In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos - Barbara Goldstein, Lara Myles - E-Book

In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos E-Book

Lara Myles, Barbara Goldstein

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Beschreibung

Eine Schachtel voller Briefe schreibt die kleine Jolie an ihren Daddy. Ihr Herzenswunsch: Sie will ihn umarmen, bevor sie stirbt - Jolie bleibt nicht mehr viel Zeit. Aber wo ist Alex? Jolies Mutter Cassie macht sich auf die Suche nach ihrem Ex. Nach Jahren der Trennung hat er vor wenigen Tagen die Scheidung eingereicht, weil er wieder heiraten will: Alex hat eine neue Familie. Von der kleinen Jolie, die nach seinem Abschied aus San Francisco geboren wurde, weiß er nichts. Fassungslos über den letzten Wunsch seines Kindes, versucht er Jolies Leben zu retten und trifft eine verzweifelte Entscheidung ... Große Gefühle ... Liebe ... Spannung ... Romantik ... Sehnsucht ... Als LARA MYLES entführt Barbara Goldstein Sie in grandiose Landschaften voller Sehnsucht Lesen Sie auch: Lara Myles - Lachen mit Tränen in den Augen ***** Lara Myles ist eine Herzensangelegenheit von Barbara Goldstein. Die Leidenschaft, mit der sie unter diesem Pseudonym ihre gefühlvollen und dramatischen Romane schreibt, spiegelt sich in ihrer lebendigen und mitreißenden Sprache. Die Autorin lebt in der Nähe von München - wenn sie nicht auf Reisen ist, um für ihre Bücher zu recherchieren. Die Idee zu ihrem Roman LACHEN MIT TRÄNEN IN DEN AUGEN, der von einer wahren Begebenheit inspiriert wurde, entstand nach einer Reise nach Tahiti, Moorea und Bora Bora. Und vor wenigen Monaten war Barbara Goldstein für IN GEDANKEN BEI DIR in Kalifornien und Hawaii und besuchte San Francisco, Sausalito, Seattle und den Mount St. Helens. Mehr dazu auf: facebook.com/Lara.Myles.Autorin ***** "... eine spannende Geschichte mit rasantem Tempo, die es versteht, den Leser mitzureißen ... Spannung pur!" Histo-Couch.de über einen Roman von Barbara Goldstein "Eine vielschichtige, detailgetreue und spannende Geschichte." Histo-Couch.de über einen Roman von Barbara Goldstein "Rasant und spannend erzählter, atmosphärisch dichter ... Roman." Frankfurter Stadtkurier über einen Roman von Barbara Goldstein "...

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Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Haben Sie Lust auf mehr? Folgen Sie den Spuren von Alex und Cassie ...

Impressum neobooks

Impressum

Lara Myles

In Gedanken bei dir

(Sonderausgabe mit vielen Fotos)

Roman

Copyright ©

Lara Myles / Barbara Goldstein

2013

Alle Rechte vorbehalten

Kapitel 1

Werden diese kleinen Füße jemals Spuren in einem Leben hinterlassen?

Die Traurigkeit überkam Cassie wie eine Woge, die alle anderen Gefühle mit sich reißt, und sie fühlte sich, als versuchte sie, unter Wasser zu atmen. Ihr Herz klopfte und ihre Knie zitterten, als sie sich auf das Krankenbett ihrer kleinen Tochter setzte und Jolies Blue-Dolphin-Slippers aufhob. Die niedlichen Delfine aus meerblauem Plüsch hatten ein verschmitztes Grinsen in den Gesichtern und ein kesses Funkeln in den glänzenden, schwarzen Knopfaugen. Nick hatte Jolie die Hausschuhe für die Klinik geschenkt, als die Kleine vor einigen Monaten beim World Wildlife Fund die Patenschaft für einen Delfin übernommen hatte.

Cassie stellte die süßen Schühchen auf ihre Knie und strich mit den Fingerspitzen über die flauschigen Flossen.

Wie zum Trost wiegte Cassie sich langsam vor und zurück. Die panische Angst, dass sie Jolie verlieren könnte, bevor ihr funny little girl diesen kleinen Blue-Dolphin-Slippers entwachsen war, bevor sie ihren adoptierten Delfin auf Hawaii besuchen konnte, bevor sie überhaupt gelebt hatte, schnürte Cassie die Kehle zu. Jolie war fast sechs, sie war Cassies ältestes Kind, aber nicht das erste, das starb.

Cassies Augen brannten, und wie so oft in den letzten Wochen kämpfte sie gegen die heißen Tränen an. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, und sie versuchte, jeden Augenblick mit Jolie zu bewahren, als wäre er der letzte.

In der kurzen Zeit, die Jolie bei uns ist, hat sie uns so viel Glück und Lebensfreude geschenkt!, dachte Cassie.

In den letzten Monaten, seit sie krank war, hatte die Kleine Nick und sie gelehrt, wie tapfer ein kleiner Mensch sein konnte, wie stark seine Seele war, und was es bedeutete, eine Familie zu sein.

Der Tod des eigenen Kindes war ... nein, dieses Gefühl, dieser Schmerz ließ sich nicht in Worte fassen. Mit dem Sterben konnte ihre kleine Tochter besser umgehen als sie. Jolie konnte sich dem stellen.

Ein ungelebtes Leben verwirklichen – wie das geht?

Ihre zerbrochenen Hoffnungen und unerfüllten Träume hatte Jolie in die rote Lackschachtel gesteckt, die auf dem Tisch dort drüben stand. Eine Schachtel voller Herzenswünsche, die alle wie Seifenblasen zerplatzen würden. Wie gern würde Cassie ihrer Süßen ihre sehnlichsten Wünsche erfüllen! Doch es waren Lebenswünsche, die nur sie selbst verwirklichen konnte.

Ihr größter Wunsch? Sechs Jahre alt zu werden.

Sechs.

Nicht sechzig, siebzig, achtzig. Nicht ein langes und erfülltes Leben zu genießen, ein Leben, das ihrem Tod ein gewisses Maß an Sinn verleihen würde.

Gab es etwas Unangemesseneres als den Tod eines kleinen Kindes, das fast die Hälfte seines Lebens in einer Klinik verbracht hatte? Das nie wirklich Kind war? Das in seinem kurzen Leben eigentlich nie mit aller Kraft gelebt hatte? Das mit vier gelernt hatte, wie schmerzhaft eine Lumbalpunktion an der Wirbelsäule war, und wie elend man sich nach einer Chemotherapie fühlte? Das die Bedeutung von APL kannte, eine seltene und schwer zu behandelnde Form von akuter myeloischer Leukämie, ein Wort, das Cassie nicht aussprechen konnte, ohne dabei zu würgen?

Wenn Jolie und sie gemeinsam in der roten Lackschachtel stöberten, wenn die Kleine sich in ihre Arme schmiegte und sie mit den Lippen über die zarte Haut ihres kahlen Kopfes strich, war Cassie traurig, ja, aber das, was Jolie in die Schachtel gepackt hatte, schenkte ihr auch immer sehr viel Kraft und weckte in ihr den Wunsch, genau so stark zu sein wie ihre Kleine. Die Schachtel steckte voller Gefühle, und Jolie und sie lachten und weinten oft gemeinsam. Jolie strich dann über Cassies kurzes Haar und sah sie mit großen wimpernlosen Kinderaugen an.

Als Jolie während der letzten Chemo wieder die Haare ausgefallen waren, hatte Cassie ihr den Kopf rasiert. Jolies feines blondes Haar war auf den Boden gerieselt, und sie hatte wieder geweint, wie beim letzten Mal. Aber Cassie hatte sie nicht in den Arm genommen und getröstet. Sie hatte ihr den Rasierer in die Hand gedrückt: »So, und jetzt ich.«

Am Ende hatten sie ihren Spaß, und Cassie hatte Jolie auf Facebook das Bild der kahlen Barbie gezeigt, die Mattel für krebskranke Kinder herstellen wollte, die während der Chemo ihre Haare verloren.

Meine wachsen jetzt nach, dachte Cassie, Jolies nicht. Nie mehr? Wie viele Nie mehrs stehen Nick und mir noch bevor?

Nie mehr würde sie die Finger durch Jolies weiches Haar gleiten lassen, nie mehr mit ihr unter der Bettdecke Höhlentauchen spielen, nie mehr mit ihr in Blubbersprache sprechen, als wären sie mit einer Atemmaske unter Wasser, nie mehr würde sie mit ihr in einem Bett schlafen und sie in den Armen halten, nie mehr mit ihr schmusen und kuscheln.

Ich muss mich zusammenreißen!, ermahnte Cassie sich und richtete sich auf.

Sie war heute früher in die Klinik gekommen, um mit Jolie über das Fernsehinterview zu sprechen. CBS San Francisco war auf ihre Website help-jolie.com aufmerksam geworden. Die Redakteure glaubten, dass Jolies Geschichte auch für andere eine Bedeutung haben könnte, und wollten Cassie mit einem Beitrag in den Eyewitness News at 5 bei der Suche nach einem Knochenmarkspender unterstützen. Die Spenderdatei Bone Marrow Donors Worldwide hatte bisher nur einen Spender mit den passenden HLA-Merkmalen für eine lebensrettende Transplantation finden können – in Australien. Doch bevor er für Jolie spenden konnte, starb er vor wenigen Tagen bei einem Motorradunfall im Outback, bei einem Crash mit einem Känguru.

Ihre Website war nun ihre letzte Hoffnung. Und natürlich ihre Freunde in aller Welt. Erst gestern hatte Cassie an sie alle gemailt:

Von: Cassie [email protected]

An: Alle Kontakte

Kopie: Nick [email protected]

08.08.2012 / 22:58

Betreff: Jolies glückliches Lächeln

Liebe Freunde, die ihr mir beisteht in dieser schweren Zeit. Ihr macht mir ein wundervolles Geschenk: Das Gefühl, nicht allein zu sein.

Die Chemo ist jetzt überstanden, und Jolie geht es gut. Sie ist jetzt fieberfrei und spielt mit den Kids in der Klinik und den vielen Geschenken, die sie von euch allen bekommen hat. Ihr Zimmer war voller Kartons mit bunten Schleifchen und Glitzersternchen, und Nick und ich mussten acht Mal laufen, um den ganzen Haufen auf der Ladefläche meines Pickups zu verstauen.

Jolie hat sich ausgesucht, womit sie zuerst spielen will. Nick und ich werden unserer Kleinen immer wieder neue Spielsachen mitbringen und alte auf meinem Hausboot in Sausalito verwahren. Jolie hat mich gebeten, euch allen für die tollen Geschenke zu danken. Sie hat sich sehr darüber gefreut.

Auf meiner Website habt ihr von dem tragischen Unfall in Australien gelesen. Wie soll ich meine Trauer, mein Beileid und mein Mitgefühl in Worte fassen? In mir sind so viele Gefühle, die ich am liebsten in einer herzlichen Umarmung ausdrücken würde. Meine Gedanken gelten Coopers Familie, seiner Frau und seinen beiden Kinder, vier und sechs.

Es fällt mir schwer, etwas Persönliches über Coop zu sagen, um ihn zu würdigen. Ich weiß nicht, wie er als Mensch war, als Ehemann, als Vater, als Freund. Ich habe ihn ja nur am Telefon kennengelernt, als ich ihm sagte, wie glücklich ich wäre, dass er Jolies Leben retten wollte. Wir haben miteinander gelacht, und er hat mir Hoffnung geschenkt. Und nun bin ich traurig, dass er aus seinem Leben gerissen wurde.

Nick hat auf unserer Website eine virtuelle Kerze für Coop entzündet. Wer will, kann dort mit uns trauern, seiner Familie in Sydney kondolieren oder einfach einen Gedenkspruch posten.

Coop, Du wirst uns allen unvergessen bleiben.

Nick und ich hoffen, dass Jolie trotz allem, was dagegen spricht, überleben wird. Und wir danken euch, dass ihr alle euch als Knochenmarkspender habt testen und registrieren lassen. Leider kommt keiner von euch für die Transplantation infrage, ebenso wenig wie Nick und ich. Trotzdem sind wir dankbar, dass Jolies Krankheit uns überall auf der Welt zusammengeführt hat. Eure Freundschaft und eure Anteilnahme schenken uns Gelassenheit und Stärke und verleihen unserem Leben Würde. Auch wenn wir manchmal Angst haben und den Mut verlieren, wir werden gegen die Krankheit kämpfen und uns von ihr nicht besiegen lassen. Und Jolie, my funny little girl, ist die Tapferste von uns.

Herzliche Grüße,

Cassie

Anlage Jolies glückliches Lächeln.jpg

Cassie beugte sich vor und stellte die Blue-Dolphin-Slippers wieder vor das Krankenbett. Dann sprang sie auf, um die Jalousien vor dem Fenster zu öffnen.

Warme Sonnenstrahlen fluteten in den Raum, und mit dem hellen Licht auch die leuchtenden Farben des beginnenden Indian Summers im nahen Golden Gate Park. Viele Bäume zeigten bereits erste herbstliche Schattierungen von Gelb, Ocker und Rot bis hin zu violettem Braun. Und in der Luft lag die fröstelige Kühle des vom Pazifik heranschwebenden Nebels.

Wolken aus Zuckerwatte und Nebel aus zerlaufender Sprühsahne, hätte Jolie dazu gesagt und hätte kichernd das Konzert der fernen Nebelhörner der Schiffe unter der Golden Gate Bridge mitgesummt: »Boooo!« und »Bwwww!«

Cassie packte die neue Bettwäsche aus, um Jolies Bett frisch zu beziehen. Mit den lebendigen Farben der selbst gestalteten Bettbezüge versuchte sie gegen die kalte Neonbeleuchtung des Zimmers und die sterile Krankenhausatmosphäre mit piepsenden Infusionspumpen und dem süßlichen Duft der Chemo anzugehen.

Die Motive, die sie jede Woche in einem Laden in der City auf die Decken- und Kissenbezüge drucken ließ, hatte sie während ihrer Arbeit als Unterwasserarchäologin bei der UNESCO in aller Welt fotografiert. Auf der Bettwäsche waren romantische Schiffswracks in dunkelblauem Wasser zu sehen. An einer glitzernden Schnur aus Blubberbläschen schien eine kleine Taucherin im bunten Neoprenanzug zu hängen: Das war sie. Auf einem anderen Foto schwebte sie in einem Wirbel bunter Fische im türkisblauen Wasser über einem tropischen Korallenriff. Jolies liebste Schmusebettwäsche zeigte ein Wrack, das an den Felsklippen vor einer Insel zerschellt war: Mit hochgeschobener Taucherbrille hockte Cassie im kurzen Tauchanzug auf den Felsen, paddelte mit den Flossen im Wasser und winkte.

Das heutige Foto war erst vor wenigen Tagen entstanden, als Nick und Cassie zum kürzlich entdeckten Schiffswrack der Armada of Golden Dreams in der San Francisco Bay getaucht waren. In einer Wolke von silbrig schimmernden Atembläschen schwebten Nick und sie, beide mit schwarzen Neoprenanzügen und neongelben Pressluftflaschen, über dem Wrack und erforschten es.

Wie bei allen anderen Motiven hatte Cassie auch auf diesem Foto mit Photoshop einen Schatz versteckt, den Jolie suchen musste, im Sand neben dem Wrack, zwischen den Planken oder hinter dem Korallenriff. Auf allen vieren tobte ihre kleine Abenteurerin dann kichernd über das frisch bezogene Bett und sah sich das neue Bild mit ihrer archäologischen Ausrüstung – Taschenlampe und Digitalkamera – ganz genau an. War das immer ein Spaß!

Auf diese Weise konnte sie Jolie an ihrem Leben teilhaben lassen, auch wenn sie nicht immer bei ihr sein konnte. So oft wie möglich schlief Cassie bei ihr in der Klinik, und Nick löste sie oft dabei ab. Aber manchmal wollte sie auch einfach bei ihm sein, wie heute Nacht. Zu zweit allein, zwei Liebende, die in den Armen des anderen schwach sein durften, verzweifelt, traurig.

Wie viel hatten Nick und sie gemeinsam durchgestanden. Die Erfahrung, gemeinsam ein aufgewecktes Kind wie Jolie großzuziehen, die Schwangerschaft, Cassies Zusammenbruch, die Trennung von Nick, die schlaflosen Nächte und die panische Angst um ihre Kleine, die unzähligen Fahrten in die Klinik, all das hatte an ihren Kräften gezehrt und hatte sie oft regelrecht überfordert. Nick und sie brauchten dringend ein bisschen Zeit nur für sich. In den letzten Wochen saßen sie sich allzu oft beim Abendessen auf der Veranda des Hausboots gegenüber, starrten auf die nebelige Bay und schwiegen sich an. Nach der Trennung waren sie wieder ein Paar, ja klar, aber sie mussten auch die Kraft haben, weiterhin zusammen zu bleiben ... einander Halt zu geben ...

Fußgetrappel und Kinderlachen drangen vom Gang zu ihr herein. Der Duft von heißem Kakao überdeckte den allgegenwärtigen Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmitteln.

»Hallo, Dr Lacey«, rief eine helle Kinderstimme von der Tür her.

Cassie drehte sich zu dem kleinen Jungen um, der mit dem Teddy im Arm seinen Infusionsständer vor sich her schob. Durch einen Schlauch tropfte eine klare Flüssigkeit in seinen Hickman-Katheter, dessen Silikonschläuche aus dem Kragen seines Batman-Shirts samt Fledermausohrenkapuze und schwarzem Umhang hingen.

Finn war ein kleiner Superheld, wie Batman. Seine Überlegenheit als Kämpfer basierte auf Willenskraft, Durchhaltevermögen und technischen Hilfsmitteln. Sein High-Tech-Infusionsständer trug ebenfalls das Batman-Logo: Er war Finns Batmobil, an dem ein ganzes Waffenarsenal an Einwegspritzen aller Größen hing, seine Waffen im Kampf gegen die Macht des Bösen, den Krebs in seinem Blut. Und gegen die Angst, die die beherzten kleinen Helden auf dieser pädiatrisch-onkologischen Station jeden Tag erlebten: die Furcht vor dem Verlassenwerden, wenn ihre Eltern die Nacht nicht in der Klinik verbringen konnten, der Schrecken vor den Schmerzen der Behandlung und die Angst vor dem Sterben.

»Hallo, Finn, mein Süßer. Wie geht’s dir?«

Der Knirps zuckte mit den Schultern und schaute an ihr vorbei zum Bett. »Wow, die Bettwäsche ist total super. Wer sind die beiden Taucher am Wrack? Dr Talcott und Sie?«

»Ja, Nick und ich.«

»Voll cool, das Foto.« Finn zog den Mundwinkel hoch, als wollte er sagen: Voll cool, solche Eltern.

Seit seine Mom Jolies kunterbuntes Krankenzimmer samt Fototapete an der Wand gesehen hatte, schlief Finn in The-Dark-Knight-Kinderbettwäsche, die sie noch am selben Tag online bestellt hatte. Aber in gekaufter Bettwäsche, egal wie teuer, kuschelte es sich nicht halb so gut wie in von Mommy selbst designten Bezügen. Für Kinder waren zum Glück andere Werte wichtig.

»Danke, Finn.«

»Wo ist denn Jolie?«

»Keine Ahnung.«

»Weil, ich will sie abholen.«

»Wollt ihr zusammen spielen?«

Jolie und Finn waren befreundet, und sie unternahmen viel gemeinsam. Vor einigen Tagen musste Finns Teddy zur Desinfektion in die Waschmaschine. Seite an Seite hatten die beiden durch die Ladeluke den Teddy beobachtet, der blubbernd in der Trommel herumwirbelte. Nach dem Trocknen wurde der nach Weichspüler duftende Plüschbär gemeinsam durchgekuschelt.

Finn schüttelte den Kopf. »Wir wollen zu Nell.«

Cassie betrachtete sein Superhelden-Outfit. »Hat Nell heute Geburtstag?«

»Nein, Ma’am. Sie ist gestern Abend gestorben.«

Sie musste schlucken. »Oh, Finn. Das ... tut mir leid.«

Die Kinder, die auf dieser Station der Kinderkrebszentrum des UCSF Medical Center in San Francisco lebten, die Tapferen und die Furchtsamen, die Unbezähmbaren und die Sanften mussten erfahren, dass plötzlich einer von ihnen fehlte. Nell, die so alt war wie Jolie, würde nie mehr zum Spielen kommen.

Nell war Jolies beste Freundin. Gemeinsam wollten sie beherzt ihren Traum verwirklichen: in die Schule zu gehen wie alle anderen Kinder.

Wie oft hatte Nell, die kleine zarte Nell, ihr Mut gemacht, wenn Cassie wieder einmal glaubte, eine schlechte Mommy zu sein, weil ihr Job sie zu sehr in Anspruch nahm, die Tauchexpeditionen in aller Welt und die Vortragsreisen für die UNESCO. Wie oft hatte die Kleine ihr geholfen, die Welt durch die Augen ihres Kindes zu sehen. Wie oft hatte sie ihr gesagt, was Jolie jetzt brauchte. Jetzt. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Jolie brauchte Geborgenheit und Liebe. Wenn es ihr schlecht ging, lag Cassie neben ihr auf dem Bett, hielt sie fest in ihren Armen und kuschelte mit ihr. Es erstaunte Cassie immer wieder, wie viel Schmerz und Leid Jolie ertragen konnte. Und wie viel innere Stärke sie hatte. Wenn es ihr gut ging, las Cassie ihr vor oder schaute mit ihr auf ihrem Tablet Videos über bedrohte Tierarten wie Tiger, Eisbären und Delfine auf worldwildlife.org an.

Aber Jolie brauchte auch das ernste und aufrichtige Gespräch, die Möglichkeit, beim Malen oder Spielen mit ihrer Mommy alles auszusprechen, was sie beschäftigte, ihre Ängste, ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Trauer, und alle ihre Kinderfragen: »Mommy, was passiert, wenn ich sterbe? Wie ist die Welt ohne mich?«

Die Sonne weint, Jolie, die Blumen lassen traurig ihre Köpfe hängen, die Schmetterlinge hocken gelähmt vor Trauer neben ihnen, und die Vögel in den Zweigen schweigen traurig und verzweifelt.

»Werde ich über den Regenbogen fliegen?«

Ganz hoch, Jolie, höher und immer höher!

»Und über die Wolken tanzen?«

Lachend vor Vergnügen, Jolie, wie alles, was du mit ganzem Herzen tust! Mit ausgebreiteten Armen wirst du über die Wolken flitzen, um die bunten Luftballons mit den Grußkärtchen zu erhaschen, die ich dir schicken werde!

Tot sein bedeutete für Jolie fortgehen und eines Tages wiederkommen. Sie war noch zu klein, um zu begreifen, dass es im Leben etwas gab, das unwiderruflich und endgültig war.

So wie Alex’ Fortgehen, als er mich verließ, dachte Cassie traurig. Jolie hofft, dass er irgendwann zu ihr ... zu uns zurückkehrt.

So wie Nells Sterben. Wie wird Jolie damit umgehen?

Wo steckte sie überhaupt? Seit einigen Tagen war Jolie in Remission – viele ihrer Krankheitssymptome waren verschwunden. Das Blutbild und das Knochenmark mussten jedoch regelmäßig weiter überwacht werden, um die Therapieschritte nach der Chemo zu planen. Vielleicht hockte sie gerade im Labor und wurde gepikst? Ach nein, das Blutbild sollte doch gestern noch gemacht werden. Das hatte Dr Mayfield gesagt, als Cassie die Ärztin vor dem Aufzug getroffen hatte.

Finn packte seinen Teddy fester, schob sein Batmobil auf den Gang, ließ die Tür hinter sich zufallen, und Cassie war wieder allein. Allein mit ihren Gedanken, wie viel Lebensmut sie hatte, wie viel Zuversicht, wie viel Hoffnung, und wie lebendig sie sich fühlte inmitten dieser lebhaften, quirligen Kinderschar.

An Jolies Infusionsständer neben ihrem Bett hing ein Playmobil in Jeans und Shirt an einem Fallschirm, den die Kleine aus einem grünen Mundschutz gebastelt hatte.

Dr Alex Lacey.

Alex.

Daddy.

Mit der Figur setzte Cassie sich aufs Bett und spannte den Fallschirm auf. Beim Skydiving hatten Alex und sie sich im August 2002 kennengelernt.

Zehn Jahre würde ihre Ehe halten, wenn sie unterschrieb. Mit dem Daumen berührte Cassie den Ring an ihrem Finger. Sie hatte ihn nie abgenommen ...

Moab, Utah, im Land der Red Rock Canyons. Ein heißer Tag am Colorado River. Ein Fallschirmsprung bei Sonnenuntergang über dem Canyonlands Nationalpark.

Cassie war früh dran für den letzten Flug des Tages. Als sie mit dem Mietwagen über den Parkplatz knirschte, sah sie Alex gleich. Sie stieg aus und beobachtete ihn vom weitem.

Ja, das war der Kerl, den sie gestern auf seinem Bike in den Schluchten von Canyonlands beobachtet hatte. Er führte ein kleines Mädchen auf einem ungesattelten Pferd über die Weide neben der Startbahn. Die Kleine sah aus, als hätte auch sie sich in den Kerl in Jeans, Shirt und Stetson verguckt. Ziemlich sexy, ein bisschen wie Robert Redford in Der Pferdeflüsterer. Nur viel jünger. Ende zwanzig.

Das Kind auf dem Pferderücken konnte vor lauter Begeisterung nicht still sitzen. Und wie das Gesicht der Kleinen strahlte! Ohne Punkt und Komma quasselte sie auf den Cowboy ein, während Mommy und Daddy am Zaun lehnten und Fotos machten.

Als er schließlich die Arme ausstreckte, um der Kleinen vom Pferd zu helfen, spürte Cassie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Und als er zum Office von Skydive hinüberschlenderte und sich breitbeinig auf den Stufen niederließ, wusste sie, sie würden zusammen springen.

Was hatte sie für eine Angst! War sie denn völlig bescheuert, aus einem Flugzeug zu springen?

Cassie hatte noch kein Ticket. Eine Weile drückte sie sich auf dem Parkplatz herum, um sich selbst Mut zu machen. Er beobachtete sie dabei, und sein Grinsen machte sie richtig wütend. Sie tat so, als könnte sie es gar nicht erwarten in die Luft zu gehen, aber das Arsch feixte nur noch breiter. Sie war auf Hundertfünfundneunzig, als sie schließlich an ihm vorbei zum Ticketschalter ging. Na klar, der letzte Flug war natürlich ausgebucht – online über die Website, seit gestern schon. Verdammt!

Als Cassie sich umdrehte, lungerte er hinter ihr herum und drehte den Ständer mit Postkarten von Canyonlands. Der Mistkerl war ihr gefolgt und hatte tatsächlich gelauscht! War sie wütend, als sie nach draußen floh! Als Cassie sich auf den Stufen zum Parkplatz noch einmal umwandte, sah sie ihn mit gekreuzten Beinen lässig am Schalter lehnen und sie angrinsen.

Mit hochgezogenen Schultern stapfte Cassie zu ihrem Mietwagen, um zum Arches Nationalpark zu fahren. Auf den Trails konnte sie das Flugzeug hoffentlich nicht hören und die Fallschirmspringer nicht sehen.

Hey, da parkte ein Wagen, gleich neben ihrem. Ein verrosteter, staubiger Pickup. Nummernschild aus Arizona, Grand Canyon State. War das seiner? Cassie warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Dort lag eine CD. Love over Gold von Dire Straits. Prima Musik für lange Fahrten. Das Lied Telegraph Road passte toll zur Landschaft des Colorado Plateaus. Auf dem Handschuhfach klebte ein Sticker. I love Sedona. Stammte er von dort?

Als Cassie einen Schritt zurücktrat, um in ihren Wagen zu steigen, prallte sie gegen ihn.

»Hallo, Fremde!«, lächelte er, und er brachte sie völlig durcheinander. Cassie konnte den Blick nicht von ihm wenden.

»Hallo.«

Er hielt ihr einen Umschlag hin. »Hier, bitte.«

Cassie starrte auf das Foto des Skydivers, der mit ausgebreiteten Armen über Canyonlands schwebte. »Was ist das?«

»Unser Ticket.«

In diesem Augenblick war es passiert, einfach so. Sie hatte sich in ihn verliebt. »Ich verstehe nicht ...«

»In der Maschine ist kein Platz mehr frei. Also hab ich umgebucht.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Ich hab denen gesagt, du bist meine Freundin. Du springst daher mit mir. Ich meine, wenn du dich traust, während des Fluges auf meinem Schoß zu sitzen.«

Was hätte sie sagen sollen, außer: »Okay. Danke.«

»Gern geschehen.«

»Cassie O’Shea.«

»Alex Lacey.«

»Freut mich.«

»Jetzt schon? Ich hatte gehofft, erst nach dem Sprung ...«

»Du ...« Sie schlug nach ihm, aber er lachte nur.

Seine Freundin, hm? Ganz schön selbstbewusst! Aber so war er. Mit Freude sprang er ins Leben, legte sein Herz in alles, was er tat, und lebte spontan und intuitiv.

Alex half ihr, die Gurte anzulegen. O ja, er hatte seinen Spaß, als sie sich auf dem Parkplatz auf den Bauch legte, die Beine anhob, die Füße kreuzte und die Hände in die Schultergurte krallte. Lachend packte er ihre Füße und zog sie hoch, bis sich ihr Rücken durchbog wie während des Sprungs. Dann nahm er ihre Hände und breitete ihre Arme aus.

Für das Erinnerungsvideo standen sie Arm in Arm vor dem Flugzeug. Dann klinkte Alex sich in Cassies Gurte ein, schob sie vor sich her in die Maschine und zog sie auf seinen Schoß. Thumbs up, und los ging’s.

Während des halbstündigen Fluges legte Alex seine Arme um sie, und Cassies Hände lagen auf seinen Knien. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, die Wärme seines Körpers, selbst seinen Herzschlag. Er hielt sie fest an sich gepresst, als sie gemeinsam zur offenen Tür taumelten, und er lachte ausgelassen, als sie zusammen sprangen. »Yahoohoohoo!«

Der Flieger über ihnen wurde immer kleiner. Eine Minute freier Fall! Sechzig Sekunden mit Alex, der sie an sich presste und in den Nacken küsste: Ein Viel-Glück-Kuss!

Die Welt drehte sich um sie! Der kalte Luftstrom und der Ruck an den Tragegurten, als Alex den Fallschirm öffnete, versetzten Cassie in ein Hochgefühl, und sie schrie vor Vergnügen! Adrenalin pur!

Alex hing jetzt über ihr, packte ihre Hände und breitete ihre Arme aus. Wie ein Doppeldecker drehten sie ihre Runden über Canyonlands, und die roten Felsformationen von Island in the Sky rasten auf sie zu. Der Himmel glühte in den feurigen Farben des Sonnenuntergangs, und Cassie genoss die Schönheit der Landschaft unter ihr und Alex’ Körper über ihr.

Alex zog an den Steuerschlaufen, um den Flug zu stabilisieren und den Schirm zu lenken. Und er zeigte Cassie alles: Dead Horse Point mit der engen Schleife des leuchtend grünen Colorado. The Land of Standing Rocks mit seinen Canyons und Mesas im Herzen von Canyonlands. The Maze, ein unzugängliches Labyrinth aus engen Schluchten. The Needles, rot und ockerfarben gestreifte Felszinnen am fernen Horizont. Selbst einen der Arches konnte Cassie sehen, als Alex sie darauf aufmerksam machte. Er war Geologe, verriet er ihr. Er kannte sich hier aus.

O ja, und wie! Sie landeten fünf Meilen westlich der Drop Zone am Rand eines Canyons. Vom Wind abgetrieben? Von wegen! Alex wusste offenbar genau, was er tat.

Den Landeaufprall fingen sie mit angewinkelten Beinen ab, dann fielen sie übereinander in den Sand. Bevor Alex die Schultergurte abschnallen und den Fallschirm einholen konnte, bauschte ein Windstoß die Seide auf. Vom geblähten Fallschirm ließ er sich mit ihr über den Rand des Canyons ziehen, kichernd, lachend, johlend vor Vergnügen, trotz der Gefahr.

Sie sprangen über den Felssturz und landeten schließlich wie zwei Basejumper zwischen den vertrockneten Büschen im weichen Sand. Na toll! Und jetzt? Alex holte den Fallschirm ein und verstaute ihn im Rucksack, dann marschierten sie los. Die Landschaft glühte vor Hitze. Sie folgten einem schmalen Flusslauf nach Süden. Sie gingen. Sie schauten. Sie staunten. Sie redeten. Als Cassie stolperte, fing Alex sie auf. Wenn sie durstig wurde, gab er ihr einen Lifesaver mit Kirschgeschmack zum Lutschen. Als sie rasten wollte, hockte er neben ihr auf dem Felsvorsprung und legte seinen Ellbogen ganz selbstverständlich auf ihr angezogenes Knie.

Nach acht Meilen erreichten sie den Highway nach Moab. Als sie die mit Büschen und Bäumen überwucherte Böschung hinaufkletterten, standen sie direkt vor Hole ’n the Rock, einem roten Felsen mit einer Höhlenwohnung, einem Souvenir Shop und einem Trading Post. Hier wartete der Pickup, der sie nach Moab bringen sollte. Während der Fahrt legte Alex seinen Arm um sie, und Cassie lehnte sich an ihn, als würden sie sich seit vielen Jahren kennen, nicht erst seit wenigen Stunden.

Er rieb seine Nase an ihrer Wange und küsste sie sanft.

Sie wich ihm nicht aus. »Wofür war der?«

»Du siehst erschöpft aus nach der langen Wanderung. Ich dachte, der Kuss würde dir gut tun.«

Sie lachte. Dann drehte sie sich zu ihm um und küsste ihn auf die Lippen. »Du siehst aus, als könntest du auch einen vertragen.«

Ankunft in Moab: Alex und Cassie standen auf dem Parkplatz, verschwitzt, verstaubt, verlegen, verliebt. Und jetzt? Cassie wollte ihn zum Abendessen einladen, um sich für den Sprung bei ihm zu bedanken. Sie wollte ihn gerade fragen, in welchem Motel er wohnte, und ob sie bei ihm mal schnell duschen konnte ...

... da klingelte sein Handy.

Alex zog es aus der Tasche seiner Jeans, schaute auf das Display und presste die Lippen aufeinander. »Hallo, Shyla. Wie geht’s dir?« Seine Stimme klang sanft. »Ich komme gerade aus Canyonlands zurück, deshalb konntest du mich nicht erreichen. Der Sprung war toll ... Ja ... Okay ... Keine Ahnung, Shyla, ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme ... Ich brauche noch etwas Zeit für mich ... ein paar Tage ...«

In ihr zerbrach etwas. Ein Traum. Eine Sehnsucht.

Na klar, Alex hatte eine Freundin.

Während er mit Shyla sprach, drehte Cassie sich um und ging mit Tränen in den Augen. Als sie den Highway erreichte, weinte sie mit zuckenden Schultern.

Eine Weile saß Cassie reglos auf dem Bett und versuchte, die verträumten Erinnerungen an die Zeit vor zehn Jahren abzuschütteln. Wie schnell sie sich in Alex verliebt hatte! Wie überwältigend ihre Gefühle für ihn gewesen waren!

Wenn sie zurückblickte, gab es vieles, das sie gern ändern würde. Entscheidungen, die sie heute anders treffen würde. Die Höhen und Tiefen einer turbulenten Beziehung, verletzte Gefühle und zerstörte Hoffnungen. Und Tränen, von denen sie sich wünschte, sie hätte sie nie geweint.

Eines stand fest: Sie beide, Alex und sie, hätten sich mehr Zeit füreinander nehmen sollen, für ihre Liebe und ihr Glück.

Nun war es zu spät.

Mit dem Daumen strich Cassie über das verschmitzt lächelnde Gesicht des Playmobils am Fallschirm, dann hängte sie die Figur zurück an Jolies Infusionsständer und wischte sich die Tränen ab.

Alex’ Brief, den sie heute Morgen gelesen hatte, hatte sie ...

Es klopfte leise, und die Tür öffnete sich.

Dr Mayfield kam herein. Bevor sie die Tür hinter sich zufallen ließ, sah Cassie auf dem Gang das Fernsehteam von CBS San Francisco. Wo war Jolie? Sie musste doch erst mit ihr darüber reden!

»Hallo, Cassie.«

»Hallo, Karen.«

Mit verkniffenem Gesicht und hängenden Schultern kam Karen mit den geballten Fäusten in den Taschen ihres weißen Kittels auf sie zu. Offenbar wollte sie etwas sagen und wusste nicht wie.

Cassie las in ihren Augen, ihrer Stimme, ihrer Haltung und ihren beherrschten Gesten.

Karen, sonst die taffe Chefärztin, wirkte verletzlich. Ihr trauriger Blick sagte mehr als alle einfühlsamen Worte, mit denen sie das Schreckliche aussprach und das Befürchtete wahr machte: Jolie würde sterben.

Auch die besten Ärzte, die Mitfühlenden, die inmitten piepsender Geräte Menschlichkeit und Herzenswärme zeigen konnten, waren für diese belastende Aufgabe nicht ausgebildet. Mit dem Gefühl der Ohnmacht musste Karen den verwaisten Eltern mitteilen, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war, unbeschwert und glücklich.

Der verzweifelte Schrei blieb Cassie in der Kehle stecken. Stöhnend rang sie nach Luft und wimmerte wie erstickt.

Karen umarmte sie und hielt sie fest. »Es tut mir leid, Cassie«, versuchte sie, die Wucht der Angst und des Schmerzes zu lindern. »Er tut mir so unendlich leid.«

Cassie lehnte die Stirn gegen Karens Schulter und schluchzte auf.

Die Chemo ... die Blutwerte ...

Es ist so weit. Jetzt.

»Jolie?«, presste Cassie hervor, während sie gegen die körperlichen Reaktionen des Schocks ankämpfte: Sie begann zu schwitzen, sie zitterte, ihr war schwindelig, und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie fühlte sich wie im freien Fall, als würde sie gleich hart aufprallen, als würde sie gleich sterben.

»Sie weiß es, Cassie. Ich hab’s ihr gerade gesagt.«

Die Hoffnung stirbt nicht. Sie krepiert qualvoll über Wochen und Monate.

»Wie geht’s ihr?«, schniefte Cassie an Karens Schulter.

»Sie ist gefasst, ein tapferes kleines Mädchen. Sie ist so stark wie du, Cassie.«

Meine Tochter stirbt.

Ich würde mein Leben für sie geben, wenn sie nur weiterleben dürfte. Sie ist das Wertvollste in meinem Leben.

Cassies Knie zitterten, sie taumelte, und Karen führte sie behutsam zum Bett. »Setz dich, Cassie.«

Karen hockte sich neben sie und legte ihre Hand auf Cassies. Es war ein Zeichen der Verbundenheit. Karen nahm dieselbe versunkene Haltung ein wie Cassie und brachte sie auf diese Weise dazu, dass sie sich aufrichtete. Ein psychologischer Trick, ja klar, aber er wirkte.

Dr Mayfield war mehr als nur Jolies Kinderonkologin, die ihre Krankheit festgestellt hatte, als sie vier war, und die sie seitdem behandelte. Karen war eine Freundin, die Cassie durch ihre offene, unkomplizierte Art Hoffnung und Zuversicht gab. Seit einer durchwachten Nacht an Jolies Bett, die auf der Intensivstation der Kinderklinik mit dem Tode rang, duzten die beiden Frauen sich.

Die Chefärztin der Kinderonkologie und Expertin für Intensivmedizin arbeitete fast immer am Limit. Welche Belastung war es für Karen, wenn sie monatelang vergeblich um das Leben eines Kindes rang! Aber sie hatte noch die Kraft, sich Cassies Gefühlen zu stellen, und das rechnete Cassie ihr hoch an.

»Wo ist Jolie?«

»Bei Nell«, sagte Karen sanft. »Sie ist letzte Nacht gestorben.«

Cassie nickte schwach. »Finn hat es mir eben erzählt.«

»Ich wollte es dir sagen. Tut mir leid.«

»Schon gut. Karen ...« Cassie holte tief Luft.

Dr Mayfield ahnte, was sie sagen wollte und drückte ihre Hand. »Nein, Cassie.«

»Aber es ist ihre letzte Hoffnung!«

»Nein, Cassie«, wiederholte Karen eindringlich und besonnen. »Als Mutter kommst du als Spenderin nicht infrage. Du hast ihr das Leben geschenkt, aber du kannst sie nicht retten. Jolie hat die Hälfte der HLA-Merkmale von dir, die andere Hälfte von Alex.«

Cassie atmete langsam aus.

Alex.

Sein Brief.

Die Dokumente, die sie unterschreiben sollte.

Sie lagen noch auf ihrem Schreibtisch, wo sie sie gelesen hatte ... wo sie Alex gegoogelt hatte ... wo sie herausgefunden hatte, wo er jetzt lebte. Sie waren der Beweis dafür, dass alles, was ihr wichtig war, von einem Tag auf den anderen zu Ende gehen konnte ...

Mit beiden Händen fuhr Cassie sich über das glühende Gesicht. Dann betrachtete sie das Foto auf Jolies Nachttisch von ihnen beiden am Strand. Nick hatte die Aufnahme im sanften Gegenlicht des Sonnenuntergangs über dem Pazifik gemacht. Hand in Hand ging Cassie mit Jolie über den schimmernden nassen Sand, der den Himmel, die Wolken und die Sonne spiegelte. Jolie hopste kichernd neben ihr durch die Gischt der heranrollenden Wellen. Dabei berührte sie ihren reflektierten Schatten nicht, und es sah so aus, als tanzte ihr funny little girl über Wolken aus fliederfarbenem und orangerotem Licht.

Das Foto einer glücklichen Familie, so erschien es auf den ersten Blick: Mommy, Daddy und ihre süße Kleine am Strand. Aber so war es nicht. Denn das Foto war am Abend vor Jolies Zusammenbruch und der Untersuchung durch Dr Mayfield aufgenommen worden.

Karen missverstand ihre hochgezogenen Schultern, ihre ineinander verkrampften Hände. Sie legte ihre Hand auf Cassies Arm. »Ich werde nicht transplantieren, Cassie. Wenn ein Kind an einer unheilbaren Krankheit stirbt, ist das etwas, womit ich als Ärztin gelernt habe umzugehen. Aber wenn ein Kind an den Folgen eines Eingriffs, den ich vorgenommen habe, qualvoll zugrunde geht, kann ich das als Mensch nicht verantworten. Tut mir leid, Cassie. Die Abstoßungsreaktion ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst, das Schrecklichste, was du deiner Kleinen antun kannst. Ich kann dein Kind nicht heilen, wenn wir keinen passenden Spender finden, und ich will Jolie nicht zu Tode quälen.«

Cassie nickte langsam. Ihr Nacken war so verkrampft, dass die Bewegung schmerzte. »Wie lange noch?«

Karen schnaufte durch die Nase. »Ich weiß es nicht.«

»Monate?«

»Nein, Cassie.«

»Wochen?«

Karen nickte stumm.

Cassie barg das Gesicht in beiden Händen und schluchzte auf. Der Schmerz in ihr war unerträglich. Er zerriss sie.

»Ich kann gut verstehen, wie du dich jetzt fühlst, Cassie. Du hast panische Angst. Du bist wütend, traurig und hilflos. Du willst schreien und um dich schlagen. Dein Kind zu verlieren!« Karen atmete tief durch. »Natürlich willst du alles tun, um Jolies Leben zu retten. Du schenkst ihr Liebe, Geborgenheit, Sicherheit. Du erklärst ihr anhand von Bilderbüchern für Kinder, warum sie so leiden muss.

Du und ich, Cassie, wir haben alles getan, wirklich alles. Spritzen. Infusionen. Tabletten. Einspritzungen in die Wirbelsäule. Bluttransfusionen. Operationen. Bestrahlungen. Morphiumspritzen gegen die Schmerzen. Antibiotika gegen die Infektionen. Wochenlang lag deine Kleine im Halbkoma auf der Intensivstation. Deine Tochter lebt in diesem Zimmer, hier hat sie zwischen Hoffnung und Todesangst die schlimmsten Stunden ihres Lebens verbracht.

Ich weiß noch, wie sie war, als du sie in jener Nacht zu mir gebracht hast. Und sieh sie dir jetzt an. Das Gefühl, der Krankheit, den Symptomen und den Schmerzen hilflos ausgeliefert zu sein, hat sie schwermütig gemacht. Jolie ist ein stilles, ernstes Kind, das viel zu früh erwachsen werden musste. Selbstständig.

Ich bitte dich, Cassie, quäl deine Kleine nicht länger und gib ihr die Chance, die letzen Wochen ihres Lebens so zu verbringen, wie sie es sich wünscht. Hol sie nach Hause, zu Nick und dir, und schenk ihr die Liebe und die Geborgenheit, nach der Jolie sich sehnt. Und erfülle deinem Kind seinen Herzenswunsch. Ich hoffe, dass Jolie noch so lange lebt, bis ihr letzter Wunsch in Erfüllung geht.«

Cassie sah Karen von der Seite an. »Und was wünscht sie sich?«

»Und dieser graue Plüschdelfin? Ist der süß!«, lachte Janelle Gillingham, die Autorin des National Geographic-Artikels über die Armada of Golden Dreams. Die Reportage über den Fund des Schiffswracks wenige hundert Yards vor der Skyline von San Francisco sollte in einer der nächsten Ausgaben erscheinen.

»Meine Tochter hat ihn mir geschenkt ... Cassies Tochter.« Nick erinnerte sich an das letzte Weihnachtsfest, als Cassie und er Jolie für einige Tage nach Hause geholt hatten. Kichernd war die Kleine zu ihnen ins Bett gekrochen, um noch ein bisschen zu kuscheln, und hatte Nick ihren flauschigen Delfin vom WWF geschenkt.

»Dr Cassie Lacey?«, fragte Janelle Gillingham nach.

»Yup.«

»Und Ihre Tochter ist die kleine Jolie Lacey?«

Nick senkte den Kopf.

»Ich kenne Ihre Website. Es tut mir sehr leid.«

Er nickte verhalten.

»Ist es möglich, Dr Lacey zu interviewen? Ich hätte gern ein Foto von ihr. Tauchanzug, hochgeschobene Atemmaske, nasse Haare ...«

»Cassie ist nicht an Bord.«

»Sie ist bei Jolie«, vermutete Ms Gillingham.

»In der Klinik«, bestätigte Nick.

»Okay, dürfen wir dann ein Foto von Ihnen mit dem Delfin machen? Das gefällt mir besser als der Fotostream von Dr Nicholas Talcott im eleganten Armani-Anzug mit grauer Seidenkrawatte. Nicht, dass Sie im Anzug nicht umwerfend aussehen würden, Dr Talcott, ziemlich hip und sehr easy. Aber in Shirt und Shorts mit dem niedlichen Delfin gefallen Sie mir noch besser.« Janelle Gillingham wandte sich zu ihrem Fotografen um, der lässig in der Tür der Kommandozentrale des Forschungsschiffes lehnte. »Russ, kommst du? Dr Talcott, setzen Sie sich bitte vor diesen Monitor! Und während Peter Russell das Foto macht, könnten Sie uns erklären, wie das Gerät funktioniert?«

»Na klar.« Nick fuhr sich durch die von Wind und Salz zerzausten Locken und setzte sich an den Arbeitstisch. »Also, das ist das Gerät mit dem Ping.«

Janelle lachte ausgelassen. »Monty Python. Der Sinn des Lebens. Der Sketch im OP. Das Gerät mit dem Ping. Okay, Dr Talcott, haben Sie auch das teuerste Gerät hier?«, griff sie den Dialog aus dem Film auf und lehnte sich neben der Tastatur an den Arbeitstisch.

Nick konnte ihr Parfum riechen. Ein sommerlicher Duft, frisch und luftig wie eine Brise vom Meer, eine leichte Note von reifen Früchten, aber auch von Blüten.

Als er dieses Parfum als Stimmungaufheller für Cassie gekauft hatte, hatte ihm der Duft gefallen, am Pappkärtchen bei Macy’s und an ihr, auf der feuchten Haut nach dem Duschen. Aber er würde ihr einen neuen Duft kaufen, der ihn nicht an Janelle erinnerte. Etwas Frisches, das nach Natur und Meer duftete und Cassies spontane, unbeschwerte Lebensfreude widerspiegelte, etwas Warmes, das ihre natürliche Sinnlichkeit unterstrich.

Ich sehne mich nach ihr, dachte Nick, und ich freue mich auf den Abend mit ihr. Nach dem Interview mit CBS SF würde Cassie hoffentlich für ein paar Stunden zur Ruhe kommen, und sie konnten einen Sommerabend auf dem Deck ihres Hausboots genießen. Der erste seit ... keine Ahnung.

Nick lächelte Janelle an, die auf der Tischkante noch ein wenig näher an ihn herangerutscht war. »Das Ding mit dem Ping ist ein hochempfindliches Magnetometer«, erklärte er. »Das Gerät entdeckt selbst kleinste Gegenstände aus Metall, auch wenn sie mehrere Inches tief im Schlick der Bay vergraben liegen.«

»Und so haben Sie das Wrack gefunden?«

»Neben einem alten Auto und anderem Metallschrott, der während des Bebens vom Oktober 1989 von der Bay Bridge gefallen ist. Wie es scheint, hat das Beben das Wrack freigelegt.«

Janelle verzog die Lippen, und ihre Augen funkelten. »Und dann haben Sie entschieden, dass eine Untersuchung sich lohnt? Des Schiffes, meine ich – nicht des Autos.«

Nick grinste frech. »Die Corvette Stingray, Baujahr 1969, war noch gut erhalten, ebenso das Sixpack Bier, das wir gefunden haben.«

Janelle lächelte verschmitzt, und ihr Flirten wurde offensiver: »Fahren Sie jetzt die Corvette?«

Sind wir hier in einem Clive-Cussler-Roman? Bin ich Dirk Pitt, oder was? »Nein, der Besitzer hat sie wieder, und er hat sich sehr gefreut. Also, ich fahre einen Z4, am liebsten offen als Cabrio. Oder mein Bike. Sie wissen schon, schweres Gerät, wie man es sich in der Midlife Crisis zulegt.« Na? O ja, sie lächelt verträumt. Kerle in der Midlife Crisis sind ja für nichts zu gebrauchen, aber für alles zu haben. Okay, Nick, weiter im Text: »Damit komme ich am schnellsten von Oakland über die Bay Bridge und die Golden Gate Bridge nach Sausalito.«

Hey, jetzt kapiert? Hier in der Kommandozentrale rinnt schon manchmal Adrenalin von den Stahlwänden, aber im Moment ganz sicher nicht Testosteron.

Okay, sie hatte es kapiert, denn sie nickte verhalten. Sie hatte verstanden, dass Nick in Oakland wohnte, und Cassie in Sausalito. War sie enttäuscht, weil er gegen ihr Lächeln resistent war?

»Nebel, Felsen, Strömungen.« Janelles Tonfall war jetzt wieder ... ja, enttäuscht, sogar verlegen, als sie sich von der Tischkante abstieß. »Die San Francisco Bay ist berühmt für ihre mehr als zweihundert Wracks. Okay, nehmen wir das King Philip Shipwreck von 1878, das im April 2011 wieder mal aus dem Sand des Ocean Beach auftauchte. Es gilt als das am besten erhaltene Wrack eines Holzschiffes in der Bay Area. Was ist an Ihrem Wrack denn nun so aufregend?«

»Während des Goldrauschs segelten tausende Schiffe durch die Bay. Bei Sutter’s Mill am American River nordöstlich von Sacramento war 1848 Gold gefunden worden. Denken wir an den Goldrausch, stellen wir uns lange Trecks aus Planwagen vor, die aus dem Osten kamen.«

»Hollywood-Western. Lagerfeuer-Romantik. John Wayne und Randolph Scott.«

»Und in letzter Minute rettet die heranstürmende Kavallerie den Treck vor den Indianern. Nur ... die meisten Fortyniners kamen auf Schiffen nach San Francisco.«

»The Armada of Golden Dreams – die Flotte der goldenen Träume. So lautet übrigens die Headline meines Artikels. Die Fortyniners suchten ihr Glück auf den Goldfeldern, die Seeleute verließen ihre Schiffe und folgten ihnen. Eine Geisterflotte vermoderte im Hafen von San Francisco.« Mit den Händen formte Janelle den imaginären Rahmen für ein Foto, das sie in ihrer Vorstellung wohl gerade in ihren Artikel einfügte. »Die Schiffe in den Docks wurden zu Lagerhäusern, Gefängnissen, Bordellen, Saloons und Hotels umgebaut. Einige wurden versenkt, um Besitzansprüche auf Baugrund am Hafen zu sichern.

Das verrottende Holz, aufgefüllt mit Sand, wurde zu Land, heute eine der teuersten Gegenden von San Francisco, der Financial District an der ehemaligen Waterfront. Viele der begrabenen Schiffe sind in den letzten Jahren bei Bauarbeiten entdeckt worden. Im Internet gibt’s eine interessante Karte der Schiffswracks unter den Straßen von San Francisco. Die Transamerica Pyramid, das Wahrzeichen der Skyline, ist auf den verrotteten Schiffen der Fortyniners errichtet worden, die San Francisco zu einer der größten und bedeutendsten Städte Amerikas gemacht haben. Ja, so könnte mein Schlusssatz lauten.«

»Was, glauben Sie, passiert, wenn The Big One kommt?«, fragte Nick.

»Darüber werde ich in meinem nächsten Artikel für National Geographic schreiben. Ich will Dr Alex Lacey interviewen, der die katastrophalen Auswirkungen des nächsten großen Bebens erforscht hat, als er noch für den Katastrophenschutz in San Francisco gearbeitet hat. Sagen Sie ... Dr Lacey und Dr Lacey ... die beiden sind verheiratet, oder?«

Was sollte denn das? Jetzt noch? »Yeah.«

Okay, zugegeben, es klang vielleicht ein bisschen unwillig, aber verdammt!

»Tut mir leid.« Beschwichtigend hob Janelle beide Hände. »Also, Dr Talcott. Hundert Schiffswracks unter den Gebäuden und Straßen von San Francisco, ausgegraben und erforscht. Und ein gesunkenes Schiff in hundertfünfzig Fuß Tiefe am Grund der Bay. Wozu der Aufwand?«

»Gold.«

»Das Schiff hatte das Gold der Fortyniners an Bord?«

»Es sollte die Goldsucher nach Panama bringen, wo sie die Landenge überqueren wollten, um ein Schiff an die Ostküste zu besteigen. Das war damals der kürzeste Weg nach Hause.«

»Gold«, wiederholte Janelle andächtig.

»Und andere interessante Dinge. Wir haben menschliche Überreste gefunden. Das Wrack wurde nie geplündert.«

»Wow.«

»Das war auch die Reaktion der UNESCO und der Stadt San Francisco.«

Janelle war begeistert. »Dr Talcott, als Projektleiter könnten Sie das Wrack verlegen und konservieren. Sie könnten ein Unterwassermuseum errichten. Mit Glasgängen, die am Meeresgrund bis ans Wrack heranführen. Mit 3D-Filmen, die den Besuchern ...«

»That’s the idea. Die UNESCO will nicht nur die archäologisch interessanten Funde, sondern das gesamte Wrack als Underwater Cultural Heritage konservieren. Weltweit gibt es bisher nur drei solcher Unterwassermuseen. Eines davon ist das geplante Alexandria Underwater Museum Project über dem versunkenen Palast der Kleopatra. Hey, warum nicht eines in San Francisco?«

»Echt toll.«

Nick stemmte sich vom Stuhl hoch. »Nachdem Sie jetzt mein Schiff besichtigt haben, bringe ich Sie mal runter.«

Als sie an Deck der Pacific Sunset, einem der modernsten Forschungsschiffe der Welt, den Abstieg vorbereiteten und ihre Tauchausrüstungen anlegten, fiel Peter Russell Nicks leichtes Hinken auf. Russ’ weite Geste umfasste die Aufbauten mit den Nasslabors mit fließendem Seewasser, die Lagerräume für die Unterwasserfahrzeuge, Kameraschlitten und Tauchausrüstungen, die Tische an Deck, an denen das Archäologenteam arbeitete. »Ihr Schiff könnte aus einem Bestseller von Clive Cussler stammen. Es verfügt über Bugstabilisatoren, sodass Sie auch in rauer See ohne Probleme den Kurs halten und praktisch auf der Stelle wenden können. Aber Sie, Dr Talcott, haben ein bisschen Schlagseite.«

Nick schnallte sich den Tariergürtel mit Bleigewichten um, den Gordy ihm borgte. Cassie hatte seinen und ihren Tauchanzug samt Tauchermesser, Flossen, Brillen, Atemreglern und Pressluftflaschen in ihrem Ford Ranger liegen, denn am Wochenende wollten sie mal für ein paar Stunden verschwinden. In den letzten Monaten hatten sie kaum Zeit für sich gehabt. »Ein Andenken an den Kampf mit einem Hai.«

»Eine archäologische Expedition?«

»Ein Urlaub in Australien. Ein Tauchgang am Great Barrier Reef.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Dem Hai eins auf die Nase gegeben.«

»Waren Sie allein?«

»Dr Lacey war bei mir. Cassie hat dem Hai gleich noch eine verpasst, und er ist abgezogen.«

Russ nickte respektvoll, dann schob er sich das Mundstück zwischen die Zähne, packte die Gurte der schweren Flasche auf seinem Rücken und folgte Nick.

Die beiden brauchten keinen Einführungskurs über die Gefahren des Tauchens und das Atmen unter Wasser, sie waren beide schon getaucht. Nachdem Nick den Sicherheitscheck bei ihnen durchgeführt hatte, sprangen Peter Russell, Janelle Gillingham und er mit geschlossenen Beinen nacheinander in die Bay.

In einer glitzernden Wolke aus Milliarden von Luftbläschen, eine Hand an der Tauchbrille, die andere an den Gurten, damit das Flaschenventil beim Aufprall aufs Wasser nicht gegen den Hinterkopf knallte, sanken sie in die Tiefe. Das kalte Wasser der Bay drang zwischen Haut und Neopren ein, und Nick fröstelte.

Mit kräftigen Flossenschlägen schwamm er voran zum Meeresboden in hundertfünfzig Fuß Tiefe. Im trüben Wasser wurde bald eine Reihe sich kreuzender Linien aus weißem Kunststoff sichtbar. Sie markierten die Grabungsfelder.

Nahe den gut erhaltenen Planken des Rumpfes stellte Nick die beiden Cassies Team aus sieben Taucharchäologen vor, das im Licht der starken Scheinwerfer mit der großen Saugpumpe arbeitete, um das Areal von Schlick und Sand zu befreien. In den gelben Plastikboxen neben dem Wrack lagen erste kleine Fundstücke, die aus dem Sieb am Ende des Schlauchs stammten. Cody bereitete auf seinem Zeichenbrett eine maßstabsgetreue Skizze des gesunkenen Schiffes vor. Nur wenige Yards entfernt vermaß Jill für ihn eine Planke.

Peter Russell schoss Fotos vom Rumpf des Forschungsschiffes über ihnen, vom Wrack unter ihnen, den Archäologen und den Funden, während Nick erklärte, die Schicht der Taucher dauere nur vierzig Minuten. Dann müssten sie zurück an die Oberfläche, ein Aufstieg in Etappen. Denn aus dieser Tiefe brauchte der Körper eine Stunde, um sich wieder an den normalen Druck anzupassen. Ein zweites Team, ebenfalls unter Cassies Leitung, setzte unterdessen die Arbeit fort.

Mike MacMillan schüttelte gerade einen Porzellanteller aus dem Schlick, als Nick das NG-Team zu ihm brachte. »Micmac«, sagte er über Funk, »das sind Janelle Gillingham und Peter Russell.«

Micmac winkte den beiden zu. »Hi.«

Nick wandte sich an Janelle. »Mike MacMillan führt Sie ein bisschen rum und erklärt Ihnen alles. Er bringt Sie auch wieder rauf zum Schiff und achtet darauf, dass Sie die Deko-Stopps ... äh, die Dekompressionspausen ... einhalten.«

»Okay, danke.«

»Wenn Sie nach der Sightseeing Tour noch Fragen haben, rufen Sie mich jederzeit an.«

»Klar, mach ich.«

Nick wollte sich schon abwenden, da berührte Janelle ihn am Arm. »Dr Talcott ...«

»Ja?«

»Sie sind der Projektleiter, aber Dr Lacey leitet die Archäologenteams am Meeresboden. Ich hätte wirklich gern ein Foto von Ihnen beiden, wie Sie im Tauchanzug nacheinander an Bord kommen. Mr Boss und Mrs Boss ...« Das verkniffene Lächeln unter ihrer Atemmaske konnte Nick nur erahnen, als er ihre Zähne rund ums Mundstück aufscheinen sah.

Okay, sie hatte es endlich kapiert.

»Ich werde sehen, was ich machen kann.«

Von der Golden Gate Bridge preschte Nick über den Highway bis zur Ausfahrt Sausalito. Ein paar Schlenker mit dem Motorbike, dann hatte er den Parkplatz vor dem Liberty Dock erreicht. Nichts frei, wie immer.

Die Sonne brannte ungewöhnlich heiß, als er mit röhrendem Motor die schwere Maschine durch den Holzpavillon mit dem Namen des Docks steuerte und über die silbergrauen Planken vorwärtsschoss.

Zwischen den Hausbooten und den Segelschiffen an den Bootsstegen paddelten Touristen in Kayaks umher und machten Fotos von den abenteuerlichsten Floating Homes. Ein beliebtes Motiv waren auch die bunt bemalten Mailboxes auf dem Gerüst am Eingang des benachbarten Piers. Oder die pazifischen Nebel, die wie ein feines Gespinst die Hügel hinunter bis zum Hafen glitten und sich im Wasser spiegelten. Bei Mondschein auf dem Pier hatte Nick selbst schon solche Fotos gemacht.

Hey, über die Liberty Dock Alley flitzte ihm mit ausgebreiteten Armen ein kleiner Junge entgegen.

Connor, na klar!