Das Testament der Gräfin - Patricia Vandenberg - E-Book

Das Testament der Gräfin E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Man kann wahrhaftig nicht sagen, daß es in Dr. Nordens Praxis mal eintönig zuging. Fast jeder Tag bescherte einen Fall, der alle Termine durcheinanderbrachte. Man war es gewohnt, und Dr. Daniel Norden hatte ja das Glück, zwei tüchtige Helferinnen zu haben, die sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließen. Freilich war Dorthe Harlings Privatleben auch sehr viel abwechslungsreicher geworden, seit ihre Tochter Jocelyn endlich nach langen Jahren der Trennung zu ihr gekommen war, aber die Anfangsschwierigkeiten waren durch Dorthes Toleranz und mütterliches Einfühlungsvermögen schnell beseitigt worden. Dann war auch bald ein Mann in Jocelyns Leben getreten, durch den frühere Trotzreaktionen schnell in Vergessenheit gerieten, um so mehr sich Jocelyn schuldig fühlte an dem schweren Unfall, der Harald von Winterstein nun schon drei Wochen ans Krankenbett fesselte. Er war von einem Motorrad überfahren worden, als er Jocelyn nachgelaufen war, um Mißverständnisse aufzuklären. Er war lange bewußtlos gewesen und erst seit ein paar Tagen einigermaßen ansprechbar. Jocelyn war immer bei ihm. Wenn er schlief, half sie in der Behnisch-Klinik den Krankenschwestern, die durch einige Grippeerkrankungen reduziert waren. Sie stellte sich auch erstaunlich geschickt an, und so war sie tatsächlich eine echte Hilfe für die Klinik geworden, besonders auch deshalb, weil sie sich überwiegend um Harald von Winterstein kümmerte, der ja für einige Wochen der schwerste Fall in der Behnisch-Klinik gewesen war. Es hatte auf des Messers Schneide gestanden, und auch die Angst, daß eine Querschnittlähmung bleiben könnte, hatte Jocelyn Tag und Nacht verfolgt. Sie war reif geworden in diesen Wochen, völlig verändert in ihrer ganzen Einstellung zum Leben und zu den Männern. Auch die Vergangenheit sah sie nun in einem ganz anderen Licht. Dorthe konnte sich jetzt keine liebevollere Tochter wünschen, und es war doch noch gar nicht so lange her, daß sie als schwierige Tochter angesehen wurde. An diesem Vormittag im November wurde Dr. Norden mal wieder zu einem Notfall gerufen, und dabei ging es in der Praxis auch turbulent zu. »Die Spritzen können Sie geben, Dorthe«, rief er seiner zuverlässigen Helferin zu.

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Dr. Norden Bestseller – 293–

Das Testament der Gräfin

Patricia Vandenberg

Man kann wahrhaftig nicht sagen, daß es in Dr. Nordens Praxis mal eintönig zuging. Fast jeder Tag bescherte einen Fall, der alle Termine durcheinanderbrachte. Man war es gewohnt, und Dr. Daniel Norden hatte ja das Glück, zwei tüchtige Helferinnen zu haben, die sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließen.

Freilich war Dorthe Harlings Privatleben auch sehr viel abwechslungsreicher geworden, seit ihre Tochter Jocelyn endlich nach langen Jahren der Trennung zu ihr gekommen war, aber die Anfangsschwierigkeiten waren durch Dorthes Toleranz und mütterliches Einfühlungsvermögen schnell beseitigt worden.

Dann war auch bald ein Mann in Jocelyns Leben getreten, durch den frühere Trotzreaktionen schnell in Vergessenheit gerieten, um so mehr sich Jocelyn schuldig fühlte an dem schweren Unfall, der Harald von Winterstein nun schon drei Wochen ans Krankenbett fesselte. Er war von einem Motorrad überfahren worden, als er Jocelyn nachgelaufen war, um Mißverständnisse aufzuklären. Er war lange bewußtlos gewesen und erst seit ein paar Tagen einigermaßen ansprechbar.

Jocelyn war immer bei ihm. Wenn er schlief, half sie in der Behnisch-Klinik den Krankenschwestern, die durch einige Grippeerkrankungen reduziert waren. Sie stellte sich auch erstaunlich geschickt an, und so war sie tatsächlich eine echte Hilfe für die Klinik geworden, besonders auch deshalb, weil sie sich überwiegend um Harald von Winterstein kümmerte, der ja für einige Wochen der schwerste Fall in der Behnisch-Klinik gewesen war.

Es hatte auf des Messers Schneide gestanden, und auch die Angst, daß eine Querschnittlähmung bleiben könnte, hatte Jocelyn Tag und Nacht verfolgt.

Sie war reif geworden in diesen Wochen, völlig verändert in ihrer ganzen Einstellung zum Leben und zu den Männern. Auch die Vergangenheit sah sie nun in einem ganz anderen Licht.

Dorthe konnte sich jetzt keine liebevollere Tochter wünschen, und es war doch noch gar nicht so lange her, daß sie als schwierige Tochter angesehen wurde.

An diesem Vormittag im November wurde Dr. Norden mal wieder zu einem Notfall gerufen, und dabei ging es in der Praxis auch turbulent zu.

»Die Spritzen können Sie geben, Dorthe«, rief er seiner zuverlässigen Helferin zu. »Und Franzi kann die Verbände wechseln. Schauen Sie ihr ein bißchen auf die Finger.«

Franzi war noch Auszubildende, aber sie war schon so weit, daß man ihr gar nichts mehr zu sagen brauchte. Nur, wenn es schlimme Wunden waren, die es zu verbinden galt, wurde es ihr manchmal flau. Aber das mußte sie auch überwinden lernen.

Die Patientin Greindl bekam jeden zweiten Tag eine Injektion, und sie meckerte auch nicht, wenn diese von Dorthe ausgeführt wurden, aber sie hatte es nicht gern, wenn der Doktor aus der Praxis weggerufen wurde.

»Wenn ihm nun mal was passiert unterwegs«, sagte sie, »was wird dann? Und er hat doch auch eine Frau und Kinderchen. Sie haben doch sicher gelesen, daß neulich erst ein Arzt überfahren worden ist, weil er bei einem Unfall helfen sollte.«

»Malen Sie doch nicht den Teufel an die Wand«, sagte Dorthe heftig.

»Das will ich doch gar nicht, Frau Dorthe«, sagte Frau Greindl gleich entschuldigend. »Aber unser Doktor ist immer so hilfsbereit, wo gibt es denn noch solche Ärzte? Die kann man doch mit der Lupe suchen, da wünscht man ihm schon einen Schutzengel.«

Den konnte Daniel Norden an diesem Tag allerdings brauchen. Die Straßen waren glatt, der Nebel wollte sich nicht lichten, und dadurch war auch der Unfall passiert, an dem eigentlich niemand schuld war als das Wetter.

Vorsichtig waren sie alle gefahren, die da im Straßengraben lagen, aber nachdem der erste Wagen durch die plötzliche Vereisung ins Schleudern gekommen war, weil er noch Sommerreifen drauf hatte, waren die darauffolgenden drei Wagen beim Bremsen in den Graben gerutscht. Ihnen war nicht viel passiert, aber aus dem zweiten Wagen, ausgerechnet ein Taxi war es, zog man eine alte Dame, die nicht schwer verletzt war, aber einen Herzanfall erlitten hatte.

Sie hatte eine Karte von Dr. Norden in der Tasche gehabt und einen Gesundheitspaß. Es war die Gräfin Roswitha von der Lohe, die Dr. Norden schon viele Jahre betreute, und die in letzter Zeit noch eine ganz besondere Bindung an Dr. Norden gefunden hatte, weil sie seit zwei Jahren auch in Schloß Steinbreck wohnte, wo auch Harald von Winterstein seine Wohnung hatte. Außerdem war sie mit der Gräfin Georgine Sollinka befreundet, die nun auch zu Dr. Nordens Patientinnen gehörte.

Alles wegen Harald, hatte Dorthe gesagt, als die Baronin eines Tages in der Praxis erschien. Aber gram sein brauchten sie deswegen nicht, denn es waren ganz reizende Patientinnen, trotz ihrer erlauchten Namen.

Schloß Steinbreck gehörte zum Besitz der Familie, der die Gräfin Sollinka angehörte, und sie liebte gerade dieses Schloß. Aber sie hätte es nicht halten können, wenn nicht eines Tages der Vater von Harald von Winterstein auf die geniale Idee gekommen wäre, die herrlichen Räume zu Eigentumswohnungen umzugestalten. Billig konnten sie freilich nicht werden, aber in einem solchen Milieu zu leben, ließen sich manche schon einiges kosten. Aber Georgine Sollinka hatte auch Glück gehabt, weil alle, die sich einkauften, auch irgendwie zusammenpaßten. Es waren nämlich Menschen, die nichts so sehr liebten wie ihre Ruhe.

Nachdem Haralds Vater gestorben war und seinem Sohn die Wohnung vererbt hatte, war Harald der jüngste Bewohner des Schlosses, aber er war ja die meiste Zeit unterwegs. Aber wie beliebt er war, auch bei den älteren Damen, stellte sich erst heraus, als er diesen schweren Unfall hatte.

An all dies dachte Dr. Norden aber nicht, als er die Gräfin von der Lohe in die Behnisch-Klinik bringen ließ, denn ihr Zustand war bedrohlich.

Sie hatte ein schwaches Herz. Er hatte sie nicht überreden können, sich einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen.

»Wenn meine Zeit abgelaufen ist, werde ich gehen«, hatte sie gesagt, »aber nicht mit einer Maschine in meinem Körper, die das Ende hinauszögert. Ich werde lange genug leben, und es war über weite Strecken ein freudloses Leben.«

Vielleicht hatte sie sich deshalb auch in eine Traumwelt geflüchtet, von der sie auch Dr. Norden viel erzählt hatte. Von ihrer Jugendliebe, die sie nicht heiraten durfte, von einem Mann, den sie heiraten sollte, der dann aber, als sie noch verlobt waren, im Krieg fiel.

Sie hatte nie geheiratet. Sie hatte mit all ihrem Vermögen in einer Traumwelt gelebt. Zuerst in einer großen Villa, aber als dann ihre Haushälterin gestorben war, hatte sie sich von Georgine Sollinka, mit der sie befreundet war, überreden lassen, ins Schloß zu ziehen, denn dort brauchte sie sich um nichts zu kümmern und wurde bestens versorgt. Aber obgleich sie nun einen viel weiteren Weg zu Dr. Norden hatte, war sie ihm treu geblieben. Er mochte die alte Dame, und wenn manche sagten, daß sie »spinnert« sei, konnte er richtig böse werden. Vielleicht lebte sie in der Welt der Illusion, aber eine solche war ein Reich, aus dem man nicht vertrieben werden konnte.

Nun schien ihr Leben schon zu verlöschen, aber sie kam zu sich, bevor sie die Behnisch-Klinik erreicht hatten.

»Dr. Norden«, flüsterte sie, ohne die Augen aufgeschlagen zu haben.

»Ich bin bei Ihnen«, sagte er.

Ein zitternder Seufzer kam über ihre Lippen. Dann hoben sich die bläulichen Lider etwas.

»Marisa soll kommen, nicht im Stich lassen, bitte«, murmelte sie.

Er brauchte nicht lange zu überlegen. Marisa Rückert war das junge Mädchen, das sich sehr um die Gräfin kümmerte. Sie war als Sozialhelferin tätig, früh verwaist, und Dr. Norden schätzte sie sehr. Die Gräfin hatte ihm zu verstehen geben wollen, daß er Marisa nicht im Stich lassen solle. Sie schien zu ahnen, daß ihre Tage gezählt waren.

Nun waren sie in der Klinik, und sie wurde sogleich vorbildlich versorgt.

Dr. Norden konnte sich nicht lange aufhalten, aber er wußte ja, daß die Gräfin bei den Behnischs bestens versorgt wurde.

Als er ging, traf er Jocelyn, die ihn überrascht anschaute. »Sie hier?« fragte sie mit einem ängstlichen Ausdruck in den Augen.

»Ich habe die Gräfin von der Lohe gebracht, Jocelyn. Ich glaube, Sie sind ihr schon begegnet.«

»Ja, im Schloß, als ich die Sachen für Harald holte«, erwiderte Jocelyn. »Was fehlt ihr?«

Dr. Norden erklärte es ihr rasch. »Würden Sie Frau Rückert benachrichtigen, Jocelyn?« fragte er. »Ich muß in die Praxis.«

»Ich weiß nicht, wo sie zu erreichen ist.«

»Sicher in ihrem Büro.« Er sagte ihr die Telefonnummer. Sie war einfach zu merken. »Wie geht es dem Patienten?« fragte er noch.

»Zum Glück jeden Tag ein bißchen besser«, erwiderte sie.

Er verließ die Klinik nun eilends, und Jocelyn ging zum Telefon.

Marisa war nicht im Büro, aber die Kollegin versprach Jocelyn, sie sofort zu benachrichtigen, wenn sie kommen oder anrufen würde.

Jocelyn ging zu Harald. Er blinzelte. »Ich habe dich schon vermißt«, flüsterte er.

»Ich war aber keine zehn Minuten draußen«, erwiderte sie. »Was hat der Herr für Wünsche?« fuhr sie scherzend fort.

»Nur, daß du bei mir bist.«

Noch vor ein paar Wochen hätte niemand, der Harald von Winterstein kannte, ihm solchen Wunsch zugetraut. Und man hätte es auch nicht vermutet, daß Jocelyn einer aufopfernden Liebe fähig sein könnte.

Sie hatten sich unter Umständen kennengelernt, die ein Kapitel für sich waren.

Jocelyn beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn auf die Stirn. »Ich habe grad Dr. Norden draußen getroffen. Er hat die Gräfin gebracht.«

»Was fehlt ihr?« fragte er.

»Sie hat einen Herzanfall bei einem leichten Unfall bekommen. Sie verlangt nach Marisa Rückert.« Sie sah ihn forschend an. »Kennst du sie näher?«

»Die Gräfin schon. Sie ist ein bißchen spinnös, aber auf eine liebenswerte Art. Sie hat viel durchgemacht im Leben. Frau Rückert habe ich nur ein paarmal flüchtig gesehen. Georgine hält große Stücke auf sie, und sie kümmert sich wohl wirklich rührend um die Gräfin. Sie kränkelt ja schon länger. Aber du weißt ja, daß ich nicht oft im Schloß war. Es wird aber bestimmt anders, wenn ich wieder gesund bin. Meinst du, daß die Wohnung für zwei reicht, Jocelyn?«

»Wie meinst du das?« fragte sie.

»Das weißt du doch genau. Für uns zwei, oder wirst du nein sagen?«

»Jetzt werde erst mal gesund, und dann denkst du vielleicht wieder ganz anders.«

»Nie mehr, und das weißt du auch genau. Reg mich nicht auf, sonst sage ich es dem Doktor.«

»Und der schickt mich gleich fort«, meinte sie hintergründig.

»Du darfst mich nicht verlassen«, sagte er flehend. »Du weißt ja nicht, was ich ausgestanden habe wegen dieser blöden Geschichte.«

»Ich auch, Harald«, sagte Jocelyn. »Es ist schließlich alles durch meinen Leichtsinn ausgelöst worden, und ich bin dafür hart gestraft worden durch deinen Unfall.«

»Das könnte ich doch auch von mir sagen, Liebes. Und im Nachhinein kann man sagen, daß es ein heilsamer Schock für alle Beteiligten war.«

»Besonders für Pascal. Er ist wie ein geprügelter Hund herumgeschlichen«, sagte Jocelyn. »Nun hat Janine ihn halbwegs aufgerichtet. Sie ist wirklich eine großartige Frau.«

»Hast du mit Pascal gesprochen?«

»Über unsere Affäre? Ja, ich habe ihm gesagt, wie töricht ich gehandelt habe, und wie sehr ich es bedaure. Aber ich habe ihm auch gesagt, daß ich nie und nimmer verstehen werde, wie er es fertigbringt, Janine zu betrügen. Er wird es nie mehr tun, davon bin ich überzeugt. Ich habe ihm natürlich auch gesagt, daß er keine Chance bei mir gehabt hätte, wenn ich gewußt hätte, daß er verheiratet ist. Und er hat nicht mal versucht, sich damit herauszureden, daß er mich nur für die Filmrolle haben wollte, was ja wohl letztlich auch den Tatsachen entsprach.«

»Und was sagt deine Mummy jetzt?« fragte er.

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß zwischen uns alles in Ordnung ist und wir uns sehr gut verstehen.«

»Du sagst das nicht nur zu meiner Beruhigung?«

»Mummy wird es dir auch selber sagen, wenn sie dich besuchen darf.«

»Wird sie mich akzeptieren?«

Jocelyn lächelte zärtlich. »Ganz bestimmt. Aber im Grunde denkt sie ganz realistisch, daß ich selbst ja wissen muß, was ich entscheide. Für mich wäre aber vieles anders gekommen, wenn ich mich gleich für sie entschieden hätte, als die Eltern sich trennten. Ich denke, daß ich schon genug Fehler gemacht habe und keine mehr machen sollte.«

»Du darfst ruhig Fehler machen, Lynn«, sagte er zärtlich. »Du darfst mich nur nicht verlassen.«

»Wenn du mich festhältst, verlasse ich dich nicht«, erwiderte sie. »Hast du Schmerzen?« fragte sie ziemlich erschrocken, als er das Gesicht verzog.

»Nein. Ich möchte nur endlich aufstehen können und dich in die Arme nehmen. Aber die kann ich ja nicht mal heben.«

Dafür konnte sie ihm aber die Hände streicheln und auch die Wangen, auf denen die Wunden nun schon abheilten. Ja, es war ein Wunder, daß er lebte, und Jocelyn war für dieses Wunder unendlich dankbar.

Harald schlief wieder ein. Sie blieb noch an seinem Bett sitzen, bis sie hinausgerufen wurde.

Marisa Rückert war gekommen, eine schlanke, blonde junge Frau, keinesfalls auffallend, aber dennoch sehr anziehend wirkend. Wunderschöne violette Augen blickten Jocelyn ängstlich an.

Sie dachte an die erste Begegnung im Schloß. Sie hatte unwillkürlich gedacht, ob das wohl auch eine Bekannte von Harald sei, die sich nach ihm erkundigen wollte, weil sie gerade die Baronin Sollinka gefragt hatte, was denn eigentlich mit Herrn von Winterstein sei.

Jetzt streckte ihr Jocelyn ohne zu zögern die Hand entgegen. »Dr. Norden hat mich gebeten, Sie zu benachrichtigen«, sagte sie.

»Ich weiß gar nicht, worum es geht. Ich konnte noch keinen Arzt sprechen. Sie sind alle beschäftigt. Es ist etwas mit der Gräfin, soviel wurde mir gesagt.«

Jocelyn erklärte es ihr rücksichtsvoll, denn Marisa war sehr verschreckt und gleich ganz blaß geworden.

»Sie hat ein schwaches Herz, das weiß ich«, flüsterte sie. »Darf ich zu ihr? Ich könnte sie pflegen. Ich habe noch drei Wochen Urlaub gut.«

»Wir werden Frau Dr. Behnisch fragen. Ich darf ja auch hier sein und mich um Harald kümmern.«

»Die Baronin hat es mir schon erzählt«, erklärte Marisa. »Und sie wird sich jetzt aufregen über Tante Roswitha. Ich darf die Gräfin so nennen. Sie hat mich darum gebeten«, erklärte Marisa, und feine Röte der Verlegenheit stieg ihr dabei in die Wangen. »Sie hat ja keine Angehörigen mehr, und sie mag mich eben.«

»Was ich sehr gut verstehe«, sagte Jocelyn.

Sie gingen jetzt nebeneinander her. »Es ist ja eigentlich mein Beruf, mich um alte und kranke Menschen zu kümmern«, sagte Marisa verhalten. »Aber bei Tante Roswitha ist es etwas anderes. Für sie habe ich anfangs nur ein paar Auskünfte vom Roten Kreuz besorgt, und so sind wir bekannt geworden. Sie hat mir dann erzählt, warum sie nach einigen Personen forschen ließ. Sie hat mir so leid getan, weil sie in ihren Gefühlen so treu war und niemand da war, der ihr diese Treue danken konnte. Die Baronin ist da ganz anders.«

Sie waren beim Ärztezimmer angelangt, und dort trafen sie Dr. Jenny Behnisch an.

Jocelyn machte Marisa mit der Ärztin bekannt, und erklärte ihr auch, worum es sich handelte.

Jenny Behnisch hatte nichts dagegen einzuwenden, daß Marisa die Patientin betreuen wollte, aber sie sagte nicht, daß dies nur noch für kurze Zeit sein könnte. Sie hatten die Gräfin zwar noch am Leben erhalten können, aber ihr Gesamtzustand ließ kaum Hoffnung zu, daß ihr noch längere Zeit bleiben würde. Das brauchte Marisa jetzt nicht zu wissen.

Vielleicht konnte auch sie Wunder bewirken, denn als sie an das Bett der Kranken trat, schlug diese sofort die Augen auf, und ein heller Schein flog über das zarte Gesicht.

»Marisa, mein liebes Kind«, flüsterte sie. »Es ist schön, daß du da bist, ich habe dir ja noch so viel zu sagen.«

Und dabei war ihre Stimme doch schon schwach, daß Marisa wieder einen ängstlichen Blick zu Jenny Behnisch schickte. Jocelyn hatte das Zimmer schon wieder verlassen.

Jenny nickte Marisa aufmunternd zu, aber leicht fiel ihr das nicht.

Gräfin Roswitha begann wieder zu sprechen.

»Ist Nachricht von Rupert gekommen, Marisa?« fragte sie.

Marisa wußte nicht, was sie erwidern sollte, denn auf dem Amtswege hatte sie in Erfahrung gebracht, daß Rupert Rieding schon vor fünf Jahren verstorben war. Sie hatte nicht gewagt, es der Gräfin zu sagen, und jetzt wagte sie es erst recht nicht.

»Ich habe nur die Nachricht bekommen, daß er verzogen ist, Tante Roswitha«, sagte sie. »Aber du wirst sicher bald Nachricht von ihm bekommen.«

Mit einem in sich gekehrten Blick sah die alte Dame sie an. »Ich werde es nicht mehr erleben, aber du wirst ihm von mir erzählen. Daß ich ihn nicht vergessen habe, daß er meine einzige Liebe geblieben ist. Und ich wünsche dir so sehr, mein Liebling, daß du glücklicher werden kannst. Halte das Glück fest, wenn es dir begegnet, lasse dich nicht beirren!«

Marisa mußte sich tief herabbeugen, um die gehauchten Worte zu verstehen, und ihr traten Tränen in die Augen. Ein heißes Mitgefühl hatte sie mit dieser lieben alten Dame, deren Jugendtraum keine Erfüllung gefunden hatte.

Dr. Norden kam nach der Nachmittagssprechstunde in die Klinik. Die Gräfin schlief, aber für ihn genügte ein langer Blick, daß dies schon ein Dahindämmern war.

Marisa las wohl von seinem Gesicht ab, daß es keine Hoffnung mehr gab für eine Genesung.

»Wird sie sterben?« fragte sie bebend.

»Sie ist sehr schwach«, erwiderte er ausweichend.

»Sie ahnt es wohl«, fuhr Marisa fort. »Sie wartet sehnsüchtig auf eine Nachricht, aber ihr Jugendfreund ist bereits gestorben. Ich mag es ihr nicht sagen.«

Dr. Norden sah die junge Frau nachdenklich an. »Vielleicht gibt es ihr den inneren Frieden, mit ihm im Tode vereint zu sein«, sagte er leise. »Ich weiß, daß sie eine große Liebe hatte. Sie hat viel darüber gesprochen, aber sie hat mit zunehmendem Alter wohl alles in einem immer verklärteren Licht gesehen.«

Marisa nickte. Sie begleitete Dr. Norden aus dem Zimmer, denn sie wollte es nicht riskieren, daß die Gräfin erwachte und hörte, was sie nun sagte.