Das Testament des Satans - Barbara Goldstein - E-Book

Das Testament des Satans E-Book

Barbara Goldstein

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Beschreibung

Eine todbringende Reliquie und die Rache des Engels der Finsternis

1449. Im Auftrag des Papstes sucht die florentinische Buchhändlerin Alessandra d'Ascoli in der Abtei Mont-Saint-Michel nach einer uralten Reliquie: dem Testament des Satans. Ein Mönch wird ermordet, weitere Tote folgen. Sie sind von rätselhaften Zeichen aus Blut umgeben. Sind sie die Opfer des uralten Fluchs, der auf dem Testament liegen soll? In sturmumtoster Nacht entbrennt ein dramatischer Kampf auf Leben und Tod ...

Auch in den folgenden weiteren historischen Romanen von Barbara Goldstein bei beTHRILLED löst Alessandra d'Ascoli spannende Rätsel:

Der vergessene Papst * Der Gottesschrein * Der Ring des Salomo * Das letzte Evangelium.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 594

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Hinweis

Zitat

Vorwort

Prolog

Das erste Siegel

Alessandra - Kapitel 1

Yannic - Kapitel 2

Alessandra - Kapitel 3

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 1

Yannic - Kapitel 4

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 2

Alessandra - Kapitel 5

Yannic - Kapitel 6

Alessandra - Kapitel 7

Yannic - Kapitel 8

Alessandra - Kapitel 9

Yannic - Kapitel 10

Alessandra - Kapitel 11

Yannic - Kapitel 12

Alessandra - Kapitel 13

Yannic - Kapitel 14

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 3

Alessandra - Kapitel 15

Yannic - Kapitel 16

Alessandra - Kapitel 17

Yannic - Kapitel 18

Alessandra - Kapitel 19

Yannic - Kapitel 20

Alessandra - Kapitel 21

Yannic - Kapitel 22

Alessandra - Kapitel 23

Yannic - Kapitel 24

Alessandra - Kapitel 25

Yannic - Kapitel 26

Alessandra - Kapitel 27

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 4

Yannic - Kapitel 28

Alessandra - Kapitel 29

Yannic - Kapitel 30

Alessandra - Kapitel 31

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 5

Yannic - Kapitel 32

Alessandra - Kapitel 33

Yannic - Kapitel 34

Alessandra - Kapitel 35

Yannic - Kapitel 36

Alessandra - Kapitel 37

Yannic - Kapitel 38

Alessandra - Kapitel 39

Das zweite Siegel

Yannic - Kapitel 40

Alessandra - Kapitel 41

Yannic - Kapitel 42

Alessandra - Kapitel 43

Yannic - Kapitel 44

Alessandra - Kapitel 45

Yannic - Kapitel 46

Alessandra - Kapitel 47

Yannic - Kapitel 48

Alessandra - Kapitel 49

Yannic - Kapitel 50

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 6

Alessandra - Kapitel 51

Das dritte Siegel

Yannic - Kapitel 52

Alessandra - Kapitel 53

Yannic - Kapitel 54

Das vierte Siegel

Alessandra - Kapitel 55

Yannic - Kapitel 56

Alessandra - Kapitel 57

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 7

Das fünfte Siegel

Yannic - Kapitel 58

Alessandra - Kapitel 59

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 8

Yannic - Kapitel 60

Alessandra - Kapitel 61

Yannic - Kapitel 62

Alessandra - Kapitel 63

Yannic - Kapitel 64

Alessandra - Kapitel 65

Yannic - Kapitel 66

Alessandra - Kapitel 67

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 9

Yannic - Kapitel 68

Alessandra - Kapitel 69

Yannic - Kapitel 70

Alessandra - Kapitel 71

Das sechste Siegel

Yannic - Kapitel 72

Alessandra - Kapitel 73

Yannic - Kapitel 74

Alessandra - Kapitel 75

Yannic - Kapitel 76

Alessandra - Kapitel 77

Yannic - Kapitel 78

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 10

Alessandra - Kapitel 79

Das siebte Siegel

Yannic - Kapitel 80

Die Schalen des Zorns

Alessandra - Kapitel 81

Yannic - Kapitel 82

Der Hüter des Erzengels - Intermezzo 11

Alessandra - Kapitel 83

Yannic - Kapitel 84

Alessandra - Kapitel 85

Yannic - Kapitel 86

Das letzte Gericht

Alessandra - Kapitel 87

Yannic - Kapitel 88

Alessandra - Kapitel 89

Yannic - Kapitel 90

Alessandra - Kapitel 91

Das himmlische Jerusalem

Alessandra - Epilog

Dramatis Personae

Glossar

Was wollte Padric sagen, bevor er starb?

Über das Buch

Eine todbringende Reliquie und die Rache des Engels der Finsternis 1449Im Auftrag des Papstes sucht die florentinische Buchhändlerin Alessandra d’Ascoli in der Abtei Mont-Saint-Michel nach einer uralten Reliquie: dem Testament des Satans. Ein Mönch wird ermordet, weitere Tote folgen. Sie sind von rätselhaften Zeichen aus Blut umgeben. Sind sie die Opfer des uralten Fluchs, der auf dem Testament liegen soll? In sturmumtoster Nacht entbrennt ein dramatischer Kampf auf Leben und Tod …

Über die Autorin

Barbara Goldstein, geb. 1966, arbeitete zunächst in der Verwaltung von Banken und nahm dann ein Studium der Philosophie und der Sozialen Verhaltenswissenschaften auf. Später machte sie sich als Autorin historischer Romane selbstständig und nahm ihre Leser mit in die Welt von Alessandra d’Ascoli, einer florentinischen Buchhändlerin. Barbara Goldstein verstarb im März 2014 nach langer Krankheit.

Barbara Goldstein

DASTESTAMENTDES SATANS

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2013/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Lutz Steinhoff, München

Titelillustration: © Christina Seitz, Berkheim

Umschlaggestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Nomas_Soul | BusinessIllustrator | HQ Vectors Premium Studio | Michaela Stejskalova | Evdokimov Maxim

Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5300-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Ein Verzeichnis der handelnden Personensowie ein Glossar finden sich am

Und es entstand ein Kampf im Himmel:Der Erzengel Michael und seine Engel kämpften mit Satan,dem Verführer der Welt,der mit seinen Engeln auf die Erde geworfen wurde.Und sie haben ihn besiegt …

Apokalypse des Johannes

Seit hundert Jahren tobt ein erbitterter Krieg zwischen England und Frankreich. Der König von England herrscht über ein Drittel Frankreichs, den Südwesten und den Nordosten. Nach der Schlacht von Azincourt, wo das französische Heer 1415 vernichtet wird, erobern die Engländer die gesamte Normandie – bis auf den Mont-Saint-Michel.

Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Troyes trägt der englische König auch die Krone von Frankreich. Der Dauphin Charles ist entmachtet. Der Abt des Mont-Saint-Michel, Robert Jolivet, begibt sich 1420 nach Rouen in die Normandie, um sich dem englischen König zu unterwerfen. Die Mönche der Abtei halten jedoch dem Dauphin die Treue und bezeichnen ihren Abt als Verräter.

Pilgerfahrten zum Mont werden von der Besatzungsmacht untersagt. 1424 beginnen gleichzeitig eine Belagerung durch die englischen Garnisonen von der Küste aus und eine Seeblockade mit zwanzig Schiffen. Der Erzengel Michael und sein Sanktuarium auf dem Mont-Saint-Michel werden zu einem Symbol des französischen Widerstands gegen die Engländer.

Ein Jahr später ernennt der Dauphin Louis d’Estouteville zum Kommandanten des Mont. Mit seinen hundertneunzehn Rittern hält er den englischen Angriffen jahrelang stand. Trotz der Belagerung ist es möglich, den Mont bei Ebbe zu betreten und zu verlassen, weil die Flut mit ihrer reißenden Strömung und dem gewaltigen Tidenhub eine vollständige Absperrung unmöglich macht. Die Belagerten, vom Meer aus mit Vorräten versorgt, liefern den Engländern, die sich auf der zwei Meilen entfernten Insel Tombelaine festgesetzt haben, blutige Gefechte. 1434 wagen die Engländer mit einer gewaltigen Streitmacht einen Angriff, bei dem das Dorf unterhalb der Abtei zerstört wird. Sie werden jedoch von Louis d’Estouteville derart vernichtend geschlagen, dass – so ein Chronist – ›das gesamte englische Heer tot auf dem Watt liegen blieb‹.

Nach dem Tod von Jeanne d’Arc, deren Siege Charles VII. zum König von Frankreich machten, leistet der Mont-Saint-Michel noch immer erbitterten Widerstand. König Henry VI. ist davon überzeugt, nicht gegen Louis d’Estouteville und seine Ritter zu kämpfen, sondern gegen den Erzengel Michael und seine himmlischen Heerscharen. Seit jener Zeit wird Saint-Michel nicht mehr im strahlend weißen Gewand dargestellt, sondern mit Helm, Harnisch und flammendem Schwert …

Prolog

In der Abteikirche des Mont-Saint-Michel11. Juni 1449Gegen vier Uhr morgens

»Segnet mich, Pater«, flüstert die Gestalt, die sich zitternd vor Angst in die Dunkelheit zwischen den Säulen drückt. »Ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Ich muss beichten. Jetzt gleich.« Die Stimme klingt gepresst. Atemlos und gehetzt.

Beunruhigt rafft der alte Mönch seinen schwarzen Habit und beugt sich vor, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. Der fällt vor ihm auf die Knie und reckt ihm flehend die zum Gebet gefalteten Hände entgegen. Das Gesicht liegt im Schatten, doch der Mönch erkennt die Stimme wieder. Es ist Vittorino da Verona, der vor einigen Tagen im Auftrag des Papstes zum Mont-Saint-Michel gekommen ist. »Deswegen habt Ihr mich um vier Uhr morgens aus dem Bett gezerrt?«, murmelt er unwillig. »Kann die Beichte nicht bis nach der Prim warten?«

»Nein, Pater!« Von Entsetzen ergriffen sieht Vittorino vom verriegelten Holzportal bis zur aufgemauerten Wand am anderen Ende des Hauptschiffs, die den vor Jahren eingestürzten Chor mit der darunterliegenden Krypta verbirgt. Durch die Zerstörung des Altarraums und die Errichtung jener Wand aus schimmerndem graurosa Stein wirkt die Kirche auf erschreckende Weise wie … ja, wie enthauptet.

Keine Kerze erhellt den Altar aus Stein, der an die Dolmen erinnert, die wuchtigen Steintische an der bretonischen Küste. Auch durch die bunten Glasfenster oberhalb der Säulen der Seitenschiffe, die Szenen des apokalyptischen Kampfes des Erzengels Michael gegen den Satan darstellen, fällt kein Licht. Durch die beiden offenen Fenster, die beim Einsturz des Chors zerborsten sind, wabern Nebelfetzen in die Kirche – geisterhafte Abbilder des Erzengels, der nachts in seiner Kirche als Feuersäule irrlichtern soll. Vittorino senkt schaudernd den Blick. Père Corentin de Sévérac hat ihm gestern anvertraut, dass der Erzengel diejenigen mit Feuer und Schwert bestraft, die sich gegen ihn versündigen …

»Eine Beichte um diese Zeit, mitten in der Nacht?« Obwohl eine schwarze Ledermaske sein Gesicht verhüllt, zieht der Mönch sich die Kapuze über den Kopf. »Seid Ihr in Todesgefahr?«

Wieder wirft Vittorino einen Blick über die Schulter, seine vor Entsetzen aufgerissenen Augen blitzen auf. Das nachdrückliche Nicken kann der bretonische Mönch nur erahnen. »Erteilt mir die Absolution, Pater. Jetzt gleich.« Die Stimme senkt sich zu einem atemlosen Flüstern. »Satan verfolgt mich.«

Monseigneur Saint-Michel, Erzengel Gottes!, fleht der maskierte Mönch erschüttert. Seit er vor drei Tagen auf dem Mont-Saint-Michel angekommen ist, hat Vittorino die Abtei und ihre berühmte Bibliothek erforscht. Codices, Schriftrollen und Manuskripte bis zum letzten Fetzen Pergament. Hat er das Buch der Geheimnisse des Satans gefunden? Und seine verborgenen Rätsel entschlüsselt?

Erschrocken ringt der Pater nach Atem, als er den Schemen bemerkt, der hinter Vittorino lautlos die Stufen von der Krypta heraufkommt und zwischen den Säulen verschwindet.

Ma Doue – mon Dieu, er hat es tatsächlich geschafft!, denkt der Pater traurig und verbirgt seine zitternden Hände in den weiten Ärmeln der schwarzen Kukulle, eines wallenden Mantels, den er über seinem Benediktinerhabit trägt. Wird das Morden denn niemals enden?

Er sinkt auf die Knie. Die Kälte des Steinbodens dringt durch den dicken Wollstoff. Der Felsen, auf dem die Kirche genau an der Stelle errichtet worden ist, wo der Erzengel den Teufel besiegte, fühlt sich fest und unverrückbar an. Ein leichter Weihrauchduft weht von der Krypta herauf in die Kirche. Und noch etwas anderes glaubt er zu riechen. Etwas Metallisches. Wie Kupfer auf der Zunge schmeckt. Es ist Blut.

Der maskierte Mönch schließt die Augen und bereitet sich auf seine Aufgabe vor – seine Berufung durch Saint-Michel. Er zieht seinen Rosenkranz vom Gürtel und lässt die Perlen durch seine zitternden Finger gleiten.

Vittorino bekreuzigt sich. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Der bretonische Mönch atmet tief durch und blickt über Vittorinos Schulter auf den Schatten, der sich langsam nähert. »Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke Euch wahre Erkenntnis Eurer Sünden und seiner Barmherzigkeit.«

»Amen.«

»Bekennt nun Euren Frevel, Monseigneur.«

Stockend beginnt Vittorino da Verona zu sprechen. Der Papst habe ihn, den Leiter des päpstlichen Geheimarchivs im Vatikan, zum Mont-Saint-Michel entsandt. Um die Morde aufzuklären. Und um das Testament des Satans zu finden.

Also doch! Der Mönch keucht vor Entsetzen. Seine Bestürzung muss er nicht heucheln. Sein Blick huscht hinüber zu dem Schatten, der jetzt das Hauptschiff durchquert. »Das Testament des Satans?«

Mit gepresster Stimme berichtet Vittorino, was er getan hat.

Während der Pater den erschütternden Worten lauscht, glaubt er, sein Herz müsse stehen bleiben. Vittorino hat den Kodex des Teufels gefunden. Und das darin enthaltene Rätsel entschlüsselt. Er hat … Dieu soit avec nous – Gott steh uns bei! … Er hat den Schrein entdeckt.

Was Vittorino getan hat, ist die unheilvollste und gefährlichste Sünde, die der Pater sich vorstellen kann. Eine Todsünde, bei der selbst Gott zögern würde, ihn davon zu erlösen. Ein Frevel, der mit einem schrecklichen Tod bestraft wird.

Aufgewühlt wartet Vittorino auf die Absolution.

Der alte Priester schweigt mit gesenktem Blick, traurig, zornig. Er kann nicht sprechen.

Ein Keuchen entringt sich Vittorinos Kehle. »Pater?«

Wie erstarrt kniet der Benediktiner auf den Steinfliesen der Abteikirche. Langsam schüttelt er den Kopf. Dann bekreuzigt er sich. Er kann Vittorino seinen gottlosen Frevel nicht vergeben. Er kann das ›Ego te absolvo‹ nicht sprechen.

Aus den Augenwinkeln nimmt er wahr, dass die schwarze Gestalt in den Schatten des Seitenschiffs verschwindet.

Vittorino sieht den Pater an und nickt. »Miserere mei Deus. Gott sei mir gnädig.« Mit einem verzweifelten Blick auf den Mönch springt er auf und flüchtet aus der Kirche.

Der Schatten nähert sich und bleibt vor dem Mönch stehen. Der kommt ächzend auf die Beine und streicht seine Kukulle glatt.

»Er hat den Schrein gefunden«, flüstert der Hüter der Lade trotz des nächtlichen Schweigegebotes nach der Komplet. Sein Gesicht ist blutüberströmt, sein Habit mit Staub bedeckt.

»Du bist verletzt, Bruder.«

Der Hüter winkt ab und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Er hat mich niedergeschlagen, als ich ihn überraschte, wie er sich über die geöffnete Lade beugte.«

»Er hat das Testament des Satans gesehen?«

»Ja.«

Der maskierte Mönch knirscht mit den Zähnen. »Gott verfluche ihn!«

»Was geschehen ist, tut mir leid«, murmelt der Hüter.

»Schon gut, Bruder.« Nach kurzem Zögern fügt der Pater hinzu: »Er kann uns nicht entkommen.«

»Du willst …?« Der Hüter der Lade spricht das Schreckliche nicht aus.

»Weißt du, wie zwei Menschen ein schreckliches Geheimnis bewahren?«, fragt der Pater. »Einer von ihnen muss sterben.«

»Aber er ist ein Gesandter des Papstes! Seine Heiligkeit wird uns exkomm …«

»Papst Nikolaus ist in Rom. Und Rom ist weit.«

»Und unser Abt? Wenn Kardinal d’Estouteville herausfindet, dass Vittorino spurlos verschwun …«

»Guillaume d’Estouteville will Papst werden. Er kann sich einen Skandal wie einen Mord auf dem Mont-Saint-Michel nicht leisten. Wie bei den anderen wird es keine Nachforschungen geben.« Der Pater atmet tief durch unter seiner Ledermaske. »Sieh nach dem Buch der Geheimnisse, Bruder. Es darf nicht entdeckt werden. Dann kehre in die Krypta zurück. Ich muss tun, was ich tun muss. So wie du.«

Der Hüter nickt. »Es ist mir eine Ehre, der Bruderschaft zu dienen.« Ermutigend legt er dem alten Bretonen die Hand auf die knochige Schulter. »Unsere Mission ist heilig, denn wir dienen Gott. Wir sind die Heerschar, die auf Erden für den Herrn kämpft. Wir sind auserwählt, denn wir beschützen die Welt vor der Inkarnation des Bösen und reinigen sie von der Sünde, damit das Tausendjährige Reich Jesu Christi kommen kann. Das Königreich der Himmel ist nah!«, flüstert er eindringlich. »Que l’archange soit avec toi, mon frère! Der Erzengel steh dir bei, mein Bruder!«

Verzweifelt hetzt Vittorino durch den nebelverhangenen Kreuzgang zum Lavatorium im Schatten der Arkaden und spritzt sich kaltes Wasser ins schweißüberströmte Gesicht. Mit dem Ärmel seiner Robe wischt er es ab. Dass er dadurch das Blut des Hüters auf seiner Stirn verteilt, bemerkt er nicht. Er presst die Hände gegen seine bebenden Lippen. Seine beim Aufbrechen des Reliquienschreins abgebrochenen Fingernägel graben sich ihm schmerzhaft ins Gesicht.

Seit wie vielen Jahren wurde die Lade mit dem schrecklichen Vermächtnis Satans nicht geöffnet? Seit wie vielen Jahrhunderten wurde dieses Gegenstück zur Bundeslade in der uralten Krypta unter der Kirche verborgen? Vittorino fröstelt trotz der feuchtwarmen Nebelnacht. Jene Felsengrotte unter der unterirdischen Kapelle, die einem bretonischen Megalithgrab oder einem archaischen Tempel ähnelt, war ihm vorhin wie der Eingang zur Hölle erschienen.

Und dann war wie aus dem Nichts jener Schemen aufgetaucht, der sich für den Frevel rächen wollte. Der ihn in Todesangst versetzte und ihn überstürzt aus der Krypta fliehen ließ.

Aufgewühlt hastet Vittorino durch die Arkaden des Kreuzgangs zur offenen Westseite, wo sich ihm in einer sternenklaren Nacht ein überwältigender Blick auf das tief unter ihm liegende Meer geboten hätte, das bei Flut den Mont umspült. Schwindel erregend erheben sich die übereinander errichteten Gebäude der Merveille, des »Wunders des Abendlandes«, am Rand des felsigen Abgrunds.

Die Welt um den Mont gibt es nicht mehr, denkt Vittorino schaudernd. Es scheint, als treibe die Insel, aus ihrer Verankerung gerissen, haltlos durch die Nacht.

In einer Wüste aus Wasser und Sand, umwabert von geheimnisvollen Nebeln und düsteren Legenden, liegt der Mont-Saint-Michel, seit einer vernichtenden Sturmflut eine Insel, die nur während der Ebbe erreichbar ist. Der schroffe Granitfelsen symbolisiert den ewigen Kampf des Guten gegen das Böse. Auf diesem vom Meer umtosten Felsen besiegte der Erzengel Michael den Satan und stürzte ihn aus dem Himmel in die Finsternis der Hölle.

In einer Nacht im Jahr 708 erschien Saint-Michel vor Aubert, dem Bischof von Avranches, und befahl ihm, auf dem Berg ein Sanktuarium zu errichten. Als Reliquie übergab der Erzengel, Bezwinger Satans und Anführer der himmlischen Heerscharen, dem Bischof das Testament des Satans … mit dem Blut des gefallenen Engels der Finsternis. Jahrhundertelang verbargen die Mönche diese Tod und Verderben bringende Reliquie in einer mit Blei ausgekleideten Truhe in einer Felsengrotte, einer Krypta unter der Abteikirche.

Mit zum Himmel gerichtetem Blick flüstert Vittorino ein Gebet und erfleht Gottes Barmherzigkeit. Der Pater hat ihm die Absolution verweigert!

Die Mächte des Bösen sind entfesselt und bemächtigen sich des heiligen Berges …

Er blinzelt in die Finsternis, kann jedoch wegen des dichten Nebels das Meer unter sich nicht erkennen. Ist Ebbe oder Flut? Furcht steigt in ihm auf. So schnell wie möglich muss er den Mont verlassen und nach Rom zurückkehren. Nur der Papst kann ihn noch retten.

Vittorino tastet nach dem ledergebundenen Notizbuch mit seiner Abschrift aus dem satanischen Kodex. Er schlägt das Büchlein auf und betrachtet die verschlüsselten Seiten, die außer Alessandra niemand entziffern kann. Eigentlich hätte sie an seiner Stelle hier sein sollen. Vor zweieinhalb Jahren, wenige Tage nach seiner Wahl zum Pontifex, wollte Papst Nikolaus seine Vertraute zum Mont-Saint-Michel schicken. Doch nach der heimtückischen Verschwörung der dominikanischen Inquisitoren, die Alessandra auf den Scheiterhaufen gebracht hatten, hat sie Rom für immer verlassen. Sie lebt jetzt mit ihrem Gemahl am Hof des Sultans von Granada.

Vittorino starrt die klammen Pergamentseiten an, die einen herben Duft nach Zitrone und Leder verströmen. Andere mussten sterben, weil sie dasselbe getan hatten wie er. Sie waren hingerichtet worden, ihre Seelen für alle Zeit in die Hölle verbannt. So schnell wie möglich muss er die Insel verlassen und das rettende Festland erreichen, die bretonische oder die normannische Küste, gleichgültig, nur fort von diesem schrecklichen Ort. In wenigen Stunden könnte er in Sicherheit sein.

Ein Knarzen lässt ihn erschrocken herumfahren.

Das Portal der Kirche!

Schlurfende Schritte. Unter dem hölzernen Gewölbe des Kreuzgangs sind sie ganz deutlich zu hören.

Ein Schatten huscht durch den Nebel zwischen den Säulen und wirbelt die ihn umwabernden Schwaden auf. Es ist der bretonische Pater. Er hat die schwarze Kapuze seiner Kukulle tief ins maskierte Gesicht gezogen. Seine Finger umklammern einen Dolch.

Vittorino fühlt sich, als ob der Boden sich bebend unter ihm auftut und er in die Hölle hinabstürzt. Der dichte Nebel ist beklemmend, erstickend.

Mein Gott, hilf mir! Die Fratres sind verrückt geworden!

Voller Entsetzen blickt er sich im Kreuzgang um. Er ist unbewaffnet, wie es die Ordensregel für die Michelots, die Pilger des Mont-Saint-Michel, vorschreibt. Er muss so schnell wie möglich verschwinden. Doch wohin?

Der Kreuzgang ist viel zu unübersichtlich. Hier kann er sich nicht verstecken.

Im Osten des Gevierts liegt das Refektorium, dessen Front mit den großen Fenstern und den beiden hohen Kaminen in dieser grauenvollen Nacht einer riesenhaften Teufelsfratze gleicht. Das Tor ist nachts verschlossen, um die Mönche nicht in Versuchung zu führen, heimlich aus der Küche bretonische Wurst und normannischen Käse zu holen.

Im Süden erstreckt sich hinter einem Durchgang ein Hof mit dem Portal zum Seitenschiff der Kirche. Und, ein paar Schritte weiter, die Tür zum Dormitorium, wo die vierundzwanzig Mönche der Abtei in ihren hölzernen Zellen schlafen.

Gebannt starrt Vittorino den Maskierten an, der immer näher kommt.

Das ist das Ende!, schießt es ihm durch den Kopf. Er wird mich töten!

Vittorino wirft sich herum und hastet an der Doppelreihe der Säulen entlang zu den nördlichen Arkaden. Plötzlich gleitet er aus auf den nebelfeuchten Steinfliesen. Beinahe wäre er gestürzt. Weg hier, nur weg!

In der Nordwestecke hastet er an der Tür zum geheimen Archiv vorbei, das sich über zwei Stockwerke erstreckt und bis hinunter zum Scriptorium unterhalb des Kreuzgangs reicht. In diesen Räumen hat er, der Leiter des vatikanischen Geheimarchivs, der vertraut ist mit den Protokollen von Konzilssitzungen, den Akten von Inquisitionsprozessen, der Privatkorrespondenz von Päpsten und den verbotenen apokryphen Evangelien, seine schreckliche Entdeckung gemacht.

Der Mönch folgt ihm mit flatternder Kukulle. »Ihr könnt mir nicht entkommen, Monseigneur! Das Geheimnis muss bewahrt bleiben!«

Wenn ich sterbe, ist die Wahrheit für immer verloren!, denkt Vittorino entsetzt und flüchtet, sein Notizbuch umklammernd, durch den Kreuzgang. Dort vorne, zwischen den Säulen, nur wenige Schritte entfernt, ist ein Durchgang zum Heckenlabyrinth des kleinen Gartens.

Hoffnung keimt in ihm auf. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Die hohen, ineinander verschlungenen Hecken sind ein Ort stiller Meditation zwischen Himmel und Erde, inmitten des Schweigens der Mönche, des Heulens des Windes und des Tosens des Meeres. Die beschnittenen Sträucher bilden ein unübersichtliches Labyrinth, ein Gewirr aus schmalen Wegen, in denen Vittorino raschelnd verschwindet. Abgerissene Blätter und Zweige rieseln zu Boden, der mit den Splittern der zerstoßenen Schalen von Jakobsmuscheln bedeckt ist. Seit die Michelots, die Pilger, nicht mehr zum Mont kommen, haben die Mönche keine Verwendung mehr für die Coquilles Saint-Jacques als Pilgerabzeichen. Doch es ist nicht der Gedanke an zerstoßene Muschelschalen, der Vittorino in den Sinn kommt, während er keuchend durch das Labyrinth hetzt, sondern die Vorstellung von knirschend zermahlenen Menschenknochen … von seinen ausgebleichten Gebeinen, die nach seinem Tod hier verstreut werden …

Fluchend bleibt der Mönch im Schatten der Arkaden stehen. Wenn er Vittorino ins Labyrinth folgt, begibt er sich in Gefahr. Wie leicht könnte der Jude ihm den Dolch entwinden, ihn niederstechen und entkommen. Doch er darf den Mont-Saint-Michel nicht verlassen! Er darf dem Papst nicht berichten, was er entdeckt hat!

Mit angehaltenem Atem kauert Vittorino auf den scharfkantigen Muscheln und lauscht auf ein leises Knirschen, das Knistern des Splitts, das von einer Ledersandale zur Seite getreten wird, das Rascheln der schweren Kukulle an den kleinen Zweigen.

Zwei Schritte, stehen bleiben.

Das Knirschen auf der anderen Seite der Hecke verstummt.

Einen Schritt.

Dasselbe Geräusch, wie ein Echo. Aber näher jetzt.

Zu nahe.

Während ihm der Mönch ins Labyrinth folgt, weicht Vittorino so leise wie möglich drei, vier, fünf Schritte zurück in Richtung der Kirche und blinzelt nach links und rechts in die Dunkelheit – von wo wird sich der Maskierte auf ihn stürzen? Er hat das Labyrinth während seiner täglichen Meditationen unzählige Male durchschritten – Vittorino kennt es nicht. In seinem Kopf spürt er ein dumpfes Pochen. Sein rasselnder Atem geht stoßweise.

Dort drüben! Eine Bewegung. Die Hecke rechts von ihm schwankt unmerklich. Zweige knistern. Blätter rieseln auf den Boden und werden knirschend im Muschelsplitt zertreten.

Vittorino hält den Kopf gesenkt und lauscht in die plötzliche Stille.

Der Mönch ist stehen geblieben.

Wie erstarrt kauert Vittorino zwischen den Hecken und versucht, seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Sein Herzschlag dröhnt wie eine Glocke, und das Blut rauscht in seinen Ohren.

Sonst ist im dichten Nebel nichts zu hören. Absolut nichts.

Abgesehen von dem leisen Schnarchen, das aus dem Schlafsaal der Mönche bis zu ihm dringt.

Und den Schritten auf der Treppe, die vom Scriptorium unterhalb des Kreuzgangs zum Kirchenportal heraufführt. Einer der Mönche war offenbar mitten in der Nacht noch in der Bibliothek. Ob er das Teufelsbuch entdeckt hat, das Vittorino nicht in sein Versteck zurückgebracht hat, bevor er in die Krypta eingedrungen ist, um das Testament des Satans zu finden?

Schon will Vittorino den Frater um Hilfe anflehen, als die Schritte plötzlich innehalten. Und schließlich umkehren. All’ inferno! Er steigt wieder hinab ins Scriptorium.

Ein Rascheln hinter der Hecke!

Vittorino will aufspringen, da bricht eine Hand durch die Hecke, und ein Dolch verfehlt seine Halsschlagader nur um Haaresbreite. Keuchend duckt er sich unter der Klinge hindurch und hastet den gewundenen Heckengang entlang in Richtung des Dormitoriums. Dort bleibt er stehen und lauscht.

Todesstille.

Vittorino wagt einen Blick über den Rand der Hecke, um das Labyrinth im Kreuzgang zu überblicken.

Geisterhafte Nebelschwaden wabern zwischen den Spitzbögen und den beschnittenen Hecken.

Keine Spur von dem Benediktiner.

Wohin ist er verschwunden?

In diesem Augenblick fällt das Kirchenportal mit einem dumpfen Krachen ins Schloss. Leise Schritte, die im gewaltigen Hauptschiff widerhallen, entfernen sich.

Erleichtert aufseufzend sinkt Vittorino zu Boden und lehnt sich erschöpft gegen die spitzen Zweige, die sich in seinen Rücken bohren. Minutenlang widersteht er dem Drang, aus der Todesfalle des Heckenlabyrinths zu entkommen.

Nur einen Augenblick noch – bis der Mönch die Kirche verlassen hat. Denn Vittorino muss sie durchqueren, um die steile Abteitreppe zu erreichen, die von der Kirche zum Châtelet hinabführt, dem befestigten Tor der Abtei am Abgrund des Felsens.

Zu Tode erschrocken zuckt er zusammen, als plötzlich ein Krachen über ihn hereinbricht. Eine Möwe, die in einer bemoosten Regenrinne der Kirche nistet, flattert aufgescheucht hoch. Aus den Augenwinkeln nimmt Vittorino eine Bewegung wahr. Über die Schulter blickt er hoch zum steilen, mit gelbem Moos bewachsenen Schieferdach des Kreuzgangs, wo sich die Möwe schreiend in die Tiefe stürzt, um auf die andere Seite zu fliegen.

Dort oben lauert der Benediktiner vor einer offenen Holztür neben dem Kirchenfenster. Über ihm ragt der gewaltige Glockenturm auf. Mit den Füßen sucht er einen sicheren Stand auf dem schmalen, glitschigen Sims und starrt auf das Heckenlabyrinth hinab, das offen vor ihm liegt. Mit der gespannten Armbrust nimmt er kaltblütig Vittorino ins Visier, zielt und schießt.

Der Bolzen zischt durch den Nebel und verfehlt Vittorino nur knapp. Der Archivar des Papstes wirbelt herum und stolpert krachend und knisternd durch die schmalen Gänge des Heckenlabyrinths auf das rettende Kirchenportal zu, während der alte Priester mit ruhigen, besonnenen Bewegungen die Armbrust nachlädt und spannt, als vollziehe er eine heilige Handlung.

Dann legt er erneut an und zielt.

Vittorino stolpert über eine Wurzel und stürzt der Länge nach in den Muschelsplitt. Die Zweige kratzen sein Gesicht blutig, stechen ihm beinahe ein Auge aus. Doch der Bolzen zischt mehrere Handbreit über ihn hinweg. Vittorinos Hände packen die Zweige. Ächzend zieht er sich wieder hoch und humpelt mit schmerzverzerrten Lippen weiter auf den Mönch zu, der wieder nachlädt und spannt.

Vittorino erreicht den Ausgang des Labyrinths, hastet über den schmalen Streifen aus Muschelsplitt und verschwindet im Säulengang. Hier kann ihn der Mönch auf dem Dach nicht sehen, doch in Sicherheit ist er noch nicht. Nicht stehen bleiben!

Wenige Schritte entfernt erreicht er den Durchgang zu dem Hof mit dem Seitenportal der Kirche. Links windet sich eine Treppe hinauf zum Dach des Kreuzgangs, wo der Assassino lauert. Rechts verschwindet eine andere Treppe im Boden – sie führt hinunter zum Scriptorium.

Der Schuss trifft Vittorino in den Rücken, während er über den Hof läuft. Vor dem Kirchenportal bricht er zusammen und ringt nach Atem. Noch spürt er keinen Schmerz, noch fühlt er nicht, wie das Blut über seinen Rücken rinnt und sein Gewand durchnässt. Als er sich aufrichtet, um taumelnd wieder auf die Beine zu kommen, schlägt ihm der nächste Bolzen wie ein harter Faustschlag ins Rückgrat, zerschmettert zwei Wirbel und durchtrennt die Nerven.

Gott Israels, Gott meiner Väter, steh mir bei!, fleht Vittorino, dem der kalte Schweiß über das Gesicht rinnt. Ich muss das Kirchenportal erreichen! Wenn ich es bis in die Kirche schaffe, bin ich gerettet! Wenn ich vor dem Altar liege, wird er mich nicht töten!

Mit letzter Kraft kriecht Vittorino Handbreit um Handbreit vorwärts, keuchend vor Anstrengung, schluchzend vor Schmerz und Todesangst.

Keine Absolution! Keine Hoffnung auf Vergebung!

In die Hölle verdammt!

Auf den Ellbogen zieht er sich mühsam vorwärts.

Nur noch drei Schritte bis zu den Stufen.

Seine Beine kann er nicht mehr spüren. Aber er gibt nicht auf, quält sich mit verzerrtem Gesicht weiter vorwärts.

Zwei Schritte.

Während er sich mit letzter Kraft voranschiebt, überlegt er, wie er das schwere Portal aufstoßen soll. Er bäumt sich verzweifelt auf, sinkt wieder zu Boden.

Nur einen Schritt.

Ein erneuter Versuch, so vergeblich wie der letzte.

Die Stufen sind direkt vor ihm, er muss nur die Hand ausstrecken, um den feuchten Stein zu berühren. In diesem Augenblick bohrt sich ein Bolzen tief in seine rechte Schulter und zerfetzt seine Lunge.

Mit einem Stöhnen bricht Vittorino zusammen.

Tief unter der Kirche schließt der Hüter der Lade das Portal der Krypta hinter sich und verriegelt es. Fröstelnd rafft er seine klamme Kukulle und blinzelt in die dichten Weihrauchschwaden. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die geheimnisvolle Dunkelheit, die nur von der Kerze durchbrochen wird, die Vittorino vorhin zurückgelassen hat.

Ein Gebet murmelnd stapft der Hüter die Geröllhalde hinauf, die die zweischiffige Kapelle bis fast zum Deckengewölbe anfüllt, und arbeitet sich vor bis zur vom Schutt befreiten Altarnische. Vor Jahrhunderten war diese Kapelle aus Sicherheitsgründen zugeschüttet worden, als die gewaltige Abteikirche über diesen Fundamenten errichtet wurde – zu Recht, wie der Einsturz des Chors und der Krypta vor einigen Jahren bewiesen hat.

Vor dem wuchtigen Steinaltar wurde er, der Bibliothekar der Abtei, von der Bruderschaft zum Hüter ernannt, nachdem sein Vorgänger ermordet worden war. Beinahe hätte er durch Vittorino dasselbe Schicksal erlitten. Nicht dass er Angst hat zu sterben. Oder zu töten. Nein, er entstammt einer alten Familie von Tempelrittern. Er ist verwandt mit André de Montbard, einem der neun Gründer und dem fünften Großmeister des Templerordens, und mit dessen Neffen, dem heiligen Bernard de Clairvaux, dem geistigen Vater der Ritter Christi.

Frère Abelard de Montbard ist sich seiner Verantwortung als Hüter der Lade bewusst. Wer das Testament des Satans sucht, muss sterben. Das ist die heilige Mission der Geheimen Bruderschaft innerhalb der Abtei.

Die mit Blei ausgekleidete Lade aus uraltem zersplitterten Holz steht offen vor dem Altar. Die goldenen und purpurnen Brokatstoffe, die die satanische Reliquie verhüllen sollen, sind aus dem Schrein gerissen worden. Der Hüter kniet vor der Lade nieder und wickelt das Testament, das vor den Blicken der Sterblichen verborgen bleiben muss, behutsam in die schützenden Tücher. Dabei achtet er darauf, dass er es nicht berührt. Denn der direkte Kontakt mit der Reliquie des Satans endet so tödlich wie das Berühren der Bundeslade Gottes.

Doch selbst durch den dicken Brokatstoff kann er das Glühen des Metalls spüren – ein Phänomen, das ihn immer wieder in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Das Metall fühlt sich warm an, als sei es eben erst aus dem Feuer gezogen und geschmiedet worden. In all den Jahren seit dem Sturz des Satans vom Himmel in die Hölle ist es nie erkaltet.

Tief durchatmend klappt Frère Abelard den schweren Deckel zu, lässt das schimmernde Messingschloss einrasten und verriegelt es.

Möge Gott der Allmächtige verhüten, dass es jemals wieder geöffnet wird und sich die Mächte des Bösen in der Abtei manifestieren!

Noch ganz versunken in die Erinnerung an das geheimnisvolle Buch, das er gerade eben auf einem Lesepult des Scriptoriums entdeckt hat, hält Père Yannic Créac’h den Atem an und lauscht in die nächtliche Stille. Doch alles ist ruhig. Kein Schrei, kein Schluchzen, nichts.

Beunruhigt steigt er die gewundene Treppe vom Scriptorium zum Hof weiter hinauf.

Was war das? Eine der Möwen, die im alten Gemäuer oberhalb des Kreuzgangs nisten?

Aber wer war das vorhin im Kreuzgang? Die schweren Schritte hatte Yannic durch das hohe Deckengewölbe bis ins Scriptorium hören können – was ihn vorhin veranlasst hatte, die Treppe zum Hof hinaufzusteigen, um zu horchen. Doch alles war still gewesen – was sein aufgeregtes Herzklopfen beruhigt hatte! Denn wie hätte er dem Pater Prior seine nächtliche Exkursion ins Scriptorium erklären sollen? Yannics unbändige Abenteuerlust und sein bretonisches Temperament verstoßen zwar nicht ausdrücklich gegen die Ordensregeln des heiligen Benedikt, werden aber vom Prior, der mit den Regeln unter dem Kopfkissen schläft, mit Sicherheit in der nächsten Kapitelversammlung als Verfehlung geahndet – falls Yannic entdeckt wird …

… was vorhin, bei seiner Rückkehr ins Scriptorium, um ein Haar geschehen wäre, als Frère Abelard, der Bibliothekar, das satanische Buch vom Lesepult nahm, es ins Archiv brachte und die Tür sorgfältig verschloss. Wirklich schade, denn Yannic hätte in dem prachtvoll illuminierten Folianten gern noch ein wenig geblättert.

Sobald er um die Ecke biegt und die letzten Stufen erklimmt, entdeckt er die Gestalt vor dem Kirchenportal.

»Gott im Himmel!«, flüstert er auf Bretonisch. Er rafft seinen Habit und kniet sich neben den Mann, aus dessen Rücken die Bolzen einer Armbrust ragen. Blut sickert aus den Wunden.

Yannic legt den Finger an dessen Halsschlagader und tastet nach dem schwachen, unregelmäßigen Herzschlag. Vorsichtig packt er den Sterbenden bei den Schultern und dreht ihn auf die Seite, sodass dessen Kopf auf seinem Knie liegt.

»Vittorino?«, flüstert er bestürzt.

Der Gesandte des Papstes schlägt die Augen auf und blinzelt Yannic an. Sein Gesicht ist blutverschmiert.

»Was ist geschehen?«, fragt Yannic.

Vittorino ringt nach Atem. Die Luft rasselt in seiner Lunge, die von einem Bolzen zerfetzt wurde. Seine Lippen bewegen sich.

»Wer hat auf Euch geschossen, Monseigneur?«

»Segnet … mich … mon Père!«, stößt Vittorino hervor. »Gebt mir die Sterbesakramente … Ich flehe Euch an!«

Mit dem Daumen malt Yannic das Zeichen des Kreuzes auf Vittorinos Stirn, um ihn durch das Sakrament zu beruhigen. Das heilige Öl aus der Sakristei zu holen hätte zu lange gedauert. »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem Erbarmen. Er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes«, betet Yannic mit sanfter, aber fester Stimme.

»Amen«, seufzt Vittorino.

Yannic malt das Kreuzzeichen in Vittorinos Handflächen. »Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.«

»Amen«, flüstert Vittorino voller Hoffnung und schüttelt den Kopf. »O Gott! Er hatte mir … die Absolution verweigert …«

»Wer? Wann?« Yannic hält bestürzt inne und runzelt die Stirn.

Doch Vittorino schüttelt nur den Kopf. Tränen rinnen ihm über das Gesicht.

Ein Knirschen über ihm lässt den Pater aufblicken. Er sieht gerade noch, wie eine schemenhafte Gestalt über die Dächer huscht und im Dunkel verschwindet. Dann fällt eine Tür auf der anderen Seite des Querschiffs ins Schloss.

»Wer war das?« Yannic sieht Vittorino an.

Der hebt unter großen Schmerzen den Kopf. Yannic folgt dessen Blick und bemerkt, dass er ein in Leder gebundenes kleines Notizbuch in der Hand hält. »Nehmt es!«

Yannic nimmt ihm das Büchlein aus der Hand.

»Gebt es Alessandra!« Vittorinos Stimme ist kaum mehr als ein gurgelndes Röcheln. Er wird an seinem Blut ersticken.

»Alessandra Colonna?« Nur sie kann Vittorino meinen. Alessandra besitzt ein großes Buchhandelsunternehmen in Florenz mit mehr Scriptoren und Illuminatoren als eine bedeutende Abtei wie Mont-Saint-Michel. Vittorino war der Leiter ihres Scriptoriums, bevor Papst Nikolaus ihn als Archivar des Archivum Secretum und Bibliothekar der neu gegründeten Bibliotheca Vaticana nach Rom berief.

Yannic hat Alessandra vor zwei Jahren in Rom kennengelernt. Damals hat er den Abt, Kardinal Guillaume d’Estouteville, zum letzten Mal besucht. Während er auf dem Campo dei Fiori auf das Ende des Konklaves wartete, das Alessandras Cousin, Kardinal Prospero Colonna, zum Pontifex machen sollte, war ihr Scheiterhaufen entzündet worden. Der neu gewählte Papst, nicht ihr Cousin Prospero, sondern ihr Freund Tommaso Parentucelli, nun Papst Nikolaus, hat sie im letzten Moment vor dem Feuertod bewahrt.

»Aber Alessandra lebt mit ihrem Gemahl in Granada«, wendet Yannic ein. »Ich war mit Kardinal d’Estouteville dabei, als sie sich gemeinsam mit Prinz Yared al-Gharnati, dem Wesir von Granada, von Seiner Heiligkeit verabschiedet hat, um Rom für immer zu verlassen.«

»Alessandra wird kommen«, flüstert Vittorino. Ermattet sinkt er zurück und schließt die Augen. »Sie wird meine Seele retten. Gebt ihr das Büchlein.«

Yannic zögert, dann sagt er: »Das werde ich.«

»Schwört es!« Vittorino beginnt zu husten.

Feine Blutstropfen spritzen Yannic ins Gesicht. Mit dem Ärmel seines Habits wischt er sich über die Stirn und das dunkle Haar, das in weichen Wellen sein Gesicht umspielt. »Ich schwöre es bei Saint-Michel!«

»Sie wird es finden.«

»Was?«, fragt Yannic verwirrt.

»Das Testament des Satans.«

Sofort denkt Yannic an das satanische Buch, in dem er eben noch geblättert hat. Doch bevor er nachfragen kann, strömt ein Schwall Blut über Vittorinos Lippen und rinnt auf Yannics Habit.

Der Bretone bekreuzigt sich und schließt Vittorinos Augen. Dann bettet er den Toten vorsichtig auf den Boden und erhebt sich. Unruhig tastet er nach dem Kreuz auf seiner Brust und küsst es, während er ein inniges Gebet für Vittorinos Seelenheil murmelt.

Dann schlägt er das Notizbuch auf. Mit blutigen Fingern blättert er darin. Die Seiten sind leer.

Sobald Yann verschwunden ist, huscht der maskierte Mönch in den Hof und kniet sich neben Vittorino.

Der verdammte Jude liegt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Hastig durchwühlt der Mönch die Taschen – Yann kann jeden Augenblick mit den anderen zurückkehren! -, doch er findet nichts. Er stößt einen bretonischen Fluch aus.

Wo ist das Notizbuch?

Noch einmal durchsucht er das Gewand, stülpt die Taschen um und tastet den Leichnam ab.

Nichts.

Nur ein zusammengefaltetes, blutverschmiertes Pergament, eine grob gezeichnete Karte der Abtei mit allen drei Ebenen. In der Mitte, an der höchsten Stelle des Mont, die Abteikirche, darunter die Krypten unter den Seitenschiffen. Im Norden das Gebäude der Merveille mit dem Kreuzgang und dem Refektorium, darunter das Scriptorium und der Gästesaal, darunter wiederum der Almosensaal und der Keller mit dem ummauerten Klostergarten, der an die Befestigungen grenzt. Ein blutrotes Kreuz und ein Gekritzel in italienischer Sprache, teilweise durchgestrichen und berichtigt, bezeichnen das Versteck der Lade unterhalb der Abteikirche:

Il Testamento

Il Legato

Le profezie apocalittiche del Diavolo

Die italienischen Worte für Testament und Vermächtnis hat Vittorino durchgestrichen und durch apokalyptische Prophezeiungen ersetzt. Ein Satz fällt dem Mönch ins Auge:

Le profezie apocalittiche del angelo Satana hanno come tema principale la fine del mondo - Harmagedon, la battaglia finale tra il bene e il male, tra il Dio e il Diavolo.

In Gedanken übersetzt er: Die apokalyptischen Prophezeiungen des Engels Satan beschreiben das Ende der Welt. Armageddon, der endzeitliche Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan.

Ja, Vittorino hat die Reliquie tatsächlich in der Hand gehalten und die Tod und Verderben verkündende Inschrift gelesen.

Der Pater faltet das Pergament zusammen und steckt es ein.

Behände springt er auf und versetzt dem Toten einen wütenden Tritt in die Seite. »Möge Gott der Allmächtige dich bis in alle Ewigkeit verfluchen!«, murmelt er auf Bretonisch. »Möge er deine verdammte jüdische Seele richten für das, was du heute Nacht getan hast!«

Dann schleift er den Toten in den Kreuzgang. Die Leiche muss verschwinden. Aber nicht dahin, wo die anderen vermodern.

Das erste Siegel

Und ich sah in der Rechten dessen,der auf dem Thron saß,ein Buch, mit sieben Siegeln versiegelt.Und ich sah, als das Lamm eines vonden sieben Siegeln öffnete,ein weißes Pferd, und der darauf saß,hatte einen Bogen.Und ihm wurde ein Siegeskranz gegeben,und er zog aus,um zu siegen.

Apokalypse des Johannes

AlessandraKapitel 1

Im Gästesaal des Mont-Saint-MichelTag des Erzengels Michael, 29. September 1449Gegen Mitternacht

Leise dringt das Tosen des Sturms zu mir, ein unheilvolles Heulen, ein Stöhnen, wie von Engeln und Dämonen, die mit dem Wind durch die düsteren Gewölbe jagen. Die mich jagen. Und da ist noch ein anderes Geräusch, leise und bedrohlich.

Mein Herz pocht, mein Atem geht stoßweise, und die Kälte kriecht mir das Rückgrat hoch, als ich stehen bleibe und horche.

Es sind Schritte.

Was, zum Teufel, verfolgt mich? Ein Schemen, eine gestaltlose Inkarnation von Blutgier und Gewalt. Das Bild des Engels der Finsternis schiebt sich vor mein geistiges Auge. Ist Satan hinter mir her?

Von Todesangst erfüllt, flüchte ich weiter. Ein Gang. Ein hallendes Gewölbe. In Dunkelheit gehüllt. Dann wieder ein Gang. Immer wieder wage ich einen Blick zurück, ob er mir noch folgt. In meiner Panik stolpere ich den gewundenen Korridor entlang, von dem ich nicht weiß, wohin er führt.

Vor mir ein Portal.

Eine Krypta mit gewölbter Decke. Kerzen auf dem Altar, deren flackernder Lichtschein die Schatten aufgeregt tanzen lässt. An den Wänden aus grob behauenen Steinquadern leuchten Bilder auf. Sie zeigen eine wandelnde Feuersäule …

O mein Gott!

… sie zeigen ihn.

Ich muss verschwinden, sofort!

Nur du und ich.

Weiter!

Die Krypta mündet in einen Gang. Zwei Stufen nach unten. Ein Portal, zersplittertes Holz, schwarz gestrichen. Es ist offen. Ich trete ein.

In dem Gewölbe ist es dunkel. Ich muss mich an den Wänden entlangtasten. Meine Finger gleiten über … Was ist das? Kein Stein.

Knochen.

Totenschädel.

Erschrocken über das vielstimmige Flüstern, das ich plötzlich um mich herum höre und das von den Toten stammen muss, nestele ich das Feuerzeug aus der Zunderdose an meinem Gürtel, kämpfe gegen den Drang an, so schnell wie möglich zu entkommen, und hocke mich auf den Boden. Immer wieder blicke ich mich um, während ich versuche, einen Funken in den feuchten Zunder zu schlagen. Er verglimmt jedoch jedes Mal mit leisem Knistern, bevor ich den Docht der kleinen Kerze, die ich immer bei mir trage, entzünden kann.

Mein Blick huscht zum Portal. Ist er schon da?

Die Vorstellung, ihm ins Gesicht zu sehen! Ich schüttele mich vor Grauen.

Ich bin so überreizt, dass ich die Kerze fallen lasse. Sie rollt über den Steinboden und bleibt irgendwo zwischen den Knochen liegen.

Fluchend krieche ich über den Boden, um sie zu suchen.

Seine Schritte hallen im Gewölbe bedrohlich nahe wider.

Wo ist bloß die Kerze?

Da! Endlich ertaste ich sie.

Ich schlage einen Funken, aber der Zunder fängt nicht Feuer.

»Bitte, geh an!«

Funken blitzen auf, flackern über die Totenschädel um mich herum. Dann wird es wieder finster.

»Geh an, na los!«

Beinahe hätte ich mir den Feuerstein aus der Hand geschlagen, so sehr zittere ich.

»Geh an, verdammt! Na komm schon!«

Ein erneutes Aufblitzen, der Funke springt über, der Zunder glimmt knisternd auf, der Docht fängt Feuer.

Na endlich!

Gehetzt blicke ich mich um. Aus den Gewölbebögen starren mich menschliche Schädel aus leeren dunklen Augenhöhlen an. Tausende Knochen und Schädel sind zu grausigen Ornamenten aufgeschichtet. Ich bin in einer Gruft.

Über den gebleichten Knochen steht der Spruch:

WASWIRSIND, WIRSTDUBALDSEIN.

Eine Mahnung an die Vergänglichkeit. Eine Drohung.

Irgendwo hinter mir klappert es.

Todesangst pulsiert schmerzhaft durch meinen Körper.

Nur du und ich.

Ich fahre herum, blinzele die Reihen der bleichen Knochen entlang, die wie in einem Feuerschein aufglühen, kann ihn jedoch nicht sehen. Aber er ist hier. Ich kann seinen Atem hören. Und das leise Knistern, das ihn umgibt, als ob er in Flammen steht …

Weiter!

Mit zitternden Fingern umklammere ich die Kerze, die im Luftzug flackert. Der irrlichternde Schein verleiht den Schädeln etwas Lebendiges, Bedrohliches. Sie scheinen sich zu bewegen. Mich anzusehen. Mich zu packen und festzuhalten.

Das vielstimmige Flüstern ist immer noch da.

Nichts wie weg!

Mit vor Anspannung hochgezogenen Schultern stolpere ich den schmalen Gang entlang. Nur nichts berühren! Und nicht zurückblicken! Die archaische Angst vor der Gefahr, die ich nicht sehen kann, droht mich zu überwältigen.

Dort vorn, am Ende des Gewölbes, schimmert Licht.

Ich schütze meine Kerze mit der offenen Hand und hetze darauf zu. Ein eisiger Lufthauch weht mir den Geruch von Blut in die Nase. Und von noch etwas anderem …

Ein Torbogen, neun Stufen nach unten, eine Krypta.

Oder ist es eine Gruft? Dieser dumpfe Geruch erinnert mich an Tod und Verwesung …

Trotzdem wage ich mich weiter vor.

Auf dem Altar der unterirdischen Kapelle flackern neun Kerzen. Daneben steht eine Truhe, der Deckel ist aufgeklappt. Darin liegt ein Buch. Es ist der größte Kodex, den ich je gesehen habe. Der hölzerne Umschlag ist mit schwarzem Leder bezogen und mit Ornamenten aus ziseliertem Metall beschlagen. Es sind satanische Symbole. Das Pergament ist getränkt vom Blut, das zwischen den Seiten herausrinnt und durch das zersplitterte Holz der uralten Lade auf den Altar tropft.

Ist dieses Buch das Testament des Satans?

Ein Krachen – hinter mir.

Wie erstarrt lausche ich auf das leise Schlurfen.

Nur du und ich, warte auf mich.

Er kommt.

Kaltes Entsetzen presst mir die Luft aus den Lungen. Wohin soll ich, wohin? Ich kann ihm nicht entkommen. Soll ich einfach aufgeben und auf das Unabwendbare warten? Nein.

In der Mitte der Kapelle steht ein großer Steinsarkophag. Darin kann ich mich verstecken – wenn ich die schwere Grabplatte aus Granit anheben kann.

Ich husche zum Sarkophag und lehne mich mit ausgestreckten Armen gegen den Deckel. Er bewegt sich nicht!

Die Schritte kommen immer näher.

Ich kann seinen Atem hören. Und das Knistern der Flammen …

Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Granitplatte. Auf der Blutlache vor dem Altar gleiten meine Füße unter mir weg. Ich stürze. Doch ich rappele mich wieder auf und versuche es erneut.

Mit einem lauten Knirschen, als ob ein Steinsplitter zwischen Sarkophag und Deckel eingeklemmt ist, ruckt die schwere Platte eine Handbreit zur Seite. Na also!

Nach zwei weiteren Stößen ist die Öffnung breit genug für mich. Ich hebe meine Kerze und luge hinein.

Am Boden kleben die verwesenden Überreste eines Menschen, in Tücher gewickelt, auf denen ein gelblicher Schimmel liegt. Die Augen vertrocknet, die Gesichtshaut in Fetzen, kaum noch schwarzes Fleisch auf den bleichen Knochen. Ein ekelerregender Geruch steigt mir in die Nase, und ich muss würgen.

Gehetzt blicke ich mich um. Es gibt keine andere Möglichkeit, um ihm zu entkommen.

Ich lösche die kleine Kerze, werfe sie in den Sarkophag und klettere hinterher. Ich gleite auf den zersplitterten Knochen aus und breche mir fast die Hand, bis ich endlich auf dem Leichnam liege und mit den ausgestreckten Händen versuche, den Deckel wieder über mich zu ziehen.

Bevor das Licht schwindet, sehe ich es: Kratzspuren im Granit. Mit der Spitze eines Dolches eingeritzt. Daneben eine verzweifelte Inschrift:

DIE HÖLLEISTHIER!

Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich kenne die Handschrift.

Ich habe Vittorino gefunden.

In der bedrückenden Enge ist der Gestank des Todes unerträglich. Ich muss würgen und halte die Luft an. Mühsam ringe ich meine Panik nieder: Kein Licht, keine Luft, keine Möglichkeit zu fliehen.

Und kein Platz, um mich zu bewegen. Vittorinos Rippen bohren sich schmerzhaft in meinen Rücken, mein Kopf liegt zwischen seinen Füßen.

Ich halte den Atem an und lausche.

Das Geräusch der festen Schritte überträgt sich durch den Granit des Sarkophags. Er ist in der Kapelle!

Was tut er denn?

»Aleessaandraaaa!«, flüstert er gedehnt.

Mit zusammengebissenen Zähnen liege ich still und rühre mich nicht. Das Krachen und Knirschen von Vittorinos Knochen würde mich verraten … wie mein Zähneklappern.

Lebendig begraben!

Die Vorstellung, dass sich der Granit um mich herum zusammenzieht, um mich zu zerquetschen, ist übermächtig. Nur nicht in Panik ausbrechen! Atme ganz ruhig weiter, Sandra, trotz des fauligen Gestanks.

»Aleessaandraaaa! Ich weiß, dass du hier bist, du Satansbrut!«

Vor dem Sarkophag bleibt er stehen.

Erschöpft liege ich inmitten von Vittorinos Knochen. Ich versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen – vergeblich. Meine Augen brennen, als ich in die Finsternis starre. Spinnweben streifen mein Gesicht. Staub knirscht zwischen meinen Zähnen. Meine Beine beginnen vor Anspannung zu zucken. Das Blut rauscht in meinen Ohren und schwillt zum schrillen Pfeifen an, wie bei einem Tinnitus. Keuchend ringe ich nach Atem, und das Gefühl zu ersticken wird immer stärker. Meine zitternden Glieder werden kalt und schwer.

Hat Vittorino dasselbe empfunden, als er in diesem Sarkophag erwachte? Als er die Innenseite des Granitdeckels mit seinen Fingern bearbeitete? Wie lange hat es gedauert, bis er tot war?

»Aleessaandraaaa! Du hast das Buch gefunden. Das Geheimnis muss gewahrt bleiben. Du kannst nicht entkommen.«

Die plötzliche Stille zerrt an meinen Nerven.

Blinzelnd starre ich in die Finsternis, die mich einhüllt wie ein Leichentuch. Was tut er?

Ein Knirschen, Stein auf Stein, lässt mich zusammenzucken. Scharf stoße ich meinen Atem aus.

Draußen herrscht eine Grabesstille.

Plötzlich kracht ein schwerer Gegenstand auf die Granitplatte über mir. Sie rumpelt einen Fingerbreit zur Seite. Licht fällt durch einen schmalen Spalt und erhellt den Sarkophag.

Einen Augenblick später folgt der nächste Schlag.

Buummm!

Der Sarkophag bebt unter den Hieben, die mit unglaublicher Wucht auf den Granit niedersausen. Staub rieselt auf mich herunter.

Buummm!

Wieder ein Schlag, und was für einer! Jeden Moment kann die Granitplatte mit einem explosionsartigen Knall zerbersten und auf mich herunterkrachen!

»Gott im Himmel, hilf mir …«, flüstere ich panisch.

Das Hämmern hört nicht mehr auf.

Buummm … Buummm … Buummm …

Urplötzlich zerbricht der Granit mit einem Krachen in zwei Hälften. Scharfkantige Steinsplitter regnen auf mich herab. Grelles Licht flutet durch den Spalt zwischen den Platten in den Sarkophag. Geblendet schließe ich die Augen und bedecke sie mit meinen Händen.

Rumpelnd schiebt er die Granitplatten zur Seite und beugt sich über mich.

Strampelnd kauere ich mich in einer Ecke zusammen und wimmere leise. Vittorinos zerschmetterte Knochen knirschen unter mir.

Er hebt beide Hände – in meiner Todesangst denke ich, er will nach mir greifen, mich zerreißen wie Vittorino, mich töten! Doch er greift in die Falten seiner schwarzen Kukulle und schiebt langsam die Kapuze zurück, sodass ich sein Gesicht erkennen kann …

… sein überirdisch schönes Engelsgesicht, das wie eine tosende Feuersäule in Flammen steht … Feuer wabert über sein Gesicht, und seine Augen glühen …

Mit einem erstickten Keuchen schrecke ich aus dem Horrortraum. Noch ganz benommen bleibe ich mit geschlossenen Augen liegen, halb in dieser Welt, halb in der anderen.

Während der letzte Schlag der Glocke der Abteikirche dröhnend verhallt, genieße ich die Geborgenheit des großen Bettes, räkele meinen schweißnassen Körper in den weichen Kissen und lausche auf meinen Herzschlag und meinen Atem.

Wieder ein Albtraum, wie jede Nacht. Doch dieses Mal ein anderer. Nicht Elijas kleiner Körper sterbend in meinen Armen: »Mami!«, nicht Yared in seinem Blut, der Dolch des Hashishin noch in seiner Brust, nicht das entsetzliche Röcheln, mit dem er sein Leben aushauchte: »… liebe … dich … Leb wohl!« Nicht Schmerz, nicht Zorn, nicht Trauer, nicht der Gedanke an Vergeltung. Keine Blutspritzer von Yared im Gesicht. Keine Tränen. Kein Stöhnen, kein verzweifeltes Schreien der Überlebenden, die erkannt hat, dass sie als Einzige noch am Leben ist, während alles, was sie liebt, nicht mehr existiert. Kein Empfinden von Hoffnungslosigkeit, kein Gefühl von lähmender Ohnmacht, das wie Eiskristalle durch meine Adern rauscht und meinen ganzen Körper zittern lässt wie in einem Eissturm. Nein, dieses Mal war es anders. Ich habe niemandem beim Sterben zugesehen, nicht meinem Mann, nicht meinem Sohn, nicht den Hashishin, die auf Befehl des Sultans hingerichtet wurden.

Ich atme tief durch.

Nein, heute Nacht war es ein anderer Traum. Eine Reise in die Hölle. Nicht schlimmer als die Hölle, in der ich seit vier Monaten lebe. Aber auch nichts für schwache Nerven.

Vor wem bin ich geflohen?

Ein dunkler Schatten in wallender schwarzer Kukulle und mit einer Kapuze auf dem Kopf, ein nicht greifbares Wesen mit unklaren Umrissen. So hat Yannic ihn mir beschrieben: eine schreckliche Kreatur aus der Schattenwelt. Ein Diener Satans, die Inkarnation von Grauen und Todesangst.

Was er mir beschrieben hat, war für mich unvorstellbar. Und doch! Aufgewühlt von unserem Getuschel hatte ich diesen entsetzlichen Albtraum.

Yannic hat Todesangst, das hat er mir vorhin gestanden, als wir nach der Komplet endlich allein waren. Der Prior belauerte uns den ganzen Tag lang misstrauisch, während der gemeinsamen Stundengebete ebenso wie bei den Mahlzeiten im Refektorium. In der Abtei gilt das Schweigegebot, die Mönche verständigen sich nur durch Handzeichen. Was haben Yannic und ich also miteinander zu tuscheln?

Seine braunen Augen waren weit aufgerissen, als er sich mir nach dem Nachtgebet anvertraute, seine Hände zitterten so sehr, dass ich sie in meine nahm und festhielt. Er war noch gefangen in seinen Erinnerungen an jene nebelige Nacht. Seit dem Mord an Vittorino habe er seinen Seelenfrieden verloren, finde er nachts keine Ruhe mehr, fühle er sich verfolgt und bedroht. Oh, Yannic, wie gut ich dich in diesem Augenblick verstand, wie nahe du mir warst! In der Abbaye du Mont-Saint-Michel gehe etwas vor, das er nicht begreifen könne, vertraute er mir an. Die Toten, die Schatten, die Furcht. Das Böse sei Wirklichkeit geworden in den düsteren Gewölben unterhalb der Abteikirche. Im Flüsterton fügte er hinzu: »Die Konfratres glauben, Satan wolle Besitz ergreifen von der Welt.«

Blut und Tränen und Schmerz. Und Angst.

Er saß ganz still neben mir und schwieg, den Blick gesenkt, seine Hände in meinen. Sie fühlten sich ganz warm an, trotz seiner Angst. »Wisst Ihr, was noch merkwürdig war?«

»Was?«

»Meine Sachen sind durchwühlt worden. Mein silbernes Brustkreuz ist verschwunden.« Der Blick, mit dem er schließlich aufschaute und mich ansah, traf mich im Innersten. Das Gefühl, das er in mir auslöste, war so stark, dass mir ganz warm wurde. Tränen traten mir in die Augen …

Ich bin immer noch aufgewühlt von unserem Getuschel. Um mich zu beruhigen, atme ich langsam durch die Nase.

Nein, Kardinal Guillaume d’Estouteville hatte Unrecht, als er mir in Rom von Yannic erzählt hat: »Dieser Bretone ist aus Granit gemeißelt, unverrückbar und unzerstörbar wie ein Menhir – aber den Granit entdeckt man erst, wenn man zuvor die Eisschicht abgeschlagen hat. Seine Haltung hat etwas … Wie soll ich sagen? … etwas unerschütterlich Aufrechtes, wie ein Menhir – Yann Créac’h wirft so leicht kein Orkan um. So sind sie, diese Bretonen: ein Volk des Meeres und des Sturms, dem der Tod stets gegenwärtig ist. Mit einem unerschütterlichen Glauben an Gott. Ihr Kampf gegen die Naturgewalten hat sie stolz und verschlossen gemacht, beharrlich, beherzt, aufrichtig und leidenschaftlich.«

Nein, Guillaume, Ihr irrt Euch: Gestern Abend habe ich einen anderen Yannic kennengelernt, einen warmherzigen, feinfühligen und liebenswerten Menschen, der sich mir weit geöffnet hat, so weit, dass unser Gespräch mehr als nur vertraulich war. Die ganze Situation war … Wie soll ich sagen? … sehr intim. Nicht dass wir uns berührt …

Irgendetwas stimmt nicht, das spüre ich. Aber was?

Wonach riecht es hier eigentlich?

Nach Weihrauch. Und nach etwas anderem, einem süßlichen, berauschenden Duft, der ganz sicher nicht in eine normannische Abtei gehört. Ich habe diesen Geruch gestern schon wahrgenommen, irgendwo im Labyrinth der Krypten und Kapellen. Während unseres Rundgangs durch die Abtei hat mir der Prior, Père Yvain de Bayeux, erzählt, dass in vielen Sälen und Kapellen Weihrauch verbrannt werde, um Satan fernzuhalten.

Ich atme tief durch.

Was für ein grauenhafter Albtraum – Vittorino ermordet!

Und trotz meiner Anspannung, trotz Yannics eindringlicher Warnungen bin ich eingeschlafen. Dabei will ich doch heute Nacht in die Bibliothek, um das Testament des Satans zu suchen.

Ein leises Rascheln neben meinem Bett.

Jemand ist hier.

Blinzelnd schlage ich die Augen auf. Doch was ich über mir erkenne, ist nicht Saint-Michel, der von einem Strahlenkranz umgebene Erzengel, der mich vom bestickten Betthimmel herab anlächelt.

Kein Engel, sondern ein Dämon – der verhüllte Schemen aus meinem Traum, der sich über mich beugt!

Es ist noch nicht vorbei!

Ich spüre einen schmerzhaften Stich in meiner Brust. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren.

Hat er bemerkt, dass ich aufgewacht bin?

Mit gesenkten Lidern beobachte ich ihn im Schein der Stundenkerze, die am anderen Ende des Gästesaals vor den Kaminen brennt. Mit der Kerze bekämpfe ich meine Furcht vor der Dunkelheit. Seit ich in Jerusalem im Labyrinth unter dem Tempelberg eingemauert und in Rom in einem Gewölbe des Lateranpalastes verschüttet war, schlafe ich nur noch bei Licht.

Aus den Augenwinkeln nehme ich ein Aufblitzen wahr, ein Schimmern von Metall. Er hat einen Dolch in der Hand.

Eine Windbö des heraufziehenden Sturms dröhnt gegen die Fenster und lässt die Scheiben klappern. Der Schemen blickt auf. Im rötlichen Licht des Vollmonds kann ich sein Gesicht erahnen.

Erschrocken halte ich den Atem an.

Kein Engelsgesicht wie in meinem Albtraum! Vielmehr eine grauenhaft verzerrte Fratze wie von einem der dämonischen Wasserspeier an der Fassade von Notre-Dame de Paris! Ein Dämon aus dem Gefolge des Satans? Oder ein Mensch?

Nein, er muss einer der Mönche sein!

Der Prior, Père Yvain, hat mir gestern früh nach meiner Ankunft in der Abtei alle vierundzwanzig Mönche vorgestellt, bevor ich das Stundengebet mit ihnen feierte – das dachte ich zumindest: Abelard de Montbard, Jourdain des Îles, Padric of Caernarfon, Robin FitzAlan of Arundel, Conan de Saint-Brieuc, Raymond de Troyes. Und Yannic, den ich vor zwei Jahren in Rom kennengelernt habe, als er den Abt des Mont-Saint-Michel, Kardinal d’Estouteville, im Vatikan aufsuchte und ich mich vom Papst verabschiedete, um mit Yared und unserem Sohn nach Granada aufzubrechen.

Ich blinzele.

Was tut er?

Er beugt sich vor und stellt etwas auf den Nachttisch. Ein Gefäß, aus dem in silbernen Fäden duftender Rauch zur Decke aufsteigt. Der leise Windhauch von den Fenstern verwirbelt ihn und weht ihn zu mir herüber, sodass ich ihn einatmen muss.

Ich schnuppere. Ich kenne diesen schweren, süßen Duft aus Granada, aus Yareds Schlafzimmer, wenn wir nach einem anstrengenden Tag in der Alhambra entspannen wollten, um uns der Sinnenlust hinzugeben und uns zu lieben …

Es ist Haschisch.

Daher der Albtraum. Und das Herzrasen.

Daher der Schwindel und die Übelkeit, die mich packen.

Ich muss die Luft anhalten, damit ich mich nicht wieder übergebe, wie gestern Abend beim Duft der überbackenen Coquilles Saint-Jacques à la normande, der Jakobsmuscheln normannische Art, im Refektorium am Tisch des Priors. Zur Beruhigung hat Yannic, der wohl ahnte, wie aufgewühlt ich nach all diesen Wochen noch bin, mir einen Becher Calvados gereicht. Zitternd habe ich den bernsteinfarbenen Apfelbrand hinuntergestürzt.

Meinem Ruf konnte dieser peinliche Vorfall nichts mehr anhaben. Die Fratres wissen, wer ich bin. Alessandra d’Ascoli, die illegitime Tochter des Inquisitors von Rom, die vor zwei Jahren nach einem Inquisitionsprozess auf dem Scheiterhaufen brennen sollte und im letzten Augenblick vom Papst gerettet wurde. Alessandra Colonna, die humanistische Gelehrte, als Contessa des Patrimonium Petri die Stellvertreterin Seiner Heiligkeit und die Vertraute von Papst Nikolaus. Al-Iskandra al-Rûmi, die einen Juden geheiratet hat, Prinz Yared al-Gharnati, den Wesir von Granada, und die mit ihm am Hof des Sultans lebte, bis Yared vor vier Monaten ermordet wurde.

»Die Inquisitoren hätten dich verbrennen sollen, comme la Pucelle Jeanne d’Arc!«, zischt der schwarze Schatten hasserfüllt. »Möge Gott dich in alle Ewigkeit verfluchen. Möge Saint-Michel deine Seele richten und in die Hölle hinabwerfen!«

Ich halte den Atem an und wage nicht, mich zu bewegen. Plötzlich blitzt die Klinge des Dolches im Licht des Blutmondes auf.

Er beugt sich über mich. Der Dolch ist nur wenige Fingerbreit von meiner Kehle entfernt!

Durch die halb geschlossenen Lider beobachte ich ihn, während sein Atem über mein Gesicht streicht. Er betrachtet das silberne Amulett mit dem Sigillum Dei, das ich im Ausschnitt meines offenen Hemdes um den Hals trage. Leicht wie ein Windhauch berühren seine Finger meine Haut, als er es umdreht, um die andere Seite zu betrachten.

Er hält bestürzt den Atem an, als er das Siegel Gottes erkennt und die magische Inschrift liest, dann legt er es sachte zurück auf meine Brust.

Unvermittelt wendet er sich ab und huscht durch den Gästesaal zu dem großen Eichentisch vor den Kaminen, wo neben einer Vase mit einem großen Strauß bunter Herbstblüten meine Satteltaschen liegen. Nach der Komplet hat Yannic mir die Blumen gebracht, die er offenbar selbst im Klostergarten geschnitten hat. Weiß der Himmel, wieso! Yannic ist für den Empfang von Pilgern und Gästen zuständig, Bettlern, Rittern und Königen, aber die Versorgung der hochrangigen Gäste mit Blumen gehört gewiss nicht zu seinen Aufgaben.

Der Gästesaal ist eine zweischiffige Halle, deren schlanke Säulen ein Kreuzrippengewölbe tragen und deren hohe Fenster aus buntem Glas an eine Kathedrale erinnern. Ein prunkvoller Empfangssaal für englische und französische Könige, die mit ihrem Gefolge zum Mont gepilgert sind. Mit Tapisserien aus Seidenbrokat an den Wänden. Und Fresken des Erzengels an den hohen Gewölbedecken. Große Kerzenleuchter und mehrere knarzende Scherenstühle stehen um einen jahrhundertealten Refektoriumstisch herum.

Leise seufzend drehe ich mich auf die Seite. Ich tue so, als würde ich schlafen, damit ich den Assassino beobachten kann. Der hält inne und blickt zu mir herüber. Als ich mich nicht bewege, wendet er sich wieder der Satteltasche mit meinem Gepäck zu. Zwei gefaltete und gesiegelte Pergamente zieht er hervor.

Das Breve des Papstes, dessen Fälschung mir wirklich gut gelungen ist, hat eine ganze Girlande von Siegeln, die, während er liest, leise gegeneinanderschlagen.