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Eine Familiengeschichte, dem Leben nacherzählt wie sie immer wieder vorkommt. Eine Witwe, die außer dem Mann zwei Söhne verloren hat, lebt mit der ihr verbliebenen Tochter in schöner Harmonie. Die Tochter ist musikbegabt und soll nach dem Wunsch der Mutter einmal am Konservatorium lehren. Bei einem Ferienaufenthalt in der Schweiz findet sie jedoch Anschluss an einen christlichen Kreis und durch ihn einen Mann, mit dem sie sich gegen den Willen der Mutter verheiratet. Nun heißt es bei dieser: Ich habe keine Tochter mehr, sie ist für mich tot. So bleibt der Tochter bei allem Glück der Schmerz um die Mutter. Es ist lange Zeit kein leichter Weg für beide Teile. Auch die Mutter leidet unter ihrer selbst geschaffenen Einsamkeit, obwohl sie das in ihrem Stolz nicht zugibt. Doch Gottes Wege, so seltsam sie oft scheinen mögen, führen zu der Stunde, in der sie alle zusammenfinden. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.
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Seitenzahl: 169
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Herz zwischen Dunkel und Licht
Band 1
Elisabeth Dreisbach
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Elisabeth Dreisbach
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-122-0
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.
Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.
Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1
1 Quelle: wikipedia.org
Titelblatt
Impressum
Autor
Herz zwischen Dunkel und Licht
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»Und ich bleibe dabei, ich habe keine Tochter mehr. Gerthilde ist tot für mich, und …«
»Das kann dein Ernst nicht sein, Johanna«, unterbrach Maria Liebfrau die erregte Freundin. »Deine mir unbegreifliche Härte macht dich noch einmal sehr unglücklich. Reiße doch nicht eine solche Kluft auf zwischen dir und Gerthilde!«
»Sie selbst hat sie auf gerissen, und es führt keine Brücke mehr von ihr zu mir.« Frau Bornknecht erhob sich. Obgleich sie nicht mehr die Jüngste war – vor kurzem hatte sie ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert –, stand sie aufrecht und selbstsicher vor ihrer Freundin. »Versuche nicht, mich umzustimmen! Mein Vorsatz ist gefasst und unumstößlich. Gerthilde hat sich die Heimat verscherzt. Ihr Name soll nie mehr in meinem Hause genannt werden.«
Auch Maria Liebfrau stand auf. Traurig blickte sie zu der sie mehr als um Kopfeslänge überragenden Freundin empor.
»Ich habe nie gedacht, dass eine Mutter so unversöhnlich sein könnte«, sagte sie mit tiefem Ernst, und in ihren Augen standen Tränen. »Sagt nicht schon die Bibel: ›… Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen?‹ –!«
Mit herber Handbewegung schnitt Johanna Bornknecht ihr die Rede ab. »Es heißt aber schon viel früher: ›Ehre Vater und Mutter!‹ – Meine Tochter hat meinen Willen missachtet und mit Füßen getreten. Daher ist sie tot für mich. Hörst du« – beinahe leidenschaftlich klang die Stimme der sonst so beherrscht scheinenden Frau, »auch du sollst ihren Namen nicht mehr vor mir nennen. Wenn dir an unserer jahrelangen Freundschaft etwas liegt, achte meinen Willen! Es wäre mir leid, wenn auch unsere Wege auseinanderführen würden.« – Stumm, aber tieftraurig hatte Maria Liebfrau die Freundin zur Haustüre begleitet.
»Möge es mir gelingen, dir immer wirklich Freundesdienste zu erweisen!« sagte sie, sich verabschiedend, und ließ die verbitterte Frau gehen. Das war vor fünf Jahren gewesen, kurz, nachdem Gerthilde Bornknecht ihre Mutter verlassen hatte, um die Frau des Mannes zu werden, den diese beinahe hasserfüllt als ihren Schwiegersohn ablehnte, und um dessentwillen sie die Tochter verstieß. – Ein paarmal, etwa zu Weihnachten oder am Geburtstag der Mutter oder dem der Tochter, hatte Fräulein Liebfrau den Versuch gewagt, Frau Bornknecht umzustimmen. Aber das verhärtete Herz der enttäuschten Mutter war nicht milder geworden in all den Jahren. Selbst, als die Freundin ihr die Nachricht brachte, Gerthilde habe einem Töchterlein das Leben geschenkt – in der Hoffnung, der Gedanke an das erste Enkelkind könne die Großmutter umstimmen –, war sie auf heftigsten Widerstand gestoßen. »Schweig’ mir von Gerthilde! Ich habe keine Tochter mehr.«
Und heute war der Brief von Bernt Walter gekommen. Wie gerne hätte sie ihn der Freundin gegeben! Aber nach deren Äußerungen hatte sie es nicht gewagt. Johanna war so unbeugsam und von ihrem Recht beinahe fanatisch überzeugt, dass es ihr zuzutrauen war, dass sie sich auch von ihr, der langjährigen Freundin, abwandte. Maria Liebfrau und Johanna waren Schulkameradinnen gewesen, unzertrennlich in den Kindheits- und Jugendjahren. Gemeinsam hatten sie ein Jahr der Ausbildung in der französischen Schweiz erlebt. Dann hatte Johanna einen jungen Arzt geheiratet, der später als Sanitätsrat Leiter des städtischen Krankenhauses und als solcher sehr geschätzt und geachtet wurde. Den beiden Söhnen des Arztehepaares folgte als kleiner Nachkömmling Gerthilde, die von allen sehr geliebte Tochter. Den Kindern wurde die beste Ausbildung zuteil. Die Söhne studierten. Der eine wollte Arzt, der andere Jurist werden. Die außerordentlich musikalische Tochter studierte Musik. Dann kam der Krieg. Beide Söhne fielen. Im letzten Kriegsjahr starb der Sanitätsrat. Nun blieb Frau Johanna nur noch die Tochter. Schwer, unsagbar schwer trug sie an dem Verlust ihrer hoffnungsvollen Söhne, aber sie war eine stolze Frau und verbarg den Schmerz in ihrem Innern. Niemand hätte behaupten können, sie in hemmungsloser Trauer gesehen zu haben. »Man trägt seine Gefühle nicht anderen zur Schau«, pflegte sie zu sagen. Nun lebte sie eben für die Tochter. Ihre Pläne lagen fest für sie. Gerthilde sollte ihrem Studium, ihrer Musik leben und später an einem Konservatorium unterrichten. Wenn sie dann und wann ein Konzert in der Heimatstadt gab, wollte sie nichts dagegen haben, aber auf Konzertreisen wünschte sie ihre Tochter nicht zu sehen. Es lag ihr nichts daran, dass sie heiratete. Sollte sie etwa, wie sie, Söhne in die Welt setzen, die sie später dann doch wieder opfern musste? Das Herz der Frau krampfte sich in Bitterkeit zusammen. Nein, dieses namenlose Leid sollte der Tochter erspart werden. Solange sie lebte, wollte sie Gerthilde betreuen, und später würde sie wohl selbst imstande sein, sich zu versorgen. – Es schien ihr selbstverständlich, dass Gerthilde sich den Plänen ihrer Mutter, die ja deren Bestes wünschte und über genügend Lebenserfahrung verfügte, anpasste. – Und dann war Gerthilde mit einer Studienkollegin in die Schweiz gereist, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Begeisterte Briefe sandte sie der Mutter, überwältigt von der Schönheit der Bergwelt. Dem kleinen Gebirgsort gegenüber, in dem sie mit der Freundin wohnte, lagen Jungfrau, Mönch und Eiger. »Ich kann mich nicht sattsehen an ihrer gewaltigen Pracht«, schrieb sie der Mutter, »sei es am Morgen, wenn der Himmel sich in strahlender Bläue über ihrem blendenden Weiß wölbt, oder am Abend, wenn die Sonne ihr ewiges Schneegewand mit dem goldenen Schein des Alpenglühens schmückt.«
Aber nicht nur die landschaftlichen Schönheiten hatten Gerthilde damals stark beeindruckt. Sie berichtete der Mutter von einem Bibelheim, das sie dort oben in den Bergen kennen gelernt habe, in dem ständig etwa 100 junge Mädchen und junge Männer ausgebildet würden, die dann als Missionare oder sonstige Reichsgottesarbeiter entweder ins Ausland oder in einen sonstigen diakonischen oder kirchlichen Dienst gesandt würden. Sie selbst habe an einer Anzahl der Unterrichtsstunden in dieser Schule teilgenommen. Eine ganz neue Welt sei ihr dort aufgegangen. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie erkannt, dass die Bibel auch ihr persönlich etwas zu sagen habe. Sie bedaure nur eines, dass sie, die Mutter, nicht auch an diesen Erlebnissen teilnehmen könne. – Frau Bornknecht hatte damals den Brief lächelnd beiseite gelegt. – »Schwärmerei!« dachte sie. »Reichsgottesarbeit!« – Es war doch beinahe lächerlich, dass ihre Tochter sich solcher Worte bediente! – Nun, es war kein Grund zur Besorgnis. Gerthilde würde aus den Ferien zurückkehren, sich wieder ihrem Studium widmen und diese Jungmädchenschwärmerei hinter sich zurücklassen. Das waren gewisse Kinderkrankheiten, sie gingen vorüber. Es war gut, dass sich der Urlaub in der Schweiz seinem Ende zuneigte.
Und dann war Gerthilde zurückgekehrt. Strahlend, sichtlich erholt, irgendwie verjüngt, keineswegs, ja, sagen wir einmal, frömmelnd wirkend. Frau Bornknecht war froh. – »Du siehst wohl aus, Kind. Ich freue mich, dass dir die Schweizerluft so gut getan hat.«
Gerthilde aber hatte beide Hände der Mutter ergriffen, und ein fast überirdisches Strahlen hatte ihr Gesicht verklärt:
»Mutti, es war unbeschreiblich schön, und ich habe ein ganz, ganz großes Erlebnis gehabt.«
Frau Bornknecht erschrak. – Sollte dieses strahlende Aussehen etwa bedeuten … »Du hast dich doch nicht heimlich verlobt?« Die Mutter schalt sich im stillen, dass ihr dieses unbedachte Wort entschlüpft war. Wie konnte sie ihrer Tochter nur so etwas nahelegen?
Gerthilde schüttelte errötend den Kopf. »Nein, Mutti, das würde ich doch nicht ohne dein Wissen tun.«
»Und ebenso wenig ohne mein Einverständnis«, fügte Frau Bornknecht eilig hinzu. »Das versteht sich ja von selber. Aber sage mir, Kind, was hast du erlebt?«
Und nun sagte Gerthilde etwas, was die Mutter in große Verlegenheit brachte, denn Pauline, das Hausmädchen, betrat gerade das Zimmer.
»Ich bin dem Herrn Christus begegnet.«
Dann war es an Frau Bornknecht, zu erröten. Sie räusperte sich und schob hastig eine Vase zurecht, die vor ihr auf dem Tische stand. »Du drückst dich allerdings ein wenig ungewöhnlich aus. Du willst gewiss sagen, du seiest dort in der – wie nannte sich doch dieses Haus? – in der Bibelschule stark religiös beeindruckt worden. – Aber das legt sich wieder. Du wirst damit fertig werden. Vergiss nicht, dass der Alltag jetzt wieder seine Forderungen an dich stellt! Du wirst fleißig arbeiten müssen, also tust du gut daran, diese Schwärmereien hinter dir zu lassen.«
Da hatte Gerthilde mit großem Ernst geantwortet; »Mutter, von Schwärmereien kann hier nicht die Rede sein, und was den Alltag betrifft, so habe ich fest vor, mit Gottes Hilfe dieses Erleben in ihn hineinzutragen. Ich habe ganz bewusst einen neuen Weg beschritten.« »Einen neuen Weg?« hatte die Mutter, bereits leicht erregt werdend, gefragt. »Ich wüsste nicht, dass das nötig wäre. Du bist doch nicht bei den Heiden, sondern in einem christlichen Land und Haus aufgewachsen. Genügt dir das nicht?«
»Nein, Mutter, so, wie es bisher war, genügt es mir nicht mehr. Ich habe erkannt, dass man diese ewigen Fragen nicht als Nebensächlichkeiten am Rande des Lebens betrachten kann. Es geht hier um die Forderungen Gottes, zu denen wir Stellung zu nehmen haben. Und jeder Mensch muss sich entscheiden, entweder für oder gegen Christus.«
»Nun hör’ einmal«, hatte Frau Bornknecht aufbegehrt, »man kann alles übertreiben. Das fehlte mir noch, dass du in der Sprache Kanaans zu reden beginnst, wie Frau Wittich, die hinter jedem zweiten Satz säuselt: ›So der Herr will!‹ und geradezu tut, als sei sie mit dem Herrgott ›per Du‹ und kenne ihn aus allernächster Nähe. Nein, ich danke, und das kann ich dir in aller Entschiedenheit sagen, so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Ich habe euch Kinder christlich erzogen, unser verehrter alter Pfarrer hat euch unterrichtet, ihr seid konfirmiert worden, wir gehen, wenn auch nicht jeden Sonntag, so doch regelmäßig, zur Kirche, und damit ist’s übrig genug. Schlage dir alles Weitere aus dem Kopf! Und nun komm zu Tisch, wir haben lange genug über diese Dinge geredet!« – Sie legte den Arm um die Schultern Gerthildes. »Und im übrigen weiß ich genau, dass meine Tochter ganz von selbst wieder zur Vernunft kommt. Jedenfalls freue ich mich, dass du dich so gut erholt hast.«
Obwohl beide, Mutter und Tochter, sich bemüht hatten, den sich zwischen ihnen ausbreitenden Schatten zu übersehen: er war geblieben, ja, er hatte sich je länger, desto mehr vergrößert. Es war tatsächlich, als lebten beide in zwei verschiedenen Welten. Wohl versuchte Gerthilde immer wieder, verursacht durch den Wunsch, die Mutter teilnehmen zu lassen an dem, was ihr so groß und wichtig geworden war, dieser zu erklären, was sie so stark bewegte, aber die Kluft zwischen ihnen wurde nur noch tiefer. –
»Mutter, wenn es wahr ist, was die Bibel sagt, dass wir nach diesem Leben hier auf Erden vor Gott zu erscheinen und für unser Tun Rechenschaft abzulegen haben, dann genügt es doch nicht, dass man sich nur dann und wann mit ihm befasst, etwa an kirchlichen Feiertagen oder auch nur am Sonntag, wenn man eventuell zur Kirche geht. Wir können doch unser Christentum nicht nach Belieben hervorholen und wieder zurückstellen, wie man ein Sonntagskleid aus dem Schrank holt, es anzieht und nachher wieder weghängt!«
So hatte Gerthilde gesprochen, und die Mutter war aufgefahren: »Wie redest du zu mir? Willst du mir Vorschriften machen? Glaubst du, ich sei keine Christin, weil ich nicht so viel süßliche Worte von diesen selbstverständlichen Dingen mache, wie du? Schließlich gibt es auch eine Keuschheit der Seele, die einem verbietet, solches auszusprechen. Jedenfalls wünsche ich diesen Ton nicht von dir zu hören.«
Gerthilde hatte mit den Tränen gekämpft. »Mutti, wenn du mich doch verstehen wolltest! Ich bin weit davon entfernt, dir Vorschriften machen zu wollen, aber sieh, es ist mir in der Schweiz in der Bibelstunde so klar geworden, dass eine ganz bewusste Stellungnahme von uns gefordert wird! Gewiss, ich nannte mich auch Christin, ich bin wohl im Religionsunterricht gewesen, bin konfirmiert worden, habe oft neben dir in der Kirche gesessen, aber im Grunde genommen war ich gar nichts. Ich wusste nicht, dass ich fern von Gott war, dass er mir ein Geschenk, ein ganz großes Geschenk anbot durch Christus, seinen Sohn, und mit diesem die Errettung meiner Seele, und dass ich nichts anderes zu tun hatte, als dieses Geschenk anzunehmen. Das habe ich nun in der Bibelschule …«
Frau Bornknecht war in heftiger Erregung aufgesprungen: »Immer diese Bibelschule! Ich will jetzt nichts mehr davon hören!«
Die Sache begann sie zu beunruhigen. Hatte man nicht schon von religiösem Wahnsinn gehört? Wenn nun ihre Tochter …? Nicht auszudenken!
So ging sie eines Tages zu ihrem alten Pfarrer und sprach mit ihm von ihrer Besorgnis. »Herr Pfarrer, ich mache mir ernstlich Sorgen um Gerthilde. – Sie kennen sie doch seit ihrer Kindheit. Sie haben sie konfirmiert. Sie wissen, welch gut veranlagtes Kind sie immer war, – vielleicht nur etwas zu weich, wie ihr Vater leider auch, der sich bei all seiner Intelligenz durch seine übergroße Gutmütigkeit nur zu oft ausnützen ließ. – Aber stellen Sie sich vor, jetzt spricht das Mädel davon, dass sie erkannt hat, dass sie vor Gott nicht bestehen kann, von Sünde und Schuld hat sie schon geredet. Es ist geradezu peinlich und wäre mir aufs äußerste unangenehm, wenn sie in unserem Bekanntenkreis solche überspannten Gedanken ausspräche. – Was raten Sie mir zu tun?«
Und der alte Pfarrer hatte geantwortet: »Das geht vorüber, Frau Sanitätsrat. Jugendliche Schwärmerei, die in den meisten Fällen nicht lange anhält. Lassen Sie Ihre Tochter so oft wie möglich an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen! Sie ist doch im heiratsfähigen Alter. Sie werden sehen, wenn der richtige Mann in ihren Gesichtskreis tritt, verlieren sich derartig übertriebene Ansichten sehr bald. Ich habe das oft genug erlebt.
Sie haben doch sonst nicht über Gerthilde zu klagen?«
»Nein, in keiner Weise. Sie ist heiter und von einer mich fast befremdenden Fröhlichkeit. Ihr Benehmen ist tadellos. Sie tut, was sie mir von den Augen ablesen kann, immer hilfsbereit, entgegenkommend und besorgt um mich. – Ich könnte mir keine liebevollere Tochter denken. Nur wenn diese religiösen Verirrungen über sie kommen, dann wird sie geradezu fanatisch. – Jetzt will sie durchaus Kindergottesdiensthelferin werden.«
»Nun, das wäre das Schlimmste nicht«, hatte der Pfarrer geantwortet. »Wir können da immer tüchtige Kräfte gebrauchen. Aber sagen Sie, Frau Sanitätsrat, hat Ihre Tochter vielleicht einen Mann in der Schweiz kennengelernt, der da eine Rolle spielen könnte? Man erlebt da ja manches Mal eigenartige Dinge.«
»Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls kann von irgendwelcher Bindung nicht die Rede sein. Sie bekommt wohl zuweilen Briefe von Schülern und Schülerinnen dieser Bibelschule, hat mir auch schon begeistert davon erzählt, wie es sie beeindruckt habe, wenn sie zum Beispiel mit ihrer Freundin einen Waldspaziergang unternommen habe, dass sie immer wieder auf den Bänken am Wegesrand oder in der Parkanlage, die zu der Schule gehört, junge Mädchen und Männer bibellesend und studierend getroffen hat, die von der Wichtigkeit ihrer Berufsausbildung als Missionare durchdrungen waren. So etwa drückte sie sich aus. Von dem Wort »Berufung« ist bei ihr auch immer die Rede. – Sie hat sich da Redewendungen und Ausdrucksformen angewöhnt, die mich geradezu unangenehm berühren. – Aber dass sie irgendwelche Beziehungen zu einem Mann hätte, davon hat sie mir nichts gesagt. Und das würde sie niemals hinter meinem Rücken wagen.«
Der alte Pfarrer war nach dieser Unterredung der Meinung gewesen, dass bestimmt kein Grund zur Besorgnis vorläge. In Angelegenheit der Hilfe im Kindergottesdienst wolle er ihr seinen Vikar schicken. Der leite die Jugendarbeit in der Gemeinde.
Wenige Tage später war dieser dann auch gekommen. Gerthilde war nicht zu Hause gewesen. Er war ein angenehmer junger Mann, dem man auf den ersten Blick die gute Kinderstube ansah. Frau Bornknecht war bald in angeregter Unterhaltung mit ihm. Sie fasste Vertrauen und sprach auch zu ihm von ihren Sorgen mit Gerthilde. Und nun geschah es, dass der junge Mann die gefahrbefürchtende Mutter auch zu beruhigen suchte, aber auf eine ganz andere Art und Weise … »Aber, liebe Frau Bornknecht, das ist doch ein Grund zur Freude und nicht zur Besorgnis. Kann es etwas Beglückenderes für eine Mutter geben, als wenn sie erkennt, dass ihr Kind, vom Heiligsten durchdrungen und überzeugt, den rechten Weg gewählt hat? Meine Mutter hat Freudentränen geweint, als ich ihr, zurückgekehrt aus der Kriegsgefangenschaft, sagen konnte: ›Ich bin in jener schweren Zeit zum Glauben an unseren Herrn Jesus Christus gekommen. Mein Leben soll fortan ihm gehören‹.«
Frau Bornknecht hatte sich daraufhin noch höher aufgerichtet auf ihrem Stuhl und war eiskalt geworden. »Dann sind Sie wahrscheinlich aus anderen Kreisen gekommen wie meine Tochter«, hatte sie gesagt und sich erhoben. »Gerthilde kann, wenn Interesse dafür vorhanden ist, sich in Angelegenheit der Kindergottesdiensthilfe an Herrn Pfarrer Maiser wenden, der sie ja auch eingesegnet hat.« Der Vikar war entlassen. –
Gerthilde hatte ihn dann im Treppenhaus getroffen und sich lange und lebhaft mit ihm unterhalten. Sie verstanden sich sichtlich. Als die Tochter die Wohnung betrat und der Mutter freudig berichten wollte: »Denk’dir, der Herr Vikar kennt die Bibelschule in der Schweiz und bejaht sie völlig!« da war ihr eisige Kälte entgegengeströmt. Bei Tisch hatte die Mutter kein Wort gesprochen. –
Maria Liebfrau saß noch immer in ihrem kleinen Erker, den heute an sie gekommenen Brief in der Hand, und ließ alle diese Geschehnisse an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Wie schwer war das damals für Gerthilde gewesen, als sie entdeckte, dass die Mutter sich immer mehr von ihr zurückzog! Aber es war noch viel schlimmer geworden, als jener Brief von Bernt Walter aus der Bibelschule gekommen war. Er war dort als Schüler, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und seine Heimat zerstört gefunden hatte. Sein Vater war Gartenbauarchitekt gewesen, hatte in Ostpreußen eine große Gärtnerei und etliche Baumschulen gehabt. Bewusst christlicher Geist herrschte im Hause Walter, und der Vater erlebte die große Freude, dass beide Söhne nicht nur seinen Beruf ergriffen, sondern auch seinem Vorbild nachstrebten und echte Christen wurden. Ein Lungenleiden befreite den ältesten vom Kriegsdienst. Als ihr Heimatort von Bomben zerstört wurde und die Stadt geräumt werden musste, flüchtete auch er mit dem nun schon alten Vater nach Süddeutschland, wo sie hofften, Verwandte zu finden. Diese waren inzwischen gestorben. In einer engen Dachkammer begann nun für beide ein neues, wenn vorerst auch sehr kümmerliches Dasein. Aber es war merkwürdig gewesen: das Leid der Nächsten, die große Not derer, die mit ihnen geflüchtet waren, ließen sie ihre eigene Not zurückstellen. Der alte Mann wurde Seelsorger und Berater vieler, und die Dachkammer eine heilige Stätte. –