Glied in der Kette - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Glied in der Kette E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

In dieser Erzählung der bekannten Autorin geht es um Mutter und Sohn: um die notvollen Erlebnisse Reginas in ihrem Elternhaus, ihre Heirat mit einem jungen Schwarzwaldbauern, der bald darauf im ersten Weltkrieg fällt, ihre Lehr - und Reifungsjahre auf dem schwiegerelterlichen Hof und um ein ähnliches Schicksal des Sohnes Markus im zweiten Weltkrieg, aus dem dieser geläutert, zwar äußerlich blind, aber innerlich sehend geworden, heimkehrt. Markus und seine Mutter, ja auch all die anderen Gestalten dieser Erzählung sind "Glieder in der Kette". Jedes hat an seinem Platz zu stehen und darf lernen, ja zu sagen zu den Schickungen seines Lebens, in der Erkenntnis, dass es der Weg Gottes mit seiner Seele ist. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Glied der Kette

Band 7

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-128-2

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

I. Regina

II. Markus

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I. Regina

Ernst und feierlich stand Regina Weidengrün in ihrem schwarzen Kleid vor ihrem Sohn.

„Knie nieder, Markus!“

Der Junge blickte die Mutter fragend an. Sie wiederholte, und ihre Stimme schien ihm einen anderen Klang zu haben.

„Knie nieder!“

„Hier oben?“

Warum war sie mit ihm in die Bodenkammer hinaufgestiegen? Seine Augen überblickten in Sekundenschnelle den Raum unter dem Dach des Hauses, in dem alte Möbel, leere Säcke, mit Kleider gefüllte Truhen und anderes mehr aufbewahrt wurden.

„Hier in der Bodenkammer? Ich weiß gar nicht …“

„Ach, frag doch nicht! Wenn dein Vater noch lebte, würde er …“ Auf steigende Tränen verschlugen Regina die Stimme. Sie vermochte nur in tiefer Bewegung weiterzusprechen. „Dein Vater hätte dich an diesem Tag nicht ohne seinen Segen aus dem Hause gelassen. Und unten erwarten uns alle anderen …“

Der Junge schwieg. Ein Ahnen kam über ihn von dem Ernst und der Weihe dieser Stunde, aber auch von dem, was in der Mutter heute, an seinem Konfirmationstag, Vorgehen mochte. Sein Vater war nicht aus dem Kriege zurückgekehrt. Er selbst kannte ihn gar nicht. Die Eltern waren nur kurze Zeit verheiratet gewesen. Hin und wieder hatte er es schon schmerzlich empfunden, dass er nicht wie die anderen Kinder einen Vater besaß, besonders als man ihm deshalb den Eintritt in die Oberschule versagen musste. Die Mutter konnte ihn auf dem Hof nicht entbehren, er musste schon in jungen Jahren tatkräftig mithelfen. Von einem eigentlichen Vermissen des Vaters hätte er nicht sprechen können. Hatte doch die energische, zielbewusste Großmutter es als ihre Pflicht angesehen, den lebhaften Jungen auf rechter Bahn zu leiten. Hatte nicht auch die Mutter alles für ihn getan, was möglich war? Und dann war noch Großvater Mooser dagewesen, bis er vor wenigen Monaten starb. Dass die Mutter seinen Vater heute in besonderer Weise vermisste, das konnte er verstehen.

Hoffentlich zog sich die Feierlichkeit in der Bodenkammer nicht zu sehr in die Länge. Hätte es nicht genügt, dass er in der Kirche eingesegnet wurde?

Frau Regina hatte die Hände auf den Kopf ihres Sohnes gelegt. Markus spürte, dass sie zitterten. Wie ein Strom durchflutete es seinen ganzen Körper.

„Der Herr segne dich und behüte dich!“

Aus den Augen der Mutter fiel eine Träne auf seine Stirne und lief langsam über seine Wange. Plötzlich merkte er, dass sie sich mit seinen eigenen Tränen vermischte, die ihm ungewollt aus den Augen rannen. War es nicht eines Jungen unwürdig, zu weinen? War es der Gedanke an den früh verstorbenen Vater oder die aus dem Herzen der Mutter ihm entgegenströmende Liebe, die ihn so bewegten? Vielleicht gehörte auch eine gewisse Rührung zu diesem Tag. Er machte sich darüber keine weiteren Gedanken. Aber ein bisher nie gekanntes Gefühl der Geborgenheit kam über ihn.

„Nun komm“, sagte die Mutter leise, nachdem sie den Segen gesprochen hatte, „es ist Zeit, dass wir zur Kirche gehen.“ In der holzgetäfelten großen Wohnstube standen die Verwandten in Erwartung des Konfirmanden und seiner Mutter.

„Wo bleibt ihr so lange? Am Ende kommen wir noch zu spät!“ Aber weder die Mutter noch Markus verrieten etwas von dem, was vorausgegangen war. Das blieb ihr Geheimnis. Sie wechselten einen kurzen verständnisinnigen Blick. Unser Geheimnis, dachte der Junge. Dabei war es ihm, als könne er an diesem Tag nichts erleben, was ihn tiefer bewegte als das, was soeben in der Dachkammer geschehen war.

Als er mit den anderen das Haus verließ, rief ihn die Großmutter noch einmal zurück. Sie war nicht mehr imstande, den weiten Weg zur Kirche hinunter zu gehen, weil die Gicht sie hinderte. Sie blickte ihn mit ihren noch immer klaren Augen durchdringend an. „Merke dir, Markus: Auf dich kommt es heute an, nicht auf den Pfarrer, nicht auf deine Mutter oder auf uns andere, die mit dir diesen Tag festlich begehen – auf dich allein. Sorge dafür, dass er nicht spurlos an dir vorübergeht. Man kann zwar keinem Menschen vorschreiben, wann er seine Entscheidung treffe, aber einmal muss sie kommen, je früher desto besser.“

„Großmutter, ich muss gehen, sonst komme ich wahrhaftig noch zu spät.“

„Ja geh, Markus, auf dem langen Kirchweg hast du Zeit, über meine Worte nachzudenken.“

Es war üblich, dass man sich am Konfirmationstag zu einem Festzug gruppierte, wie bei der Hochzeit. Markus ging als erster neben der Mutter. Hätte der Vater noch gelebt, wäre sein Platz zwischen den Eltern gewesen. Dann folgten die Paten und die anderen Angehörigen. Man ging schweigend, obgleich der Kirchweg beinahe eine Stunde dauerte. Der Tag war voller Feierlichkeit. Auf allen Gesichtern lag Festfreude. Einige Augenblicke hatte Markus über die Worte der Großmutter nachgedacht. Jetzt aber eilten seine Gedanken hinter den leichten, weißen Wolken her, die wie Segelschiffe im Blau des Himmels schwammen. Wie schön war dieser Tag! Früher als sonst hatte sich der Winter verabschiedet und dem Frühling Platz gemacht. Der Kirchweg war mit blühenden Obstbäumen gesäumt; ein leiser Wind ließ zarte Blütenblätter in der Luft tanzen. Die Kastanienbäume vor dem Schulhaus, an dem der Festzug vorüberführte, hatten weiße und rote Blütenkerzen aufgesteckt, als wollten sie sich zu diesem Tag besonders schmücken. Die Türe des Schulhauses öffnete sich. Der Lehrer trat heraus. Das kleine Mädchen an seiner Hand riss sich los, als es den Konfirmanden entdeckte, und stürmte auf ihn zu. „Markus! Markus! Ich darf mit in die Kirche!“ In großer Herzlichkeit schmiegte es seine Hand in die des Jungen und lief neben ihm her, hin und wieder einen fröhlichen Sprung machend.

„Du hüpfst wie ein Geißlein“, lachte Markus, ohne das Kind von der Hand zu lassen.

„Nein, ich bin kein Geißlein“, erwiderte Thora. „Schau doch, ich habe mein neues Kleid an. Wie eine Braut sehe ich aus. Nur der Schleier fehlt noch. Aber du“, sie musterte Markus beinahe ehrfurchtsvoll, „du siehst aus wie ein Mann, wie der Herr Pfarrer.“

Man näherte sich dem Städtchen, als die Glocken der Kirche zu läuten begannen. Von allen Seiten kamen die Konfirmanden mit ihren Angehörigen.

Regina Weidengrün saß nun mit der Festgemeinde in der Kirche. Mit ihrer schönen Altstimme stimmte sie ein in den Gesang, sie hörte die mahnenden Worte des Pfarrers an die Konfirmanden. Ihr Herz klopfte, als Markus aufstehen und vor der Gemeinde seine Sprüche aufsagen musste. Erleichtert atmete sie auf, als er dies klar und deutlich tat, ohne steckenzubleiben. Als ihr Sohn vor dem Altar kniete und der Pfarrer die Hände auf sein Haupt legte, konnte sie es nicht verhüten, dass Tränen über ihre Wangen liefen.

Dennoch schweiften ihre Gedanken immer von neuem wieder ab. War es ein Wunder, dass sie zurückeilten in die Zeit, wo sie Markus' Vater kennengelernt hatte und ihm auf seinen väterlichen Hof gefolgt war? Knapp neunzehn Jahre alt war sie gewesen, im Grunde viel zu jung und noch unreif für die Ehe. Aber weder sie noch Andreas hatten sich darüber Gedanken gemacht. Es gab nur eins für sie: ihre große Liebe, die, so meinten sie, stark genug war, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Aus der Frankfurter Gegend kommend, hatte sie mit ihren Eltern im Schwarzwald die Ferien verbracht. Dort war sie Andreas Weidengrün, dem einzigen Sohn der Bauersleute, begegnet. Am Waldrand über seinem väterlichen Hof hatte er an einem Sonntagnachmittag gesessen und gelesen. Reginas Vater hatte ihn nach dem Weg gefragt, und dabei waren sie miteinander ins Gespräch gekommen. Wie es schien, hatten sie sich also ganz zufällig getroffen. Aber längst war es Regina klar, dass es kein Zufall gewesen war. Wenn sie je an Führung glaubte in ihrem Leben, dann hier, wo sie und ihr Mann sich das erste Mal begegnet waren. Schweres hatten sie seitdem erlebt. Leicht war es auch heute nicht oder heute erst recht nicht. Aber längst war ihr offenbar geworden, dass nicht die Zeiten, in denen alles nach Wunsch ging, Werte hatten in ihr reifen lassen, sondern die, in denen sie durch Tiefen des Leides und des Verzichtes geführt wurde. Zu dieser Erkenntnis hatte ihr vor allem die Schwiegermutter verholfen.

Regina Weidengrün blätterte im Buch der Erinnerung. Eigenartig, wie sich zwei gegensätzliche Erinnerungen aus ihrem Denken herauskristallisierten! Bilder unbeschwerter Fröhlichkeit traten hervor, daneben solche tiefer Traurigkeit, gezeichnet von dem Leid der Mutter, das auch ihr eigenes wurde.

Zuerst war alles licht und schön gewesen. Dass Regina keine Geschwister gehabt hatte, war ihr nie schmerzlich zum Bewusstsein gekommen. Ihre Eltern taten alles, ihrer Einzigen eine unbeschwerte, frohe Jugend zu gestalten. Der Vater war Organist in der Stadtkirche, dazu gab er Musikunterricht am Konservatorium. Sie lebten nicht in üppigen, doch in geordneten Verhältnissen. Die Mutter verstand es, ein behagliches Heim zu schaffen. Viele Gäste gingen bei den Eltern aus und ein. Neben der Musik, die im Leben der Familie viel bedeutete, war sie, Regina, der Mittelpunkt des Hauses gewesen und hatte dies als selbstverständlich hingenommen. Wenn die Eltern sie auch nicht verwöhnten, so erfüllten sie ihr doch manchen Wunsch und hielten alles Unangenehme von ihr fern. Regina durfte gute Schulen besuchen, und jedes Jahr machte man eine Reise, um sich zu erholen und neue Eindrücke zu sammeln.

Nie hätte sich Regina vorstellen können, dass dieser harmonische Dreiklang einmal gestört werden würde. Wann es dazu kam, hätte sie nicht sagen können. Oft hatte sie sich später gefragt. War das veränderte Wesen des Vaters auf die immer stärker werdenden Depressionen der Mutter zurückzuführen, oder waren diese die Folgen des ersteren? Jedenfalls ging mit der Mutter erst fast unmerklich, dann aber immer deutlicher eine Veränderung vor sich. Die sonst so heitere Frau wurde stiller und stiller, weinte oft und zog sich immer mehr von allen Veranstaltungen zurück. Welch fröhlicher Freundeskreis hatte sich einst in ihrem Hause zusammengefunden! Da war gesungen und musiziert worden. Der Vater hatte ein Streichquartett gegründet. Die besten Sänger seines Kirchenchors bildeten einen kleinen Hauschor, und die begabtesten seiner Schüler im Konservatorium gingen bei ihnen aus und ein. Von Kind auf hatte Regina an diesem Erleben teilgenommen. Das Leben schien mehr frohe als ernste oder gar schwere Stunden zu haben – bis die Mutter sich dann so seltsam veränderte. Regina mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein, als sie zum ersten Mal empfand, dass zwischen den Eltern nicht mehr die volle Harmonie bestand, wie sie es von klein auf gewöhnt war. Wiederholt hatte sie versucht, die Mutter zum Reden zu bringen. Stumm hatte diese sie jedes Mal angeblickt. Hin und wieder war sie in fassungsloses Weinen ausgebrochen und hatte sie, Regina, fest an sich gedrückt; aber nie war eine Klage über ihre Lippen gekommen.

Der Vater war immer beschäftigt. Endlich hatte Regina Gelegenheit gefunden, ihn zu fragen, was die Mutter so bedrücke. Da hatte er nur mit der Hand abgewehrt. Aber auch in seinen Augen meinte sie einen heimlichen Kummer zu lesen. Sie war ratlos gewesen. Ihr mitteilsames Herz brauchte jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. So schloss sie mit Gonda, der um fünf Jahre älteren Musikschülerin ihres Vaters, enge Freundschaft. Gewiss war diese Freundschaft bei ihrem ungleichen Alter etwas ungewöhnlich. Sie selbst war noch ein völliges Kind, während die siebzehnjährige, bildschöne Gonda bereits wie eine junge Dame wirkte. Ja, sie kam ihr beinahe wie ein höheres Wesen vor. Nie würde Regina vergessen, wie Gonda in einem weißen Kleid auf der Empore der Stadtkirche stand, während der Vater seinen Platz an der Orgel einnahm. Andächtige Zuhörer hatten die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt, um das Konzert zu hören. Atemlose Stille, als Gonda mit ihrer glockenhellen Sopranstimme zu singen begann. Durch die bunten Scheiben über der Empore fielen Sonnenstrahlen und ließen Gon- das Haar golden aufleuchten. Es war, als sei sie mit einem Heiligenschein umgeben.

„Sieh doch, Mutti!“ hatte sie geflüstert und ihre Augen zu ihr erhoben. Aber die Mutter blickte nicht auf. Über ihr gesenktes Gesicht flössen unaufhaltsam Tränen und tropften auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Sah und hörte sie nichts von dem überwältigend Schönen, das hier geschah?

„Gonda, du hast wunderbar gesungen!“ flüsterte sie der Freundin nach dem Konzert zu. „Und wie ein Engel hast du ausgesehen! Nicht wahr, Vater, so war es doch?“ hatte sie den Hinzutretenden gefragt.

Dieser lächelte nur. „Ich musste doch auf meine Noten sehen!“

„Aber du hast doch gehört, wie Gonda gesungen hat.“

Der Vater nickte und drückte wortlos die Hand der jungen Sängerin. Wie gut verstand Regina, dass er auf seine beste Schülerin stolz war!

Besorgt hatte er sich dann umgesehen. „Wo ist Mutter?“

„Sie ist nach Hause gegangen, wohl um das Essen vorzubereiten. Du kommst doch mit, Gonda?“

„Ich weiß nicht“, hatte diese geantwortet und ihren Lehrer fragend angeblickt.

„Natürlich, Gonda! Geht ihr beide nur schon voraus. Ich hole euch ein, wenn ich noch einiges geordnet habe.“ Arm in Arm hatten Regina und Gonda die Kirche verlassen. Unterwegs hatte dann die Jüngere zu der Freundin über das gesprochen, was ihr seit einiger Zeit das Herz beschwerte. „Ich weiß nicht, was mit Mutti ist. Sie weint so viel und kann sich gar nicht mehr richtig freuen.“

„Sie wird doch nicht krank sein?“ fragte Gonda. „Weißt du, deine Mutter sollte einen Nervenarzt aufsuchen.“

Wenn Regina heute, wo sie selbst einen Sohn hatte, älter, als sie damals war, darüber nachdachte, dann meinte sie sicher zu sein, dass Gonda in jener Stunde nicht ahnte, die Ursache des Kummers ihrer Mutter zu sein; sie war sogar davon überzeugt, dass selbst der Vater sich damals noch nicht seiner unwiderstehlichen Liebe zu der jungen Schülerin bewusst war. Anders ihre zartbesaitete Mutter, die bang vorausahnte, was die beiden Herzen dieser künstlerisch hochbegabten Menschen umspann. Noch waren es feinste Fäden, aber die sensible Mutter ahnte, dass der Tag kommen würde, da ihr Mann dieser Liebe nicht widerstehen konnte und dass sie ihn dann nicht zu halten vermöchte.

Regina war damals noch zu jung, um einen Argwohn zu nähren. Sie war glücklich über die Freundschaft mit Gonda, erbat immer wieder die Erlaubnis der Eltern, sie zu sich einzuladen, und ahnte nicht, dass nicht sie, sondern ihr Vater das junge Mädchen anzog. Zuerst mochte Gonda glauben, ihn nur als ihren Lehrer zu verehren. Aber bald erkannte sie selbst, dass es Liebe, ihre erste, heiße Liebe war, die sie mit allen Fasern ihres Herzens in das Haus Mooser zog. Nie dachte sie daran, dass sie dadurch an seiner Frau schuldig werden könnte. Sie gab sich in der Unerfahrenheit ihrer Jugend dem Trugschluss hin, dass er gar nicht wissen könne, wie es um sie stehe, und sie glaubte, ihre innere Verfassung vor ihm verbergen zu können. Wenn sie nur in seiner Nähe weilen konnte! So knüpfte sie die Freundschaftsbande mit der Tochter des geliebten Lehrers immer fester.

Ihm aber erging es nicht anders. Zuerst erschrak er vor dem Sturm der Gefühle, die das junge Mädchen in ihm, der zwanzig Jahre älter war als sie, hervorrief. Niemals wollte er an seiner Frau schuldig werden. Aber als die Schwermut immer stärker von ihr Besitz ergriff und es den Anschein hatte, als zöge sie sich immer mehr von ihm zurück und nähme je länger desto weniger an seinem Schaffen und Planen teil, da glaubte er berechtigt zu sein, den Neigungen seines Herzens Raum zu geben. Dabei erkannte er nicht – oder wollte er es nicht erkennen? –, dass gerade sein Verhalten und die in ihm sich vollziehende Wandlung Ursache ihres Schmerzes und ihres veränderten Wesens waren. Regina hatte sich später, als ihr die Zusammenhänge klargeworden waren, mehr als einmal gefragt, was nun der eigentliche Grund des unglücklichen Geschehens gewesen sei: ob die Mutter in ihrer krankhaften Feinfühligkeit das Verhältnis des Vaters zu Gonda tiefer durchschaut und seine unglückselige Entwicklung erahnt und erst durch die Übertragung solcher Gedanken die beiden soweit gebracht hatte, oder ob ihre Schwermut durch die zwischen den beiden schon bestehenden Beziehungen ausgelöst wurde.

Sie, Regina, war lange völlig ahnungslos gewesen. Sie war glücklich, dass Gonda beinahe täglich zu ihnen kam. Da deren Eltern gestorben waren, erschien es ihr selbstverständlich, dass der Vater seiner begabtesten Schülerin ein Stück Heimat bot. Sie bedauerte nur, dass die Krankheit der Mutter einen Schatten auf das bisher ungetrübte Zusammensein warf. Gonda war immer liebevoll und herzlich zu Regina, fast wie eine Schwester. So wenigstens schien es ihr damals. Die Freundin verbrachte die Festtage in der Familie, sie teilte über das Wochenende mit ihr das Zimmer, und Regina, die nie eine Schwester gehabt hatte, fühlte sich glücklich und bereichert durch den Umgang mit Gonda. Als dann ein eigenes Haus in einem schönen Garten erbaut wurde, fand sie den Gedanken des Vaters großartig, dass Gonda ganz zu ihnen ziehen und ihr eigenes Zimmer haben könnte.

„Ja, Vati“, hatte sie gejubelt und war beglückt zur Mutter gesprungen, um auch sie für diesen Plan zu gewinnen.

Die Mutter hatte sich nicht geweigert. Sie liebte ihren Mann noch immer; aber diese Liebe wurde jetzt zum Martyrium. Nicht nur, dass sie nicht mehr um ihren Mann kämpfte, nein, sie trat zurück und half ihm sogar, seinen Vorschlag zu verwirklichen. Sie richtete das Zimmer für Gonda, schmückte es mit Blumen und hieß die willkommen, die ihr eigenes Bild im Herzen ihres Mannes verdrängte. Dass ihr Gatte damals noch in großer Not und Gewissensqual mit sich rang, wusste sie nicht oder wollte sie nicht wissen. In einer Mischung von Selbstbemitleidung und ungesunder Opferbereitschaft lebte sie neben ihm dahin.

Jahrelang ahnte Regina von alledem nichts. Der Gemütszustand der Mutter hatte sich indessen mehr und mehr verschlechtert, so dass sie ihren hausfraulichen Pflichten nur noch unzureichend nachgehen konnte. Sie zog sich immer mehr in sich zurück und begann sich auch der Tochter gegenüber zu verschließen, wahrscheinlich weil sie auch unter der herzlichen Freundschaft zwischen Gon- da und Regina litt. Noch lange hatte ihr Mann sich, wie er meinte, redlich gemüht, den Weg zu seiner Frau zurückzufinden; als sie aber immer unzugänglicher wurde, ließ er darin nach. War es ein Wunder, dass er zuerst einmal Verstehen, dann aber Liebe bei Gonda suchte und fand? In all den vergangenen Jahren hatte Regina immer wieder versucht, ihren Vater vor ihrem eigenen Herzen zu rechtfertigen, sein Handeln zu verstehen; aber die Tatsache blieb doch bestehen, dass er an der Mutter treulos gehandelt hatte. Heute war es ihr klar, dass Gonda längst seine Geliebte gewesen war, als sie kurz vor dem tragischen Tod ihrer Mutter ihre Ferien miteinander im Schwarzwald zugebracht hatten. – Wie seit Jahren durfte Gonda, die schon damals eine gefeierte Sängerin und eine außergewöhnliche Schönheit war, mit ihnen in Urlaub fahren. Heute wunderte Regina sich über ihre Ahnungslosigkeit, die sie jahrelang nichts begreifen ließ von dem, was sich doch vor ihren Augen abspielte.

In den Urlaubstagen war sie zum ersten Mal dem jungen Andreas Weidengrün begegnet. Der stille, wohlerzogene junge Mann, der dem Vater klug und freundlich Antwort gab, hatte sie vom ersten Augenblick an stark beeindruckt. Wie ganz anders war er als die jungen Männer in der Stadt, die sie oft beleidigt hatten, wenn sie mit ihren abschätzenden Blicken ihre Gestalt abtasteten. Hier war es ganz anders. Ohne Absicht hatten sie sich einige Male getroffen. Als sie eines Morgens mit der Mutter einen Spaziergang am Waldesrand machte, kam über diese plötzlich eine Schwäche, so dass sie nicht weitergehen konnte. Sie waren nicht weit vom elterlichen Gehöft des jungen Weidengrün entfernt. Weil Regina nicht wagte, die Mutter allein zu lassen, während sie zu ihrer Pension zurückeilte, um ihr herzstärkende Medizin zu holen, hatte sie gebeten, dass diese sich solange im Garten auf eine Bank setzen dürfe.

Noch heute, nach all den Jahren, schauderte sie über das Erleben jenes Tages. Ahnungslos war sie in die Pension gekommen. Der Vater war dort geblieben, um mit Gonda für das nächste Kirchenkonzert zu proben. Nun traf Regina beide in inniger Umarmung an. Wie von einem Schlag getroffen, brach sie in ihrem Zimmer zusammen.

Arme, arme Mutter! Jetzt kenne ich die Ursache deiner Schwermut. Du trägst diese Last wohl schon Jahr um Jahr und doch hältst du an der Seite des Vaters aus, der dich betrügt und hintergeht. Du betreust und versorgst ihn, du schaffst ihm, wenn auch unter Tränen, ein behagliches Heim, soweit es deine Kräfte noch zulassen …

Mit Entsetzen spürte Regina, dass ihr Herz, das bis dahin keiner solchen Gefühle fähig gewesen war, sich mit Hass füllte, vor allem gegen ihre Freundin, die ihr schwesterliche Liebe vortäuschte, nur um in der Nähe ihres Vaters sein zu können. Es wollte ihr schwarz vor den Augen werden. Und der Vater, ihr geliebter Vater, dem sie nie auch nur die geringste Unwahrheit zugetraut hätte, er hinterging und betrog die Mutter! „Was soll ich tun?“ stöhnte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Wie soll ich zwischen meinen Eltern weiterleben? Ich kann es nicht!“

Sie war am Rande der Verzweiflung gewesen. Ihre Kindheit fiel innerhalb weniger Minuten von ihr ab. Grausam schien ihr das Leben. Aber sie war ja gekommen, um die Medizin zu holen. „Mutter, arme Mutter“, schluchzte sie und hastete davon, den steilen Berg hinauf. Sie ahnte, dass die Mutter alles wusste, aber es wäre ihr nicht möglich gewesen, mit ihr darüber zu sprechen. Wie ein Orkan tobte es im Innern Reginas. Ihr Herz schien ihr mit seinem wahnsinnigen Klopfen die Brust sprengen zu wollen. Nie mehr würde sie von Herzen froh werden können nach dieser furchtbaren Entdeckung. Wie eine einzige dunkle Nacht schien die Zukunft vor ihr zu liegen.

Als Regina Weidengrün rückschauend mit ihren Gedanken hier angelangt war, huschte für eine Sekunde ein wehes Lächeln über ihr Gesicht. Es war erstaunlich, was ein Menschenherz zu tragen vermochte. Seit jenem Erlebnis war sie noch einige Male in Abgründe des Leides gestürzt, aber auch auf fast schwindelnde Höhen der Freude und des Glücks gehoben worden.

Erschrocken blickte sie um sich, um gleich darauf die Augen beschämt zu senken. Sie befand sich ja noch in der Kirche. Es war der Konfirmationstag ihres Sohnes Markus. Wie lange musste der Pfarrer wohl schon gepredigt haben, dass sie in Gedanken eine solche Wegstrecke ihres Lebens zurücklegen konnte? Sie warf einen scheuen Blick auf ihre Uhr. So spät war es noch gar nicht. Beinahe hätte sie den Kopf geschüttelt.

Frau Regina bemühte sich jetzt, aufmerksam und andächtig auf die Predigt zu hören. Es dauerte aber nicht lange, da bewegten ihre Gedanken sich wieder in der Vergangenheit. Noch während sie sich dagegen wehrte, erinnerte sie sich daran, dass es ihr an den Festtagen immer so ging, zu Weihnachten oder Neujahr, am Geburstag oder bei anderen Gelegenheiten. Wahrscheinlich kam es daher, dass sich an diesen Tagen die Tore der Erinnerung weiter als sonst öffneten. Wie wäre Andreas glücklich gewesen, diesen Tag, die Konfirmation seines Sohnes, miterleben zu können!

Damit war sie wieder bei jener Begegnung mit Andreas angelangt, da er ihr vom Gartenzaun entgegenkam und rief: „Hetzen Sie doch nicht so den Berg herauf! Sie schaden sich! Sie könnten einen Herzschlag bekommen!“

„Wo ist meine Mutter?“ hatte sie erschrocken gefragt, als sie die Bank leer fand.

„Beruhigen Sie sich, wir haben sie ins Haus gebracht und auf das Bett meiner Mutter gelegt. Weil es so lange dauerte, bis Sie wiederkamen, hat diese ihr eine gute Herzmedizin gegeben, die sie noch von meinem Vater hatte. Es hat auch bald gewirkt. Nun ist sie eingeschlafen. Am besten ist es, wir lassen sie jetzt ganz in Ruhe. Aber was ist Ihnen? Wie sehen Sie aus? So, als wären auch Sie nicht weit von einer Herzschwäche entfernt.“ Tatsächlich, sie wankte. Mit ein paar Schritten war er bei ihr, um sie zu stützen. Als er sie zu der Bank im Garten geführt hatte, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Aufschluchzend barg sie ihr Gesicht in den Händen. Andreas konnte nicht ahnen, welches schwere Erlebnis sie so erschütterte. Er suchte sie zu beruhigen: „Es geht gewiss vorüber. Sie werden sehen, schon bald wird Ihre Mutter sich besser fühlen.“ Regina aber hatte nur noch heftiger geweint, sie konnte kein Wort hervorbringen. Da hatte er ihre Hand genommen und sie in der seinen behalten, und es war ihr selbstverständlich gewesen, dass sie ihr tränennasses Gesicht an seiner Schulter geborgen hatte.

Als. sie gegen Mittag mit der Mutter in der Pension ankam, lag über allen eine unheimliche Spannung, die aber nicht zur Entladung kam. Regina selbst hätte um keinen Preis ein Wort über das Vorgefallene reden können. Sie vermochte während der Mahlzeiten kaum einen Bissen hinunterzubringen. Es war ihr, als müsse sie daran ersticken. Sie fühlte den Blick ihres Vaters auf sich gerichtet, fragend, um Verständnis bittend, schuldbewusst. Ach, sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Gonda ging ihr aus dem Wege. Als sie endlich zusammentrafen, sagte Gonda in einer Mischung von Verlegenheit und in dem Bemühen, sich zu rechtfertigen: „Regina, du bist ja nun auch kein Kind mehr, du hast wohl gemerkt, dass die Ehe deiner Eltern längst keine rechte Ehe mehr ist.“

Da hatte sie ihr ins Gesicht geschrien: „Schweig – oder ich vergesse mich! Dass ich aus meiner Kindheit so jäh herausgerissen wurde und der brutalen Wirklichkeit ins Auge schauen muss, dafür hast du allerdings gesorgt. Und wenn die Ehe meiner Eltern zerstört ist, dann ist niemand anders daran schuld als du. Geh mir aus den Augen, ehe ich mich an dir versündige!“

Totenbleich hatte Gonda das Zimmer verlassen. Noch am gleichen Tag wurden die Koffer gepackt. Die Mutter verlangte nach Hause. Ob sie ahnte, was Regina erlebt hatte? Dem Vater war die Abreise nur recht gewesen, und Gonda hatte vorgegeben, eine Verwandte besuchen zu müssen. So manche Reise hatten sie gemeinsam gemacht. Nie hatte es einen so plötzlichen Aufbruch gegeben. Wie gerne hätte Regina noch einen stillen Weg durch den geliebten Tannenwald unternommen! Wie gerne hätte sie sich von Andreas Weidengrün und seiner Mutter verabschiedet. Was mussten sie denken von ihrer raschen Abreise, ohne Gruß und ohne Dank für die Betreuung der Mutter! Aber nun war ihr alles gleichgültig. Regina mochte nicht daran denken, wie alles enden sollte.

Dann war auf der Rückfahrt das Unfassliche geschehen. Die Mutter hatte, als sie während der Fahrt den Waschraum betreten wollte, die falsche Türe geöffnet und war aus dem Zug gestürzt. Regina, einer bangen Ahnung folgend, war ihr nachgegangen. Gelähmt von Entsetzen hatte sie die offene Tür gesehen und sich einen Augenblick an die Wand lehnen müssen. Sich mit aller Gewalt aufraffend, war sie dann zum Abteil des Vaters zurückgeeilt, um ihm das Furchtbare mitzuteilen. Zuerst hatte er es nicht glauben können. Bis er selbst, bleich vor Schrecken, die offene Tür gesehen, die Notbremse gezogen und den Zug zum Stehen gebracht hatte, waren etliche Minuten vergangen. Der Zug hatte sich schon eine ziemliche Strecke von der Stelle entfernt, wo die Mutter abgestürzt war. Endlich fand man sie sterbend an einer Böschung neben den Schienen liegen. Ehe der herbeigerufene Arzt kam, war sie tot, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben.

Regina hatte damals gemeint, auch nicht mehr weiterleben zu können. Wie versteinert stand sie am Grabe der Mutter und nahm die vielen Beileidsbezeigungen entgegen wie etwas, das außerhalb ihres Fassungsvermögens lag. Wie gerne hätte sie ihre Hand in die des Vaters gelegt und sich an sein Herz geflüchtet. Aber sie konnte es nicht. Zutiefst war sie verwundet durch seine Untreue der Mutter gegenüber. Hatte er sie in den Tod getrieben? Würde er nicht aufatmen, weil er dadurch frei geworden war, frei, um das offen fortzusetzen, was er längst im geheimen betrieben hatte?

In Wirklichkeit war es nicht so, dass der Vater ohne innere Regung am Grabe seiner Frau gestanden hätte. Nein, das hatte er nicht gewollt. Er hätte es nicht sagen können, wie alles in der Vergangenheit gekommen war. Aber hatte seine Frau ihn nicht schon längst allein gelassen? Und war er nicht aus dieser Einsamkeit heraus in die Arme seiner jungen Schülerin geflüchtet, die – so meinte er damals – seinem Wesen viel näher stand als seine Frau? So versuchte er sich vor sich selbst zu rechtfertigen und das ihn anklagende Gewissen zum Schweigen zu bringen.

Natürlich konnte es nur ein Unglücksfall gewesen sein. Er hielt daran fest, weil ihm dies zu seiner Entlastung diente. Regina stand neben ihm auf dem Friedhof, umringt von den vielen Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren und den tragischen Tod der allgemein beliebten Frau betrauerten. Für sie selbst gab es keinen Zweifel, dass die Mutter den Tod gesucht hatte. Gonda war nicht zur Beerdigung erschienen. Mit einem Telegramm hatte sie ihre Erkrankung mitgeteilt. Bitter dachte Regina. Auf eine Lüge mehr kommt es ihr nicht an.

Stumm lebten Vater und Tochter einige Tage nebeneinander. Dann ertrug Regina es nicht länger: „Ich möchte noch eine Zeitlang zurück in den Schwarzwald. Vielleicht kann ich bei Weidengrüns wohnen. Dort ist es ruhiger als in der Pension. Später werde ich aufs Lehrerinnenseminar gehen.“

„Darüber wollen wir sprechen, wenn du zurückkommst“, antwortete der Vater. Es schmerzte ihn, dass seine einzige Tochter ihn so bald nach dem Tode der Mutter verlassen wollte und nicht danach zu fragen schien, wer ihn versorgte. „Ich verstehe, dass du nach dem Unglück, das Mutter betroffen hat, eine Zeit der Erholung brauchst“, fuhr er fort. „Aber dann kommst du nach Hause, und wir wollen alles weitere in Ruhe beraten.“

Da gab sie in der Qual ihres Herzens und nicht ohne Bitterkeit zurück: „Ich komme nicht mehr nach Hause, wo Gonda über kurz oder lang den Platz einnehmen wird, von dem sie Mutter schon zu ihren Lebzeiten verdrängt hat. Im Übrigen weißt du so gut wie ich, dass es sich bei ihrem Tod nicht um einen Unglücksfall handelt.“

Damit hatte sie dem Vater den Rücken gedreht und das Zimmer verlassen. Noch am gleichen Tag war sie abgereist. Erst unterwegs wurde sie sich darüber klar, dass sie bei Weidengrüns gar nicht angefragt hatte, ob sie kommen durfte. Aber das beunruhigte sie nicht. In dem großen Schwarzwaldhaus würde man bestimmt ein Plätzchen für sie haben. Wenn irgendwo, dann würde sie dort oben ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden. –

Frau Weidengrün hatte soeben ihr Nähzeug aus der Hand gelegt, um sich zur Ruhe zu begeben, und Andreas war, wie er es nach dem Tod des Vaters allabendlich tat, noch einmal um das Haus gegangen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Da hörte er Schritte. Langsam und mühevoll stieg jemand den kürzeren Weg durch den Wiesenhang empor. Es war ein warmer Sommerabend, und die Sonne ging spät unter. So konnte er nach einigen Augenblicken der Ungewissheit erkennen, wer da heraufkam.

„Regina!“ rief er, sich aber schnell korrigierend: „Fräulein Mooser – wo kommen denn Sie her?“ Er sah, dass sie ein schwarzes Kleid trug. „Was ist passiert?“ Mit ein paar Schritten war er bei ihr und nahm ihr den kleinen Koffer ab. Fragend schaute er sie an.

„Die Mutter ist tot“, antwortete sie leise.

„Also stand es doch schlimmer um ihr Herz?“

Sie schüttelte den Kopf, weil die auf steigenden Tränen keine Antwort zuließen. Andreas sah, dass sie am Ende ihrer Kraft war. Stützend schob er seine Hand unter ihren Arm. „Sie brauchen jetzt nichts zu sagen. Es ist gut, dass Sie gekommen sind.“ Als sie fragend, ob sie wirklich so ohne weiteres kommen dürfe, ihre Augen zu den seinen hob, gewahrte sie darin ein Leuchten, das sie bei aller Not ihres Herzens bis in dessen Tiefe erschauern ließ. Und es war ihr, als sei sie nach Hause gekommen.

Der Gottesdienst war beendet. Die Konfirmanden standen vor der Kirche in Gruppen beieinander oder bei ihren Angehörigen und nahmen teils stolz, teils verlegen die Wünsche der Verwandten und Bekannten entgegen. Einige ließen es sich nicht nehmen, den Konfirmanden ein Bibelwort mit auf den Weg zu geben.

„Geht das noch lange?“ fragte Thora, die es nicht erwarten konnte, bis man sich endlich wieder auf den Weg machte und den Berg hinaufstieg. Sie war mit ihren Eltern zum Essen eingeladen und durfte den ganzen Festtag mit Markus erleben. Es war schön gewesen in der Kirche; nur mit Mühe hatte die Mutter Thora zurückhalten können, Markus zuzuwinken, als sie ihn zwischen den andern Jungen und Mädchen hatte sitzen sehen. Nur schrecklich lang hatte es gedauert! Thora war froh, dass die Feier vorbei war und dass es jetzt nicht mehr so gezwungen herging. Aber was wollten nur die großen Leute alle von Markus, und was sagte der alte Mann eben zu ihm? Sie hob sich auf die Zehenspitzen, um ihn besser verstehen zu können.

„Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln!“

„Warum sagt er das?“ fragte Thora ihre Mutter.

„Er will Markus noch ein gutes Wort mit auf den Weg geben“; erwiderte sie. „Weißt du, von heute an ist Markus kein Kind mehr. Er ist jetzt erwachsen.“

„Haha“, lachte da die Kleine und hüpfte vor Vergnügen auf einem Bein. „Das stimmt doch gar nicht. Er ist ja noch immer der gleiche wie vorhin, als er zur Kirche hineinging. Er ist immer noch ein Junge.“ Sie sprang an Markus empor. „Nicht wahr, Markus, du bist noch ein Junge, auch wenn du Männerhosen anhast? Und du bist noch immer mein Freund. Wenn du erwachsen wärst, könntest du doch gar nicht mehr mein Freund sein.“

Markus errötete und sah sich verlegen um. So ein kindisches Gerede! Hoffentlich hatte es keiner seiner Kameraden gehört! Oben auf dem Berg, da mochte dieses kleine törichte Ding sich seine Freundin nennen, da hatte er sogar manches Mal mitgemacht, wenn sie mit ihm Hochzeit spielen wollte und ihm ein Sträußchen an die Jacke gesteckt und sich ein Kränzlein aufgesetzt hatte. Aber hier vor allen Leuten! „Sprich doch nicht so laut“, tadelte er und blickte sie fast böse an. „Was sollen denn die Leute denken?“

„Die Leute?“ Thora sah sich um. Was hatte sie denn Böses getan, dass Markus sie so streng ansah? Vielleicht wollte er jetzt nicht mit ihr sprechen, weil er darauf wartete, dass ihm noch mehr Männer und Frauen gute Worte mit auf den Weg geben würden. Ob sie ihm auch ein gutes Wort sagen sollte? Vielleicht gehörte es zum heutigen Festtag. Aber wusste sie ein solches? Das kleine, fünfjährige Mädchen dachte angestrengt nach. Ob das nicht passte, was die Großmutter immer sagte, wenn jemand das Haus verließ?

„Ich will dir auch ein Wort sagen.“ Thora hob ihr frisches Gesichtchen zu Markus empor, ergriff seine Hand, wie sie es bei den andern gesehen hatte, und sagte: „Jeden Schritt und jeden Tritt geh du, lieber Heiland, mit!“

Markus sah sich verlegen um. Gleichzeitig rührte ihn der Versuch der kleinen Lehrerstochter, ihm etwas Liebes zu sagen. „Komm, wir gehen jetzt!“ sagte er kurz und schaute suchend nach den Angehörigen.

„Du hast einen schönen Denkspruch bekommen“, sagte die Mutter, als sie neben ihm den Berg hinaufstieg. Sie wiederholte ihn: „Die Freude am Herrn ist meine Stärke.“ Markus aber dachte: Nun könnten sie aufhören mit ihren frommen Sprüchen. Für eine Weile habe ich wahrhaftig genug …

Großmutter Weidengrün überblickte noch einmal die gedeckten Tische in der holzgetäfelten Wohnstube. Wohlwollend nickte sie mit dem Kopf. Ja, das hatte die Regina wieder einmal schön gemacht. Sie hatte sich an- geboten, ihr die Arbeit abzunehmen, aber Regina meinte, dies vor dem Kirchgang noch selbst besorgen zu können. Sie, die Schwiegermutter, wusste schon, warum. So etwas machte sie der Regina nie fein genug. Obgleich sie sich mit den Jahren erstaunlich gut in den Aufgabenkreis einer Schwarzwaldbäuerin hineingefunden hatte, so blieb sie doch die Tochter eines Musikers und einer sensiblen, künstlerisch begabten Mutter. Die Liebe zu allem Schönen und das Bedürfnis, bei solchen Gelegenheiten eine festliche Atmosphäre zu schaffen, hatte sie behalten.

Langsam ging sie, auf ihren Stock gestützt, um die Festtafel herum. Ein kleines Lächeln spielte um ihren herben Mund. Sogar Tischkarten hatte Regina geschrieben und mit zierlichen Federzeichnungen versehen. Jetzt trat ein Ausdruck der Rührung auf ihr Gesicht. Schau her! Ihr, der Schwiegermutter, hatte sie den Ehrenplatz am oberen Ende der Tafel gegeben. Rechts von ihr würde Markus, der Konfirmand, sitzen. Um seinen Teller lag ein Kranz bunter Frühlingsblumen. Und links neben ihr war Reginas Platz. Nein, sie konnte sich nicht über ihre Schwiegertochter beklagen. Obgleich es in der ersten Zeit ihres Hierseins für Regina wirklich nicht leicht gewesen war, hatte sie sich ihr immer unterstellt und ihre Autorität anerkannt, besonders nachdem die Nachricht gekommen war, dass Andreas nie mehr nach Hause zurückkehren würde.

Ein Blick zur Wanduhr zeigte Frau Weidengrün, dass es fast noch eine ganze Stunde dauerte, bis der Festzug hier oben angelangt sein würde. Der Weg vom Städtchen den Berg hinauf zog sich sehr in die Länge, zumal ältere Leute dabei waren, denen das Steigen nicht leichtfiel.

Sie setzte sich in den Sessel am Fenster. So konnte sie den Kommenden eine Strecke weit entgegensehen.

Doch eilten auch ihre Gedanken, während sie das tat, rückwärts. War das wirklich schon beinahe siebzehn Jahre her, dass ihr Sohn, Andreas, zu ihr erregt in die Schlafstube getreten war? Sie hatte sich gerade zur Ruhe begeben wollen, war aber, als warte sie auf etwas, noch eine Weile unschlüssig vor dem Bild ihres verstorbenen Mannes gestanden. Gut konnte sie sich noch erinnern, dass sie sich mit dem Gedanken beschäftigt hatte, ob er wohl mit ihnen zufrieden sei, mit ihr und ihrem Sohn, die sie miteinander den Hof verwalteten. Gerade jetzt vermisste sie ihn sehr, denn es war doch Krieg. Man wusste nicht, was noch kommen würde. Aber wahrscheinlich wäre ihr Mann, wenn er noch lebte, gar nicht mehr zu Hause, sondern irgendwo an der Front. Und wenn nicht er, dann bestimmt Andreas, ihr Sohn, der bereits zweiundzwanzig Jahre alt war. Ihn hatte man noch nicht in den Kriegsdienst gerufen, weil er der einzige Mann auf dem Hof und die Stütze seiner Mutter war. Ja, sie erinnerte sich noch gut, dass sie, mit diesen Gedanken beschäftigt, an jenem Abend vor dem Bild ihres Mannes gestanden hatte. Da war Andreas erregt zu ihr hereingekommen. Sie war das von ihrem stets ruhigen und beherrschten Sohn nicht gewohnt.

„Mutter, Regina Mooser ist soeben gekommen. Ihre Mutter ist auf der Heimreise tödlich verunglückt.“

„Regina Mooser?“ hatte sie gefragt. Sie wusste im ersten Augenblick nicht, wen er meinte.

„Aber, Mutter“, hatte er fast ungeduldig weitergesprochen, „du kennst doch noch die Leute aus der Frankfurter Gegend, die kürzlich hier auf Urlaub waren. Sie wohnten in der Pension Waldfrieden, der Herr mit dem Künstlerkopf und seine zarte Frau, die immer einen etwas schwermütigen Eindruck machte, auch die hübsche junge Dame und dann Regina – ich meine die Tochter. Mutter, du tust wirklich, als könntest du dich nicht erinnern. Du hast doch Frau Mooser, als sie hier oben eine Herzschwäche bekam und es so lange dauerte, bis ihre Tochter wieder den Berg herauf kam –“

„Ach, die!“ Jetzt erinnerte sich die Mutter. „Das war doch erst letzte Woche. Natürlich erinnere ich mich an sie. Ich habe zwar keine von den Herrschaften gesehen, die du mir eben genannt hast, nur eben die Mutter, die ich auf mein Bett legte, weil sie so elend war, und die Tochter, die so lange mit den Herztropfen ausblieb.“ Der Junge hatte wie auf Nadeln vor ihr gestanden. Es war ihr nicht entgangen.

„Und diese Frau ist so plötzlich gestorben? Dann muss es um ihr Herz doch recht schlecht gestanden sein.“