große Farm und viel Arbeit … er hat überhaupt keine Zeit für dich.«

»Das stimmt nicht! Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es, weil er es mir geschrieben hat.«

»Hast du ihm geschrieben, dass es mich gibt?«

»Ja, er weiß es jetzt.«

»Ich will seinen Brief lesen. Du musst ihn mir zeigen. Und ich will ihm selbst schreiben. Das kann mir doch keiner verbieten.«

»Jessy, versteh doch. Seine Frau weiß nicht, dass es dich gibt, und wenn sie davon erfährt, wird sie furchtbar eifersüchtig und möglicherweise verlässt sie ihn dann. Deshalb hat er mich in seinem Brief gebeten, dir zu erklären, warum es nicht gut wäre, wenn du ihm schreibst oder ihn besuchst. Du verstehst das doch, oder?«

Jessys kleine Traumwelt von ihrem Vater in Amerika brach mit einem Mal jäh in sich zusammen. Er wusste von ihr, aber wollte nichts mit ihr zu tun haben! Das tat weh. Ein schreckliches Gefühl von Traurigkeit und Wut übermannte sie. »Warum hast du mir dann überhaupt von ihm erzählt?«

»Du hast mich nach ihm gefragt.«

»Aber du hättest sagen können, dass er tot ist!«

Annette trank einen Schluck aus der Tasse und schwieg eine Weile. »Es tut mir so leid, Jessy. Ja, mag sein, dass ich dir nichts von ihm hätte erzählen sollen, aber für dich ändert sich doch nichts, du hast ihn nie gekannt.«

Jessy unterdrückte ihre Tränen und sagte jetzt gar nichts mehr. Sie hatte einen Vater und doch hatte sie keinen.

»Wäre es nicht viel schöner«, fuhr Annette mit sanfter Stimme fort, »jemanden zu haben, der immer da ist, jemanden, der in der Nähe wohnt und nicht so weit entfernt?«

Jessy zog die Stirn in Falten. Was wollte sie ihr damit sagen?

»Weißt du, ich habe da nämlich jemanden kennengelernt. Er heißt Peter, er ist ein netter Mann und er mag Kinder.«

Jessy ließ den Eislöffel fallen und verschränkte trotzig die Arme. »Soll der dann etwa mein Vater sein?«

»Naja, warum nicht? Er ist wirklich …«

»Ich brauche keinen anderen Vater. Ich hab schon einen.«

Ihre Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Jessy, hör mir zu. Peter und ich, wir mögen uns und …«

»Seid ihr verliebt?«

»Ja, wir sind verliebt und wir wollen gern zusammen sein.«

»Dann kann er mein Zimmer nehmen und ich wohne bei Isa.«

Wieder lachte ihre Mutter. »Aber Kind, wie stellst du dir das vor?«

»Für drei ist es da oben viel zu eng.«

»Naja, wir werden nicht bei Oma und Opa wohnen bleiben. Wir sind dann eine richtige kleine Familie und werden ein eigenes Haus haben.«

»Wirklich? Wo? In unserer Gasse?«

»Das wäre schön, aber da gibt es keins zu kaufen.«

»Aber ich will da nicht weg.«

»Ich mache dir einen Vorschlag, mein Spatz. Du lernst Peter erstmal kennen und dann sehen wir weiter, einverstanden?«

Jessy stöhnte kurz und gab sich dann einen Ruck. »Na gut.«

Bereits am nächsten Nachmittag sollte Peter sie zu einem Sonntagsausflug abholen. Jessy hatte eine ganze Stunde lang gebettelt, ob sie Isa nicht mitnehmen konnten, doch ihre Mutter hatte das partout nicht gewollt. Die Rückbank in Peters Auto sei zu schmal für zwei, hatte sie behauptet. Plumper konnte eine Ausrede nicht sein! Überhaupt war sie heute komisch. Sie wirkte überdreht und hatte sich angezogen wie eine Modepuppe im Schaufenster, trug ihr neues grünes Kleid, darüber eine leichte Jacke mit zu kurzen Ärmeln, um den Hals wehte locker ein Seidenschal, die Haare hatte sie mit der Lockenbürste aufgeplustert und ihre Lippen waren knallrot angemalt, wie so oft in letzter Zeit.

Als es klingelte, fuhr sie zusammen, als würde der Bundeskanzler vor der Tür stehen. »Da ist er schon! Na komm, Spatz.« Sie griff nach ihrer kleinen Handtasche, in die nichts reinpasste außer einem Taschentuch und ein Lippenstift, ging voraus nach unten und öffnete die Haustür. Widerwillig folgte Jessy ihr.

»Hallo Jessy. Ich bin Peter, Peter Grote«, stellte er sich vor und reichte Jessy die Hand.

Er war ganz schön groß, fand Jessy, mindestens einen halben Kopf größer als Onkel Carlo, dafür aber nicht so dick. Er lächelte sie an, als sie ihm zögerlich ihre Hand reichte, und sie brachte es fertig, auch ein bisschen zu lächeln. Eigentlich sah er ganz nett aus.

»Na, dann brausen wir los, was?« Er lachte, hielt ihrer Mutter den Arm hin, damit sie sich unterhakte, und Jessy dackelte hinter den beiden her bis zur Straße, wo er seinen Wagen geparkt hatte.

Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass ein Auto einen anderen Zweck erfüllen konnte, als Personen oder Güter von A nach B zu kutschieren. Es musste vor allem praktisch sein, so wie der kleine Panda von ihrer Mutter oder der Passat von Onkel Carlo. Dass es auch um Schönheit gehen konnte, erfuhr Jessy an diesem Vormittag, als sie Peters Wagen am Straßenrand stehen sah. Mit eleganter langgestreckter Schnauze, in leuchtendem Sonnengelb, mit schwarzem Dach aus Stoff und einem Stern vorn am Kühler stand das Mercedes-Cabrio vor ihr. So ein schönes Auto hatte sie noch nie gesehen. Verzaubert ließ sie ihre Finger über den Lack gleiten und blickte durch die Scheibe auf die hellbraunen Ledersitze und das schwarze Armaturenbrett. Alles war unfassbar edel und wirkte teuer und sie konnte es gar nicht abwarten, sich hineinzusetzen und durch die Gegend zu fahren.

»Na, wie gefällt dir mein Cabrio?«, fragte Peter.

»Es ist toll!«

»Na, dann steig ein.« Er öffnete die Beifahrertür und kippte den Sitz nach vorn, sodass Jessy sich hinein quetschen konnte. Die Rückbank war tatsächlich seltsam schmal und ihre Knie hatten kaum Platz. Für Beifahrer war sie sicher nicht gedacht, eher um seine Jacke oder seinen Hut daraufzulegen. Als sie im Wagen saßen, drückte Peter einen Knopf und Jessy verfolgte verblüfft, wie über ihr das Verdeck zurückfuhr und den Blick nach draußen freigab. Sie war beeindruckt. Der Länge nach legte sie sich auf die Bank, sodass sie nichts mehr sah außer Häusergiebel, Baumkronen und den Himmel, nach einer Weile verschwanden auch die Giebel und dann war da weiter nichts als Himmel, ein unendlich weiter blauer Himmel und die Sonne, die sich dann und wann hinter einer weißen Wolke versteckte. Wie die Welt am Boden aussah, konnte sie sich anhand der Jubelrufe ihrer Mutter ausmalen: Sieh doch, das hübsche Dorf! Oder: Was für eine schöne Landstraße! Oder: Auf dem Hof gibt es frische Eier! Und Jessy stellte sich ein hübsches Dorf mit Backsteinhäusern vor, und eine gewundene schmale Straße eingefasst von Birken, und eine Wiese, auf der die Hühner frei herumliefen. Es war toll, sich das alles vorzustellen und sie war neugierig, ob die Wirklichkeit mit ihren Bildern übereinstimmte, aber sie würde sich nicht aufrichten, denn ein bisschen war da auch die Angst, dass doch alles anders war, weniger schön als in ihrer Vorstellung.

Peter blickte sich kurz zu ihr um. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, alles in Ordnung. Es ist toll, hier zu liegen und in den Himmel zu blicken. Genauso ein Auto will ich einmal haben!« Und das sagte sie aus voller Überzeugung.

»Dann hast du ja ein Ziel. Es ist gut, wenn man Ziele hat. Sie zeigen uns den richtigen Weg.«

Jessy lächelte zufrieden vor sich hin. Ein sonnengelbes Cabrio würde ihr den richtigen Weg zeigen. Sie hatte keine Ahnung, wie ein Cabrio das schaffen sollte, aber es war eine nette Vorstellung.

»Sieh mal da, Jessy«, rief Peter ein Weilchen später. »Die drei Windräder da hinten hat unsere Firma aufgestellt.«

Peter war Ingenieur und arbeitete in einer Firma, die Windkrafträder baute. Das wusste Jessy bereits von ihrer Mutter.

»Wir könnten hier aussteigen und uns die Füße vertreten. Hm, was meinst du?«, fragte die sanft lächelnd und legte ihre Hand auf Peters Bein.

Dauernd fragte sie ihn das: Hm, was meinst du?, oder Hm, was sagst du dazu?, ganz so, als könne sie nichts mehr allein entscheiden, und ständig legte sie ihre Hand auf seine Schulter oder auf sein Bein und immer lächelte sie dabei wie eine dumme verliebte Pute. Das konnte Jessy kaum mit ansehen.

»Wir sind doch gleich da«, sagte Peter.

Jessy schwang sich mit einem Ruck nach vorn und krallte sich an den Vordersitzen fest. »Wo sind wir gleich?«

»In Reinfeld«, antwortete er.

»In Reinfeld? Was wollen wir da?«

Jessy registrierte, dass Peter ihre Mutter verständnislos ansah. »Sie weiß es noch nicht?«

»Hat sich nicht ergeben«, sagte die kleinlaut.

Peter schüttelte den Kopf, woraus Jessy schloss, dass es da etwas geben musste, dass sie längst hätte wissen sollen, was ihre Mutter ihr aber noch nicht gesagt hatte. Das beunruhigte sie. »Was denn? Was weiß ich nicht?«

Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und legte die Hand auf ihre. »Das ist eine tolle Überraschung. Warte es ab, wir sind gleich da.«

Jessy ließ sich in den Sitz sinken und grübelte, was für eine Überraschung sie hier in Reinfeld wohl erwarten konnte. Vielleicht gab es hier ein Restaurant mit dem besten Pizzabäcker, oder es gab eine richtig coole Rollschuhbahn. Sie richtete den Blick in den Himmel, der inzwischen gar nicht mehr so blau war wie noch vor einer Stunde. Es hatten sich ganz schön viele, teilweise dunkle Wolken gebildet und sicher würde es bald regnen. Dann war es vorbei mit dem offenen Verdeck.

Plötzlich holperte der Mercedes, als würde er über einen Waldweg fahren, und sie richtete ihren Blick in die Waagrechte. Es war ein Schotterweg, der an Bauschildern und halbfertigen Häusern vorbeiführte. Manche von den Häusern hatten bereits ein Dach und Fenster und Türen, andere waren halbhoch gemauert, um sie herum waren Sandberge und ganz viel Matsch.

Peter parkte den Wagen vor einem dieser halbfertigen Häuser und eine düstere Ahnung beschlich Jessy plötzlich. Die Worte ihrer Mutter klangen in ihrem Kopf nach: Wir sind dann eine richtige kleine Familie und wir haben unser eigenes Haus. Nein! Das durfte nicht sein!

Kritisch blickte Peter in den Himmel und schloss das Verdeck, während Jessy und ihre Mutter ausstiegen.

Mit stolzem Lächeln blickte Annette auf die kalten grauen Mauern und holte tief Luft. »Das, meine liebe kleine Jessy, wird unser neues Zuhause.«

Wie angewurzelt verharrte Jessy auf dem Fleck, und während sie weiterspann, was es bedeutete, dass das hier ihr neues Zuhause werden sollte, redeten ihre Mutter und Peter weiter, als hätten sie nichts von Bedeutung gesagt, als ginge es um ein paar neue Schuhe oder einen neuen Ranzen, weil der alte zerschlissen war.

»Sie haben ganz schön was geschafft in den letzten zwei Tagen«, sagte Peter.

»Ja, die Decke im Erdgeschoss ist ja schon fertig. Kommt, lasst uns reingehen. Ich bin ganz neugierig.«

Widerwillig stapfte Jessy hinter ihnen her. Sie liefen durch den Matsch und balancierten über zwei dicke Bretter zum offenen Hauseingang. Zielstrebig marschierte ihre Mutter geradeaus in einen großen Raum. »Hier ist das Wohnzimmer. Da kommen Fenster über die ganze Breite rein, dann ist es schön hell und man kann vom Sofa aus direkt auf die Terrasse und in den Garten schauen.«

Jessy blickte durch die großen Öffnungen nach draußen auf dieses matschige, trostlose Grundstück, auf dem Stahlmatten herumlagen und sich Paletten mit Steinen und Dachziegeln stapelten. Niemals im Leben würde das hier ihr Zuhause werden, das schwor sie sich in diesem Augenblick. Nie und nimmer! Darauf konnten sie sich verlassen.

»Ende August können wir einziehen. Das hat uns der Bauunternehmer zugesagt«, erklärte Peter.

»Ja, dann kannst du die Schule passend zum neuen Schuljahr wechseln.«

Jessy sagte nichts. Es war wie ein böser Traum.

»Nebenan ist gleich die offene Küche«, fuhr ihre Mutter munter fort. »Siehst du, Jessy, wie praktisch das ist? Hier kommt ein Tresen mit Hockern hin. Da kannst du mir beim Kochen zusehen.«

»Die Kinderzimmer sind im Obergeschoss«, sagte Peter. »Aber nach oben gibt es noch keine Treppe.«

Die Kinderzimmer, wiederholte Jessy in Gedanken. Ihr Blick fiel auf ihre Mutter, wie sie da so stand, in dem breiten Durchgang zwischen Wohnzimmer und Küche, wo dann der Tresen stehen würde, Peter ein seliges Lächeln zuwarf und sich dabei über den gewölbten Bauch strich, und sie dachte an Tante Betty, als die mit Chiara schwanger war, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. »Du bekommst ein Kind!«, rief sie aus.

Immer noch lächelte ihre Mutter sanft. »Ja, Jessy, in vier Monaten hast du ein kleines Brüderchen.«

Es war kein böser Traum, es war die Wirklichkeit. Für das Brüderchen bauten sie das Haus, damit sie eine kleine glückliche Familie werden würden, mit einem idyllischen Heim am Ende der Welt und einem riesengroßen Garten. Nein, hierher würde sie nicht mitgehen, sie konnten sie nicht zwingen, sie würde bei den Großeltern bleiben, oder bei den Sorrentinos. Ihre Mutter würde sie nicht vermissen, sie hatte ja das Brüderchen, das noch nicht geboren war. Und noch während Jessy all das dachte, wusste sie doch, dass ihre Wünsche nicht zählten, dass sie mitgehen musste, ob sie wollte oder nicht. Sie würde ihr Zuhause verlieren, ihre Großeltern, ihre beste Freundin, Tante Betty und Onkel Carlo, sie würde alles verlieren, was ihr lieb und teuer war. Sie hasste dieses Haus. Sie hasste ihre Mutter. Sie hasste Peter. Und sie hasste ihren ungeborenen Bruder. Das Leben war nicht fair.

Kapitel 4 

Dank ihrer kleinen Schwester hatte Jessy wieder schlecht geschlafen. Dennoch freute sie sich auf den Tag. Sie sprang aus dem Bett, zog sich flott an, packte ihre Hefte in den Ranzen und hüpfte die Treppe hinunter. Doch kaum unten, machte sich Enttäuschung in ihr breit. Alles war wie immer! Dabei war doch heute ein besonderer Tag, es war ihr sechzehnter Geburtstag. Das schienen alle vergessen zu haben.

Nils und Lukas saßen am Esstisch, aßen Cornflakes und ärgerten sich gegenseitig wie jeden Morgen. Nebenan in der Küche stand ihre Mutter an der Arbeitsfläche mit Laura auf dem Arm. Sie trug noch ihren Morgenmantel, was vermuten ließ, dass auch sie wenig geschlafen hatte, und versuchte, mit der freien Hand die Schulbrote zu schmieren. So konnte das nichts werden.

»Ach, Jessy, kannst du mir bitte helfen?«

Jessy verzog den Mund. »Was denn?«

»Kannst du die Brote für die Jungs fertigmachen und die beiden dann wegbringen. Laura war die halbe Nacht wach und ich habe kein Auge zugetan.«

Ich auch nicht, dachte Jessy. Genervt rollte sie die Augen. Das war ja klar. Nicht mal heute an ihrem Geburtstag war sie von den täglichen Pflichten entbunden. »Aber abholen kann ich sie nicht. Ich habe bis halb zwei Unterricht.«

»Nein, das musst du nicht. Das kriege ich hin.«

Seit Laura das Licht der Welt erblickt hatte, gab es für Jessy keine ruhige Minute mehr. Ständig wurde sie eingespannt, weil ihre Mutter selten beide Hände frei hatte, denn Laura musste immer getragen werden. Sobald man sie runterließ, ging das Geschrei los. Es war ein Wunder, dass sie mit ihren bald zwei Jahren überhaupt schon laufen gelernt hatte, sie wurde ja immer getragen. Nils und Lukas waren da vergleichsweise pflegeleicht.

»Warum lässt du sie nicht runter? Sie kann doch selbst stehen.«

»Sie ist gerade eingeschlafen und ich will sie hinlegen.« Annette reichte ihr das Schälmesser. »Hier, für Lukas den Apfel kleinscheiden.«

»Ich mach das nicht zum ersten Mal!« Jessy nahm das Messer entgegen, viertelte und entkernte den Apfel.

»Danke, Jessy, das ist lieb. Ich geh dann nach oben.«

»Aber Mama, wenn Laura jetzt tagsüber schläft, ist sie doch wieder die ganze Nacht wach, und morgen geht das Spiel von vorne los.« Diese Logik hatte Jessy bereits des Öfteren versucht, ihrer Mutter nahezubringen. Leider bisher erfolglos.

Sie wusste, was jetzt kommen würde, als ihre Mutter sie mit leidender Miene ansah. »Du hast ja Recht, Jessy, aber ich kann sie jetzt nicht wachhalten. Ich brauche dringend meine Ruhe. Aber morgen ist Wochenende. Da ist Peter zu Hause.« Sie wandte sich an die Jungs. »Ihr beiden hört schön auf Jessy, ja?« Dann schleppte sie sich mühsam mit der Kleinen hinaus.

Peter hatte sein Nachtquartier längst in seinem Arbeitszimmer im Souterrain eingerichtet und sich mit Ohrstöpseln eingedeckt. Schlaflose Nächte konnte er sich nicht leisten, denn die Arbeit an den Windrädern in schwindelnder Höhe erforderte ein hohes Maß an Konzentration.

Jessys Arbeit hier am Boden erforderte auch ein hohes Maß, und zwar an Geduld, vor allem mit Lukas, dem kleinen Träumer. Er klüngelte gerne, aber wenn man ihn antrieb, wurde er noch langsamer. Das konnte Jessy auf die Palme bringen. Seinetwegen kam sie regelmäßig zu spät zum Unterricht.

Zu seinem Kindergarten war es ein kleiner Umweg, und die Grundschule, in der Nils die dritte Klasse besuchte, lag sowieso auf ihrem Weg. Ärgerlich war, dass sie ihr Fahrrad bis dahin schieben musste, es dauerte also länger und sie musste sich beeilen. Wenn sie eins nicht leiden konnte, dann war es Hetze am frühen Morgen.

Sie packte die Brotdosen schnell in die Taschen ihrer Brüder und klatschte in die Hände.

»Na los, Jacke an, Schuhe an und ab. Ich warte draußen.« Sie ging voraus, legte ihren Ranzen in den Fahrradkorb und schob das Rad aus der Garage.

Sie hatten ihren Geburtstag vergessen, dachte sie, als sie den Bürgersteig entlang marschierten. Einfach vergessen! Sie hatte gedacht, es würde ihr nichts ausmachen. Doch es machte ihr etwas aus, es machte ihr sogar verdammt viel aus! Als sie noch in Lübeck gewohnt hatten, wurde niemals ein Geburtstag vergessen, und wenn noch so viel Arbeit und noch so wenig Zeit war. Aber hier in Reinfeld drehte sich alles um ihre Geschwister. Neun Jahre war es her, dass sie ihren siebten Geburtstag im Haus der Großeltern gefeiert hatten. Sie hatten eine Party in dem kleinen Garten hinterm Haus veranstaltet, am Nachmittag mit Eis und Kuchen und lustigen Spielen, am Abend mit einem riesigen Blech mit Pizza Hawaii, ihrer Lieblingspizza, die Carlo selbst gebacken hatte. Die Geburtstagsfeste in Lübeck gehörten zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen. Da hatte es noch keinen Peter gegeben, keine Geschwister, kein Haus am Ende der Welt.

»Komm weiter!«, schalt Nils seinen kleinen Bruder.

Lukas war stehengeblieben. Offenbar hatte er etwas Interessantes in der Hecke entdeckt.

Nils hasste es, zu spät zu kommen, weil die anderen Schüler dann dumme Bemerkungen machten. Lukas’ Klüngelei ärgerte ihn deshalb mindestens ebenso wie Jessy. Energisch griff er nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Augenblicklich fing Lukas an zu kreischen, riss sich von Nils los und lief das Stück zurück zu der Stelle, die sein Interesse geweckt hatte.

Genervt stellte Jessy das Rad ab und ging zu ihm. Da sie mit Druck bei ihm nicht weiterkam, versuchte sie es mit Verständnis. »Was ist denn da?«

»Der Vogel hat gar keine Angst. Er fliegt nicht weg.«

Ein kleiner Spatz saß verängstigt im Geäst der Hecke. Sein Gefieder war zerzaust, vermutlich war er verletzt worden, vielleicht durch eine Katze. Lukas verfügte über ein ausgeprägtes Mitgefühl, vor allem für die schwächeren Zeitgenossen. Aber sie konnten dem Tier jetzt nicht helfen.

»Sicher spürt er, dass du ihm nichts Böses willst. Deshalb fliegt er nicht weg.«

»Darf ich ihn mitnehmen?«

»Ja, aber nicht jetzt. Erst nach dem Kindergarten.«

»Ich hole dich nachher, kleiner Spatz«, sagte er zu dem Vogel, winkte ihm zu und kam dann brav mit.

Der Blick auf die Uhr verriet Jessy, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würde. Es war ja nicht so, dass sie ihre Geschwister nicht gernhatte, aber sie wollte sich auch nicht ständig um sie kümmern müssen, sie hatte doch auch ihr eigenes Leben. Warum konnte Nils nicht allein zur Schule gehen? Er war acht! Mit acht Jahren war sie längst allein gegangen. Aber Annette ängstigte sich um ihre Kleinen und wurde von Jahr zu Jahr ängstlicher. Solange er die Grundschule besuchte, sollte er gebracht und abgeholt werden. Der nächste war dann Lukas, den Jessy bringen musste, und dann kam Laura an die Reihe.