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Ein Lustspiel? Ein Traumspiel? Ein Singspiel? Ein Expeditionsbericht? Eine Live-Reportage? Eine Hintertreppengeschichte? Am Ende doch noch einmal ein Drama?
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Seitenzahl: 125
Peter Handke
Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land
Suhrkamp Verlag
für Ferdinand Raimund, Anton Tschechow, John Ford und all die anderen
»Die Pilger gingen sehr nachdenklich dahin … Diese Pilger schienen mir von weit zu kommen«
Dante, Vita Nova
EIN MAUERSCHAUER
EIN SPIELVERDERBER
EIN JUNGER SCHAUSPIELER
EINE JUNGE SCHAUSPIELERIN
EIN ALTES PAAR
PARZIVAL
EIN EINHEIMISCHER, in verschiedenen Spielarten
Die Szenenangaben sind nicht immer unbedingt Szenenanweisungen.
Die Bühne ist ein Plateau mittenhinten im hintersten Kontinent, probenhell, leer, still, leicht ansteigend wie zu einer Klippe. Dort wird jetzt, klammernd und Halt suchend, ein Händepaar sichtbar. Von der Seite tritt, wie vom Haus auf die Straße, der Mauerschauer auf, ein Mann in mittleren Jahren, leicht gekleidet, im Aufbruch begriffen, als Reisegepäck nichts als Kamm und Zahnbürste, die er sich gerade oben in die Jacke steckt. Schon nach ein paar Schritten, unter denen er sich immer wieder um sich selbst gedreht und umgeblickt hat nach seinem Ausgangsort, ist er unterwegs in der Weite, mit Wind unter den Achseln, erhobenen Hauptes, im Schlendergang. Auf die Halt suchende Bewegung im Bühnenhintergrund wird er aufmerksam, weil dort inzwischen nur noch eine Hand ist. Er hält inne. Als er dann hinläuft, verschwindet auch noch diese eine Hand, wie vom Schüttern seiner Schritte. Wenn es ein Fall ist, so folgen freilich weder Schrei noch Aufprall. Der Mauerschauer tritt an den Klippenrand, schnellt zurück, hockt sich nieder, bedeckt sich mit dem weiten Ärmel seiner Windjacke das Gesicht und bleibt regungslos.
Von einer anderen Seite kommt nun, wie auf der Flucht, keuchend, mit dem letzten Atem, derSPIELVERDERBERgerannt, ebenfalls ein Mann in mittleren Jahren, der sich im Laufen immer wieder umblickt nach seinen Verfolgern und sich dabei die Seiten hält. Endlich, im äußersten Winkel der Bühne, bleibt er stehen, mit hängenden Armen, und Blicken nach allen Seiten, so als stelle er sich, eingekreist. Die Häscher aber erscheinen nicht. Er reckt sich darauf langsam, zieht sich den Reisemantel an, den er bisher über dem Arm hatte, setzt sich nieder und streckt die Beine aus, mit Augen, die nichts tun als auszuruhen vom Fluchtweg.
Auftreten nun, ohne daß die beiden Erstankömmlinge sie wahrnehmen, aus verschiedenen Richtungen derJUNGE SCHAUSPIELERund dieJUNGE SCHAUSPIELERIN. Er kommt daher mit einer Sonnenbrille, müde, wachsam, wie von einer Probe, während sie dahin unterwegs ist: die Augen zum Horizont gerichtet, die eine Hand auf der anderen Schulter, im schwingenden Kleid weitausgreifende Schritte, als ginge sie über die Hügel jemandem entgegen. Gleich wird sie die Frau des Bäckers oder die ländliche Verlobte sein, während der junge Schauspieler noch halb in der Rolle des Aufrührers, des Menschenfeindes oder des zum Tode Verurteilten ist, mit einem Stück des entsprechenden Kostüms. Sowie sie, ein jeder aus seiner Gasse gebogen, einander ansichtig werden, ist es der Augenblick, auf den sie seit jeher gewartet haben. Sie brauchen nicht aus ihren Rollen zu fallen; diese bekommen nur, mit einem leichten Ruck, einen anderen Zug. Zu ihrem Mienenspiel eines verliebten Landmädchens tritt Ernst, und seine Fechtergesten eines Empörers verlangsamen sich zu nach ihr sich ausstreckenden Armen. Danach das Stocken: Sie läßt sich, abgewandten Gesichts, auf der Stelle nieder, und er, nachdem er hin und her Umwege bis an die Ränder des Plateaus unternommen hat, setzt sich im Abstand zu ihr, auch er mit abgewendeten Augen.
Auftritt nun dasALTE PAAR, hintereinander in unbeholfenem Lauf, beide mit den Händen voraus in die Szene fuchtelnd. Die alte Frau hat eine große Handtasche in der einen Armbeuge, und der alte Mann zieht einen mächtigen, dabei leicht wirkenden Überseekoffer hinter sich her. Sie haben offensichtlich ein Fahrzeug erreichen wollen, das ihnen vor der Nase wegfährt. Die beiden tragen die dunklen Feiertagskleider von Leuten, die sich ihr Leben lang fast nur im Arbeitsgewand bewegt haben, und wirken darin umso festlicher; heute hätten sie einmal frei sein können, außer Dienst. Jetzt jedoch gehen sie gesenkten Kopfes, auch sie ohne Augen für die übrigen, mit ihren Sachen zur Seite und sinken nieder, auf die Knie, dann auf die Fersen. Die Alte hält sich das Tuch, mit dem sie versucht hat, Zeichen zu geben, vor das Gesicht, der Alte, die Hände auf den Knien, wiegt sich vor und zurück.
Zuletzt erscheint, im Rückwärtsgang, auf der Bühne nochPARZIVAL, immer wieder einhaltend, dabei einen wie trotzigen Schritt zu seinem Ausgangsort andeutend, und doch stetig davon weiter wegweichend ‒ so als sei er gerade irgendwo in der Wildnis ausgesetzt worden und werde, vielleicht mit einer Waffe, weggescheucht. Er ist der jüngste auf dem Plateau, fast noch ein Kind, kurzgeschoren, mit zerrissenem Zeug, barfuß. Wie endgültig ausgestoßen, hoppelt er im letzten noch freien Winkel der Bühne im Kreis, schlägt dabei den Kopf erst gegen die Knie und dann, zu Boden gestürzt, gegen die Planken, Speichelfluß aus dem Mund.
Jetzt ertönt ein sonores Signal, fein, aber weithin, ein langgezogener, der tiefstmögliche aller Töne, allesdurchdringend, und nach einer Pause, in der jede Gestalt auf der Bühne, auch Parzival, reglos wurde und aufhorchte, ein zweites und ein drittes Mal, etwas wie ein Nebelhorn oder das Pfeifen aus dem Innern einer altertümlichen Lokomotive oder das Abfahrtstuten einer Fähre an einer Meeresstraße. Danach in der Stille bemerken die sieben einander, und sofern sie nicht schon stehen, erheben sie sich. Koffer und Tasche werden wieder aufgenommen, und die Bühne wird dunkel.
Eine Biegung weiter im Hinterland, mit einer Zwergkiefer, oben auf einer Anhöhe. Man lagert da zu siebt, die beidenALTENauf Klapphockern, neben sich Tasche und Überseekoffer. Weiterhin Stille und das helle Plateaulicht, oder das Licht auf ersten Proben. DieJUNGE SCHAUSPIELERINschminkt sich ab. DerJUNGE SCHAUSPIELERläßt seinen Kostümteil verschwinden.
DER MAUERSCHAUER
kämmt sich die windzerzausten Haare, beschattet sich mit der einen Hand die Augen, blickt zum Raum hinaus und streckt die andere Hand vor: Schaut doch, wie schön! Es ist gerade Frieden hier im Hinterland, und darum kann ich das sagen. Ich bin wohl zum Rühmen geboren, denn nichts andres in mir hat Stimme. Was sonst noch aus mir kommt, bleibt tonlos, oder wird schrill. ‒ Aber warum fällt mir das Schönfinden heutzutage schwerer und schwerer? Warum habt ihr Früheren einfach sagen können: Empor die Herzen! oder: Heilige Salzflut! oder bloß: Erde! Sonne! oder das Allereinfachste: Zeit genug!? Und warum habt ihr die nach euch noch segnen können? Und warum werde ich mit jedem Schritt weiter wegverschlagen von euch und kann so auch nichts überliefern von eurem Segen an unsere Kinder hinter dem Horizont, die sich dort ahnungslos über dem Abgrund bewegen? Im voraus sehe ich schon euer jähes Entsetzen und höre euer Rufen nach uns, die wir nichts für euch tun können werden. In meinen Ohren schon euer Aufschrei, und vor euch noch die Hügel mit einem Rauschen, das wie aus den Hügeln selber kommt. Er geht mit dem Arm den Wellen der fernen Hügel nach.
DER SPIELVERDERBER
wickelt sich frierend in seinen Mantel: Und an den Hügeln unter den Bäumen die Jäger. Und sie pirschen sich nicht mehr wie früher an ihre Beute, sondern kommen dahergeprescht mit den Jeeps auf den Forststraßen, haben schon gestoppt und feuern durch die offenen Scheiben, auf keinen Löwen oder Bären, nein, auf die Eichhörnchen, die noch einmal hochaufspringen, und haben die kleinen Kadaver schon verstaut und brausen, nachdem sie in Reih und Glied rasch an die Jeepreifen gepißt haben, weiter zum nächsten Abschuß; und wenn du eine Sekunde danach an den frischen Schlachtplatz trittst, glänzt da kein Tropfen Blut, fliegt in deinem Hügelwind kein Fellfetzen, triffst du auf keinen Rindensplitter, nicht einmal einen brenzligen Geruch oder, wie sagt man heutzutage?, eine Restwärme: nichts als der unversehrte Baum, das ungekrümmte Waldgras und das unmenschliche Rauschen. ‒ Und unseren Kindern sind du und ich doch längst aus dem Sinn. Selbst wenn sie uns täglich vor Augen hätten, wären wir für sie, wenn schon nicht lästig, im Bestfall »Ach der«, bei dessen bloßem Anblick sie das große Gähnen befällt, und würden wir, so verlassen sie vielleicht auch sein mögen, uns bei ihnen melden, so folgte auf die erste Freude des »Wer kann das für mich sein?« das enttäuschte »Ach du«, »Aha, der«. Unsere Kinder wollen zwar beschützt oder gerettet werden, aber um Himmels willen nicht von uns. Daß sie in der Todesnot nach uns schreien, ist bloßer Reflex. Sogar in ihren Träumen sind wir aus dem Spiel und werden ihnen in ihre Augen erst wieder blicken nach unserem Tod. ‒ Und diejenigen vor uns, die für dich die edlen Alten waren? Schon richtig vielleicht, daß sie ein Herz zu rühmen hatten, nicht nur, wenn es um einen Sieger ging, und nicht nur, weil sie die Diener eines Gottes oder Fürsten waren und dafür belohnt wurden. Ob aber nicht, wenn ihr Ton unters Volk kam, sie selbst sich nun als die Sieger fühlten und am Ende gewiß waren, zum Preis des Daseins ein für allemal das Gültige gesagt zu haben, und wie jeder Sieger nur noch sich selber kannten, gegen uns Nachfahren ertaubt in Gleichgültigkeit, dem Gegenteil von deinem Segnen? »Zeit genug«, ja. Aber ob nicht die Alten, die so herrscherlich sich die Zeit herausnahmen, unsereinem eben dadurch keine Zeit mehr übrigließen? Schaut doch und seht dort draußen auf der Landstraße den riesenhaften Hundertjährigen gehen, die Hand scheinbar begütigend auf der Schulter seines kleinen Isaak, den er in Wahrheit wieder neu zur Schlachtstätte bringt. Er wendet sich an seine offene Hand. Oder was meinst du, Tierchen da? Ob ich mich täusche? Ob der Greis mit der schweren Hand auf der Schulter des Burschen einfach nur blind ist und sich ein wenig spazierenführen läßt? Doch Zeit genug noch für uns? Ob ein blindgewordener Bauer mit seinem Enkel bloß eine Felderbegehung macht? ‒ Schaut her, das Tier hat aufgehört zu krabbeln und hebt den Kopf. Es wittert. Eine Frage genügt, und schon wittert es. ‒ So frage ich dich weiter, mein Tierchen: Ob es bald wärmer wird? Was machst du heute abend? Wo wirst du im Winter sein? Wo warst du im Krieg? Wo ist deine Mutter? Wo ist dein Kind? ‒ Schaut, es wendet sich tatsächlich um nach seinen Anverwandten! ‒ Ist das hier deine Erstgestalt, Tier, oder hast du dich schon einmal verwandelt? Und in was werden wir hier uns noch im Verlauf der Begebenheiten verwandeln? Der da aus dem fußkranken Idioten in den Wunderläufer? Die da aus einer, die all die vergangenen Nächte die Hände zwischen den Schenkeln stecken hatte, in eine, die in der kommenden Nacht die Arme um den da schlingt? Die beiden Alten da mit ihren Sorgenmienen in einen Bergdoppelkopf mit zufrieden grinsenden Buddhagesichtern? Der da mit seiner ewigen Vorläufigkeit zu einem mit festem Wohnsitz, der sein Heil nicht mehr sucht im Aufbruch, sondern wie der alte Sultan an Ort und Stelle im Schoß der jungen Geliebten? ‒ Und sag zuletzt auch mir, mein Handorakel, ob im Verlauf der Begebenheiten der Flüchtling, der ich seit jeher bin, der mit den Augen, die sich nie recht zu schließen wagen, der zusammenfährt, wenn vor ihm auch nur ein Spatz aufschwirrt, der ausweicht vor einem Falter im Augenwinkel, der ‒ zwischendurch an die junge Schauspielerin: »Blicken Sie einmal um sich!«, was sie gleich tut ‒ nie in der eben gesehenen Gelassenheit über die Schulter hat blicken können, sondern immer nur so ‒ er zeigt es: sage mir, Tierchen, ob der über Berge und Flüsse Gehetzte hier am Ende in einen verwandelt wird, der im Wald der Jäger, um sich vom Wild unterscheidbar zu machen, endlich laut singen kann, denn er ist für seine, die Menschenjäger, kein Menschenwild mehr? Warum, mein Tier, ist seit je mein erster Impuls, wenn ich einen Menschen sehe, gleichwen: Flucht? ‒ Oder sag uns einfach: Wer ist dein Feind? Oder: Warst du es, das mir diese Löcher in meinen Mantel gefressen hat? Er hält das Ohr an die Hand. Dann in die Runde: Keine Antwort. Gewaltig! Er bläst das Tier von sich.
DAS ALTE PAAR
einander im Sprechen abwechselnd, mit immer wieder sich halb erhebenden Armen, in einem Singspiel: Eigentlich hätte das unsere erste Reise sein sollen. Aber ich wollte ohnehin nicht so recht. Und ich auch nicht. Gemeinsam: Warum hast du mir das nicht gesagt? ‒ Seit dem Krieg habe ich nicht mehr woanders geschlafen als zuhause. Und ich seit damals im Krankenhaus. Immer schon war ich froh, wenn die anderen verreisten und ich der sein konnte, der allein zurückblieb. Ja, und wenn sie mir voll Mitleid zugewinkt hatten und endlich aus dem Blickfeld waren, hat es in mir jedesmal einen Luftsprung getan. Ja, und als einmal der Sohn noch kurz zurück um die Ecke kam, um uns mit einem letzten Wort zu trösten, hat er mich schon gemütlich mit der Zeitung in der Hand gesehen, und mich am Kirschbaum im Garten beim Kirschkernausspucken. Gemeinsam: Äpfel können wir ja beide nicht mehr beißen. ‒ Wie schön wird es rundum im Haus, wenn die anderen gut unterwegs sind und man für sie den Platz hält. Ja, weil sie die unsrigen sind, und ihnen das Haus zu hüten schon ihre Rückkehr vorwegnimmt. Gemeinsam: Jedenfalls für Momente. ‒ Meine Freude war immer schon die, mich mit den Meinen mitzufreuen. Ja, und besonders, wenn sie ihre Freude weit weg von uns erlebten. Wie haben wir ihnen den Glanz der fernen Küsten ausgemalt und sie zu immer neuen Reisen gereizt. Gemeinsam: Und jetzt sind die Rollen vertauscht. ‒ Statt daß ich auf dem Moped mit dem Enkel ein paar Runden drehe, muß er sich von unserm Sohn gerade fragen lassen: Erzähl! Was hast du heute Schönes erlebt? Und statt daß die Enkelin auf meinem Schoß sitzt und mir ihren Traum erzählt, über den wir zusammen lachen und weinen könnten, muß sie gerade lächeln fürs Photographiertwerden. Gemeinsam: