Die Lasten der Frau Mechthild - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Die Lasten der Frau Mechthild E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Ein Frauenschicksal, das uns auf die Höhen und in die Tiefen menschlichen Daseins führt. Hier ist eine Mutter, deren Nöte und Sorgen um ihre Familie nicht erdichtet, sondern dem täglichen Leben entnommen sind. Statt dem Mann zu folgen, zu dem sie die Neigung ihres Herzens zieht, reicht Mechthild ihre Hand einem reichen Metzger zum Lebensbund, weil sie dadurch ihren Vater vor dem Ruin retten kann. Ihr Mann glaubt an ihre Zuneigung. Sie aber leidet Jahre hindurch unter dem Gedanken, dass ihre Ehe, die ihr überdies durch eigene und fremde Schuld fast zur Hölle wird, im Grunde ein großer Betrug ist. Als sich nun auch noch die Kinder dem elterlichen Hause völlig entfremden, bricht Frau Mechthild unter ihren Lasten zusammen. Da greift Gott ein. Mit seiner Hilfe findet sie den Weg aus all den Wirrnissen ihres Lebens. In der Erkenntnis, dass sie zum Wachsen und Reifen ihres inneren Menschen nötig waren, geht sie als neuer Mensch durch ihre Tage. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Die Lasten der Frau Mechthild

Band 9

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-130-5

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

I

II

III

IV

V

VI

VII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Unsere Empfehlungen

I

Rotblühende Geranien standen auf den breiten Fensterbänken des weißen, langgestreckten, zweistöckigen Hauses, das sich wie ein Schmuckkästchen zwischen den anderen, zum Teil recht erneuerungsbedürftigen, größeren und kleineren Bauten am Marktplatz in Gummersteinbach hervorhob. Es war im Frühjahr mit einem neuen Gewand versehen worden, wenigstens äußerlich, die Hauswände, Fensterläden und Türen. Man hatte gute, echte Farben gewählt, die Hauswände waren weißlich, die Türen dunkelbraun und die Fensterläden in sattem, kräftigem Grün gestrichen. Und das Äußere war ja schließlich die Hauptsache. Was ging die Leute das Innere eines Hauses an? War es nicht richtiger, die inneren Mängel klugerweise zu verdecken dadurch, dass man der Außenseite einen neuen Anstrich gab? –

„Eine schöne, noch immer stattliche Frau ist sie“, sagte man von Frau Mechthild, der Gattin des Metzgermeisters Gersbach, dem das Haus am Marktplatz mit dem neuen Anstrich gehörte. „Und freundlich und liebenswürdig ist sie auch, wie es sich für eine Geschäftsfrau geziemt. Es geht ihr ja auch verhältnismäßig gut; liebe Zeit, irgendwelche Sorgen hat schließlich jeder; aber sie hat allen Grund, zufrieden zu sein. Es geht vielen bedeutend schlechter.“

Und Frau Mechthild stand weiter höflich lächelnd hinter dem Verkaufstisch ihres blitzsauberen Ladens – und war zufrieden. – Oder schien es nur so? War es auch nur die Fassade, der äußere Anstrich, wie beim Haus? –

Rotblühende Geranien in dunkelgrünen Kästen vor den Fenstern, hinter denen blütenweiße Gardinen hingen: ein freundliches Bild voller Behaglichkeit und Wärme. – Frau Mechthild Gersbach stand vor ihrem Hause. Sie hatte soeben die Blumen an den unteren Fenstern begossen. Behutsam entfernte sie einige fahle Blättchen. Das sind eigentlich die rechten Blumen für unser Haus, dachte sie, besser als die verzärtelten Zierpflanzen, die kaum einen Windhauch ertragen, ohne zu knicken. Und doch entbehren sie nicht ihres Reizes. Man meint es ihnen anzusehen, wie sehr sie sich bemühen, durch ihr schlichtes Blühen zu erfreuen, obgleich ihr Duft nicht lieblich und fein, wie der einer Rose oder des Veilchens, sondern eher von herber Strenge ist.

Frau Gersbach lächelte bitter vor sich hin. Dann strich sie mit der Hand über die Stirne, als wolle sie dort etwas wegwischen. Beinahe ängstlich blickte sie hinauf zu den Fenstern des oberen Stockwerks, als befürchte sie, von dort beobachtet zu werden. Aber es stand niemand hinter den Scheiben. Jetzt schritt Frau Gersbach eilig ins Haus. Sie war unwillig über sich selbst. Wie konnte sie sich auch so vergessen! Die Frau des Metzgermeisters Gersbach hatte keine Zeit, vor ihrem Hause zu stehen und grüblerischen Gedanken nachzuhängen.

Da schrillte das Telefon. Die Besitzerin der Pension Waldblick meldete sich, um ihren Bedarf an Fleisch zu bestellen.

„Frau Gersbach, ich verlasse mich darauf, dass Sie mir alles rechtzeitig schicken. Und vergessen Sie nicht, die Schnitzel vorher zu klopfen. Und für morgen dann Leber, nicht wahr!“

„Jawohl, ich habe es gestern bereits notiert. Sie können ohne Sorge sein, Sie werden pünktlich bedient.“ Frau Gersbach legte den Hörer in die Gabel zurück. Im oberen Stockwerk wurde eine Kinderstimme hörbar.

„Oma, kommst du noch nicht?“

„Bald, Helga, hab noch ein wenig Geduld.“

„Es dauert so lange, Oma.“

Frau Gersbach stand bereits wieder im Laden. Drei Kunden waren inzwischen eingetreten. Wie am laufenden Band ging es weiter. Die Ladentüre stand nicht still. Der Lehrling kam von einem Liefergang zurück, um alsbald wieder mit weiteren Aufträgen fortgeschickt zu werden.

„Du musst gleich in die Pension Waldblick“, trug Frau Gersbach ihm auf. „Hier diese Schnitzel sind bereits abgewogen und geschnitten, kannst sie gleich klopfen.“ Der Lehrling schlug drauflos, als gelte es, einem feindlichen Partner den Garaus zu machen. Die Meisterin hielt ihm die Hand zurück. „Bist du von Sinnen, Fritz? Du sollst sie doch nicht zu Brei schlagen.“ Sie zeigte es ihm noch einmal und wandte sich dann einem neuen Kunden zu.

Von oben ertönte wieder die Kinderstimme. „Oma, du hast gesagt, du kommst gleich“, und fast weinend: „Du lässt mich immer so lange allein.“

Eine andere ungeduldige Stimme wurde hörbar. „Nun lass doch endlich das Geplärr nach deiner Großmutter. Spiel mit deiner Puppe oder mit deinem Baukasten.“ Eine Tür wurde zugeschlagen. Das ängstliche Weinen des Kindes sollte wohl nicht bis in den Laden dringen. Frau Gersbach aber hörte es doch. Sie seufzte. Wenn sie doch schnell einmal hinaufspringen und nach dem Kinde sehen könnte! Die Liesel weiß nicht mit ihm umzugehen. Aber der Laden stand voll, und die Kunden wollten bedient sein. Das Geschäft ging vor.

Die arme kleine Helga weinte noch immer. Wenn sie wäre wie andere Kinder, dann könnte man sie in den Kindergarten tun, dachte Frau Gersbach; da hörte sie tappende Schritte die Treppe herunter kommen. Ein Tasten an der Wand, dann wurde die Türklinke auf gedrückt. Ein kleines Mädchen, etwa fünf Jahre alt, schob sich in den Laden hinein. Noch hingen Tränen an den langen Augenwimpern.

„Oma, du kommst gar nicht, lass mich doch ein bisschen bei dir bleiben.“ Da beugte sich Frau Gersbach trotz Kundschaft zu dem Enkeltöchterchen nieder und drückte das Kind an sich.

„Du kannst nicht gut hier bleiben, Liebling. Sobald ich Zeit habe, bringe ich dich wieder hinauf.“

Eine Kundin schlug die Hände zusammen: „Ach Gott, das arme Kind.“ Am liebsten hätte Frau Gersbach sich diese Bemerkung in Gegenwart des kleinen Mädchens verbeten, aber es war nicht ratsam, mit der Kundschaft Meinungsverschiedenheiten zu haben. So nahm sie die Kleine auf den Arm und entschuldigte sich. Einige Minuten später stand sie wieder hinter dem Ladentisch, um die vielen Sonderwünsche der Kundschaft zu befriedigen. Oben aber weinte das Kind wieder.

Als Frau Gersbach den nächsten Kunden bediente, tropfte eine Träne auf das Papier, in das sie Ware einwickelte. Beschämt und verärgert wandte sie sich ab. Wie konnte man sich nur so gehenlassen! –

Der Briefträger kam und brachte neben mancher geschäftlicher Post einen Brief, an Frau Gersbach persönlich gerichtet. Sie schob ihn eben unter ihre weiße Arbeitsschürze. Es konnte Abend werden, bis sie Zeit fand, ihn zu öffnen. Sie hatte warten gelernt. Der Brief aber schien Wärme auszuströmen. In Frau Gersbachs Augen, die eben noch tränenvoll und dunkel geblickt hatten, leuchtete für einen Augenblick ein froher Schein auf. Und während sie die ständig kommenden und gehenden Kunden bediente, fragte sie sich, ob die Freundin im Heimatstädtchen es wohl geahnt hatte, wie nötig ihr im Augenblick ein solcher Gruß wieder einmal war. Elfriedes Briefe brachten ihr noch jedes Mal einen Lichtstrahl in die oft so große Dunkelheit ihres Alltags. Wie wohl tat es ihr, zu wissen, da war jemand, der an sie dachte. Gewiss, ihre Kinder schrieben auch hin und wieder. Von einer eigentlichen Verlassenheit konnte sie nicht reden. Wenn man Mutter und Großmutter ist, wenn man bei jeder Mahlzeit mindestens acht Personen am Tisch sitzen hat, dann kann man sich nicht einsam fühlen, – ja manchmal wäre sie froh gewesen, es wäre etwas ruhiger und stiller zugegangen. Dann sehnte sie sich förmlich nach Einsamkeit in dem unaufhörlichen Betrieb ihres Hauses, wo einer neben dem andern lebte, ohne es zu wissen, wie es im Innern seines Hausgenossen aussah. Man war täglich beisammen und kannte sich doch nicht. Und ihre Kinder – nun ja, sie dachten wohl an die Mutter, aber sie waren alle mit sich selbst beschäftigt, sie hatten ihre eigenen Nöte und Sorgen. Frau Gersbach fragte sich unwillkürlich, was eigentlich der Zweck des Daseins sei, wenn es doch in jedem Menschenleben ein einziges Kämpfen und Ringen bliebe vom ersten bis zum letzten Atemzug. Wenn sie nur an Klein Helga dachte.

Der Brief unter ihrer Arbeitsschürze schien vergessen zu sein. Wenn Frau Mechthild mit ihren Gedanken bei dem Enkeltöchterchen angekommen war, legte sich eine schwere Last auf ihr Herz, so dass sie oft glaubte, nicht mehr atmen zu können. Eine dunkle, undurchdringliche Wolke verwehrte ihr jeden Ausblick. Helga, sie sprach oder dachte den Namen des Kindes nur seufzend, Helga, das Töchterchen ihres zweiten Sohnes war blind.

„Frau Gersbach, Sie sehen heute recht elend aus. Ist Ihnen nicht wohl?“ Eine freundliche Kundin sah die Metzgersfrau teilnehmend an. Diese aber fuhr beinahe erschrocken aus ihrem Sinnen empor. Wohin verirrten sich wieder ihre Gedanken? Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„Ach nein, mir fehlt nichts. In meinem Alter wechselt das Aussehen schnell. Aber ich fühle mich nicht eigentlich krank, nur oft ein wenig müde.“

„Das ist in einem solchen Betrieb begreiflich.“

„So, bitte sehr, hier ist Ihr Fleisch.“

„Danke – und schonen Sie sich ein bisschen, Frau Gersbach!“

Da war wieder das herbe Lächeln auf ihrem Gesicht. Schonen? – Was hätte das für einen Zweck? Deswegen blieb doch alles, wie es war. Klein Helga würde weiter im Dunkeln tappen müssen.

Um elf Uhr kam Liesel, die Hausgehilfin, herunter, um Frau Gersbach im Laden zu vertreten, während diese in der Küche die letzten Vorbereitungen zum Mittagessen traf. Helga war glücklich, dass die Großmutter endlich heraufkam und wich nicht von ihrer Seite. Sie ahnte nicht, wie ihr kindliches Geplauder der Großmutter ins Herz schnitt.

„Oma, lass doch die Liesel unten im Laden verkaufen. Bleib du doch immer bei mir, immer, Oma, immer.“

Das war ja ihre ständige Sorge. Was sollte aus dem Kind werden, wenn sie nicht mehr da war?

„Oma, warum sagst du gar nichts? Weinst du wieder?“ Die kleinen Hände tasteten sich an der Großmutter empor und suchten das Gesicht, um angstvoll nach Tränenspuren zu fahnden. Da raffte sich Frau Gersbach auf.

„Nein, Liebchen, ich weine nicht, ich bin nur ein wenig müde.“ – „Dann musst du schlafen. O ja, wir beide; du legst dich zu mir in mein Bettchen, oder ich zu dir. O ja – so machen wir's.“ Helga jauchzte beglückt auf. Wie schnell war sie zu befriedigen und zu erfreuen in ihrer anspruchslosen Art. Wenn nur jemand ein wenig Zeit für sie hatte und sich um sie kümmerte.

Es geht uns schließlich allen gleich, dachte Frau Gersbach, die sich plötzlich wieder an den Brief hinter ihrer Brustschürze erinnerte. Man ist so froh für ein bisschen Wärme.

Beim Mittagessen war es wie immer. Der Meister kam vom Schlachthof. Der Geselle und die beiden Lehrburschen waren in der Wurstküche beschäftigt gewesen und pflanzten sich hungrig hinter ihren Tellern auf, die Ellbogen breit auf dem Tisch. Lore, die jüngste Tochter, kam von der Krankenkasse, wo sie auf dem Büro tätig war. Liesel schloss für eine Stunde den Laden und ging nun auch zum Essen hinauf in die Wohnung. Klein Helga hatte ihren Platz neben der Großmutter, die dem blinden Kind mit großer Geduld die Speisen zuführte. Sie hatte damit vollauf zu tun und fand keine Zeit, sich an den belanglosen Tischgesprächen zu beteiligen, es mochte ihr auch am nötigen Interesse fehlen. Der Meister hatte beim Vieheinkauf Ärger gehabt und ließ diesen an den Lehrlingen aus. Lore wurde heute, wie so oft, von heftigen Kopfschmerzen gequält. Sie ließ das Essen stehen, um vor Neubeginn der Bürostunden noch etwas zu ruhen. Das Telefon rasselte ein paarmal dazwischen. Es war wie gewöhnlich eine gestörte, unerquickliche Mahlzeit. – Dann brachte Frau Gersbach Helga zu Bett und legte sich zum Schein einen Augenblick neben sie. Die kleinen blassen Hände des Kindes, die anstelle der armen toten Augen manchen Dienst verrichten mussten – sie fühlten, was andere sahen –, hatten Großmutters Finger fest umklammert. Ganz nahe schmiegte sich das Kind an sie. „Jetzt bleibst du ganz lange bei mir“, flüsterte es und lächelte glücklich. Als tiefe Atemzüge verrieten, dass Helga eingeschlafen war, löste Frau Gersbach behutsam die Finger aus den Kinderhändchen und verließ lautlos das Zimmer. Sie selbst hatte keine Zeit mehr zu ruhen. Der Geselle brachte die dampfenden Würste aus der Wurstküche. Die angekommene Lieferung aus dem Schlachthof musste kontrolliert werden. Ein Viehhändler kam zu einer Besprechung. Dazwischen mussten Kunden bedient, telefonische Aufträge entgegengenommen und noch vieles andere erledigt werden. Es war wie jeden Tag.

Als es endlich Feierabend wurde, war Frau Gersbach am Ende ihrer Kraft. Ihre Füße trugen sie kaum noch. Ihr Mann war zu einer Innungssitzung, Lore in einen Kochkurs, der Geselle ins Wirtshaus und die Lehrlinge in die Fortbildungsschule gegangen. Helga schlief. Endlich war sie allein. Wohltuend umfing sie die Stille des Abends. Nun fand sie Zeit und Ruhe, den Brief zu lesen. Sie rückte den Sessel aus dem Erker etwas näher zur Lampe und ließ sich ermattet darin nieder. Dann betrachtete sie den Brief in ihrer Hand. Wie ein warmer Strom floss es ihr aus den trauten Schriftzügen entgegen; ein linder Föhnwind schien kosend ihr Inneres zu berühren. Heimatklänge! – Grüße aus der Zeit, da sie noch keine Last trug. Liebe Erinnerungen wurden wach.

Frau Strauß, Mechthilds Freundin, schrieb …

„Ich bin heute mit Rosmarie, die ihre Ferien zu Hause verlebt, durchs Stadttor gegangen. Wir kamen auch an Deinem Heimathaus vorbei, und ich habe meiner Tochter von der schönen, unvergesslichen Zeit unserer Jugend erzählt. Mir wurde dabei ganz warm ums Herz. Wenn ich erst einmal auf die stillen Pfade der Erinnerung geraten bin, finde ich mich nicht so schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Heute Abend bin ich allein. Rosmarie ist zu einer Freundin gegangen. Da ist es mir ein Bedürfnis, ein wenig mit Dir zu plaudern.

Im Gedenken an die Zeit, da wir noch alle von Mutterhänden wohl behütet im Elternhaus weilten, möchte ich Dir zurufen: ,Weißt Du noch? – Weißt Du noch?‘ Alle die freundlichen Bilder unvergesslichen gemeinsamen Erlebens steigen vor mir auf, lebendig, greifbar, wie im Film, nur noch viel wirklicher. Lang ist's her. Wir sind inzwischen älter geworden. Ich bin Witwe und Du schon Großmutter. Vor zwei Jahren feierten wir unseren fünfzigsten Geburtstag. Seitdem mein Mann mich damals so plötzlich verließ, in seinen besten Jahren, beschäftige ich mich in Gedanken viel mit seiner letzten Stunde. Mir ist's, als sei es erst gestern gewesen, dass Egon in meinen Armen verschied. Und es sind indessen schon zwölf Jahre vergangen. Rosmarie begann damals zur Schule zu gehen. Wir sind vom Leid nicht verschont geblieben. Auch Du, Mechthild, trägst schwere Lasten. Aber wir lernen wohl die Lektionen des Lebens am besten in Zeiten der Not. Wir wollen dem, der sie uns sendet, nicht grollen. Er weiß, was er tut. Auch manches Blümlein der Freude und des Glückes blühte an meinem Lebensweg. Dafür bin ich dankbar.“

So schrieb Elfriede Strauß, die noch immer im Heimatstädtchen lebte, jetzt schon zwölf Jahre als Witwe. Sie hatte spät geheiratet und an der Seite ihres Gatten, der Beamter war, einige Jahre ungetrübten Glückes verlebt. Dass ihnen noch ein Töchterchen geboren wurde, nahmen sie beide wie ein Geschenk vom Himmel hin. Nur sieben Jahre konnte der Vater sich an seinem lieblich heranwachsenden Kinde erfreuen. Dann wurde er von einer Lungenentzündung dahingerafft. Unsagbar litt Frau Strauß unter dem Verlust des über alles geliebten Gatten. Tapfer aber nahm sie die auf sie gelegten Bürden hin und lebte für ihr Kind, das Vermächtnis ihres Mannes, in dessen Sinne sie Rosmarie erzog. Und er war ein gläubiger Christ gewesen.

Frau Gersbach hatte den Brief zu Ende gelesen. Langsam erhob sie sich und schaltete das Licht aus. Dann setzte sie sich wieder in den Sessel, den weißen Bogen in der Hand haltend, die müde vom anstrengenden Werk des Tages in ihrem Schoße ruhte. Sie bedurfte keines Lichtes. Den einsamen Weg, den ihre Gedanken jetzt zurücklegten, fand sie auch im Dunkeln. Außerdem erhellte die Straßenlaterne, die direkt vor Gersbachs Hause ihren Stand hatte, das Zimmer zur Genüge. Das dadurch entstehende Halbdunkel tat ihr, die abgespannt und ermüdet war, wohl. Sie blickte durchs Fenster. Schattenhaft traten die Umrisse der umliegenden Häuser hervor. Fein zeichnete sich die Silhouette des Kastanienbaumes, der mitten auf dem Marktplatz den alten Brunnen beschirmte, vom nächtlichen Himmel ab. Das Plätschern des Brunnenwassers tönte wie eine altbekannte, traute Melodie in den stillen Abend.

Frau Gersbach aber sah und hörte nichts von alledem. Ihr Blick schien weder durch Häuser noch Bäume aufgehalten werden zu können, er schweifte hinaus in die weiten Fernen. Mechthild Gersbach schritt auf Pfaden der Erinnerung. Der Brief der Freundin hatte das enge Tor ihres Alltagslebens gesprengt, und nun eilte sie in Gedanken heimwärts, den Klängen nach, die ihr aus dem weißen Bogen in ihrer Hand entgegenkamen, und je mehr sie sich der Heimat näherte, desto lichter erschien ihr der Weg und desto leichter das Wandern.

Ganz deutlich sah sie alles wieder vor sich. Das Schulhaus, in dem sie aufgewachsen, das ihre Heimat war. Es war nicht gerade ein schönes Gebäude. Nüchtern und zierlos stand es da, nach den damaligen Begriffen ganz seinem Zweck entsprechend. Aber es war eben doch ihr Heimathaus, wo ihr jeder Winkel lieb und vertraut war. In Gedanken schritt sie durch die Räume, strich liebkosend über Türklinken und Fensterbänke. Du, meine Heimat!

War das Haus von strenger Nüchternheit, so war der dahinterliegende Garten das Gegenteil. Da war das Reich der Mutter. Die engste Umgebung der Eltern hob die Eigenarten beider hervor und kennzeichnete ihr Wesen. Der Vater war von herbem Schlag, ein Gegner alles Überschwänglichen. Pflichttreu ging er seinen Weg, ohne viel Worte zu machen. Wie ein Uhrwerk liefen seine Tage ab. Seine Schüler gehorchten ihm aufs Wort, vielleicht aber mehr aus Furcht als aus Liebe. Selbst seine eigenen Kinder Waldemar und Mechthild standen in diesem Verhältnis dem Vater gegenüber. Die Mutter aber war wie ihr Garten, sonnig, fröhlich, voll sprühenden Lebens, Licht und Wärme. Feurig und blutigrot erglühten dort die Tulpen und säumten die Wege und den Rasen ein. Goldlack und Reseda wetteiferten mit vielen Rosen, den Garten mit süßem Duft zu füllen. Schon früh im Jahr blühten mit verschwenderischer Pracht Goldregen und Flieder. Inmitten all dieser Schönheit schaltete und waltete die fröhliche Lehrersfrau. In farbenfrohem Kleid jätete sie Unkraut, hackte sie die Wege und mochte auch wohl, hingerissen von so viel Pracht, in herzerquickender Freude Hände und Arme den leuchtenden Sonnenstrahlen entgegenstrecken, um sich von ihnen umkosen zu lassen. Dann wieder tollte sie mit ihren beiden Kindern jauchzend auf dem Rasen umher, hielt ihr Töchterlein im geblümten Kleidchen in die Höhe, oder setzte den Buben ins Geäst des alten Apfelbaumes und wäre am liebsten selbst noch zu ihm hinaufgestiegen, wenn sie nicht befürchtet hätte, dass das ernst verschlossene Gesicht ihres Mannes mit leisem Vorwurf an einem der Schulfenster erschienen wäre. – Ja, die Mutter, sie war eine leuchtende Blume. Sie erlaubte es den Kindern auch, ihre Freunde und Kameraden in den Freistunden mit in den Garten nehmen zu dürfen. Damals war Mechthild wohl täglich mit Elfriede zusammen. Da ging es dann recht laut und fröhlich her, so dass der gestrenge Herr Lehrer oft den Kopf schüttelte, da er nicht begreifen konnte, wie man sich außerhalb der Schulstunden auch noch mit Kindern abgeben könne, dazu noch in einer so überschwänglichen Art, wie seine Frau es tat. Aber er liebte sie viel zu sehr, als dass er ihr diese Freude verdorben hätte. Die Kinder und ihr Garten bedeuteten nun einmal ihr größtes Glück.

Plötzlich erinnerte sich Frau Gersbach eines Erlebnisses aus damaliger Zeit. Sie hatten einen Spaziergang gemacht und waren an einem Abfallhaufen vorübergekommen. Da lag, halb verborgen, zwischen Staub und Schmutz, eine Geranienpflanze, die jemand als überflüssig fortgeworfen hatte. Die Mutter blieb stehen und befreite das Pflänzchen von dem es fast erdrückenden Unrat. „Arme, kleine Geranie“, sagte sie. „Nein, das lassen wir nicht zu, dass du hier elend umkommst. Du bist zwar keine außergewöhnliche Blume und wirst in deiner herben Schlichtheit von den übrigen Kindern meines Gartens abstechen, aber das tut nichts, wir werden dir zwischen Rosen und Lilien ein sonniges Plätzchen einräumen und dich pflegen und betreuen, als seiest du eines der ihren.“ Und wirklich gedieh die kleine Geranie im Garten hinter dem Schulhaus und entwickelte sich zu einer prächtigen Pflanze. – Vielleicht war dieses kleine Erlebnis die Ursache, dass Frau Mechthild die Geranien so liebte.

Mutter, liebste Mutter! – Wenn ihre Gedanken in dem sonnigen Paradiese ihrer Kindheit weilten, dann erschien ihr die Mutter wie eine strahlende Lichtgestalt, die mit vollen Händen Schönheit und Wärme austeilte, wo sie sich auch befand. „Wenn es nach deinem Wunsch gegangen wäre, Mutter, so hättest du deine Tochter auch in einen sonnigen Garten verpflanzt wie eine zarte, edle Blume, der man den schönsten Standort gibt. So aber ist sie gleich einer schlichten Geranie in einen Winkel gestellt worden, eine von vielen, von denen man nicht viel Notiz nimmt. Aber du, Mutter, warst nicht schuld daran, du nicht, nein.“ Wie war denn das gekommen?

Der Vater hatte einen jungen Hilfslehrer, Harry Meinhardt, bekommen. Der befreundete sich mit Waldemar und Mechthild Orlang, den Kindern seines Vorgesetzten. Sie waren beide zu geschickten, fröhlichen jungen Menschen herangewachsen. Der heitere Sinn der Mutter und die ernste Art des Vaters war ihnen als Erbgut mitgegeben. Waldemar glich wohl der Mutter, während in Mechthilds Wesen des Vaters Eigenschaften stärker hervortraten.

Der Hilfslehrer, selbst noch jung, schloss sich in herzlicher Weise der Familie Orlang an. Die Kinder wurden ihm gute Freunde. Dann kam die Zeit, wo Waldemar das Elternhaus verließ, um eine auswärtige Schule zu besuchen. Mechthild, die nie ohne den Bruder gewesen war, sah in Harry Meinhardt einen Ersatz und schloss sich ihm nach dem Fortgang des Bruders noch herzlicher an. Was waren das für unvergesslich schöne Zeiten, wo sie beide miteinander gewandert waren. Sie meinte sich noch heute an seiner Seite schreiten zu sehen. Im leichten Sommerkleid, die Zöpfe über den Rücken hängend, wanderte sie mit ihm durch die maigrünen Wälder ihrer Heimat und genoss mit dem Freund, der der Natur ein so weites Herz entgegenbrachte, die Schönheit, die diese spendete, in vollen Zügen. Sie sah sich mit ihm an einem prächtigen Sommertag am Rande eines reifen Kornfeldes lagern. Roter Mohn und blaue Kornblumen grüßten leuchtend aus dem fruchtschweren Feld, so, als wollten sie die heilige Gabe des täglichen Brotes mit einem festlichen Gewand umgeben und ihr gebührenden Schmuck verleihen. Tiefblau leuchtete der Himmel über den erntereifen Feldern. Eine Lerche schwang sich jubelnd der Sonne entgegen. Bienen und andere Insekten eilten in emsiger Geschäftigkeit dahin.

Ein Tag wie ein Geschenk. Sie meinte noch heute nach all den Jahren seinen Reichtum zu verspüren. – War die Welt ärmer geworden seitdem? Fast schien es ihr so.

Harry Meinhardt hatte im Grase gelegen und träumend in die Ferne geblickt. Dann war sein Auge zu der neben ihm sitzenden Freundin gewandert und dort haften geblieben. Sie fühlte plötzlich seinen Blick auf sich ruhen und wandte sich ihm zu. Dann aber errötete sie. Bisher war er ihr nichts anderes wie Waldemar, der Bruder, gewesen. Nun aber sah sie in seinen Augen ein leises Fragen und gleichzeitig etwas wie ein Bekenntnis. Befangen beugte sie sich über die Blumen in ihrem Schoß und spürte plötzlich ihr Herz klopfen. Was war das nur? – Dann hatte Harry leise ihre Hand ergriffen und nichts weiter gesagt als: „Du musst dir einen Kranz Hechten, Mechthild. Der rote Mohn und die blauen Kornblumen werden sich prächtig in deinem hellblonden Haar ausnehmen.“

Und wie unter einem Zwang hatte sie gehorcht. Stiller als sonst schritten sie an diesem Tag heimwärts. In ihr aber war ein großes Feiern angebrochen. Ein feiner, leiser Glockenklang schwang in ihrem Innern, und sie ging in frohem Warten durch die Tage. Er würde schon sprechen. Das, was sie in seinen Augen gelesen hatte, musste ihr ja auch sein Mund sagen. Und sie machte sich innerlich bereit für diese Stunde. Er brauchte nur zu kommen. Sie würde ihm ihr junges, warmes Herz entgegenbringen. Sie wusste es jetzt ganz sicher, dass sie ihn liebte. Ein stilles, großes Glück erfüllte sie und machte jeden Tag zu einem Fest.

Aber er sprach nicht. Sie wartete und wartete. Erst still und scheu in seliger Gewissheit, sie wähnte sich ihrer Sache sicher, dann aber Bange zagend und schließlich in zitternder Angst. Sollte sie sich an jenem sonnenvollen Augusttag getäuscht haben? War es Einbildung gewesen? Nein, nein, in seinem Blick hatte sie es gelesen, es konnte kein Irrtum sein. Er selbst hatte ihr ja an jenem Tag die Augen geöffnet. Er war die Ursache, dass sie sich nicht mehr als kindliche Freundin an seiner Seite fühlen konnte. Das große, geheimnisvolle und zugleich wunderbare Erkennen war über sie gekommen, erst nur ahnungsvoll, dann aber überwältigend: Ich liebe ihn, und er liebt mich. Aber warum spricht er nicht? – Sie waren weiter zusammen gewandert, noch manchen Sonntag, hatten sich an aller Schönheit gemeinsam erfreut, aber das Unausgesprochene lag zwischen ihnen und hemmte den sonst üblichen Ton harmloser Unbefangenheit.

Und wieder errötete die junge Mechthild, aber diesmal in Scham vor sich selber. Ich muss es mir eingebildet haben. Es war ein großer Irrtum. Ich habe mich soweit vergessen, mir seine Liebe zu mir einzureden. Aber ich habe mich getäuscht. Er empfindet nichts für mich. Ich aber stehe nun da mit dem Brand in meinem Herzen. Ich habe ihn lieb und kann es ihm doch nicht sagen, und er begehrt meine Liebe nicht. Sie schämte sich und konnte doch nicht mehr los von ihm. Nie aber hätte sie ihm ihre Zuneigung auch nur andeuten können. Die Angst, sich zu verraten, machte sie scheu und befangen, so dass sie nicht mehr zueinander hinfanden.

Es mochte ein Jahr später sein, da wurde Harry Meinhardt an eine andere Schule berufen. Er verließ ihr Elternhaus. Sie schieden als gute Freunde. Das Wort, auf das sie mit aller Sehnsucht ihres Herzens gehofft hatte, blieb unausgesprochen. Jetzt wusste sie es genau, sie hatte sich getäuscht. Mechthild litt unsagbar. Das Haus kam ihr so kalt und tot, selbst Mutters sonniger Garten öde und traurig vor. Die Mutter mit ihrem feinen Gefühl ahnte etwas von dem, was ihr Kind durchmachte, hütete sich aber wohl, mit einem Wort daran zu rühren. Sie hatte im Umgang mit ihren Pflanzen gelernt, geduldig zu warten, bis die geschlossenen Knospen sich selbst entfalten, und wusste, dass es ihren Tod bedeuten würde, wenn man mit rauer Hand die zarte Hülle sprengte. Ihr Kind aber war die kostbarste Blume in ihrem Garten. Da hieß es erst recht zu warten, bis sie sich von selbst auf tat. Mechthild aber war die Tochter ihres Vaters. Sie vergrub ihren Kummer und versuchte selbst damit fertig zu werden. Und sie war jung. Da heilen die Wunden schneller. Mechthild rang ihre Neigung, die sie nicht erwidert glaubte, bewusst nieder. – Es war geplant, dass sie wenigstens für ein Jahr das Elternhaus verlassen und in ein Pensionat gehen sollte. Die plötzliche Erkrankung der Mutter aber machte ihr Bleiben notwendig. Das war ihr nicht unlieb. Sie fürchtete sich vor der Fremde, ohne dieses Empfinden eigentlich begründen zu können. Nun nahm sie der Mutter die häuslichen Arbeiten ab. Es war eine glückliche Zeit, und oft war ihr später der Gedanke gekommen, warum es nicht hatte so bleiben können. Sie hatte ihren Pflichtenkreis. Und wenn es auch nur eine kleine Welt war, in der sie sich bewegte, es war doch Heimat – zu Hause.

Wer weiß, ob die Mutter ihnen nicht länger erhalten geblieben wäre, wenn sie das Elternhaus nicht verlassen hätte. Aber es war ja zwecklos, jetzt solchen Erwägungen nachzuhängen. Es änderte nichts an der Tatsache. –

Frau Gersbach legte die Hand über die Augen. – O Mutter, es ist gut, dass du es nicht alles erlebt hast, was mir auferlegt wurde. Erinnerung, was bist du für eine geschickte Zauberkünstlerin. Eine Reihe von Jahren ist vergangen, sie haben sich mit einer Unmenge von Geschehnissen vor die Vergangenheit gedrängt und, man könnte es meinen, deren Bilder verwischt. Du aber kommst und lüftest mit zarter Hand den Schleier, und schon steht längst Entschwundenes klar und wirklichkeitsnah da, und man wähnt sich mitten im Erleben vergangener Tage. –

So ging es jetzt Frau Mechthild. Waren denn wirklich schon zweiunddreißig Jahre vergangen seit dem Tag, an dem Konrad in ihr Leben trat? Zweiunddreißig Jahre? – War es nicht erst gestern oder vorige Woche gewesen? – Und doch, was barg diese Zeit in sich!

Wieder legte sich ein bitteres Lächeln um ihren Mund. War es ihr doch eben gewesen, als höre sie die feurigen Zukunftsversprechungen des jungen Konrad Gersbach, als er um sie warb. Sie hatte damals gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Noch heute glaubte sie die schwärmerischen Aussprüche ihrer Freundinnen, die sie beneideten, zu hören. „Was ist dieser Gersbach für ein stattlicher Mensch! Wie gewandt weiß er sich zu benehmen. Seine Unterhaltungsgabe ist hervorragend. Wirklich ein außergewöhnlich angenehmer junger Mann.“

Und sie hatten erwogen, welchen Beruf er wohl haben könnte. – „Er ist ein Künstler.“ – „Nein, ein Student.“ – „Gewiss ist er ein tüchtiger Kaufmann.“

So hatten die jungen Mädchen in überschwänglicher Weise geraten. Und sie, Mechthild, hatte Gefallen an diesem Spiel gefunden. Sie, die Lehrerstochter, war es ja, die er begehrte, die er bevorzugte aus dem Kreise fröhlicher junger Mädchen. Ob sie ihn liebte, darüber war sie sich bis jetzt noch nicht klargeworden. Seit jener Enttäuschung mit Harry Meinhardt ging sie vorsichtig mit ihren Gefühlen um. Aber er war ihr nicht unangenehm, dieser Konrad Gersbach, und sein Werben schmeichelte ihr. Dann erfuhr sie, dass er der Sohn eines Großschlachters war und einmal das Geschäft des Vaters übernehmen sollte. Das sagte ihr allerdings weniger zu. Wenn sie sich je in Zukunftsträumen verloren hatte, so galt es bei ihr als eine Selbstverständlichkeit, dass sie einmal an der Seite eines geistig Schaffenden ihren Platz ausfüllen würde. Selbst die Tatsache, dass Konrad Gersbach wohlhabend war, vermochte sie nicht zu locken. – Er aber verfolgte in hartnäckiger Zähigkeit sein Ziel. Mechthilds Eltern, besonders aber der Vater, schienen die Verbindung nicht ungern zu sehen. Vielleicht war auch das begeisterte Urteil der Freundinnen nicht ganz ohne Einfluss. So kam es, dass Mechthild Orlang sich mit Konrad Gersbach verlobte. Es war ein Fest, wie es das alte Schulhaus noch nicht erlebt hatte. Mutters Garten musste große Opfer bringen. Eine Fülle von Rosen, Nelken und Lilien zierte die Festtafel. Viele waren gekommen, um diesen Tag mit dem jungen Paar zu verleben. Alle schienen sich des großen Glückes der kleinen Lehrerstochter bewusst. Merkwürdigerweise war auch Mechthilds Vater an diesem Tage lebhaft und aufgeräumt, wie man es an ihm sonst nicht gewöhnt war. Er schien sich über die Wahl seiner Tochter ganz besonders zu freuen. Frau Orlang aber war ernst und still. Gewiss strengte der Trubel des Tages sie zu sehr an.

Aber war sie, die Hauptperson, die Braut, eigentlich recht von Herzen froh? Es kam ihr alles so unwirklich, so traumhaft vor. Fast war es ihr, als sei sie ohne ihr Zutun in dieses Ereignis hineingedrängt worden. Das Geschehnis des Tages erschien ihr wie ein Schauspiel, in dem sie eine ihr zugedachte Rolle zu spielen hatte. Wie merkwürdig war das doch alles. Ja, es kam ein Augenblick, wo sie tatsächlich wünschte, es möge sich nur um ein Theaterstück handeln. Das war, als der Vater ihres Verlobten, ein wohlbeleibter, phlegmatischer alter Herr, sie vertraulich auf seine Knie ziehen wollte, und ihr, als sie sich sträubte, die Wangen tätschelte. Dabei hatte er den ihm nahe sitzenden Gästen erzählt, er und auch seine Frau hätten eigentlich andere Pläne mit ihrem einzigen Sohn gehabt. Pläne, er lachte gewichtig, nun ja, die eben für das Geschäft nutzbringend gewesen wären. Aber wenn man nur einen Sohn habe, dann drücke man eben ein Auge zu, und schließlich sei das Lehrerstöchterlein ein ganz ansehnliches Persönchen. Außerdem könne ein Konrad Gersbach sich eine solche Frau leisten.

Mechthild war empört über solche Taktlosigkeit und hatte gemeint, in die Erde sinken zu müssen. Vergeblich versuchte sie sich von dem festen Griff des alten Herrn zu befreien. Und plötzlich kam ihr ein seltsamer Vergleich. So würde dieser Metzgermeister wohl mit dem Schlachtvieh umgehen, hart und roh. Umsonst würden die armen Tiere versuchen, sich ihm zu entwinden. Ein Beben lief durch ihre Gestalt. Hilfesuchend irrten ihre Augen umher. Wo war Konrad? Er musste doch ihre zitternde Angst spüren. Warum kam er nicht, um sie zu schützen? Dort drüben saß er und unterhielt verschiedene Gäste mit den neuesten Witzen, die er stets vorrätig hatte. Und dann war sie unbemerkt aus dem Hause geeilt. In Mutters Garten hatte sie ihre Angst getragen. Eine bittere Not war daraus geworden. Damals allerdings hatte Konrad sich bemüht, ihr die Bedenken auszureden. Er hatte seine Braut im Haus vermisst und war auf die Suche gegangen. „Thildchen“, rief er verwundert, „was tust du hier allein im Garten?“

Sie erzählte ihm von dem Ausspruch des Vaters. Da hatte er laut aufgelacht. „Aber Mädchen, das darfst du doch nicht so ernst auffassen. Vater meint es bestimmt nicht böse. Du musst dich nur erst an seine Art gewöhnen. Er hat dich nicht ungern, und Mutter …“

„Was ist mit deiner Mutter, Konrad?“

„Nun ja, du weißt doch, wie alte Leute sind. Sie hat eben auch damit gerechnet, dass ich ein reiches Mädchen ins Haus bringe. Aber sie wird sich mit der Zeit daran gewöhnen.“

Mechthild hatte kein Wort erwidern können, aber sie erwog ernstlich, ob sie nicht den Ring, den sie erst wenige Stunden trug, von ihrem Finger streifen und ihrem Verlobten zurückgeben solle. „Hier nimm ihn und gib ihn einem Mädchen, das nach der Ansicht deiner Eltern in euer Haus passt.“ Und sie empfand, dass es ihr gar nicht einmal schwerfallen würde, so zu handeln. Später hatte sie sich oft gefragt, warum sie es eigentlich damals nicht getan habe. Vielleicht war es die Scheu vor dem Außergewöhnlichen, die sie zurückhielt. Man konnte doch nicht am Verlobungstag sein Verhältnis lösen.

Konrad hatte ihr an jenem Abend gütig zugeredet: „Komm, Thildchen, mach dir keine Gedanken, du heiratest weder meinen Vater noch meine Mutter, sondern mich. Du wirst sehen, wie glücklich du sein wirst, wenn wir erst unser eigenes Heim haben. Und dann wirst du über deine heutigen Sorgen lachen. – Aber du zitterst ja am ganzen Körper, wir gehen jetzt ins Haus.“

Sie fror, obgleich es mitten im Sommer und ein herrlicher Abend war. Willenlos ließ sie sich führen und schritt an Konrads Seite über die gepflegten Wege in Mutters Garten, der gerade in voller Prachtentfaltung stand, als wäre dieses alles nur ein beängstigender Traum, aus dem sie erwachen und sich in sorgloser Wirklichkeit wiederfinden müsse.

Frau Gersbach schrak aus tiefem Sinnen empor. Vom Kirchturm schlug es elf Uhr. Oder war es gar zwölf? Wo war die Zeit geblieben? Ganz steif waren ihre Glieder. Wie konnte man nur so ins Grübeln hineingeraten? Lore war gewiss längst zu Hause. Sie hatte im Wohnzimmer kein Licht gesehen und demnach die Mutter im Bett geglaubt.

Nein, es hatte keinen Zweck, Vergangenes wachzurufen. Es blieb doch, wie es war. Frau Gersbach erhob sich. Um fünf Uhr begann bereits wieder ihr Tagewerk. Sie musste ihrem Körper noch ein wenig Ruhe gönnen. Noch hatte sie nicht das Zimmer verlassen, als sie das Öffnen der Haustüre und dann unsichere Schritte auf der Treppe vernahm. Ihr Mann kam nach Hause. Kein Zweifel, er hatte bis jetzt im Wirtshaus gesessen. Er nannte das: geschäftliche Verpflichtungen. Dass sie nicht lachte! Welch eine bequeme Rechtfertigung! Es hatte Zeiten gegeben, da glaubte sie, ihn beeinflussen und zurückhalten zu können. Sie hatte es aufgegeben.

Jetzt näherte er sich dem Wohnzimmer. Wenn er doch nur vorübergehen wollte. Er fiel ja oft nach solchen Abenden auf sein Bett, ohne sich darum zu kümmern, ob sie zur Ruhe gegangen war oder nicht. Sie hatte auch kein Verlangen danach, dass er in solchem Zustand von ihr Notiz nahm. Aber er ging nicht an ihrer Türe vorbei. Wer weiß, was ihn bewog, ins Wohnzimmer zu treten. Er wankte zum Lichtschalter. Grell flammte das elektrische Licht auf. Unwillkürlich drückte Frau Gersbach sich gegen die Wand, als könne sie sich so vor ihrem angetrunkenen Mann verbergen. Aber er hatte sie schon entdeckt. Mit ausgestreckten Armen wankte er auf sie zu. „Thildchen, mein Thildchen“, lallte er. „Du, du bist noch wach? Hast du auf mich gewartet? Das ist aber nett von dir. Aber warum siehst du mich so böse an? – Ah, ich weiß!“ Er lachte das blöde Lachen eines nicht mehr Nüchternen. „Ha, ha, ich weiß es jetzt wieder, du willst nicht, dass ich Thildchen zu dir sage. Mechthild ist vornehmer, aber mir gefällt Thildchen besser. Ha, ha, Thildchen, du hast eben keinen vornehmen Mann bekommen!“

Frau Gersbach fühlte die Röte in ihr Gesicht steigen. War es nicht gerade, als habe er ihre Gedanken belauscht? Sie versuchte ihn zu beschwichtigen. „Konrad, sei doch nicht so laut. Helga wird aufwachen und sich vor dir fürchten.“

„Nein, nein“, erwiderte er und schrie noch lauter. „Ich bin ganz leise, aber komm, Thildchen, sei nicht so abweisend.“ Und er versuchte sie zu umarmen. Sie aber stieß ihn von sich. „Geh, Konrad, du weißt, wie du mir in solch angetrunkenem Zustand zuwider bist.“