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Unfasslich scheint es der Mutter des jungen Friedemann Honeck, dass ihr Sohn, der ihr nach dem Tode ihres Gatten wie ein tapferer Kamerad zur Seite steht, im späteren Leben Irrwege einschlägt. Doch nach qualvollem Bangen um ihn kommt sie zu der Erkenntnis, dass ihre Hauptaufgabe nur darin bestehen kann, fürbittend hinter ihm zu stehen. Auch der Sohn geht durch Zeiten innerer Not. Das Glück, das er meinte bannen zu können, scheint ihn verlassen zu haben. Sein Herz, das von Kindheit an allem Guten zugeneigt ist, wird bitter. Glaube und die Kraft der Jugendjahre entgleiten ihm. Seine junge Frau fühlt sich an seiner Seite einsam und unverstanden. Immer mehr entfernen sie sich innerlich voneinander. Selbst das ihnen geschenkte Kind kann die Not nicht überbrücken. Doch nun übernimmt ein Stärkerer die Führung. Friedemann Honeck und seine Frau finden am Sterbebett ihres Kindes nicht nur hin zu Gott, sondern auch zum Herzen der Mutter zurück. Es sind Notzeiten, durch die alle Beteiligten gehen müssen, aber auch Segens- und Offenbarungszeiten, deren Frucht unvergänglich ist. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.
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Seitenzahl: 247
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Es wird ein Schwert durch deine Seele dringen
Band 2
Elisabeth Dreisbach
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Elisabeth Dreisbach
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-123-7
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.
Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.
Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1
1 Quelle: wikipedia.org
Titelblatt
Impressum
Autor
Es wird ein Schwert durch deine Seele dringen
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Die letzten Erdschollen fielen auf das Grab. Der Totengräber schulterte die Schaufel und überblickte die lange Reihe frischer Hügel.
»Das ist die Grippe«, murmelte er in seinen grauen Bart. »Es war reichlich viel in letzter Zeit«, und er dachte dabei an die Todesopfer, die diese heimtückische Krankheit gefordert hatte. »Es ist wie ein Schlachtfeld«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. »Man kann nicht schnell genug die Gräber schaufeln. Und so viel blühendes, junges Leben. Grausam ist der Tod. Oft frage ich mich, warum Gott das zulässt.«
Seit zwanzig Jahren versah der Totengräber hier sein Amt. Er war zwischen den Gräbern ein Philosoph geworden, und viele tiefe und ernste Gedanken stiegen aus den Grüften zu ihm empor.
»Warum lässt Gott das zu?« Dieselbe Frage bewegte auch das Herz des vierzehnjährigen Knaben, der an der Seite seiner Mutter auf dem gepflegten Friedhofsweg daherkam. Aus seinen tiefblauen, klaren Kinderaugen blickte er seine Mutter an. Ein dunkler Ton schwang in seiner Stimme mit, als er seine Frage wiederholte.
»Sag, Mutter, warum lässt Gott so etwas zu?«
Die Mutter, eine zarte, fast zierliche Gestalt, nicht viel größer als der Junge, schwieg eine Weile, ehe sie antwortete.
»Friedemann, in der Bibel heißt es an einer Stelle: ›Was ich tue, das weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren‹ Es gibt vieles im Leben, was wir nicht begreifen und verstehen und worüber wir hier auf Erden nie Klarheit bekommen. Über die Führungen Gottes wird uns erst in der Ewigkeit das Verständnis auf gehen. Jetzt können wir nichts andres tun, als seinem Walten stille halten.«
»Das ist schwer, Mutter!«
Frau Honeck warf einen prüfenden Blick auf das ernste Gesicht ihres Kindes. Die letzten Tage schienen es um Jahre gereift zu haben. »O Gott, bewahre meinem Jungen noch eine Weile sein Kindheitsglück.«
Nun waren sie bei der neuen Gräberreihe angelangt. Der alte Totengräber trat ehrerbietig einen Schritt zurück, um ihnen den Weg frei zu machen. »Ich habe eben die letzte Arbeit daran vollendet«, sagte er und deutete auf das äußerste Grab in der Reihe.
»Vaters Ruheplatz.« Über Frau Honecks blasse Wangen rannen Tränen. »Mutter«, flüsterte der Knabe an ihrer Seite und fasste ihre Hand, »weine nicht, du hast ja mich, und ich verlasse dich nicht.«
»Ja, mein Kind, ich habe dich, Gott sei Dank dafür.«
Als man gestern ihren Mann, mit dem sie fünfzehn, wenn auch nicht leidlose, so doch glückliche Jahre verlebt hatte, hinabsenkte, da war es ihr einen Augenblick gewesen, als sei mit ihm alles, was sie einst an Lebensglück, Freude und Hoffnung besaß, auch begraben. Ein Blick auf ihren Knaben, der schluchzend neben ihr stand und es nicht fassen konnte, dass man den Vater in die Erde bettete, hatte sie wieder an ihre Lebensaufgabe und Verantwortung erinnert. Sie musste leben, leben und schaffen für ihr Kind, ihren Sohn, der sie noch nötig brauchte. Und sie hatte den weinenden Jungen an sich gezogen und getröstet. Heute schon tröstete er sie. »Mutter, du hast ja mich.« O wunderbare, lebensbejahende Jugendkraft, ja, sie hatte ihren Jungen, ihres Gatten Sohn. Noch eine Weile standen sie miteinander am Grabe des Vaters. Als aber der Totengräber begann, neben diesem ein neues Grab zu schaufeln und beinahe wie um Entschuldigung bittend sagte: »'s ist für eine alte Frau«, da wandten sich beide, um heimzugehen. Friedemann fühlte in diesem Augenblick in seinem jungen Körper eine Lebenskraft auf strömen wie nie zuvor. Der Tod war ein Feind, das wurde ihm plötzlich klar. In ihm aber wogte der unbändige Wille zum Leben. Es hielt ihn nicht länger auf dem Gottesacker, er beschleunigte den Schritt. »Komm, Mutter, lass uns nach Hause gehen. Wir beide müssen jetzt fest Zusammenhalten.«
Am Abend saßen sie miteinander in dem gemütlichen Wohnzimmer ihres kleinen Häuschens. Soeben war die Sonne untergegangen in erhabener Schönheit und doch zugleich in altvertrauter und wohltuender Art, so, als ob ein guter alter Freund eine Reise machen will und noch einmal abschiednehmend mit der Hand winkt: »Ich komme wieder, ihr könnt damit rechnen.« Die letzten warmen Strahlen hatten kosend Baum und Strauch, Äcker und Wiesen, Feld und Wald gestreichelt. Nun war es Abend geworden. Friedemann stand am Fenster. Die Mutter saß im kleinen Erker bei einer Handarbeit. Wohl trauerte ihre Seele in tiefem Leid, und unsagbar schmerzte die Wunde, die der Tod ihr geschlagen hatte, aber ihre Hände ruhten nicht. Wie oft im Leben hatte sie die heilsame, tröstliche Kraft der Arbeit erprobt. Der Knabe wandte sich jetzt zu ihr.
»Mutter, als wir gestern den Vater begruben, und es so in Strömen regnete, da meinte ich, die Sonne könnte nie mehr scheinen – und doch war heute so ein herrlicher Sommertag.«
Frau Honecks Augen ruhten mit inniger Liebe auf ihrem
Sohn, aber sie antwortete nicht, sie empfand, dass er ihr noch mehr zu sagen hatte, und er fuhr fort: »Mir selbst war es in den letzten Tagen und besonders gestern bei der Beerdigung, als ob ich nie, nie mehr froh werden könnte, als ob das ganze Leben nun sinn- und zwecklos geworden wäre, ganz verzweifelt war mir zumute, und heute, Mutter, heute mache ich mir wieder Gedanken und Pläne für die Zukunft. Ist das unrecht? Ich meine, unrecht dem Vater gegenüber?«
Friedemann hatte ein niederes Stühlchen herangezogen und setzte sich nahe zu seiner Mutter. Das war von jeher sein Lieblingsplatz in der Dämmerstunde gewesen. Frau Honeck legte die Handarbeit in den Schoß und streichelte ihrem Jungen über das weiche, braune Haar.
»Unrecht, Friedemann, nein, das ist das Recht der Jugend und die Pflicht der Lebenden. Ich weiß, wie sehr du deinen Vater geliebt hast, aber du kannst sein Andenken durch nichts mehr ehren, als wenn du dich bemühst, ein pflichtgetreuer, gewissenhafter Mensch zu werden, vor allem aber ein wahrer Christ. Darum darfst du ruhig Zukunftspläne schmieden.« Frau Honeck nahm die Arbeit wieder auf, und während sich ihre Hände fleißig regten, weilten ihre Gedanken in der Vergangenheit und legten einen weiten Weg zurück. Wie schnell waren die Jahre vergangen. Es schien ihr, als sei es erst gestern gewesen, als sie, die Lehrerstochter, mit ihren alternden Eltern das Ostseebad Kolberg auf gesucht hatte. Der Vater war leidend, und man versprach sich von der kräftigenden Seeluft viel für seine Gesundheit. Sie hatten nicht in einem der luxuriösen Strandhotels Wohnung genommen, dazu reichten ihre bescheidenen Mittel nicht aus, aber in dem freundlichen, weinumrankten Privathäuschen der Familie Honeck hatten sie ein paar behagliche Zimmer gemietet. Familie Honeck sorgte für ihre Kurgäste in rührender Weise. Sie, die damals Zwanzigjährige, hatte zum ersten Mal überwältigt am Meeresstrand gestanden und keine Worte gefunden für solch erhabene Schönheit und Größe. Es war zur Zeit der Rosenblüte gewesen. Rings um den Frühkonzertplatz, wo allmorgendlich die Kurkapelle spielte, hatten sich die herrlichsten Rosenhecken erhoben. War das ein Blühen und Duften. Der jungen Frieda war es gewesen, als müsse soviel Schönheit und Harmonie ihr das Herz zersprengen. Damals hatte sie den einzigen Sohn der Familie Honeck kennengelernt. Er war von der Bauhochschule heimgekehrt, wo er soeben das Examen bestanden hatte. Die beiden jungen Menschen fühlten sich zueinander hingezogen und erkannten bald, dass es mehr war als Sympathie, was sie miteinander verband. Es dauerte aber doch noch fünf Jahre, bis sie heiraten konnten, und seitdem war das Häuschen in der Brunnenstraße Friedas Heimat geworden.
Der junge Honeck hatte sich rasch selbständig gemacht. Er verdiente gut, jedoch erkrankten beide Eltern, und ihre Pflege verschlang manchen Spargroschen. Übergroß war das Glück der jungen Leute, als sie sich im zweiten Jahr ihrer Ehe auf das Kommen eines Kindleins freuen durften. »Ein Mädchen soll es sein«, wünschte der junge Vater, »und deinen Namen soll es haben, es muss ein rechtes Friedenskind werden.« Dann kam der Junge, und die Eltern waren hoch erfreut. »Friedemann« nannten sie den Kleinen, und nun folgten Jahre ungetrübten Glückes. Gewiss, sie waren nicht vom Leid verschont geblieben. Die Eltern und Schwiegereltern starben. Friedemann war einige Male ernstlich krank, aber immer wieder lichtete sich das Dunkel, und die innige Liebe und Harmonie, die der Grundton in der Familie war, verlieh ihnen in den schwersten Tagen Tragkraft und Hoffnung.
Ein oft eigenartiges Kind war der kleine Friedemann gewesen. Als er zum ersten Mal den Kindergarten besucht hatte, war er nach Hause gekommen, hatte einen kleinen, etwas verwildert aussehenden Jungen an der Hand seiner Mutter zugeführt und gesagt: »Das ist der Rolf, der soll jetzt mein Bruder sein.« Das Staunen seiner Mutter in keiner Weise beachtend, hatte er seinen Spielschrank geöffnet, in dessen unterem Fach seine Hausschuhe standen, und das wärmere der beiden Paare hervorgeholt.
»So, Rolf, bei uns zieht man immer gleich die Stiefel aus. Hier sind deine Hausschuhe. Die gehören jetzt dir – und komm mal mit rüber, ich will dir auch gleich mein Bett zeigen, da schlafen wir dann immer zusammen – aber natürlich erst heute Abend, jetzt wollen wir vor dem Essen noch miteinander spielen.« Und er hatte sich mit seinem »selbstgewählten neuen Bruder« zu seiner Kommode begeben und seine Eisenbahn, seine Bilderbücher, den Teddybär, die Bauklötze und anderes Spielzeug hervorgeholt.
»Lass ihn eine Weile gewähren«, hatte der Vater damals gesagt, er war gerade zur Mittagszeit nach Hause gekommen und von seiner Frau über des kleinen Sohnes selbständigen Entschluss aufgeklärt worden. – So standen die Eltern im Hintergrund und beobachteten voller Interesse das Verhalten der Kinder.
Rolf war ein schmächtiger Junge, etwas größer als Friedemann, mit schwarzen, ungepflegten Haaren und unruhigen, listigen Augen, die ständig hin und her eilten und keinen
Augenblick bei einem Punkt verweilen konnten. Als er die Blicke der Eltern Friedemanns auf sich ruhen fühlte, zog er, wie einen Schlag erwartend, die Schultern hoch und kroch ein Stück zurück, um hinter dem Rücken des Spielkameraden Deckung zu suchen. Etwas später aber bemerkten die Eltern, die die spielenden Kinder weiter beobachteten, dass Rolf zuerst fast unmerklich, aber in offensichtlicher Berechnung, ein Spielzeug nach dem anderen zu sich zog und es, soweit es dazu nicht zu groß war, in seinen Hosen- und Jackentaschen verstaute. Erst nach einiger Zeit wurde auch Friedemann darauf aufmerksam und sagte ruhig: »Die Sachen gehören natürlich nicht dir allein, sondern uns beiden zusammen, weil du doch jetzt mein Bruder bist.« Kein Wort erwiderte Rolf, kniff aber lauernd die Augen zu und spreizte die Hände über die Taschen in sichtlicher Abwehrhaltung.
»Die Bruderschaft gefällt mir nicht«, sagte Herr Honeck halblaut zu seiner Frau. »Schaff mir das Bürschlein nur so schnell wie möglich aus dem Haus.«
Friedemann brach in heftiges Weinen aus, als die Mutter ihm erklärte, dass sein Spielkamerad jetzt wieder gehen müsse, zumal seine Mutti sich gewiss um ihn ängstige und mit dem Essen auf ihn warte.
»Niemand hat ihn lieb und keiner hilft ihm, dass er brav sein kann«, schluchzte das feinbesaitete Kind, und Rolf fügte lässig hinzu: »Ich kann gut hier essen. Meine Mutter schimpft nicht.« Das wurde ihm dann auch ohne weiteres gewährt. Rolf griff herzhaft zu, während der kleine Friedemann nur zögernd und an seinen Tränen schluckend ein paar Bissen zu sich nahm. Er begriff nicht, warum die Eltern seinen Plan, den neuen Freund in die Familie aufzunehmen, nicht billigten. Ohne weiteres hätte er Rolf all die Spielsachen, mit denen dieser seine Taschen gefüllt, mitgegeben, aber der Vater war anderer Meinung.
Am Nachmittag sprach Frau Honeck mit der Kindergärtnerin und erfuhr von dieser, dass Rolf Schmutzer ihr schwierigstes Kind sei. Er kam aus wenig guten Familienverhältnissen, kannte weder Ordnung noch Zucht und wuchs wie ein kleines Unkraut ungepflegt und unerzogen auf. Sie hatte ihn an diesem Morgen einige Mal ernstlich zurechtgewiesen und schließlich strafen müssen. Als er abseits von den anderen an der Wand stehen musste und vom Spiel ausgeschlossen wurde, hatten die Mädchen und Jungen ihn ausgelacht, ihm, wenn auch heimlich, Schmähworte zugerufen und ihn ihre sichtliche Verachtung auf allerlei Art und Weise spüren lassen. Frieder, der bisher nur unter dem Einfluss seines Elternhauses gestanden und etwas Derartiges noch nie erlebt hatte, war längere Zeit stummer Beobachter gewesen. Plötzlich aber hatte er sich neben den »Ausgestoßenen« gestellt, als wolle er dessen Verbannung teilen, hatte seinen Arm um ihn gelegt und ihm einen Kuss gegeben. Das Staunen der übrigen Kinder war groß. Sah denn der Neue nicht, was für einer dieser Rolf Schmutzer war? Mit dem wollte doch keiner etwas zu tun haben. Nach einer Weile war Friedemann zu der Kindergärtnerin gekommen und hatte gebeten: »Darf er jetzt mit den anderen spielen? Er will gewiss wieder lieb sein«, und als ihm geantwortet wurde, dass Rolf noch etwas warten müsse, da hatte er neben ihm ausgehalten, obgleich die unfreundliche Haltung der anderen Kinder und deren Spott ihm die Tränen in die Augen drängten. Er war erst wieder froh, als die Strafe aufgehoben wurde, und reihte sich glückstrahlend, seinen neuen Freund an der Hand, in den Kreis der Spielenden ein. In Selbstverständlichkeit hatte er ihn dann am Mittag mit nach Hause genommen, unbedingt gewillt, ihn als seinen Bruder aufzunehmen.
Das Kind schlief schon längst, als die Eltern sich noch lange über dieses Erlebnis unterhielten. Besonders die Mutter konnte gar nicht damit fertig werden.
»Nun war dieses sein erster Ausflug in die Welt, an dem er die Hand der Mutter loslassen musste«, sagte sie, »und schon hat er eine Begegnung mit der Bosheit, mit Rohheit und Herzenshärte gehabt. Ich fürchte, sein weiches Herzchen hat einen ordentlichen Stoß bekommen. Er hat sich vor Kummer in den Schlaf geweint.«
»Du wirst ihn vor solchen Erlebnissen nicht bewahren können«, hatte Ernst Honeck damals erwidert. »Das möchtet ihr Mütter ja am liebsten, alle Steine euren Kindern aus dem Weg räumen, aber wie sollten sie ohne dieselben erstarken und reifen? Gut ist es, dass er noch immer in deine Arme flüchten kann mit seinem Weltschmerz. Im übrigen kannst du doch sehr zufrieden sein. Er hat sich wahrlich wie der barmherzige Samariter benommen. Ich glaube, das hat er von dir, Frieda, du willst ja auch immer alle gesamte Erdennot tilgen, und wenn ich nicht bremsen würde, wäre unser Häuschen längst etwas Ähnliches wie ein Obdachlosenasyl oder eine Art Herberge zur Heimat geworden. Es scheint mir, dass der Junge doch seiner Mutter mehr nachschlägt als seinem Vater. Aber lass gut sein, Frieda, mir ist es recht so. Ohne diese deine überfließende Güte hätte ich dich ja gar nicht genommen.« Er schloss sie bewegt in die Arme. Die junge Frau aber hatte den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt.
»Ernst, mir ist bange um unser Kind. Wie wird es seinen Weg durch das raue Leben finden, mit seinem weichen Herzen?«
»Das fragst du«, hatte ihr Mann geantwortet, »die du allabendlich mit dem Jungen betest: ›Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein …‹ Entweder du glaubst das, oder du glaubst das nicht!«
»Verzeih, Ernst«, hatte sie erwidert. »Du hast recht, und ich bin froh, dass du mich daran erinnert hast.«
Und der Junge war größer geworden und hatte sich mit dem, was auch sein Kinderleben schon beschwerte, abfinden müssen, aber er war immer ein barmherziger Samariter geblieben, und eigenartig, wenn es die Eltern auch gar nicht gerne sahen, er hielt von seiner Seite aus die Bruderschaft, die er dem verwilderten Rolf angetragen hatte, aufrecht.
Etwa sieben Jahre alt mochte Friedemann gewesen sein, da war er mit einigen seiner Klassenkameraden, darunter auch Rolf Schmutzer, an den Strand gegangen, um dem Tun der Fischer zuzusehen, die mit ihren Fischkuttern von ihrer Nachtfahrt zurückgekehrt waren. Sie hatten offenbar einen guten Fang getan und waren in froher Laune. Mit den Jungen waren sie gut Freund, und manch ein Scherzwort flog zu ihnen herüber.
Als Friedemann mit Rolf den Strand verließ, bemerkte er, dass dieser etwas unter seiner Bluse versteckt hatte.
»Was trägst du denn da?« fragte er. Rolf ließ es ihn verschmitzt lächelnd sehen.
»Fische? Aber woher hast du die?«
»Hast du es nicht gemerkt? Als der Kertens einen Augenblick zum Braun hinüberging, habe ich sie aus seinem Boot stibitzt. Es ging prima. Keiner hat was gemerkt?«
Entsetzt sah Friedemann den Freund an. »Aber Rolf, das ist doch gestohlen!«
»Ha«, hohnlachte dieser, »gestohlen! Meinst du, das schadet dem Kertens was? Der hat so viele Fische gefangen. Der merkt es ja gar nicht, dass ihm die fehlen!«
»Du bist gemein!« schrie Friedemann und stand mit geballten Fäusten vor dem anderen. »Du bringst die Fische zurück oder ich spiele nicht mehr mit dir, du – du Dieb!«
»Und du bist ein schöner Bruder!« erwiderte Rolf und drehte ihm den Rücken. »Dann spielst du eben nicht mehr mit mir. Ich bringe jedenfalls die Fische nicht zurück, sondern meiner Mutter. Mein Vater hat wieder einmal alles Geld versoffen, meine Mutter weiß nicht, was sie kochen soll – und wir haben Hunger.« Und damit ließ er Friedemann stehen und lief mit seinen Fischen unter der Bluse davon.
Dem Friedemann aber stürzte eine Welt ein. Rolf stiehlt, weil sie nichts zu essen haben. Der Vater versäuft alles, Rolf sorgt für die Mutter. Was war hier nun am Platze? Abscheu oder Bewunderung? – Er kannte sich nicht aus in dieser Welt. Am andern Tag aber und viele Wochen hindurch gab er täglich sein Schulbrot dem Freund, der im Grunde genommen gar keiner war. Und auch in den späteren Jahren teilte er täglich, was die Mutter ihm mitgab, mit Rolf.
Aber er wurde durch diesen Jungen in noch weitere Nöte gestürzt. Eines Tages kam Friedemann erregt nach Hause. Zum ersten Mal hatte Rolf ihn mit in seine elterliche Wohnung genommen, und nun musste Frau Honeck die Flut dieses ihren Sohn erschütternden Erlebnisses über sich ergehen lassen.
»Mutter, du glaubst nicht, wie es dort aussieht. Kein Bett war gemacht und überall lag etwas herum. Und Rolfs Mutter hat geraucht und geweint. Und dann hat sie zu Rolf gesagt: Jetzt läuft er wieder mit der anderen herum und fragt nicht danach, ob wir verrecken‹ Ich hab‹ dann den Rolf gefragt, wer es ist, der mit einer anderen herumläuft und was das heißt: Verrecken! Da hat er mir erzählt, sein Vater habe noch andere Freundinnen, mit denen sei er aber nicht verheiratet, und verrecken heiße kaputtgehen. Sein Vater kümmere sich nicht darum, ob sie alle verhungern, wenn er nur seine Weiber habe. Nicht wahr, Mutti, so ist unser Vater nicht, der lässt uns nicht verhungern und hat auch keine Weiber.«
Voller Entsetzen hatte Frau Honeck ihr Kind in die Arme gerissen. »Um Gottes willen, Jungchen, was redest du da?«
Und am Abend dieses Tages, als das Kind schon schlief, hatte sie schluchzend an der Schulter ihres Mannes gelehnt.
»Ernst, ich bin ratlos. Was können wir tun, um Friedemann vor solchem Sumpf zu bewahren?«
Und ihr Mann hatte beruhigend über ihr Haar gestrichen, immer wieder, aber auch er hatte ehrlich bekümmert und besorgt ausgesehen. Schließlich hatte er erwidert: »Wir könnten natürlich Friedemann verbieten, mit diesem Rolf Schmutzer zu verkehren, er macht wirklich seinem Namen Ehre, aber was kann der Junge schließlich für die Verhältnisse seines Elternhauses? Und dann, Frieda, wir werden es nicht verhüten können, dass unser Friedemann auch Einblick gewinnt in solche schmutzigen Dinge. Du kannst ihn nicht auf Schritt und Tritt begleiten; aber was wir tun können, das soll geschehen, dass er bewahrt werde. Er muss vor allem ein gutes, reines Familienleben in seinem Elternhause vorfinden, auch muss die Freude am Guten und Edlen in ihm geweckt und gepflegt werden. Im übrigen kann ich auch heute nichts Besseres tun, als dich an die ausgebreiteten Flügel erinnern.«
Am nächsten Tag aber war Herr Honeck doch zum Jugendamt gegangen und hatte gebeten, dass man die Verhältnisse der Familie Schmutzer prüfen möge, und auch mit dem Lehrer hatte er eine ernste Unterredung gehabt.
Frau Honeck hatte ihren neunjährigen Sohn mit hinaus an den Meeresstrand genommen und dort mit ihm eine der ernsten Mutterstunden erlebt, die ein Mensch, dem eine solche geschenkt wurde, nie im Leben vergessen kann.
Mit großen, staunenden Augen hatte Friedemann das Wunder des Werdens eines neuen, kleinen Menschenkindes vernommen, und als die Mutter ihm erzählt hatte, dass er unter ihrem Herzen fürsorglich behütet und geschützt dem Leben entgegengeschlummert hatte, da war er ihr plötzlich um den Hals gefallen: »Mutti, ich hab‹ dich schrecklich lieb!« Damals aber war es ihr klar geworden, dass das Christentum, das sie ihrem Sohn Vorleben muss, entschieden und lebendig sein müsste. Nur so war es ihr möglich, bewahrend auf ihn einzuwirken.
Die dunkelste Zeit aber war doch der Krieg gewesen. Gleich in den ersten Tagen der Mobilmachung wurde Ernst Honeck zum Felddienst einberufen. War es damals nicht ähnlich gewesen, als sie mit ihrem neunjährigen Jungen auf dem Bahnhof stand und dem Zug nachsah, der den Gatten und Vater mit vielen andern davontrug zur Front in Feindesland? Da war es ihr auch, als habe man ein Grab gegraben, ihr Liebstes schien ihr verloren. Und er war wieder heimgekehrt. Aber heute? Hatte der Tod ihr nicht das Letzte geraubt? Jetzt konnte Frau Honeck es nicht verhüten, dass eine Träne auf ihre Handarbeit fiel. Friedemanns Gedanken waren wohl ähnliche Wege gegangen. Er schmiegte sich fest an die Mutter:
»Mutter, nicht wahr, wenn wir den Willen Gottes tun, werden wir Vater Wiedersehen. Vater war ein Christ, er ist bestimmt im Himmel.«
Nicht phrasenhaft, sondern aus einer kindlich-gläubigen Frömmigkeit kamen diese Worte. Da war es wieder das Kind, das ihr unbewusst zurechthalf. Ja, die Hoffnung auf ein Wiedersehen lebte. Selbst der Tod konnte sie nicht vernichten. Schwer, unsagbar schwer waren die vier Kriegsjahre gewesen. Vier Jahre zwischen Bangen und Hoffen. Das Kommen des Briefträgers hatte jedes Mal Herzklopfen verursacht. Was bringt er für Nachricht? Dann aber war das Kriegsende gekommen. Allerdings ein anderes Ende als erwartet, aber es hatte doch den Vater heimgebracht. Es schmerzte Frau Honeck noch heute, wenn sie daran dachte, wie ihr Mann zurückgekehrt war. Früh gealtert, die Gesundheit zerrüttet und ohne Aussichten auf Verdienstmöglichkeit, denn wer konnte in dieser schweren, unruhigen Zeit ans Bauen denken? Aber wenn sie auch ihr kleines Vermögen verloren hatten und sie sich jetzt sehr einschränken mussten, sie hatten doch den Vater wieder. Sie waren wieder beisammen. Die herrliche Harmonie stand leuchtend und verklärend über der unbegreiflichen Dunkelheit jener Tage, und die Liebe war inniger und herzlicher denn je zuvor. Doch das Glück sollte nur ein kurzes Jahr anhalten. Die Grippe, eine bisher unbekannte Krankheit, tauchte auf. Sie griff wie ein unheimliches, grauenhaft mächtiges Gespenst um sich. Kaum gab es ein Haus, wo sie nicht nach Raub ausschaute. Der von dem furchtbaren Krieg geschwächte und nicht genügend widerstandsfähige Körper Ernst Honecks unterlag. Gestern hatte man ihn zur letzten Ruhe gebettet. Aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen lebte. Sonst wäre es zum Verzweifeln gewesen. Hatte sie vier Jahre gehofft und gebangt, um ihn nun, wo sie sich endlich der Wiedervereinigung freuten, wieder hergeben zu müssen? Es war, als ob Frau Honeck nach innen horchte: »Ich gehe nach Hause zum Vater und dort erwarte ich euch.« Das waren die letzten Worte des Sterbenden gewesen. Ein schwerer Seufzer verhallte in dem Abendfrieden.
»Ich glaube an ein Wiedersehen!« Sich und ihrem Kinde musste sie es zum Trost sagen, und es war wie ein Abendsegen.
»Mutter, einen Wolfshunger bringe ich mit. Gibt's was Gutes?« Friedemann Honeck, der siebzehnjährige Lehrling, stürmte mit diesem Ausruf in die Küche, wo er seine Mutter, die er längst um Kopfeslänge überragte, herzlich begrüßte.
»Ja, Junge, der Tisch ist schon gedeckt, komm, trag die Kartoffeln ins Zimmer, ich bringe das Gemüse. Um alles in der Welt, Friedemann, du steckst ja den Ellenbogen durch den Ärmel.« Ganz erschrocken blickte Frau Honeck auf die schadhafte Stelle an dem fadenscheinigen Anzug ihres Sohnes. Dieser besah sich das Unglück flüchtig und lachte. »Macht nichts, Mutter, die neueste Mode schreibt ärmellos vor, schneide sie einfach heraus.« Der Mutter aber war es gar nicht zum Lachen. »Friedemann«, meinte sie besorgt, »wie schaffe ich dir nur einen neuen Anzug? Du kannst wirklich so nicht länger ins Geschäft gehen.« Sie hatten sich an den sauber gedeckten Tisch gesetzt, und die Mutter sprach das Tischgebet. Es war nur eine ganz einfache Mahlzeit. Frau Honeck aber verstand es, auch dem grauesten Alltag einen festlichen Anstrich zu geben. Stets war ein weißes Tuch über den Tisch gebreitet, und nie fehlten ein paar Blumen in der Vase.
»Fein hast du gekocht, Mutter«, lobte Friedemann, »aber sag, machst du dir tatsächlich ernste Gedanken über den dummen Anzug? Es sieht beinahe so aus. Du hast doch sicher noch einen alten Flicklappen, den setzt du auf den Ärmel. Dann geht's wieder ganz gut. Solange ich nur sauber bin, sagt mein Chef nichts, und wenn ich vierhundert verschiedene Flicklappen auf dem Anzug hätte. Nein, Mutter, deswegen kein Schatten auf deinem Gesicht. Ha, wir lassen uns von dieser interessanten Inflationszeit nicht die Stimmung verderben. Es gibt grade genug Menschen, die unter der Last dieser Zeit fast zugrunde gehen. Übrigens meine ich, können wir, solange wir noch satt zu essen haben, nicht klagen, und bisher war unser Tisch noch immer gedeckt.« Frau Honeck pflichtete ihm bei.
»Du hast recht, Friedemann, es geht uns hier in Pommern noch verhältnismäßig gut. Wir haben in nächster Nähe die großen Landgüter, auf denen immer noch etwas zu haben ist, und dann nicht zu vergessen die Vorteile, die wir Strandbewohner haben. Nie vorher haben wir den Fischfang so zu schätzen gewusst wie jetzt. In anderen Gegenden Deutschlands muss es viel schlimmer sein. Ich erhielt heute einen Brief von meiner Schulfreundin aus Berlin. Sie schrieb, es sei fast schlimmer als während des Krieges. Stundenlang stehen die Menschen in langen Schlangenlinien vor den Geschäften, um endlich etwas an Lebensmitteln zu bekommen. Vor Entkräftung und Unterernährung fallen Frauen und Mädchen auf der Straße um, und die Kindersterblichkeit ist erschreckend.« Friedemann war bei den Worten der Mutter ernst geworden.
»Ist es nicht der reine Hohn, Mutter, wir alle haben erreicht, was wir in unsern kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt haben: Wir sind Millionäre geworden. Dabei ist unser Geld so wertlos, dass wir die Banknoten im Einkaufskorb in die Geschäfte tragen müssen und dafür so viel Waren erhalten, dass sie im Geldbeutel Platz haben. Mutter, wir haben uns doch den Frieden anders vorgestellt! Weißt du noch, als es vor vier Jahren hieß, der Krieg sei beendet? Wie waren wir alle voller Friedenserwartungen, und wie ist die Wirklichkeit dagegen? Die Zeitungen berichten täglich von Unruhen und Aufständen im ganzen Lande. Die Zahl der Arbeitslosen wird immer größer. Die Untätigkeit macht die Leute charakterlos. Eine verbrecherische Sensation übertrifft die andere. Wo soll das enden? Es ist eine dunkle, unheilvolle Zeit.«