Das verborgene Brot - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Das verborgene Brot E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Einen Lebenskünstler könnte man den Lehrer Friedemann Kranzbinder nennen: Er bringt es fertig, auch unliebsamen Geschehnissen noch eine gute Seite abzugewinnen. Geprägt durch ein christliches Elternhaus und geformt in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, hat er zu der Kraft gefunden, die ihn befähigt, den Menschen seiner Umgebung ein solch warmherziges Interesse entgegenzubringen, dass ein jeder meint, sein Schicksal bedeute Friedemann Kranzbinder im Augenblick am meisten. Rosmarie, seine feinfühlige und tapfere Frau, steht ihm in der gleichen Haltung und Gesinnung zur Seite. Gemeinsam machen sie die Not derer, die ihnen begegnen, zu der ihren. Kranzbinders Familienleben ist harmonisch, doch keineswegs unproblematisch. Dass der Vater bei aller Güte seine Grundsätze vertritt und von antiautoritärer Erziehung nichts hält, behagt vor allem dem ältesten Sohn nicht. Friedemann und Rosmarie Kranzbinder reden selten über ihren Glauben. Desto eindeutiger leben sie ihn. Sie wissen um das »verborgene Brot«, von dem es in der Heiligen Schrift heißt: »Meine Speise ist die, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat.« An dieser Familiengeschichte aus unseren Tagen wird deutlich, wie ein Leben aus Glauben auch in unserer Zeit geführt werden kann. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Das verborgene Brot

Band 26

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-147-3

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Das verborgene Brot

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Das verborgene Brot

Als Friedemann Kranzbinder merkte, wie schwer seiner Frau der Abschied von dem kleinen Albdorf fiel, suchte er nach einem Wort der Hilfe und des Trostes für sie. Auch ihm wurde es nicht leicht, den Ort, das Haus und vor allem die Tätigkeit aufzugeben, die ihnen in den vergangenen Jahren Lebensinhalt, Heimat und Geborgenheit bedeutet hatte.

Hier hatten sie als Jungverheiratete ihren gemeinsamen Weg begonnen. Hier waren ihre vier Kinder geboren worden, und hier hatten sie mit den Dorfbewohnern Freud und Leid geteilt. Unter der Führung eines bewährten Schulmeisters war ihm, Friedemann, Hilfe und Erfahrung vermittelt worden. Als der alte Lehrer pensioniert worden war, blieb er bei dem jungen Ehepaar, das ihn wie einen Vater liebgewonnen hatte.

Abgesehen von geringen dörflichen Zwischenfällen und einigen Vorkommnissen in der Schule, wie sie nun einmal nicht ausblieben, war das Leben auf der Alb geruhsam gewesen. Kranzbinders Kinder wuchsen in einer Umgebung auf, in der sie gedeihen konnten. Der Lärm und die Unrast der Stadt waren noch nicht in das kleine Albdorf gedrungen. Doch einige Jahre später hatten die Fangarme der Hetze und des Getriebes, die man in den Städten schon längst kannte, sich auch nach den Dörfern ausgestreckt und ihre Bewohner beeinflusst.

Nun musste Friedemann Kranzbinder das Dorf verlassen und mit seiner Familie hinunter in die Stadt ziehen. Welch eine Umstellung für alle! Schon in jungen Jahren war es Friedemann zum Bedürfnis geworden, Gedanken und Erkenntnisse, die ihm wichtig schienen, niederzuschreiben und sie immer wieder einmal zu lesen und zu überdenken. Das schuf ihm eine kleine abgesonderte Welt, in die er sich nach Bedarf zurückziehen und in der er neue Kraft schöpfen konnte.

Friedemann merkte, dass seine Frau Rosmarie wie unter einer Last umherging, als sich der Tag des Umzugs näherte. Sie, die Sensible, vermochte mit dem, was auf sie zukam, nicht so schnell fertig zu werden. Sie bejahte zwar den neuen Weg, weil sie erkannte, dass es für ihren Mann beruflich keinen anderen gab, doch fiel ihr der Wechsel unsagbar schwer.

Eines Morgens, als Friedemann das Haus schon recht früh verlassen musste, weil er an einer Sitzung in der Stadt teilnahm, fand sie auf einem Blatt folgende Worte, die ihr Mann geschrieben hatte:

Jedem Abschied folgt ein neuer Anfang.

Nie gibt's Stillstand oder Ende.

Lass uns sorgen, dass man morgen uns dafür gerüstet fände.

Was erfahren wir in Jahren, lass uns nehmen in den nächsten Tag, dass aus diesem auch das Neue wertbeständig werden mag.

Nichts ist Zufall, alles Führung – wichtig nur, dass wir dran reifen; auch den weit'ren Schritt bejahen und es lernen, zu begreifen, dass selbst solches, was uns quäle, einst – so ist es Gottes Wille – für uns zur Erfahrung zähle, die in uns Bereitschaft wecke, uns zu fügen und zu lernen; so dass wir am End' der Tage voller Dank vor Gott erkennen:

Alles hatte seinen Sinn, führt uns zur Vollendung hin.

Rosmarie hatte Friedemann verstanden. Sie schämte sich ihres Kleinmuts und nahm sich fest vor, ihn zu überwinden. Ihr Mann brauchte gerade jetzt eine zuversichtliche, tapfere Frau.

Als Friedemann Kranzbinder von der Sitzung nach Hause kam, öffnete seine Frau ihm die Tür mit den Worten: „Ich danke dir! Ich habe gut verstanden, was du mir sagen wolltest und“ – sie schmiegte sich an ihn – „ich will mir Mühe geben, die immer wieder in mir aufsteigende Angst vor dem Kommenden zu überwinden.“

Da erwiderte er fröhlich: „Wir gehen ja den Weg in die neue Zukunft gemeinsam! Einer stützt den andern.“

„Was halten Sie von dem Neuen?“

„Sie meinen den neuen Kollegen?“

„Ja, Kranzmüller, oder …“

„Kranzbinder, Herr Bauer.“

„Eben, Müller oder Binder – jedenfalls Kranz. Ja, wie gefällt er Ihnen?“

Herr Schmidtknecht antwortete nicht gleich. Der Kollege Bauer war dafür bekannt, dass er mit Vorliebe Neuigkeiten weitertrug. Kranzbinder gefiel ihm nicht schlecht – vielleicht ein etwas zu weicher, nachgiebiger Typ. Aber man musste abwarten. So antwortete er: „Ich maße mir noch kein Urteil an. Er ist ja erst kurze Zeit an der Schule.“

„Aber man hat inzwischen schon einen flüchtigen Eindruck gewinnen können, und ganz ohne Menschenkenntnis ist man ja schließlich auch nicht.“

„Gefällt er Ihnen nicht, Herr Bauer?“

„Ich glaube, er ist ein Streber. Haben Sie nicht beobachtet, wie er sich hervortat, als der Rektor den Fall Kojetzki behandelte?“

„Ja, da hat er sich geradezu ereifert. Aber ich glaube, da war die besondere Situation Ursache seines Eifers. Vielleicht hat er einmal selber auf diesem Gebiet Pech gehabt und so seine Lektion fürs Leben gelernt. Sonst kommt er mir eher still und abwartend vor.“

„Ich weiß nicht. Hat sein Abwarten nicht etwas Lauerndes? Er beobachtet scharf. So viel habe ich schon gemerkt. Ich glaube, man muss sich vor ihm hüten.“

Die beiden Lehrer befanden sich auf dem Heimweg von der Schule. Ein weiterer Kollege gesellte sich zu ihnen.

„Vor wem muss man sich hüten?“ schaltete sich Herr Krambus in das Gespräch der beiden ein.

„Wir sprechen von dem neuen Kollegen Kranzbinder. Wie gefällt er Ihnen?“

„Ich finde ihn ganz sympathisch, obwohl er zu den Frommen gehört.“

„Woher wollen Sie denn das nach so kurzer Zeit überhaupt wissen?“

„Erstens geht meine Tochter zu ihm in die Klasse, zweitens ist er seit seinem Hiersein an jedem der drei Sonntage mit der ganzen Familie in der Kirche gewesen.“

„Na, dann müssen Sie ja auch zu den Frommen gehören – was mir zwar ganz neu ist.“ Die letzten Worte wurden von spöttischem Lachen begleitet. „Wie sollten Sie ihn in der Kirche gesehen haben, wenn Sie nicht selber dort waren?“

„Falsch getippt, Herr Kollege. Aber ich habe eine Schwiegermutter, deren Haus gegenüber der Kirche steht, und die hat ihren sonntäglichen Platz am Wohnzimmerfenster.“

„Sprich: Spion!“ ergänzte bedeutungsvoll Kollege Bauer.

„Wie Sie wollen. Jedenfalls ist sie genauestens orientiert über die Besucher der Gottesdienste.“

„Ich meine, es ist verfrüht, wenn wir nach so wenigen Tagen schon ein Urteil über Herrn Kranzbinder fällen wollen. Lassen wir uns überraschen. Guten Appetit, meine Herren!“ Damit bog Herr Schmidtknecht in die Seitenstraße ein, wo er ein hübsches Einfamilienhaus besaß.

Auch Rektor Friederich schien sich mit dem Neuen zu beschäftigen. Nachdem er seinen Teller leergegessen hatte, lehnte er sich behaglich auf seinem Stuhl zurück und sah seine Frau freundlich an.

„Du hast wieder einmal eine prima Suppe gekocht, Kätchen.“

„Das freut mich, Egon. Marie“, das war die langjährige Hausgehilfin, „wird gleich das übrige aus der Küche bringen. Aber sag, wie ist es dir heute Morgen ergangen? Du siehst weniger abgekämpft aus als sonst.“

„Dir entgeht aber auch nichts. Ja, du hast recht. Es war ein Vormittag ohne große Aufregungen. Außerdem glaube ich, mit dem neuen Kollegen einen guten Fang getan zu haben.“

„Das ist doch der Herr –“

„Kranzbinder. Im Gegensatz zu einigen anderen strömt er eine geradezu wohltuende Ruhe aus. Aber natürlich kann man nach so kurzer Zeit nicht viel sagen. Zweierlei ist mir auf gefallen: Er kann nicht nur reden, sondern auch zuhören. Wenn wir im Lehrerkollegium zusammen sind, ist er ein guter Beobachter, streut höchstens dann und wann in ruhiger, überlegener Art eine Bemerkung ein und antwortet sachlich, wenn er gefragt wird.“

„Und wo hast du ihn als guten Redner kennengelernt?“

„Ach, da war doch die unliebsame Geschichte mit dem Kojetzki, der den Kollegen Bauer durch sein freches, unverschämtes Benehmen vor der ganzen Klasse bis zur Weißglut gebracht hat, so dass dieser sich nicht mehr halten konnte und ihm eine saftige Ohrfeige verpasste – was natürlich nicht erlaubt ist. Aber verstehen kann ich es schon. Wie oft zuckt es auch mir in der Hand, doch ich werde mich hüten. Es könnte mich unter Umständen meinen Platz als Schulleiter kosten.“

„Und wie hat nun Herr Kranzbinder reagiert?“

„Die Wogen im Lehrerkollegium schlugen an diesem Morgen hoch, das kannst du dir denken. Die meisten waren natürlich dafür, dass man die Prügelstrafe wieder einführe. Kranzbinder aber sagte ungefähr folgendes: Wenn wir uns bei unseren Schülern nur durch körperliche Züchtigung durchsetzen können, geben wir uns eigentlich ein Armutszeugnis. Er gebe zu, dass es auch ihm nicht immer leicht falle, sich zu beherrschen, besonderes in den oberen Klassen, in denen man häufiger erlebe, dass Schüler uns in herausfordernder Frechheit begegnen. Daraufhin hat der Kollege Bauer ihn ziemlich ironisch gebeten, ihm aus dem Bereich seiner Erfahrungen ein Rezept zu nennen, mit dem man sich bei solchen Schülern durchsetzen könne. ,Ein Rezept kann ich Ihnen dafür nicht geben’, hat Herr Kranzbinder völlig ruhig geantwortet. ,Doch das kann ich Ihnen sagen, dass ich mich jeden Morgen bewusst innerlich wappne, um allen Überraschungen begegnen zu können.‘“

Ein vielsagendes Räuspern einiger jüngerer Kollegen, die sich unzweideutige Blicke zuwarfen, war die Reaktion auf diese Worte. Es spricht sich nämlich langsam herum, dass der Kranzbinder fromm ist. Kollege Bauer aber hat ihm noch einen letzten geringschätzigen Blick zugeworfen und gesagt: ,An Ihrer Stelle würde ich die Meinung von Kollegen, die etliche Jahre länger als Sie unterrichten, nicht gering schätzen.‘“

„Au wei! Das wurde ja eine knisternde Atmosphäre!“ meinte die Frau des Rektors. „Wie ging es denn weiter?“

„Ich fand es an der Zeit, mich einzuschalten“, fuhr ihr Mann fort, „und habe gesagt: Ja, wir haben alle im Laufe der Jahre unsere Erfahrungen machen müssen, und ich glaube, dass keiner unter uns, auch nicht der älteste, sagen könnte, er habe nichts mehr hinzuzulernen.“

„Bravo, Egon! Das hast du gut gesagt.“

„Der Bauer knurrte noch in sich hinein: ,Ich bin nur froh, dass ich die Zeit bis zu meiner Pensionierung übersehen kann.‘ So jedenfalls habe ich es verstanden. Dann läutete es zur Beendigung der großen Pause.“

„Ihr Lehrer habt es in der heutigen Zeit wirklich nicht leicht“, stellte Frau Friederich zum hundertsten Male fest. „‘s ist kein Wunder, wenn man immer wieder hört, dass der eine oder andere einen Herzinfarkt bekommt.“

„Nun, ganz so schwarz darfst du es nicht sehen, Kätchen. Auch in anderen Berufen werden heute große Anforderungen gestellt.“

„Aber die Jugend in unseren Tagen!“ Frau Friederich warf einen klagenden Blick zur Zimmerdecke. „Ich muss dich bewundern, Egon! Eine solche Eselsgeduld brächte ich nicht auf.“

„Heißt es nicht Engelsgeduld?“ fragte er lachend. „Aber ich hoffe, in dem neuen Kollegen eine spürbare Verstärkung bekommen zu haben. Doch nun will ich mich noch eine halbe Stunde aufs Ohr legen, bevor ich wieder in die Schule muss.“

„Tu das! Ich bringe dir rechtzeitig den Kaffee.“

Es war ein paar Stunden später. Frau Kranzbinder öffnete ihrem Mann die Wohnungstür. Sie hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen und sich vorgenommen, ihn heute nicht gleich mit den unliebsamen Geschehnissen des Nachmittags zu überfallen. Hatte er im Schuldienst nicht genug Unerfreuliches, womit er fertig werden musste? Im Stillen bewunderte sie ihn wegen seiner inneren Gelassenheit. Ach, wenn sie doch auch so wäre! Sie nahm immer gleich alles so schwer.

In der ihm eigenen Herzlichkeit begrüßte Friedemann seine Frau: „Guten Abend, Rosmarie! Freu dich mit mir! Heute fällt die Sitzung aus, ich muss also nicht mehr fort. Wie ist es dir inzwischen ergangen?“

Ehe Frau Kranzbinder antworten konnte, stürmten die beiden Jüngsten aus der Küche, wo sie bei der Mutter gespielt hatten. Im Kinderzimmer saßen die zwei Großen an ihren Schulaufgaben.

„Vati, Vati! Die alte Hexe war heute wieder so gemein zur Mutti. Sie hat –“

Erschrocken schloss Frau Kranzbinder die Wohnungstür.

„Kinder, wie oft habe ich euch nun schon gesagt, dass ihr nicht in dieser Weise von Frau Purzel sprechen sollt. Stellt euch vor, was daraus wird, wenn sie eure Worte gehört hat!“

„Aber sie ist doch eine richtige –“ Ehe Berthild das verbotene Wort wiederholen konnte, verschloss Vaters Hand ihr den Mund.

„Pst, Berthild! Wenn Mutti nicht möchte, dass du so Frau Purzel titulierst, dann solltest du es auch nicht mehr tun.“

„Aber stell dir vor, sie hat die Küchentücher, die Mutti hinters Haus gehängt hat, einfach abgenommen und ins Gras geworfen und dabei geschrien: ,Sie wissen doch genau, Frau Kranzbinder, dass Ihr Wäschetag der Donnerstag und nicht der Montag ist.‘“

„Ja, und sie hat uns ausgeschimpft, wir hätten absichtlich

Dreck ins Haus geschleift, wo das doch gar nicht wahr ist“, fügte William, der Jüngste, empört hinzu.

Frau Kranzbinder umfasste jetzt mit ihren Händen die Schultern der beiden Kinder und blickte ihnen ernst in die Augen. „Berthild und William, hatten wir uns nicht fest vorgenommen, den Vati nicht gleich wieder mit diesen unerfreulichen Dingen zu überfallen, wenn er aus der Schule nach Hause kommt?“

Schuldbewusst senkten die beiden die Augen. Doch Berthild meinte, trotzdem aufbegehren zu müssen. „Ja, Mutti, das stimmt. Aber meinst du, wir hätten nicht gesehen, wie traurig du wieder warst. Sogar Tränen hattest du wieder in den Augen.“

„Ach, was werdet ihr schon gesehen haben“, wehrte Frau Kranzbinder die Kinder ab.

Ihrem Mann aber entging es nicht, dass sich ihr Gesicht rötete. „Wir werden über alles nach dem Abendessen miteinander reden“, beruhigte er die Kinder, deren Empörung er zu verstehen suchte. Darum auch musste er ihnen Gelegenheit geben, sich vom Herzen zu reden, was sie bewegte.

„Habt ihr schon den Tisch gedeckt? Wo sind die beiden Großen?“

Er öffnete die Tür zum Kinderzimmer, während Frau Kranzbinder in die Küche ging, um die letzten Vorbereitungen zum Abendessen zu treffen.

„Na, ihr beiden?“ grüßte sie der Vater. „Kommt ihr mit den Schulaufgaben zurecht?“

„O Vati, diese blöde Mengenlehre! Ich glaube, unser Lehrer versteht sie selbst nicht recht.“

„Wir werden uns die Sache näher ansehen. Ich denke, gemeinsam schaffen wir es schon. Und was machst du, Anita?“

„Wir haben einen Aufsatz zu schreiben, aber ich bin schon beim letzten Satz.“

„Wie lautet das Thema?“

„Unsere lieben Nachbarn!“

„Au, das finde ich gewagt.“

„Die Lehrerin hat gesagt, wir sollen nur von freundlichen Nachbarn schreiben. Da wir keine haben, ist mein Aufsatz ziemlich kurz geworden. Hör mal zu, Vati, was ich geschrieben habe: Wir haben keine Nachbarn, weder freundliche noch andere. Links neben uns ist eine Tischlerei, deren Besitzer nicht dort wohnt. Rechts ist ein Garten, in den wir nicht hineindürfen. Der gehört nämlich unserer Hausbesitzerin, die mit uns im gleichen Haus wohnt. Sie ist also keine Nachbarin. Und wenn sie eine wäre, dürfte ich über sie nicht schreiben, weil wir nur von lieben Nachbarn erzählen sollen, das aber ist sie nicht; denn sie ärgert uns jeden Tag halbtot.“

„Zum Essen kommen!“ rief in diesem Augenblick die Mutter.

„Auch über deinen Aufsatz wollen wir nachher noch reden“, sagte der Vater zu seiner Tochter. „Ich meine, du solltest ihn noch etwas ändern. Da du ja nicht über unsere Hausbesitzerin, sondern über unsere Nachbarn schreiben sollst, könntest du eigentlich davon absehen, Frau Purzel in deinem Heft erscheinen zu lassen.“

„Ach Vati! Soll das heißen, dass ich alles noch einmal schreiben muss?“

Die Kinder waren schon eine Weile im Bett. Nach einer liebevollen Ermahnung der Mutter und einer etwas kräftigeren des Vaters war es im Zimmer der Jungen wie auch in dem der beiden Mädchen endlich still geworden. Ursache ihres lebhaften Gesprächs war der letzte Ausspruch des Vaters gewesen, nachdem alle vier Kinder sich erneut darüber geäußert hatten, dass es doch tausendmal schöner im Schulhaus oben auf der Alb gewesen sei und dass man auf der Stelle wieder dorthin zurückkehren würde, wenn es möglich wäre. Nur Thomas hatte schließlich gemeint, das Leben in der Stadt biete doch mancherlei Erleichterungen, vor allem sei es hier nicht so eintönig wie im Dorf.

Trotz des Protestes ihrer Eltern hatten die Kinder an der Hausbesitzerin keinen guten Faden gelassen, und hätte Vaters Machtwort ihrem Wortschwall nicht energisch Einhalt geboten, wäre es nicht bei einer Verwünschung geblieben.

„So ein giftiges Weib ist mir noch nie über den Weg gelaufen!“ hatte Thomas gerade noch hervorbringen können.

Nun saßen die Eltern alleine im Wohnzimmer. Ihre Gedanken gingen die gleichen Wege.

„Mir geht es in erster Linie um dich, Rosmarie“, sagte jetzt Herr Kranzbinder zu seiner Frau. „Ich bin täglich stundenlang in der Schule, ebenso die Kinder, denen es nicht schadet, wenn sie lernen, Rücksicht zu nehmen und sich einzufügen. Sie werden im Leben noch in manche Situationen geraten, in denen sie ihren Kopf nicht durchsetzen können und auch zu Ungerechtigkeiten schweigen müssen. Aber du, Rosmarie, bist den ganzen Tag den Launen und Intrigen dieser Frau ausgesetzt. Das zehrt an deinen Nerven, dieses ständige In-Angst-leben-Müssen, irgendetwas falsch zu machen. Ich werde am kommenden Samstag, wenn schulfrei ist, noch einmal zu ihr hinauf gehen und versuchen, mit ihr zu reden.“

„Es ist gut, dass du /versuchen' sagst. In den acht Wochen unseres Hierseins hast du es doch schon dreimal probiert. Sie lässt dich ja gar nicht zu Wort kommen und wird dich auch diesmal wieder anschreien: ,Wenn es Ihnen nicht passt, dann können Sie ja kündigen, bevor Sie von mir die Kündigung erhalten. Glauben Sie doch ja nicht, dass sich ein Hausbesitzer darum reißt, eine Familie mit vier Kindern in seine Wohnung zu bekommen. So dumm konnte ja nur ich sein.‘ Du weißt, Friedemann, so hat sie es noch jedes Mal gemacht, wenn du bei ihr warst.“

„Ja, Rosmarie, das stimmt. Aber bis jetzt habe ich immer nur um ihr Verständnis gebeten. Nun ist es an der Zeit, dass ich den Vertrag mitnehme, den wir miteinander aufgesetzt haben und den sie genauso gut wie wir unterschrieben hat.“

„Du wirst sehen, sie setzt sich darüber hinweg“, meinte Frau Kranzbinder.

„Das kann sie nicht, und außerdem wird sie sich hüten, uns zu kündigen. Man kann eine Familie mit vier Kindern nicht einfach auf die Straße setzen. Immerhin gibt es ein Mieterschutzgesetz. Hinzu kommt, dass sie genau weiß, wie man über sie in der Stadt spricht. Anscheinend hat sie es bis jetzt mit jedem ihrer Mieter so gemacht.“

„Warum hat man uns das nicht gesagt, als wir uns um diese Wohnung bemühten?“

Herr Kranzbinder betrachtete es nicht als ein Unrecht, seiner Frau verschwiegen zu haben, dass er von zwei verschiedenen Seiten gewarnt worden war, in das Haus von Frau Purzel zu ziehen. Nachdem er aber lange vergeblich nach einer passenden Wohnung gesucht und diese ihnen recht gut gefallen hatte, glaubte er, so schlimm, wie man über diese Frau sprach, würde sie in Wirklichkeit nicht sein. Auch jetzt sagte er Rosmarie nichts von den Warnungen, die er bekommen hatte. Sie war so sensibel und trug an den bestehenden Verhältnissen schon schwer genug.

„Komm, sing mir zum Abschluss des Tages noch ein Lied“, versuchte Herr Kranzbinder seine Frau zu ermuntern, der allerdings nicht nach Singen zumute war. Aber ihm zuliebe überwand sie sich, wusste sie doch, dass er an seiner Hausorgel am schnellsten über die alltäglichen Kümmernisse hinwegkam. Wie oft hatte er sie schon aus ihrer Ängstlichkeit und dem Sorgengeist herausgerissen, in die sie sich immer wieder hineinverstrickte.

„Ach, Friedemann, wenn ich dich nicht hätte!“ sagte Rosmarie dankbar.

Er saß bereits auf der Orgelbank, und während seine linke Hand den Tasten die ersten Töne entlockte, griff er mit der Rechten nach seiner Frau und zog sie liebevoll an sich.

„Und ich, Rosmarie – wenn ich dich nicht hätte!“

„Was soll ich singen?“ fragte sie.

„Schaffs mit mir, Gott, nach deinem Willen; es sei dir alles heimgestellt.“

In der Tat – nachdem das Lied verklungen war, wurde auch das Herz Frau Kranzbinders ruhiger. Noch immer war es so gewesen: ein geistliches Lied, ein geistliches Wort verfehlte seine Wirkung bei ihr nicht.

Friedemann Kranzbinder war mehr als zehn Jahre in einer kleinen Landgemeinde auf der Schwäbischen Alb als Dorfschullehrer tätig gewesen. Der Geburt nach war er Pommer. Seit Generationen waren seine Vorfahren Lehrer. Zuletzt hatte sein Vater in Kolberg, einem Badeort an der Ostsee, unterrichtet. Als 1939 der Krieg begann, musste der Vater Soldat werden.

Nie würde Friedemann vergessen, wie er mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Geschwistern – das Kleinste war noch kein Vierteljahr alt – vor ihrem Häuschen gestanden und dem Vater nachgewinkt hatte. Der Vater kehrte nie wieder zu ihnen zurück. Neun Jahre alt war Friedemann gewesen, als der Vater ihn zum letzten Mal an sich gezogen und zu ihm gesagt hatte: „Du bist mein Ältester. Wenn ich jetzt nicht zu Hause bin, musst du auf die Mutter und deine Geschwister achtgeben. Nicht wahr, du versprichst mir das? Du bist nun schon ein großer, recht vernünftiger Junge und kannst der Mutter manche Arbeit abnehmen. Pass auf die Kleinen auf, mein Sohn!“

„Ja, dass sie nicht ins Meer fallen und ertrinken“, hatte er ernsthaft hinzugefügt. „Und einkaufen kann ich auch schon, Vati, frischgeräucherte Flundern und Fische, wenn die Boote vom Fang kommen.“

Lächelnd hatte der Vater ihm zugenickt. „Ja, und Kohlen und Holz kannst du auch aus dem Keller holen, nicht wahr?“

„Ja, Vater.“

Ach wie genau wusste Friedemann sich noch an dieses letzte Gespräch mit dem Vater zu erinnern! Oft hatte er in den kommenden Monaten mit dem Schwesterchen an der Hand und dem kleinen Bruder im Kinderwagen am Strand gestanden und über die weite Wasserfläche geblickt. Nichts als Wasser und Himmel hatte man dort gesehen. Immer wieder hatte er gemeint, am Horizont müsste ein Schiff auftauchen und den Vater nach Hause bringen. Aber nicht einmal Urlaub hatte er gehabt. Und dann war der Brief gekommen, in dem man der Mutter mitteilte, dass ihr Mann auf dem Felde der Ehre – so hieß es in dem Schreiben – für Volk und Vaterland sein Leben gelassen hatte. Auch die wie erloschen scheinenden Augen der Mutter würde Friedemann nie vergessen können.

Die großen Worte „Auf dem Felde der Ehre für Volk und Vaterland gefallen“ verstand er damals noch nicht. Aber so viel begriff er: Sein Vater war tot und würde nie mehr heimkehren.

„Ist Ihr Ältester immer so ernst und still?“ hatte in jener Zeit mancher Erwachsene die Kriegerwitwe gefragt. „Man sieht ihn kaum mit anderen Kindern auf der Straße, höchstens, wenn er mit einem Korb voll Kartoffeln oder einer Tasche mit Lebensmitteln aus der Stadt kommt.“

Was hätte die Mutter darauf antworten sollen? Sie wusste, dass ihr Großer – so nannte sie Friedemann damals oft – im Grunde seines Wesens ein frohes Kind war und seine Jugend in normalen Zeiten unbeschwert genossen hätte. Nun schien es, dass er an dem Vermächtnis seines Vaters schwer trug. Mit einem fast unkindlichen Verantwortungsbewusstsein wiederholte er immer wieder die Worte, wenn die kleinen Geschwister ihm mit Eigensinn und Ungehorsam zu schaffen machten: „Vater hat gesagt, ich soll auf euch aufpassen.“

„Aber nicht, dass wir dir gehorchen müssen“, konnte ihm dann die um drei Jahre jüngere Schwester widersprechen.

Wenn Friedemann seine Hausaufgaben gemacht hatte – er tat dies mit großer Gewissenhaftigkeit –, dann ermunterte ihn die Mutter des Öfteren: „Jetzt geh du auch ein wenig ein die frische Luft oder an den Strand. Du sitzt mir zu viel im Haus herum.“

Darauf antwortete er: „Vater hat gesagt …“

Dann nahm er den Holzkorb oder die Einkaufstasche. „Es ist nur noch wenig Brot da, und heute gibt es frische Fische. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Vater hat gesagt! Das schien der Leitgedanke des Jungen zu sein. Ohne Murren nahm er immer mehr Pflichten auf sich. Allerdings brauchte er sich bald nicht mehr mit schweren Einkaufstaschen und Körben abzuschleppen; denn die Zeiten wurden immer schlechter und die Rationen von Tag zu Tag kleiner. Voller Besorgnis standen die Erwachsenen beieinander. Was sollte geschehen, wenn die Russen kommen?

Und dann kam der Tag, an dem man alles zurücklassen und in eine ungewisse Zukunft flüchten musste. Zum Abschiednehmen blieb keine Zeit. Alles, was bisher wie selbstverständlich zu ihrem Leben gehört hatte – das gepflegte Einfamilienhaus mit den grüngestrichenen Fensterläden, das Gärtchen vor dem Haus, in dem die Mutter die schönsten Rosen gezüchtet hatte – das alles mussten sie nun zurücklassen. Sie hatten direkt am Frühkonzertplatz gewohnt, wo in früheren Zeiten während der Saison jeden Morgen eine Musikkapelle für die Badegäste spielte. Die umliegenden Häuser wetteiferten darin, den sorgsam gepflegten Anlagen des Frühkonzertplatzes zu gleichen, die im Frühjahr, im Sommer und im Herbst eine Fülle von farbenprächtigen Blumen aufwiesen.

Zum Strand waren es von hier aus nur wenige Minuten gewesen. Friedemann erinnerte sich noch gut, wie er manchmal abends, wenn im Haus schon alles ruhig geworden war, im gleichmäßigen Rhythmus den Schlag der Wellen an den Uferrand vernommen hatte – als ob das Meer atmete, hatte er damals gedacht. Doch gewaltig war das Toben des Meeres zu hören gewesen, wenn ein Sturm aufgekommen war. Einmal hatten die Einwohner Kolbergs – auch Friedemann war dabei – während eines Sturmes am Strand gestanden und die Rettung Schiffbrüchiger miterlebt, die von einem Vergnügungsdampfer geholt wurden, auf dem ein Feuer ausgebrochen war. Fast wie erstarrt hatten alle auf die mächtigen Flammen geblickt, die, vom Wind gepeitscht, in den nächtlichen Himmel stiegen. Wie ein Aufatmen war es durch die Reihen gegangen, als es hieß, alle Passagiere seien gerettet worden. Nur der Schiffskapitän war mit dem brennenden Schiff untergegangen.

Ach, wie lang war das her! Als dann das Kriegsende herankam, war Friedemann dreizehn Jahre alt gewesen. Die Mutter hatte hastig Bettzeug und einige Lebensmittel in den Kinderwagen gepackt und obendrauf den dreijährigen Jürgen gesetzt: „Du müsst dich gut festhalten, Jürgen, sonst fällst du herunter, und wir verlieren dich im Gewühl der Menschen!“ Die achtjährige Gislinde ging nebenher. Der Flüchtlingsstrom, gejagt von Todesangst, bewegte sich nur lang- sam vorwärts. Wohin? Niemand wusste es! Wie lange? Keiner konnte es sagen.

Waren es Tage, Wochen, Monate gewesen? Wenn Friedemann sich die schrecklichen Erlebnisse jener Zeit ins Gedächtnis rufen wollte, musste er sich konzentrieren und genau nachrechnen. In der Erinnerung verwischte ein Bild das andere. In wie vielen Flüchtlingslagern waren sie gewesen! Wo überall hatten sie die Nächte zugebracht! Auf Bahnsteigen, in Lagerschuppen, unter Brückenbögen, immer auf der Flucht, gehetzt, gejagt von Angst und Grauen.

Und heute? Niemand wollte davon noch etwas hören. Die Alten erinnerten sich nicht gerne daran: „Hören Sie auf mit diesen schrecklichen Geschichten!“ Und die Jungen winkten ab: „Das gehört der Vergangenheit an. Wir haben damit nichts mehr zu tun!“

Und dann war der unvergessliche Tag gekommen, an dem Friedemann mit seinen beiden Geschwistern am Grab der Mutter gestanden hatte. Sie hatte die Strapazen der Flucht und die Aussichtslosigkeit der Zukunft nicht länger ertragen. Eines Morgens fanden die Kinder sie in einem der Flüchtlingslager, das sie passieren mussten, tot auf ihrer Strohschütte. Ganz still musste sie eingeschlafen sein. An jenem Tag war von Friedemann die Kindheit völlig abgefallen. Nun war er zum Manne geworden, kaum vierzehn Jahre alt. Viel Mitleid und Hilfsbereitschaft hatte die drei elternlosen Kinder umgeben. Die anderen Flüchtlinge waren trotz des eigenen Jammers nicht so abgestumpft, dass ihnen das Leid der nun plötzlich ganz Verwaisten nicht doch zu Herzen gegangen wäre. Viele hatten an der armseligen Beerdigung teilgenommen. Von lautem Weinen und unterdrücktem Schluchzen war die Trauerrede des Pfarrers begleitet gewesen, der ebenfalls mit tiefem Mitleid auf die Flüchtlingsgemeinde blickte.

Nach der Beerdigung wollte man Friedemann gutgemeinte Ratschläge geben.

„Sieh zu, dass du deine kleinen Geschwister irgendwo bei einer Rotkreuzstelle abgeben kannst. Wenn du sie mit dir schleppen musst, kommst du nicht vorwärts. Für dich könnte es aber gefährlich werden, wenn uns die Russen einholen.“

Friedemann aber schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, ich trenne mich nicht von den beiden. Vater hat gesagt.“

Da war wieder dessen Auftrag und Vermächtnis. Friedemann wuchs in jenen Tagen über sich selbst hinaus. Wie ein Vater sorgte er für seine beiden Geschwister, teilte mit ihnen jedes Stückchen Brot, trat oft zurück und verzichtete lieber, damit die Kleinen satt wurden. Er wusch ihre Wäsche, bis diese schließlich nur noch Lumpen waren. Der Kinderwagen mit dem Bettzeug und all dem anderen war längst verlorengegangen. Schließlich endete die Flucht der drei in einem Kinderheim Süddeutschlands.

Friedemann sah sich mit seinen Geschwistern einer Frau gegenüber, die ihnen beide Hände entgegenstreckte und sie mit den Worten begrüßte: „Jetzt hat euer Umherirren ein Ende. Hier sollt ihr nun zu Hause sein. Außer euch sind noch hundert andere Kinder hier, die wie ihr auf der Flucht waren und hier nun eine neue Heimat gefunden haben. Sie nennen mich alle Mutti.“

Unbeweglich standen die drei vor ihr. Gislinde und Jürgen umklammerten wie schutzsuchend die Hände des großen Bruders. Sie hatten Angst, von ihm getrennt zu werden. Friedemann aber errötete bis unter seinen struppigen Haarschopf, der schon wer weiß wie lange nicht mehr gestutzt worden war und auf dem sich ein Heer von Läusen munter tummelte.

Einerseits hätte er vor Glückseligkeit weinen können, weil der lange Fluchtweg nun ein Ende gefunden zu haben schien – aber da war etwas, wogegen sich sein Innerstes sträubte. „Sie nennen mich alle Mutti“, hatte die Frau gesagt, anscheinend die Heimleiterin, die sie mit großer Herzlichkeit begrüßt hatte. Aber zu einer wildfremden Frau Mutter zu sagen, nein, das widerstrebte ihm. Schließlich stotterte er: „Müssen wir – muss ich – wir kennen Sie doch noch gar nicht, und unsere Mutter ist erst kurze Zeit tot!“ Wahrhaftig, da fing der große Junge an zu schluchzen, er, der sich so tapfer gehalten hatte in all den Wochen seit ihrer Flucht aus Kolberg. Aber jetzt, am Ziel des abenteuerreichen Weges, ließ seine Fassung ihn im Stich. Gislinde und der kleine Jürgen brachen in ein jammervolles lautes Weinen aus, als sie sahen, wie über das Gesicht des großen Bruders Tränen liefen.

Die Heimleiterin, die schon in so manche kummervollen Kinderaugen geblickt hatte, verstand sofort die Reaktion des Jungen. Sie holte die drei in ihr Zimmer, setzte sich zu ihnen und sagte: „Friedemann, ich verstehe dich gut. Du meinst deiner verstorbenen Mutter ein Unrecht anzutun, wenn du mich Mutti nennst. Das musst du auch gar nicht. Sage zu mir Tante und nenne mich bei meinem Vornamen. Ich bin überzeugt, dass wir uns trotzdem gut verstehen.“

„Aber wir haben alle Läuse“, bekannte Friedemann, „und Krätze auch.“

Doch dies schien kein Grund zur Aufregung zu sein.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte die Heimmutter. „So kommen jetzt fast alle zu uns. Dagegen gibt es Mittel.“

„Nun will ich aber was zu essen!“ wandte Jürgen ein.

„Ja, ich habe auch Hunger!“ fügte Gislinde hinzu.

Wie für seine Geschwister um Entschuldigung bittend blickte Friedemann die Frau an. Diese aber nickte den Kindern fröhlich zu, nahm Jürgen und seine Schwester bei der Hand und sagte: „So, komm auch du, Friedemann! Jetzt gibt's zuerst einmal eine Mahlzeit, und dann gehen wir den Läusen an den Kragen, und anschließend steigt ihr in die Badewanne.“

Darauf stimmten Jürgen und Gislinde erneut ein Gebrüll an. „Nein, nicht baden, nicht baden!“

Schon bald fühlten sich Friedemann und seine Geschwister im Kinderheim zu Hause. Nicht, dass sie die Heimat und das Elternhaus vergessen hätten, aber für die beiden Kleinen verschwammen die Bilder der Erinnerungen immer mehr. Nur bei Friedemann war das anders. Doch sagte er sich: Wenn ein Kinderheim auch niemals so sein kann, wie unser Zuhause war, können wir nicht dankbar genug sein, hier Aufnahme gefunden zu haben.

Unter den Kindern befanden sich auch solche, die an allem herummeckerten und mit nichts zufrieden waren. Doch das waren nur wenige. Die meisten hatten schreckliche Erlebnisse hinter sich und waren dankbar für die Unterkunft und Betreuung im Heim. Sie hatten mit ansehen müssen, wie ihre Väter erschossen und ihre Mütter und Schwestern verschleppt worden waren.

Den Unzufriedenen jedoch trat Friedemann bewusst entgegen: „Habt ihr schon vergessen, was Hunger und Kälte sind? Denkt ihr nicht mehr daran, wie wir heimatlos umherirrten und gierig über eine Brotkruste herfielen, wenn wir sie irgendwo fanden?“

Die Heimleiterin merkte bald, dass Friedemann einen guten Einfluss ausübte. Längst nannten seine beiden Geschwister sie ebenso Mutti wie alle anderen Kinder im Heim. Eines Tages kam Friedemann ein wenig verschämt zu ihr und erklärte: „Ich möchte zu dir jetzt auch Mutti sagen. Wenn meine verstorbene Mutter vom Himmel auf uns herniedersehen könnte – vielleicht kann sie es auch dann hätte sie bestimmt nichts dagegen, weil sie nämlich sehen würde, wie gut wir es hier haben.“

Da zog die Heimleiterin ihn an sich und sagte: „Du bist ein guter Junge, Friedemann.“

Jahre waren seitdem vergangen. Viele hatten die Bilder der Vergangenheit verdrängt oder schon vergessen. Friedemann jedoch pflegte diese Erinnerungen geradezu. Mehr instinktiv als bewusst hatte er schon als Junge empfunden, dass die durchlebten Notzeiten ihren Wert besaßen und seine charakterliche Entwicklung formten.

Friedemann war durchaus kein Kopfhänger oder Duckmäuser. Als einige Zeit im Kinderheim vergangen war, fand er, der an der Verantwortung für seine kleineren Geschwister schwerer getragen hatte, als er es selbst wusste, wieder zu einem normalen Jungendasein zurück, tollte und tobte mit den anderen herum. Übersah er einmal die gewiesenen Grenzen und blickten die Heimleiterin oder seine Gruppenerzieherin ihn erstaunt an, als wollten sie sagen: „Du, Friedemann? Das hätten wir von dir nicht erwartet“, dann bedurfte es nicht mehr, damit er seinen Fehler einsah und sich dafür entschuldigte. So entwickelte er sich recht vielversprechend, zumal er auch zu den besten Schülern seiner Klasse gehörte.

An ein Erlebnis aus jener Zeit im Kinderheim dachte Friedemann Kranzbinder jedoch nur mit gewissem Unbehagen. Die größeren Kinder hatten täglich gewisse Hilfeleistungen zu verrichten. Eines Tages war ein großer Korb mit grünen Bohnen gestiftet worden. Mit Küchenmessern ausgerüstet, saßen die Jungen und Mädchen unter dem schattigen Kastanienbaum, jeder eine Schüssel vor sich, und zogen die Fäden von den Bohnen, die eingedünstet werden sollten. Zwischen den größeren Jungen entspann sich ein Streitgespräch. Wie es begonnen hatte, daran vermochte Friedemann sich später nicht mehr zu erinnern. Jedenfalls wagte einer seiner Kameraden, der eine Zeitlang mit ihm im gleichen Flüchtlingslager gewesen war, eine unverschämte Bemerkung über seine Mutter zu machen: Jeder im Lager habe doch gewusst, dass der Lagerleiter und sie öfter beisammen waren.

„Du Lügner!“ schrie Friedemann. „Wage nicht, so etwas noch einmal zu behaupten, sonst passiert etwas!“

Doch der Junge war in seinen Äußerungen noch verwegener geworden. Bebend vor Zorn wollte Friedemann sich auf ihn stürzen, da lief der andere mit Hohngelächter davon.

„Und doch ist es wahr. Alle haben es gewusst!“ Friedemann erfasste eine solche Wut, dass er mit aller Kraft sein Küchenmesser nach dem Verleumder schleuderte und ihn um ein Haar an der Schläfe getroffen hätte. Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern aller. Ein einziger Aufschrei schallte über den Hof: „Friedemann!“

Der aber, selbst erfüllt von Scham, Schrecken und maßloser Empörung, stürmte ins Haus in den ersten Stock hinauf, wo sich sein Schlafraum befand. Dort warf er sich auf sein Bett und brach in verzweifeltes Weinen aus. Er weinte über die Schmach, die seiner Mutter angetan worden war, und über sich selbst, dass er sich soweit vergessen konnte. Er meinte, hier nun nicht mehr länger bleiben zu können.

Die schlimme Nachricht hatte inzwischen bereits das Arbeitszimmer der Heimleiterin erreicht. Einige Kinder waren zu ihr hineingestürzt: „Mutti, Mutti, der Friedemann mit dem Messer – beinahe ins Auge – der Wolfgang – der Friedemann.“