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Friedemann Kranzbinder ist ein befähigter Lehrer, der den Mut hat, auch gegen den Strom zu schwimmen. Seine Frau Rosmarie und er können am Schicksal und den Problemen ihrer Mitmenschen nicht einfach vorbeigehen, weil sie sich sonst schuldig fühlen würden. Dabei bleibt es nicht aus, dass besonders Rosmarie Kranzbinder, deren Kraft und Gesundheit oft überfordert sind, manchmal unter der Fülle der Aufgaben seufzt und sich beunruhigt fragt: Was ist nun das wichtigste - die Kinder, der Haushalt, das Anteilnehmen an der Tätigkeit ihres Mannes, der in der Schule ohnehin überfordert ist, oder sind es die Sorgen und Probleme der Mitmenschen, die ihnen begegnen? Wenn Frau Kranzbinder das alles nicht mehr übersehen kann und es ihrem Mann klagt, rät er ihr: »Tu, was dir vor die Hände kommt, wie deine Kraft es zulässt!« Das wiederum bringt die beiden öfter mit ihren Kindern in Konflikte, die den selbstlosen, aufopferungsvollen Einsatz ihrer Eltern nicht immer verstehen. Aber Friedemann und Rosmarie Kranzbinder üben sich in Geduld und erleben, dass Gott auch mit ihren Kindern seine Wege geht. Gott weitet durch dies alles ihren Blick und schenkt ihnen erfülltes und sinnvolles Leben. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.
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Seitenzahl: 337
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Was dir vor die Hände kommt
Band 27
Elisabeth Dreisbach
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Elisabeth Dreisbach
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-148-0
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.
Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.
Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1
Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu! Prediger 9,10
1 Quelle: wikipedia.org
Titelblatt
Impressum
Autor
Was dir vor die Hände kommt
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Missmutig stand Thomas am Fenster und starrte hinaus.
Dichter Nebel umgab das Landhaus. Die Sicht betrug kaum drei Meter. Der alte Kastanienbaum mit seinen weitausholenden Ästen schien sich aufgelöst zu haben. Von der Pappelallee war nicht mehr die geringste Spur zu sehen. Schon den ganzen Tag fiel ein leichter Regen und ließ den grauen Novembertag noch unfreundlicher erscheinen. Bereits am frühen Nachmittag hatte man das Licht einschalten müssen.
Behagliche Wärme füllte das Zimmer, in dem sich Frau Kranzbinder mit ihren Kindern befand. Sie hielt eine Näharbeit in den Händen. Die beiden Mädchen saßen über ihren Schulaufgaben, während William, der Jüngste, auf dem Stubenboden hockte und dabei war, seine Arche aufzubauen. Seit dem Frühjahr besuchte auch er die Schule – aber noch immer war er sehr verspielt und hatte die Notwendigkeit des Lernens noch nicht begriffen.
Thomas wandte sich resigniert vom Fenster ab. „So ein Mist!“ stellte er unwillig fest, ging ein paar Schritte ins Zimmer und versetzte dem Elefantenpaar, das soeben vor der Arche Aufstellung genommen hatte, einen wütenden Stoß mit dem Fuß – als seien die Tiere schuld an diesem freudlosen Novembertag.
„Thomas, du bist gemein!“ schrie der kleine Bruder empört und warf sich mit dem Oberkörper schützend über seine Tiere. „Mutti, er zerstört mir alles, was ich auf gebaut habe!“
„Warum tust du das?“ fragte Frau Kranzbinder und blickte von ihrer Arbeit hoch in das mürrische Gesicht ihres Ältesten. „Du siehst doch, wie William sich Mühe gegeben hat, seine Tiere zu ordnen.“
Thomas hielt es nicht für nötig, die Frage seiner Mutter zu beantworten. Irgendwie musste er aber seinem Ärger Luft machen. Unwillig ließ er sich auf die Eckbank fallen. „So ein fades Leben, das wir hier führen!“ grollte er. „Mir stinkt langsam alles.“
Anita, die Vierzehnjährige, warf dem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Altklug sagte sie: „Thomas, willst du mal ein Wort hören, das wir heute in der Schule besprochen haben? Es stammt von Friedrich Bodenstedt: In jedes Menschen Gesichte steht seine Geschichte, sein Hassen und sein Lieben deutlich geschrieben.“
„Halt du doch deine Klappe L Dauernd willst du mich bevormunden. Übrigens ist mir deine Meinung über mein Gesicht – darauf wolltest du doch anspielen – völlig gleichgültig. Wenn du nämlich in den Spiegel schaust, siehst du auch nicht gerade etwas Erfreuliches.“
„Natürlich, so hübsch wie deine Freundin Micky bin ich längst nicht“, gab die Schwester anzüglich zurück.
„Es fragt sich nur, was man unter hübsch versteht. Wenn du bloß unansehnlich wärst – aber blöd dazu, das ist schon ein wenig viel auf einmal!“
„Nun hört aber auf der Stelle auf“, sagte die Mutter in bestimmtem Ton. „Du bist wirklich nicht liebenswürdig zu deiner Schwester, Thomas; und du, Anita, hast dir in letzter Zeit angewöhnt, deinen Bruder dauernd zurechtzuweisen. Im Übrigen stimmt die Anwendung deines Zitates nicht ganz. In Thomas' Gesicht ist im Augenblick weder etwas von Hassen noch von Lieben zu lesen – das kommt vielleicht später –, höchstens schlechte Laune und Unzufriedenheit. Warum eigentlich, Thomas?“
Anita hatte sich wieder über ihr Heft gebeugt.
Der Junge aber öffnete das Ventil seines Unmuts, wie er das seit einiger Zeit öfter tat. „Da hockt man nun hier in einer Weltabgeschiedenheit ohnegleichen – keine Nachbarschaft, keine Aussicht, nichts!“
„Das ist doch nur heute so, weil es neblig ist. Sonst können wir fast die ganze Pappelallee überblicken“, schaltete sich jetzt Berthild, die Elfjährige ein. „Der Nebel geht doch wieder vorbei! Außerdem ist es hier im warmen Zimmer recht gemütlich. Du bist mit nichts zufrieden.“
„Ich habe dich nicht um deine Meinung gefragt“, antwortete Thomas bissig. Zu seiner Mutter gewandt, fuhr er fort: „Da war es in der Wohnung von Frau Purzel viel schöner.“
„Und wie hast du damals über sie geschimpft!“ Anita ärgerte sich maßlos über ihren Bruder, der bereits vergessen zu haben schien, wie sehr er die vorherige Wohnung verwünscht und an der Hausbesitzerin keinen guten Faden gelassen hatte. Sie war auch wirklich unausstehlich gewesen.
„Du hast doch immer von der Giftnudel gesprochen, als wir noch in der Stadt wohnten, oder von der blöden Purzel.“ Selbst William erinnerte sich daran und warf es dem Bruder vor.
„Pass du lieber auf deine Wildschweine und Affen auf“, erwiderte Thomas halb im Ernst, halb im Spaß.
„Du scheinst zu vergessen“, wandte sich jetzt Frau Kranzbinder wieder an ihren Ältesten, „wie sehr wir uns über das großzügige Angebot von Herrn Schulendorf gefreut haben, als er uns zu Weihnachten vor zwei Jahren sein Haus zu einem lächerlichen Preis anbot, so dass Vater ohne weiteres imstande war, es bar zu bezahlen. Wir waren alle sehr glücklich, hierher ziehen zu können.“
„Wir sind noch heute gerne hier“, bestätigten die beiden Mädchen, die es nicht lassen konnten, sich immer wieder in das Gespräch einzuschalten.
„Ich gehe lieber hinüber in Opas Zimmer“, entschloss sich William und warf seinem Bruder einen empörten Blick zu. Thomas' Äußerung schien ihm eine Beleidigung seines alten Freundes zu sein. Nirgends, so fand er, war es schöner als hier in dem alten Landhaus mit dem dahinter liegenden Garten und der Spielwiese. Er bettete seine Tiere sorgsam in die umgestülpte große Arche und verstaute diese im Spielschrank.
„Sage Opa aber nichts von Thomas' Äußerungen über unser Hiersein“, ermahnte Frau Kranzbinder ihren Kleinen. Sie wusste, dass er oft frei herausplauderte, was er dachte. „Herr Schulenburg würde darüber traurig sein, wenn er den Eindruck gewänne, irgendjemand von uns würde sich hier nicht mehr wohlfühlen.“ Dann wandte sie sich an die beiden Mädchen, die gerade dabei waren, ihre Hefte und Bücher in ihren Schulmappen zu verstauen. „Und ihr geht jetzt in die Küche und helft Doris bei der Vorbereitung des Abendessens, ja?“
„Darf ich noch mit Hanny ein Stück hinausfahren?“
„Nein, Berthild, bei diesem Nebel auf keinen Fall. Aber du kannst in der Küche mit der Kleinen spielen, bis Doris sie zu Bett bringt.“
Die beiden Mädchen verließen das Zimmer. Anita warf ihrem Bruder noch einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie wusste, warum Mutti sie in die Küche schickte. Bestimmt wollte sie mit Thomas allein sein, um mit ihm zu reden. Sie hatte damit Recht.
„Warum bist du eigentlich so unzufrieden?“ fragte Frau Kranzbinder ihren Ältesten.
„Ich hab7 doch schon gesagt, dass mir alles stinkt!“
„Du drückst dich nicht gerade gut aus.“
„Aber dieser Ausdruck besagt am besten, was ich empfinde. Mutter, wirklich, wir führen ein fades Leben. Nichts – aber auch gar nichts ist bei uns los! Ein Tag geht genauso eintönig vorbei wie der andere. Manches Mal halte ich es fast nicht mehr aus und möchte am liebsten davongehen.“
„Aber Thomas, geht es uns nicht gut? Haben wir nicht alles, was wir brauchen? Können wir euch Kindern nicht anschaffen, was ihr nötig habt, ja, noch mehr als das?“
Mit einer Handbewegung schob Thomas die Argumente der Mutter beiseite. „Davon ist doch nicht die Rede.“
„Du hast außerdem deine Freunde, die du besuchen und auch mit nach Hause bringen darfst. – Als wir gerade erst den Schrebergarten gepachtet hatten, kaufte Vater das Auto, damit William, der damals noch nicht wieder laufen konnte, täglich ins Grüne und an die frische Luft gebracht werden konnte.“
„Musst du mich eigentlich immer wieder an diese alte Geschichte erinnern?“
„Es war nicht meine Absicht, dir Vorhaltungen zu machen. Vergiss nicht, wie glücklich du über die Anschaffung des Wagens gewesen bist. Es schien, dass damit alle deine damaligen Wünsche erfüllt waren. Dann hast du keine Ruhe gegeben, bis Vater auch noch einen Fernsehapparat kaufte, einen Farbfernseher sogar.“
„Das hat er nur getan, weil er in der Schule überhaupt nicht mehr mitreden konnte, wenn seine Kollegen und Schüler über eine Sendung sprachen – nicht aber, weil ich es wünschte.“
„Doch, auch um deinet- und um unsertwillen.“
„Was nützt mir ein Fernsehapparat, wenn ich ihn nicht einmal einschalten darf, wann ich will? Ich bin sechzehn Jahre alt und soll immer noch wie ein kleines Kind fragen, ob es gnädigst erlaubt ist, diese oder jene Sendung anzusehen, die mich interessiert. Auch das stinkt mir!“
„Du übertreibst, Thomas. Natürlich darfst du den Apparat einschalten, aber Vater wünscht, dass ihr nicht alles wahllos seht. Sei doch nicht so ungerecht und respektiere Vaters Grundsätze. Er kennt genügend Familien, in denen wegen des Fernsehens das Gespräch verstummt ist und wo die Leistungen der Kinder in der Schule erschreckend nachgelassen haben, weil diese bis in die Nacht hinein vor dem Fernsehapparat sitzen. Schon die kleinen Kinder sind übernervös, weil sich die Eltern nicht durchzusetzen vermögen und den Apparat ausschalten, wenn Sendungen kommen, die für Kinder oder Heranwachsende nicht geeignet sind.“
„Ach, Vater ist einfach kleinlich und im höchsten Grade rückständig. Du solltest mal meine Schulkameraden hören. Ich wage nicht, ihnen zu sagen, wie kleinkariert wir leben. Sie würden mich auslachen.“
„Thomas, ich finde es nicht Recht, wenn du immer nur hervorhebst, was dein Vater nicht erlaubt und dir nicht zugesteht. Siehst du gar nicht mehr, wie er bemüht ist, euch Kindern Freude zu bereiten? Komm mir nicht immer mit dem, was deine Schulkameraden mehr oder besser haben. Erinnere dich mal daran, was du mir von einigen Familien erzählt hast, und was die Jungen entbehren müssen. Arno kennt überhaupt kein Familienleben – trotz des Reichtums, in dem er auf wächst. Bei Jörg scheint es zu Hause zu stimmen. Aber von Gustav hast du mir gesagt, dass sein Vater sehr oft betrunken nach Hause kommt und dass seine Schwester in einer Entziehungskur ist, weil sie Drogen zu sich genommen hat. Auch hast du mir von einem Klassenkameraden erzählt, dessen Vater Unterschlagungen beging und nach Amerika geflüchtet ist.“
„Ach, das sind doch Ausnahmen. Es gibt eine Menge anständiger Familien, deren Söhne mit mir in einer Klasse sind.“
„Denkst du nicht an den Selbstmord, den einer deiner Klassenkameraden verübte, weil sein Vater ihm gesagt hatte, er brauche nicht mehr nach Hause zu kommen, wenn er die Prüfung für die Mittlere Reife nicht bestehe? O Thomas, ist dir nicht bewusst, in welcher heilen Welt du lebst? Mich schmerzt es, dass du das nicht erkennst.“
Der Junge war von seinem Platz aufgesprungen und ging erregt im Zimmer auf und ab. „Begreifst du es denn nicht, Mutter, dass ich mich in dieser heilen Welt beengt und nicht verstanden fühle? Alles ist so alltäglich, so bedeutungslos. Es geschieht absolut nichts Aufregendes.“
„Aber desto mehr Anregendes“, erwiderte die Mutter.
„Wenn ich mir vorstelle“, fuhr Thomas fort, „dass das so weitergeht, bis ich das Elternhaus verlasse, dann frage ich, ob ich mich nicht unabhängig von euch machen und mir irgendeine Stelle suchen soll.“
„Thomas, ich glaube, du weißt nicht, was du sagst. Dir geht es wie vielen anderen jungen Menschen in unserer Zeit zu gut. Ihr wisst nicht, dass das Leben letztlich ein Kampf ist. Ihr leidet keinen Mangel und geht an eurem Sattsein zugrunde. Aber ich denke, wir brechen jetzt das Gespräch ab. Vater wird gleich von der Schule kommen, und dann wird gegessen. Er hat übrigens davon gesprochen, dass heute Abend im Fernsehen ein guter Film gezeigt wird. Den wollen wir uns gemeinsam ansehen“.
„Ich verzichte darauf, wenn ich mir nicht selbst auswählen kann, was ich sehen will.“
„Denke über unser Gespräch nach, Thomas. Du hast schon manchmal heftig und übereilt reagiert und bist nachher doch wieder zur Vernunft gekommen. Ich hoffe, dass es auch diesmal so sein wird.“
Längst waren Kranzbinders in dem Landhaus heimisch geworden, das ihnen der alte Herr Schulendorf angeboten und verkauft hatte. Das Heimweh nach dem kleinen Albdorf, in dem Friedemann Lehrer gewesen war – damals, als es noch Dorfschulen gab, in denen vier Klassen in einem Raum unterrichtet und auch bei diesem System wirklich gute Lehrerfolge erzielt wurden – war geschwunden. Wohl fuhr man dann und wann noch einmal hinauf in den idyllisch gelegenen Ort, in dem die vier Kinder geboren worden waren, oder man machte eine Wanderung auf den Berg, um alte Freunde zu besuchen. Der Besitz des Autos hatte die Freude am Wandern nicht gemindert, wenngleich die Kinder öfter auch lieber gefahren als gelaufen wären. Aber hier vertrat Friedemann Kranzbinder ebenso wie auf anderen Gebieten seine Grundsätze.
„Solange wir können, wollen wir die Gegend erwandern. Vieles geht einem beim Autofahren verloren, weil die kleinen Freuden und Schönheiten am Wege gar nicht wahrgenommen werden.“
Die alltäglichen Ärgernisse mit ihrer ehemaligen Hausbesitzerin, der launenhaften, um nicht zu sagen, boshaften Frau Purzel, verblassten ebenfalls mehr und mehr. Frau Kranzbinder hatte sie schon ein paarmal in der Stadt getroffen und sie freundlich gegrüßt. Sie vermochte – vielleicht ist es besser, zu sagen: sie übte sich darin – das ihnen angetane Böse zu vergessen, jedenfalls es nicht nachzutragen. Unversöhnlichkeit, so sagte ihr Mann immer wieder, richtet nicht nur eine Mauer auf zwischen Menschen, sondern auch zwischen Gott und uns. Die Kinder, die sich noch sehr genau an die Schikanen dieser Frau erinnerten, waren anderer Meinung. „Wenn wir sie schon grüßen sollen, gut, dann so kurz wie möglich“, meinte Anita. „Aber dass du bei ihr stehen bleibst und mit ihr ein Gespräch beginnst – nein, Mutti, das würde ich nicht tun. Sie hat dich ja auch ziemlich ablehnend behandelt und ist gleich wieder hochmütig davongerauscht.“
„Und doch war sie ein klein wenig zugänglicher als sonst, wo sie meinen Gruß überhaupt nicht erwiderte und so tat, als sähe sie mich nicht. Das letzte Mal ist sie wenigstens stehengeblieben und hat mich angehört. Ich fand, sie sah schlecht aus.“
Thomas war ebenfalls Zeuge dieses Gesprächs zwischen Anita und der Mutter gewesen. Natürlich hatte auch er seine Meinung geäußert.
„Es ist kein Wunder, wenn diese alte Giftnudel –“
„Thomas!“ hatte die Mutter ihn mahnend unterbrochen.
„Ich weiß, ich soll sie nicht so nennen, aber dieses Weib ist doch angefüllt mit Gift und Galle. Die kann ja gar nicht anders als schlecht aussehen. Und das darfst du mir glauben, Mutter – ich grüße sie nicht, wenn ich an ihr vorbeikomme. Irgendwie muss sie ja schließlich merken, was sie uns angetan hat. Von mir aus könnte sie verre –“
„Thomas, ich wünsche nicht, dass du weitersprichst! Du weißt, Vater dürfte deine Äußerungen nicht hören. Im Übrigen möchte ich dich auf ein Bibelwort hinweisen, obgleich ich weiß, dass du es nicht magst. ,Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Ohne die schwere Zeit im Hause von Frau Purzel wären wir nicht zu unserem Landhaus gekommen.“
„Wieso? Was hat das mit der Alten zu tun?“
„Du erinnerst dich daran, dass wir die Eigentumswohnung kaufen wollten. Weil wir dafür aber unser ganzes erspartes Geld benötigten, mussten wir die geplante Ferienreise in die Schweiz zurückstellen. Vater traf dann – andere würden sagen – rein zufällig Herrn Schulendorf in dessen Schrebergarten und kam mit ihm ins Gespräch. Ihr werdet noch wissen, wie enttäuscht ihr ward, als dann aus der Eigentumswohnung doch nichts wurde.“
„Ja, eine Stinkwut habe ich damals gehabt“, bestätigte Thomas.
„Und der Schrebergarten“, fuhr die Mutter fort, „wurde dann gewissermaßen das Bindeglied zu unserem jetzigen Heim, das nicht nur eine Eigentumswohnung ist, sondern ein stattliches Haus mit genügend Raum für uns alle und einem großen Grundstück. Beiden war geholfen – Großvater Schulendorf musste nicht mehr allein sein, und wir hatten nun doch eine eigene Wohnung und brauchten nicht länger bei Frau Purzel zu bleiben. Alles diente zu unserem Besten.“
„Ach Mutter, man kann, wenn man will, jedes Erlebnis mit einem frommen Mäntelchen umkleiden“, meinte Thomas.
„Das ist kein frommes Mäntelchen, sondern unsere Überzeugung. Die Unstimmigkeiten mit unserer Hauswirtin haben uns damals große Sorgen bereitet. Ich weiß noch gut, Thomas, wie du daran gezweifelt hast, dass es Gott möglich sei, uns zu einer neuen Wohnung zu verhelfen. Und als wir in unseren Andachten dafür beteten, meintest du, wenn wir nicht selber eine Wohnung suchen würden, Gott täte es bestimmt nicht.“
„Ja“, mischte sich jetzt Anita wieder ein, „ich erinnere mich noch, wie du voller Wut sagtest, als die Sache mit unserer Eigentumswohnung ins Wasser fiel: Da seht ihr, dass euer Beten keinen Sinn gehabt hat.“
„Dabei war der Plan Gottes in dieser Sache bestimmt schon fertig“, fuhr Frau Kranzbinder fort. „Es musste nur erst seine Zeit kommen. So wie Gott unsere Angelegenheit kannte, wusste er auch um die Kümmernisse des alten Mannes, der ganz allein in seinem Haus lebte. Vater musste Herrn Schulendorf in seinem Schrebergarten begegnen, und eins ergab sich aus dem anderen.“
„So seht ihr es, du und Vater, aber ich kann mich eurer Meinung nicht anschließen.“
„Das können wir auch nicht erwarten, Thomas. Du musst deine Lebenserfahrungen erst selber machen.“
Obgleich Frau Kranzbinder freundlich geantwortet hatte und ohne Erregung auf die fast herausfordernden Antworten ihres Sohnes einging, überkam sie doch eine gewisse Traurigkeit. Grundsätzlich widersprach Thomas ihr und dem Vater. Gewiss war das auch eine Erscheinung der Pubertätszeit. Andere Eltern erlebten es ebenso. Was sie jedoch immer wieder belastete, war dieses, dass Thomas auf religiösem Gebiet kaum ansprechbar schien und je länger desto deutlicher Widerspruch zeigte. Er war mit allem unzufrieden und schien immer unzugänglicher zu werden. Schon vor der Konfirmation hatte er erklärt, dass er danach nicht mehr zur Kirche gehen wolle. Bis dahin gehörte es zur Hausordnung, dass am Sonntag die ganze Familie den Gottesdienst besuchte.
„Üben Sie da nicht einen Zwang auf Ihre Kinder aus?“ hatte einmal eine Frau aus ihrem Bekanntenkreis gefragt. „Muss man nicht Rücksicht nehmen auf den freien Willen der Kinder, die ja auch Persönlichkeiten werden sollen?“
„Diese angehenden Persönlichkeiten“, so hatte Herr Kranzbinder damals geantwortet, „besuchen ja auch gewissermaßen gezwungen die Schule. Wir als Eltern können darauf keine Rücksicht nehmen, dass sie dazu nicht immer Lust haben. Wir wissen, sie brauchen die Schulkenntnisse, und dementsprechend sind sie verpflichtet, regelmäßig zur Schule zu gehen. Wir als Eltern würden uns vor Gott schuldig machen, wenn wir mit unseren Kindern nicht unter das Wort Gottes gehen würden. Ich meine, solange wir noch erziehungsverpflichtet sind und damit auch die Verantwortung für die innere Entwicklung unserer Kinder tragen, haben wir sie zum Besuch des Gottesdienstes anzuleiten.“
„Ist Ihre Ansicht noch zeitgemäß?“ hatte jene Frau damals gemeint.
„Danach fragen wir nicht“, war die Antwort Friedemanns gewesen. „Uns kommt es darauf an, das zu tun, was vor Gott recht ist.“
In der ersten Zeit nach der Konfirmation war Thomas doch noch mit den Eltern und Geschwistern zum sonntäglichen Gottesdienst gegangen. Nun aber kam es immer häufiger vor, dass er sich davor drückte und eine Menge Ausreden hatte, bis er offen zugab, keine Lust mehr zu haben. Die Eltern sagten sich, dass es keinen Sinn habe, ihn zu zwingen. Die unguten Auseinandersetzungen hätten nur dazu gedient, den Frieden des Hauses zu stören. Sie selbst gingen aber regelmäßig mit den übrigen Kindern zur Kirche. Nur noch selten begleitete Thomas sie.
Wenn Friedemann Kranzbinder es verhindern konnte, mit seinem ältesten Sohn zusammenzustoßen, dann tat er es – nicht, um einen faulen Frieden zu wahren oder aus innerer Bequemlichkeit oder weil er Auseinandersetzungen befürchtet hätte. Vielmehr war es ihm wichtig – und das auch als Lehrer, der an den oberen Klassen der Hauptschule zu unterrichten hatte – immer wieder nach gangbaren Wegen zu suchen, auf denen er mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen konnte. Das praktizierte er bewusst – nicht stets mit Erfolg, aber er erkannte, dass es gewiss die bessere Art sei als sich gewaltsam durchzusetzen. Vielmehr wollte er die jungen Menschen überzeugen, auch Thomas.
Längst wurde Friedemann Kranzbinder auch von seinen Kollegen in der Stadt anerkannt. Sie wussten inzwischen alle, dass er Christ war und danach lebte.
„Sagen Sie mal, Frau Kranzbinder“, hatte bei einer festlichen Zusammenkunft der Lehrer, an der auch deren Frauen teilnehmen durften, eine Kollegenfrau Rosmarie ein wenig zweifelnd gefragt: „Entschuldigen Sie bitte die offene Frage: Ist Ihre Ehe auch im Alltagsleben so harmonisch, wie es den Anschein hat, wenn man Sie aus der Ferne beobachtet?“
„Unsere Ehe ist immer glücklich gewesen“, hatte Frau Kranzbinder geantwortet und der Fragenden offen in die Augen geblickt.
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie nie Meinungsverschiedenheiten haben?“
„Nein, das will ich damit nicht sagen.“
„Ach, dann unterstellen Sie sich wohl immer widerspruchslos Ihrem Mann?“ Nicht ohne Ironie sagte es die Frau.
„Das sehen Sie falsch. Ich liebe meinen Mann, und deshalb fällt es mir nicht schwer, mich seinen Wünschen anzupassen. Mein Mann aber, der mich ebenso liebt, stellt mir gar keine unmöglichen Forderungen oder Wünsche.“
„Wie Sie das sagen!“ wunderte sich die Frau des Kollegen.
„Und wenn wirklich einer von uns nicht der Meinung des anderen ist, dann spricht man darüber, hört sich die Argumente des anderen an, versucht sie zu verstehen und kommt so sicher irgendwie zu einer Einigung. Zu Streitigkeiten lassen wir es bewusst nicht kommen, schon um unserer Kinder willen. Wie sollten diese in einer friedlosen Atmosphäre froh sein können und selbst zu friedliebenden Menschen heranwachsen?“
„Dann haben Sie nie erzieherische Schwierigkeiten mit Ihren Kindern?“
„O doch, die sind uns nicht unbekannt. Aber wir versuchen, sie zu bewältigen, indem wir uns innerlich leiten lassen.“
Einen Augenblick lang sah die Frau Rosmarie nachdenklich an.
„Sie sind wohl sehr fromm?“ fragte sie dann.
„Was verstehen Sie unter sehr fromm?“
„Na ja – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Aber Sie kommen mir beinahe unheimlich fehlerlos vor.“
„Es wäre schrecklich, wenn Sie sich von uns eine solche falsche Vorstellung machen würden! Auch wir begehen Fehler, aber – ich möchte es ganz behutsam aussprechen – wir bemühen uns, den Willen Gottes zu erkennen und danach zu handeln. Das gelingt uns keinesfalls immer, aber wir streben danach.“
Die andere Lehrersfrau beendete das Gespräch, indem sie feststellte: „Merkwürdig, wie selbstverständlich Sie das aussprechen, wo doch heute immer weniger Menschen an Gott glauben.“
„Mein Mann und ich können diese Menschen nur bedauern, denn sie gehen am Wesentlichsten vorbei.“
Damals war es auch gewesen, dass der Dekan des Kirchenbezirkes an Friedemann herantrat und ihn fragte, ob er bereit sei, als Lektor dann und wann den Predigtgottesdienst in einer der dazugehörenden Kirchen zu übernehmen, wenn in der betreffenden Gemeinde der Pfarrer durch Krankheit oder aus anderen Gründen ausfiel. Friedemann erbat sich Bedenkzeit. Er war arbeitsmäßig voll ausgelastet und hätte ohnehin gern mehr Zeit für die Familie, sein Orgelspiel und den Garten gehabt. Andererseits wusste er das Vertrauen zu würdigen und sah in dem Angebot eine neue Gelegenheit, anderen Menschen Jesus Christus als den Herrn zu bezeugen. Nachdem er darüber mit seiner Frau gesprochen hatte, gab er dem Dekan eine Zusage.
Einige Tage später kam es wieder zu einem Gespräch zwischen Mutter und Sohn.
Frau Kranzbinder war redlich bemüht, den oft so heftigen Reaktionen ihres ältesten Sohnes ruhig zu begegnen. Noch jedes Mal, wenn ihr dies nicht gelang, war es zu unliebsamen Auftritten gekommen, die selbst Friedemann nicht immer verhüten konnte. Allerdings war er nach seiner Heimkehr aus der Schule am Spätnachmittag nervlich oft so stark verausgabt, dass Auseinandersetzungen mit seinem Sohn seine Kraft fast überstiegen.
Frau Kranzbinder war deshalb auch bemüht, möglichst alleine mit dem Aufbegehren des Jungen fertigzuwerden und belastete damit, soweit es zu umgehen war, ihren Mann nicht. Natürlich gab es Probleme mit den Kindern, besonders mit Thomas, die sie unter allen Umständen mit Friedemann besprechen musste. Durch die oft unbeherrschte Art ihres Ältesten kam es auch wiederholt zu heftigem Streit zwischen den Geschwistern. Erst gestern hatte Anita, die Vierzehnjährige, zu ihm gesagt: „Wenn wir auch bei jeder Kleinigkeit wie eine Rakete hochgehen würden, was wäre dann? Beherrsch dich doch einmal ein bisschen!“ Darauf hatte Thomas ihr geantwortet, und schon war wieder eine der Streitigkeiten im Gange, die Frau Kranzbinder so schwer ertrug. Meistens sprach sie darüber nicht zu ihrem Mann, der sie immer wieder bat, nicht alles so schwer zu nehmen. Da es ihr aber manchmal nicht gelang zu verbergen, was sie bedrückte, dauerte es gewöhnlich nur kurze Zeit, bis Friedemann sie fragte: „Rosmarie, was bekümmert dich? Komm, sprich es aus, dann ist es gleich leichter!“
Heute ging es allerdings weder um eine der heftigen Reaktionen, mit denen man bei Thomas rechnen musste, wenn ihm etwas nicht passte, noch um eine ungute Auseinandersetzung, sondern einfach um eine Meinungsäußerung. Thomas war mit seinem Schulfreund nach Hause gekommen. Sie wollten gemeinsam für die Mathematikstunde am nächsten Tag arbeiten.
„Kannst du uns nachher das Abendbrot in mein Zimmer bringen?“ hatte er die Mutter gefragt.
„Wieso das?“ war ihre Antwort gewesen. „Selbstverständlich kann dein Freund hier essen, aber wie üblich in der Essdiele gemeinsam mit uns allen. Du weißt, Vater wünscht, dass wir bei Tisch alle beieinander sind.“
„Aber man kann doch einmal eine Ausnahme machen – oder nicht?“
„Ihr könnt euch, sobald ihr satt seid, zurückziehen, um weiter zu arbeiten.“
„Liebe Zeit, Mutti, sei doch nicht so stur! Ich möchte nun einmal mit Jörg in meinem Zimmer essen. Kannst du das nicht verstehen?“
„Sag mal, Thomas, was ist eigentlich der wahre Grund dafür? Ich hörte euch vorhin so lebhaft sprechen und lachen. So wichtig schien mir eure Arbeit nicht zu sein.“
Auf der Stirn des Jungen zeigte sich bereits wieder die bekannte Unmutsfalte. Dann antwortete er trotzig: „Nun, wenn du es unbedingt wissen willst – es ist wegen des Tischgebets.“
„Wegen des Tischgebets? Ich verstehe dich nicht.“
„Es ist mir einfach peinlich. Ich hätte schon öfter gerne einen meiner Freunde mitgebracht und zum Essen eingeladen. Arno, der ja schon mehrfach bei uns war, hat sich daran gewöhnt, der findet ohnehin alles, was bei uns geschieht, Klasse und ist vom Schrebergarten ebenso begeistert wie von unseren Hausandachten. Aber das kommt sicher nur daher, weil er nie ein richtiges Familienleben kennengelernt hat. Der Vater lebt von seiner Mutter getrennt und hat eine Geliebte bei sich in der Wohnung. Arno kann sie nicht ausstehen. Obgleich sein Vater eine Fabrik besitzt, ist er im Grunde ein armer Kerl. Aber schon damals – es sind zwei Jahre her, dass ich ihn zum ersten Mal mit ins Haus brachte – war mir in seiner Gegenwart das Beten zu Tisch und die Hausandacht peinlich. Inzwischen habe ich mehrere andere Freunde, einige von ihnen sind schon siebzehn und achtzehn Jahre alt, die ich gerne mit nach Hause bringen würde – aber wie gesagt, ich schäme mich!“
Frau Kranzbinder sah ihren Sohn stumm an. Einesteils tat es ihr geradezu weh, ihn so reden zu hören, andererseits musste sie um der Gerechtigkeit willen zugeben, dass sie selbst in ihrer Jugendzeit ähnliches erlebt hatte – nur dass sie damals nicht gewagt hätte, dies so unverblümt auszusprechen.
Unsere Zeit ist einfach anders, dachte sie. Frau Kranzbinder wusste von ihrem Mann, dass seine Schüler sich nicht scheuten, ihre Meinung offen auszusprechen, und dies oft in einer Art, die man geradezu herausfordernd nennen konnte. War die heutige Jugend ehrlicher, weil sie sagte, was sie dachte, oder war sie nur unverschämter?
„Du antwortest nicht, Mutter?“ unterbrach Thomas ihre Gedankengänge. „Jetzt bist du natürlich beleidigt.“
„Aber nein, ganz gewiss nicht. Ich habe mir nur überlegt, was ich dir sagen soll. Da du mir aber klarzumachen versuchtest, dass ihr noch eine Menge zu arbeiten habt, meine ich, es sei besser, wenn wir das Gespräch über unsere christlichen Grundsätze, Gepflogenheiten und Überzeugungen ein andermal fortsetzen, vielleicht am besten, wenn Vater auch dabei ist.“
„Liebe Zeit, Mutti, mach daraus doch keinen Staatsakt! Aber du brauchst wahrscheinlich Verstärkung und Rückendeckung.“
Frau Kranzbinder ging mit keinem Wort auf die ungezogene Bemerkung des Jungen ein. Längst hatte sie gelernt, manches bewusst zu überhören. Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. „Also um sechs Uhr, Thomas, wie üblich in der Diele. Sage deinem Freund, dass er zum Abendbrot eingeladen ist. Übrigens gibt es Kartoffelpuffer mit Kompott. Das magst du doch besonders gern.“
Verärgert überlegte Thomas einen Augenblick, ob er nicht aus Protest auf das ganze Abendessen verzichten sollte. Schließlich konnte er sich nachher noch etwas aus dem Kühlschrank holen. Aber auf die Kartoffelpuffer wollte er unter keinen Umständen verzichten, und schließlich gehörte es sich, dass er Jörg auch etwas anbot.
Irgendwie meinte er später, seinen Klassenkameraden auf das Gebet vorbereiten zu müssen. „Meine Mutter lädt dich zum Abendessen ein. Es gibt Kartoffelpuffer und Kompott.“
„Prima, hab' ich schon lange nicht mehr gegessen.“
„Ja – und – noch eins –“
„Du hast auch schon besser gestottert. So quetsch dich doch aus!“
„Ach, ich wollte nur sagen, dass – damit du nachher nicht erstaunt bist. Meine Eltern haben noch – so altmodische Gewohnheiten. Sie beten vor dem Essen.“
„Na und?“
„Ich dachte, es könnte dir peinlich sein. Mir jedenfalls ist das höchst unangenehm.“
Jörg sah Thomas erstaunt an. „Verstehe ich nicht! Wenn das deinen alten Herrschaften ein Bedürfnis ist – mich stört es in keiner Weise. Deswegen lasse ich mir die Kartoffelpuffer deiner Mutter doch schmecken.“
Die anderen Geschwister hatten sich bereits zurückgezogen. Auch der Großvater war schon zu Bett gegangen. Thomas saß über ein Buch gebeugt mit den Eltern noch im Wohnzimmer.
„Dieser Jörg gefällt mir nicht schlecht“, begann Herr Kranzbinder das Gespräch. „Er scheint aus gutem Hause zu kommen. Seine Manieren sind einwandfrei. Das ist direkt eine Wohltat, wenn man so etwas auch mal wieder erlebt!“
„Sein Vater ist Bankdirektor.“
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass er von unserem Tischgebet unangenehm berührt war“, schaltete sich jetzt Frau Kranzbinder ein.
„Wieso?“ fragte der Vater und blickte von seiner Frau zu Thomas.
Jetzt kommt's, dachte dieser und wappnete sich. „Ich hatte ihn ja auch wohlweislich darauf vorbereitet“, sagte er.
„Wieso? Ich verstehe nicht.“ Herr Kranzbinder sah seinen Sohn fragend an.
„Na ja, weil Mutti uns das Essen nicht auf mein Zimmer bringen wollte, ich ihm aber etwas anbieten musste, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn vorbeugend darauf hinzuweisen, dass bei uns noch solche längst überholten Sitten wie das Tischgebet herrschen.“
„Ich erinnerte Thomas daran, dass es dein Wunsch ist, dass wir alle wenigstens bei den Hauptmahlzeiten beisammen sind“, sagte Frau Kranzbinder zu ihrem Mann. „Als ich den wahren Grund dafür erfuhr, warum Thomas mit seinem Freund nicht zu uns an den Tisch kommen wollte, sah ich erst recht keine Ursache, den beiden Jungen die Kartoffelpuffer extra zu servieren.“
Nun war Herr Kranzbinder im Bilde. Obgleich er ein kleines, fast mitleidiges Lächeln unterdrücken musste, sagte er zu seinem Sohn, ohne jedoch zynisch oder ironisch zu sein: „Thomas, seit wann bist du ein Herdenmensch? Ich bin eigentlich erstaunt, dass du nicht den Mut hast, vor deinen Freunden offen zu bekennen, dass du aus einem christlichen Haus kommst.“
„Das hat doch nichts mit Mut zu tim“, begehrte der Junge trotzig auf. „Ich habe euch schon öfter gesagt, dass ich gerade auf religiösem Gebiet in manchem anderer Meinung bin als ihr. Es ist mir einfach unangenehm, wenn jeder unserer Gäste gewissermaßen gezwungen wird, vor der Mahlzeit die Hände zusammenzulegen und den Kopf zum Gebet zu senken. Ich weiß doch, dass sich ein Teil meiner Klassenkameraden darüber lustig macht. Meint ihr, es ist mir gleichgültig, was sie über meine Eltern denken? Wenn ihr es aus Überzeugung tut – und daran zweifle ich nicht –, dann könnt ihr doch im Stillen für euch beten. Aber nein – ihr drängt eure Meinung den anderen geradezu auf.“
Herr Kranzbinder hatte Thomas zugehört, ohne ihn zu unterbrechen.
Jetzt antwortete er ihm: „Es ist gut, dass ich heute Abend keine Vorbereitungen mehr zu treffen habe für die morgigen
Schulstunden. Deshalb kann ich in Ruhe auf deine Argumente eingehen.“
„So wichtig ist das nun auch wieder nicht“, erwiderte Thomas und blickte auf die Uhr. „Ich möchte noch den Krimi sehen.“
„Ich habe dich angehört. Nun wirst du dir auch die Zeit nehmen, meine Ansicht zu hören. Was das Tischgebet betrifft, Thomas, so war es schon in meinem Elternhaus Sitte, dass man zu den Mahlzeiten nicht wie das liebe Vieh an den Trog kam. Man fühlte sich verpflichtet, Gott für das tägliche Brot zu danken. Da fällt mir eine nette Geschichte ein: In ein frommes fürstliches Haus, so heißt es, sei einmal ein vornehmer Herr gekommen. Der habe, nachdem dort zu Tisch gebetet worden war, den Hausherrn ironisch gefragt: Betet hier bei Ihnen noch jeder vor dem Essen? Darauf soll der Fürst in aller Seelenruhe geantwortet haben: Nein, unsere Ochsen, Kühe und Schweine beten nicht!“
„Das ist gut!“ stimmte Frau Kranzbinder ihrem Mann zu. Thomas aber verzog keine Miene.
Sein Vater fuhr fort: „Als meine Mutter mit uns Kindern von Kolberg an der Ostsee fliehen musste – du weißt ja, unser Vater war bereits im Krieg umgekommen –, da hatten wir auf der Flucht oft kaum das Nötigste zu essen. Aber auch dann, als es nur eine dünne Wassersuppe gab, in der höchstens ein paar Brocken Brot und einige Kartoffelscheiben schwammen – Fleisch kannten wir damals nicht –, hat meine Mutter nie versäumt, Gott dafür zu danken. Ihr Jungen von heute habt keine Ahnung, wie es in jener Zeit war.“
„Ja, ja, ich weiß – jetzt kommt wieder der alte Salm, den auch mein Klassenlehrer so oft zitiert: ,Ihr Jungen seid so anspruchsvoll, weil ihr noch nie erlebt habt, was es heißt, Hunger zu leiden.‘ Es hängt einem schon zum Hals heraus, das immer wieder zu hören.“
„Thomas, bitte nicht in dieser Weise“, ermahnte Frau Kranzbinder ihren Sohn. „Du hast Vater unterbrochen.“
Ruhig und beherrscht fuhr ihr Mann fort: „Ja, wir wollen nicht vom Thema abkommen. Nachdem unsere Mutter im Flüchtlingslager gestorben war und ich meine kleinen Geschwister allein versorgen musste, war es mir einfach selbstverständlich, die guten Sitten des Elternhauses beizubehalten. Wir hatten ja sonst nichts mitnehmen können. Das wenige an Kleidern und Wäsche und die paar Wolldecken, die wir von zu Hause bei uns gehabt hatten, waren auf der Flucht längst verloren gegangen. Aber die Morgen- und Abendgebete, das Tischgebet und eine Anzahl schöner christlicher Lieder, die wir mit unseren Eltern gesungen hatten – das konnte uns nicht verloren gehen, Thomas, das war ein Vermächtnis von Vater und Mutter, das wir festhalten wollten. Als wir dann in das Kinderheim kamen, war ich froh, dass dort auch gebetet wurde. Es kam mir vor wie ein Stückchen Heimat. Und ich könnte mir denken, dass es dir nicht viel anders gehen würde, wenn du einmal nicht mehr bei uns, sondern in der Fremde bist.“
Thomas zuckte mit den Schultern. Er war nicht überzeugt davon, dass der Vater Recht behalten würde.
Dieser aber fuhr fort: „Als ich eure Mutter kennenlernte, kam ich in ein Haus, in dem ebenfalls gebetet wurde. Du magst es heute noch nicht verstehen, aber auch dort war mir bei meinem ersten Besuch das Tischgebet wie ein Gruß aus der Heimat.“
Thomas hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er sprang auf und ging im Zimmer auf und ab.
„Vater, das alles ist mir zu sentimental. Begreift ihr denn nicht, dass wir in einer anderen Zeit leben! Wir Jungen haben andere Bedürfnisse und Vorstellungen als ihr.“
Herr Kranzbinder ging auf den erregten Vorwurf seines Sohnes nicht ein, sondern sagte: „Im Laufe der Jahre wurde mir das Gebet mehr als eine gute Gewohnheit, die ich aus meinem Elternhaus übernommen hatte; es ist mir zum Lebensbedürfnis geworden. Viele schwierige Situationen wurden dadurch erträglich, weil wir, deine Mutter und ich, darüber gemeinsam beteten. Natürlich fehlen dir, Thomas, noch die Erfahrungen auf diesem Gebiet. Du hast ja auch noch keine wirkliche Not erlebt. Aber wir Eltern wünschen so sehr, dass euch, unseren Kindern, das ebenso wichtig wird, was uns bei allem Wechsel, den Freuden und Lasten des Lebens so viel bedeutet hat: die Zwiesprache mit Gott.“
Thomas hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt. Es konnte ihm nicht entgangen sein, dass der Vater in tiefer Bewegung und aus Überzeugung gesprochen hatte. Doch wenn er diese Überzeugung nicht teilte?
„Ich will euch ja auch gar nicht absprechen, dass eure christliche Einstellung für euer Leben bedeutsam ist“, erwiderte er, „aber lasst mich doch erst einmal meine eigenen Erfahrungen machen und tragt eure Frömmigkeit nicht so unangenehm vor euch her, dass jeder, der in unser Haus kommt, gleich nach wenigen Minuten merken muss, was bei uns los ist.“
Nun zog über das Gesicht der Mutter ein kleines Lächeln. „Thomas“, erwiderte sie, „auch wenn wir darüber kein Wort sprechen, so bleibt es eben doch nicht verborgen, was unser Leben bestimmt und ausfüllt. Und weil uns das so wichtig ist, wünschen wir es in irgendeiner Form auch zu bekennen. Doch wirst du bestimmt nicht sagen können, dass wir unsere Meinung anderen auf drängen.“
„Aber ich habe immer Angst, wenn einer meiner Freunde bei uns ist, dass ihr in eure frommen Redensarten fallt. Ich erinnere mich, wie du, Vater, einmal zu Mutti sagtest, als sie einen Besuch zu machen hatte, der ihr nicht leicht fiel: ,Gehe nur unbesorgt, Jesus wird mit dir gehen!‘ Also – ich würde in den Boden sinken, wenn du so etwas vor meinem Freund sagen würdest. Ich finde es geradezu abgeschmackt.“
Der Vater besann sich einen Augenblick, ehe er antwortete: „Ich kann mich nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit das war – aber sicher wird es stimmen, wenn du es so genau weißt. Bestimmt war damals kein Fremder bei uns. Aber Mutti versteht, was ich damit gemeint habe.“
„Wenn du dann wenigstens von Gott und nicht von Jesus reden würdest.“
„Ich verstehe, Thomas, dass dich das stört. Gott – das ist für viele ein Allgemeinbegriff. Gott – irgendein höheres Wesen über den Wolken oder sonst wo, zu dem man kein persönliches Verhältnis hat. Aber Jesus, das ist der Stein des Anstoßes. Dieser Name fordert heraus, drängt zur Entscheidung, denn Jesus ist der Mittler zwischen Gott und uns. – Aber ich glaube, darüber sprechen wir ein anderes Mal miteinander. Es ist schon spät.“
Unwillig blickte Thomas auf seine Uhr. „Allerdings, der Krimi wird gleich zu Ende sein.“
Auch die Eltern hatten sich erhoben. Herr Kranzbinder legte beide Hände auf die Schultern seines Sohnes und sagte: „Thomas, innere Auseinandersetzungen bleiben keinem erspart, auch dir nicht. Aber du sollst es noch einmal hören, was wir euch Kindern schon oft gesagt haben: Von dem Augenblick an, als wir wussten, dass Gott uns mit einem Kind beschenken würde, haben wir täglich für jeden von euch gebetet – vor eurer Geburt und bis zum heutigen Tag –, dass Gott euch zu Menschen nach seinem Herzen machen möge. Bringe ruhig deine Freunde ins Haus, sie sind uns willkommen! Aber unser Tischgebet werden wir deswegen nicht streichen und unserer Überzeugung nicht untreu werden.“
Es war an einem milden Sommerabend, als eine ältere gehbehinderte Frau im Zeichen großer Aufregung über die Pappelallee hastete und sich dem Landhaus näherte, in dem Kranzbinders und der alte Mann wohnten. Die Erwachsenen saßen auf der Bank vor dem Kastanienbaum. Thomas war soeben von einer Radtour mit seinen Freunden zurückgekehrt und wollte gerade von seinen Erlebnissen berichten. Die übrigen Geschwister spielten hinter dem Haus Federball. So genoss jeder auf seine Art den Ausklang des Tages.
Von der Bank aus konnte man die ganze Allee überblicken. Da sie vor dem Landhaus endete, gab es hier kaum Verkehr. Deshalb fiel die Frau von weitem auf, die sich dem Haus näherte.
„Wer kommt denn dort so eilig?“ fragte Frau Kranzbinder.