Der dunkle Punkt - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Der dunkle Punkt E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

In der Silvesternacht bekennt die Frau des Prokuristen Egon Starkfürst ihrem Mann und den heranwachsenden Kindern, dass sie als Zehnjährige einen Selbstmordversuch unternommen hat, weil sie das Leben neben ihrem Vater, der ein haltloser Trinker und brutaler Mensch war, nicht mehr ertrug. In einer Evangelisationsversammlung hat sie erkannt, dass sie vor Gott und Menschen schuldig geworden ist, als sie sich nie mehr um ihren Vater kümmerte und ihre Angehörigen im Glauben ließ, er sei gestorben. Sie will nun gutmachen und ihr Leben in Ordnung bringen. Darum hat sie heimlich nach dem Vater geforscht und ihn endlich als verkommenen alten Mann in einem Altersheim gefunden. Ihr Bekenntnis entfacht einen Sturm im Hause. Der dunkle Punkt droht das ganze Familienleben aus den Angeln zu heben, nachdem Frau Starkfürst dem verwilderten Alten gar noch Heimatrecht im Hause verschaffen will. Wahrlich - ein schwerwiegender "dunkler Punkt"! Doch eine fröhliche junge Diakonisse leistet Hilfe, ein lebenserfahrener Seelsorger, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, sieht die Geschehnisse in innerer Gelassenheit und zeigt sie beleuchtet vom göttlichen Licht. Die Liebe eines taubstummen kleinen Mädchens erweist sich als überwindende Kraft. Gott selbst spricht zu den Beteiligten. Der dunkle Punkt wird zur Lebenswende. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Der dunkle Punkt

Band 12

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-133-6

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Der dunkle Punkt

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Der dunkle Punkt

„Ich muss euch etwas bekennen. – Ich habe etwas verheimlicht, was ich schon lange hätte aussprechen müssen. Und ich will die Last nicht weiter tragen.“ Frau Starkfürst schwieg und schloss für die Dauer einiger Atemzüge die Augen, so als müsse sie innerlich Kraft schöpfen, ihr Vorhaben durchzuführen.

Beinahe entsetzt blickten sich die übrigen an. Egon Starkfürst, ihr Mann, der neben ihr auf dem Sofa saß, fasste erschrocken nach ihrer Hand. „Lore, was ist mit dir? Du ängstigst mich.“

Gerhard, der Theologe – er war erst vor kurzem Vikar geworden –, stand beunruhigt auf und ging zu ihr hinüber. Er setzte sich auf den leeren Platz neben seiner Mutter. Wie der Vater, so fragte auch er: „Was ist mit dir? Du wirst doch nicht krank werden! Dein Aussehen gefällt mir nicht.“ Wilbert und Carola wechselten vielsagende Blicke. Für Wilbert war es der erste Augenblick an diesem Silvesterabend, an dem sein Übermut durch fragenden Ernst verdrängt wurde. Aber er hielt nicht lange an. Es schien bei der Mutter irgendetwas nicht zu stimmen. Aber hatten sie nicht schon mehrmals in den letzten Monaten den Eindruck gehabt, dass sie verändert war? Etwas bekennen wollte sie? Das klang geradezu mysteriös. Carola sah direkt ängstlich aus. Wilbert bemühte sich, ein ironisches Lächeln zu unterdrücken. Da war bei Mutter gewiss so etwas wie eine Seelenmassage vorausgegangen. Seitdem sie die Evangelisationsvorträge der Kirche besucht hatte, war sie verändert. Er hatte es gut gemerkt. Es hatte ihr zum Beispiel nicht mehr genügt, dass sie vor und nach dem Essen ein Tischgebet sprachen; nein, sie musste es plötzlich durchsetzen, dass man am Abend eine Andacht hielt. Sie waren davon alle mehr oder weniger peinlich berührt gewesen. Aber Vater hatte sich dann doch dazu hergegeben. Als Kirchengemeinderat, dessen ältester Sohn Theologe war, konnte er kaum anders, nachdem ihn seine Frau beinahe flehentlich darum gebeten hatte. Aber Vater war gewandt genug, seine Verlegenheit zu verbergen, und las sehr beherrscht einen Abschnitt aus einem Andachtsbuch, das Mutter extra für diesen Zweck gekauft hatte. Und dann hatte Mutter versucht, frei zu beten. Sie kam jedoch nicht weit damit, weil auf steigende Tränen ihr die Stimme verschlugen. Es war eine peinliche Situation gewesen. Sie hatten alle vor Verlegenheit nicht gewusst, wohin sie blicken sollten. Dann hatte der Vater versucht, die Sache zu retten, indem er das Vaterunser betete. Dabei war es nun geblieben. Nur wenn Besuch kam, verstand er es geschickt zu verhüten, dass Andacht gehalten wurde. Das war ein Glück. Man machte sich ja geradezu zum Gespött der anderen. – Nun wollte die Mutter ein Bekenntnis ablegen? – Höchst interessant! Aber wäre es nicht richtiger?

Gerhard, der Vikar, empfand wohl genau dasselbe. Er fragte: „Möchtest du nicht lieber allein mit Vater reden, Mutter? Ich meine, wir Kinder sollten uns jetzt zurückziehen.“

Aber Frau Starkfürst wehrte ab. „Nein, bitte, bleibt!

Alle! Es muss jetzt gesagt sein, ihr sollt es alle hören – und ich will keinen weiteren Schritt in das neue Jahr tun, ohne mir die Seele zu erleichtern.“

So begann sie: „Vor Jahren verübte ein zehnjähriges Mädchen in Berlin einen Selbstmordversuch. Sie drehte den Gashahn auf. Die Mutter, an der das Kind mit großer Liebe hing, war gestorben. Der Vater war ein Trinker, der das Mädchen in betrunkenem Zustand unbarmherzig schlug und misshandelte. Verwandte waren nicht vorhanden, die sich des Kindes hätten annehmen können. Es hungerte und fror. In der Schule wurde es von den anderen gemieden, weil es in Lumpen gekleidet und verwahrlost war. Vor Schüchternheit und Ängstlichkeit wagte es nicht, am Klassenunterricht mitzumachen, selbst wenn es den Stoff beherrschte. So hielt auch der Lehrer nichts von dem Mädchen. Eines Nachts – es war Silvester wie heute –, der Vater saß wie üblich in seiner Stammkneipe, hielt es das kleine Mädchen nicht länger aus. Es hatte Hunger, es fror erbärmlich, und vor allem hatte es Heimweh nach der verstorbenen Mutter. In seiner kindlichen Einfalt glaubte es, wenn es sterben könnte, würde es direkt in den Himmel und zur Mutter kommen. Es drehte den Gashahn auf.“

Frau Starkfürst schwieg. Sie war plötzlich sehr bleich geworden und atmete schwer. Mit beiden Händen umklammerte sie die Hand ihres Mannes, als wolle sie ihn beschwören: „Lass mich jetzt um Gottes willen nicht allein!“

Er und auch die Kinder hatten gespannt zugehört. Als die Mutter schwieg, sagte Carola in tiefem Mitgefühl: „Das arme Kind! Was ist nun weiter aus ihm geworden? War es tot?“

„Nein“, flüsterte fast unhörbar die Mutter. „Es wurde zum Leben zurückgerufen. Ich war das Kind!“ –

Alle schwiegen entsetzt. Aus weit geöffneten Augen starrten sie die Mutter an. Endlich brach Herr Starkfürst die Stille: „Und das erfahre ich erst heute, Mutter? Warum hast du mir das verschwiegen?“

„Ich schämte mich.“ Der ganze Jammer jener trostlosen Kinderzeit schien in den Augen der Frau zu liegen. Ihre Stimme klang so fremd, wie ihre Familie sie nie gehört hatte.

„Ich schämte mich zu sagen, dass ich aus solchen Verhältnissen stamme. Ich schämte mich vor allem, über meinen Vater zu sprechen. Ich verschwieg, dass er noch lebte.“ Und nun überstürzten sich ihre Worte beinahe, so, als fürchte sie, der Mut zu reden könne sie auch jetzt wieder verlassen. „Ich wurde damals ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte bemühten sich sehr um mich. Aber ich konnte mich nur langsam erholen. Die Angst, wieder zu meinem Vater zurückkehren zu müssen, raubte mir nicht hur beinahe den Verstand, sondern auch jeglichen Willen, weiter zu leben. Das erkannte der Chefarzt. Er legte mich zu einer Privatpatientin, einem alten Fräulein, das in seiner Familie aus und ein ging und als Freundin des Arzthauses galt. Dieses Fräulein litt sehr unter ihrer Einsamkeit. Der Chefarzt wusste einen Weg zu finden, uns beiden zu helfen. Er war die Ursache, dass ich zu meiner Pflegemutter kam.“

„Oma Marlene?“

Ja!“

„Und dein Vater?“

„Der Chefarzt sorgte dafür, dass er in eine Trinkerheilanstalt kam.“

„Und dort ist er gestorben?“

„Nein, er …“

„Er lebt?!“ Alle fragten es wie aus einem Mund und mit der gleichen Angst, sie könnte die Frage bejahen.

„Ja, er lebt! Und das ist die Schuld, die ich auf mich geladen habe. In all den Jahren habe ich mich nicht um ihn gekümmert. Ich wollte mich nicht um ihn kümmern. Schon als ich noch ein Kind war, begann ich ihn zu hassen. Es war mir recht, dass er verschollen war. Nie habe ich nach ihm gefragt oder geforscht. Ich wollte nicht vergessen, was er mir angetan und wie er meine Kindheit zerstört hatte. Ich war überzeugt, dass meine Mutter vor lauter Herzeleid gestorben war. Es war mir gleichgültig, wie es ihm ging. Wenn er verkam, war es nur die gerechte Strafe für sein Tun an meiner Mutter und mir. – Meine Pflegemutter nahm mich in ihr Haus. Ein völlig neues Leben begann für mich. Ich fühlte mich wie im Himmel und liebte sie innig. Sie machte innerlich und äußerlich einen neuen Menschen aus mir. Nun musste ich mich nicht mehr vor meinen Schulkameradinnen verstecken. Ich trug wie sie schöne Kleider und kam sauber und gepflegt zur Schule. Durch Nachhilfeunterricht hatte ich bald das Versäumte nachgeholt. Als ich die Prüfung in die Oberschule bestand, gab es kein glücklicheres Kind als mich. In den Ferien machte meine Pflegemutter Reisen mit mir. Ich durfte viel Schönes sehen und kennenlernen. Als ich aus der Schule kam, besuchte ich, wie ihr wisst, das Kindergärtnerinnenseminar. Von meinem Vater sprachen wir nie mehr. Ich wusste, er hatte kein Recht mehr, über mich zu verfügen. Das Jugendgericht hatte ihm das Sorgerecht für mich entzogen. Die Bilder der Vergangenheit verblassten immer mehr.

Wie euer Vater und ich uns kennenlernten, wisst ihr alle. Ich war mit meiner Pflegemutter in den Ferien an der Ostsee. Wir wohnten in derselben Pension. Ich galt im Allgemeinen als elternlos. Wir verbrachten manche schöne Stunde gemeinsam am Ostseestrand. Weißt du noch, Vater? Einmal fragtest du meine Pflegemutter, ob ich keine Angehörigen mehr habe. Da antwortete sie: ,Lores Mutter ist tot, der Vater verschollen.‘ Ich merkte bald, dass du annahmst, er sei im ersten Weltkrieg vermisst, und ließ dich bewusst bei dem Glauben.

Wenn in den siebenundzwanzig Jahren unserer Ehe sich die Erinnerung an meinen Vater in mir regte, dann unterdrückte ich jeden Gedanken an ihn. Jahrelang hatte ich ihn beinahe vergessen.“ –

Frau Starkfürst machte eine kleine Pause. Von draußen drangen noch einzelne Neujahrsrufe zu ihnen herauf. Ganz nahe an ihrem Fenster stieg zischend eine Rakete empor und hinterließ einen feuerfarbenen Sprühregen. Einzelne Schüsse knallten in die sich immer mehr ausbreitende nächtliche Stille. Vor kaum einer halben Stunde hatten die Glocken das alte Jahr verabschiedet und das neue willkommen geheißen. Obgleich Wilbert, der immer zu Heiterkeit und Scherz aufgelegt war, sich bemühte, jede sentimentale Stimmung zu verscheuchen, hatte sich doch über alle in diesen Augenblicken der Jahreswende eine seltene Stille gebreitet. Mit dem letzten Glockenschlag hatte der Vater sich erhoben, und man hatte sich gegenseitig Glück gewünscht. Als man sich kurz darauf zur Ruhe begeben wollte, hatte die Mutter zu reden begonnen, und sie alle hatten empfunden, jetzt, jetzt kam etwas, das sie schon lange geheimnisvoll ahnend auf sich zukommen fühlten.

Aller Augen waren auf Frau Starkfürst gerichtet. Niemand unterbrach die Stille, aber alle empfanden ähnlich. Aus dem Dunkel der Nacht kam an diesem ersten, noch kaum erwachten Morgen des neuen Jahres etwas Gespensterhaftes auf sie zu, griff mit unheimlichen Fangarmen nach ihnen und zwang ihnen eine Last auf, die sie keineswegs ohne weiteres zu tragen gewillt waren.

Die Mutter hob fröstelnd die Schultern. „Ist dir kalt?“ fragte Carola. „Soll ich dir dein Wolltuch holen?“

„Nein, danke. Lasst mich weitererzählen. Ihr wisst, dass ich in den ersten Monaten des nun verflossenen Jahres die Evangelisationsabende des Missionars Muttmann besuchte. Da ging mir ein neues Licht auf.“

Wilbert hüstelte verlegen und stieß heimlich seine Schwester an. „Also doch!“

„Ich erkannte, dass ich bisher in dem Wahn gelebt hatte, eine Christin zu sein, aber ich war es nicht!“

Herr Starkfürst unterbrach seine Frau. „Nun übertreibe nur nicht. Wer sollte denn ein Christ sein, wenn nicht du? Selbstloser und treuer als du kann niemand leben. Jeden Sonntag gehst du regelmäßig zur Kirche, und deine Kinder hast du im christlichen Geist erzogen.“

Wieder hüstelte Wilbert. Die Mutter aber schüttelte den Kopf. „Das genügt alles nicht. Bei jenem Vortrag ,Wo ist dein Bruder Abel?‘ fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich in all den Jahren schuldig geworden bin an meinem Vater, dem gegenüber ich auch nicht den geringsten Funken Liebe empfand. Ich kümmerte mich nicht darum, ob er vielleicht darbte, ob er krank und einsam war, während ich in guten Verhältnissen lebte und von keinen Sorgen wusste.“

„Aber, Mutti“, unterbrach sie jetzt Carola. „Wenn von Schuld die Rede sein soll, dann trifft sie doch bestimmt nur deinen Vater, der sich nicht um dich gekümmert und dich in deinen Kinderjahren beinahe in den Tod getrieben hat. Ich darf gar nicht daran denken.“ Ihre Stimme schwankte.

„Komm, werde bloß nicht sentimental“, flüsterte Wilbert ihr zu.

„Carola hat recht“, pflichtete der Vater ihr bei. „Du hast wahrhaftig keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Einzig und allein deinem Vater steht das zu.“

Frau Starkfürst aber ließ sich nicht beirren. „An jenem Abend erzählte der Missionar von einer Frau, die geträumt hatte, sie sei gestorben. Als sie an die Himmelstüre klopfte, öffnete ihr der Herr Jesus Christus.“

Wilbert scharrte verlegen mit den Füßen. Der Vikar trat ans Fenster und starrte durch die Scheiben, als gäbe es auf der nächtlichen Straße etwas sehr Interessantes zu sehen. Jetzt kam gewiss eine dieser süßlichen Traktatgeschichten, wie man sie sich in schwärmerischen christlichen Kreisen erzählte. Es war geradezu peinlich, und er fragte sich, wie er als ‚geistlicher Sohn‘ sich der ganzen Sache gegenüber zu verhalten habe. Aber man musste die Mutter erst ausreden lassen.

„Der Herr fragte die Frau: ,Was möchtest du?‘

,Ich möchte in den Himmel‘, antwortete sie.

,Wo ist dein Mann? Wo sind deine Kinder? Wo ist deine Mutter? Dein Vater? Wo sind deine Geschwister? Gehe zurück und komme erst wieder, wenn du sie mitbringst.‘

Wie Feuerflammen brannte diese Begebenheit mir im Herzen. Mein Mann? Meine Kinder? Gewiss, ich hatte wohl versucht, nach besten Kräften und Erkenntnissen christliches Familienleben zu gestalten, aber wahrscheinlich hatte ich das auch nicht so entschieden getan, wie Gott es von mir verlangte. Vor allem aber brach wie eine Wasserflut die Erkenntnis der Schuld über mich herein, die ich meinem Vater gegenüber auf mich geladen hatte. Zuerst empfand ich auch so wie ihr vorhin: ,Ich bin doch nicht schuldig geworden. Ihn allein trifft die Schuld. Er hätte sich vor allem um mich, sein Kind, kümmern müssen!‘ Aber ich kam nicht zur Ruhe. Alle Gegenargumente vermochten die in mir aufsteigende Anklage nicht zu tilgen: ,Du bist schuldig, schuldig, schuldig.‘ Es war schrecklich. Tag und Nacht hatte ich keine Ruhe mehr.“

„Und dann bist du zu diesem Missionar gegangen und hast ihm alles gesagt, nicht wahr?“ Herr Starkfürst vermochte nur mühsam seine Erregung zu verbergen. „Und er hat dich darin bestärkt und gesagt, dass du eine große Sünderin bist! Oh, ich kenne diese Mucker!“

Frau Starkfürst blickte ihren Mann tieftraurig, aber nun in völliger Ruhe an. „Nein, Egon, das habe ich nicht getan. Es war auch gar nicht nötig, denn die Stimme in mir klagte mich an, je länger desto stärker. Und nun wusste ich, nicht vorher würde ich Ruhe finden, bis ich meinen Vater gesucht und gefunden hatte.“ –

War es nicht, als rückten die übrigen Familienglieder von ihr ab? Sie fühlte den Widerstand deutlich. Sie hatte darum gewusst, längst bevor sie davon gesprochen hatte. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Sie musste durch diese aufbrechende Not hindurch, und wenn sie ganz einsam wurde. – Das Grölen eines Betrunkenen schallte zu ihnen herauf. Carola erbleichte. Dem Vater stieg das Blut bis an die ergrauten Schläfen. Gerhard trat angewidert vom Fenster zurück.

Die Mutter fuhr fort: „Von jener Stunde an habe ich nach meinem Vater geforscht. Auch das verschwieg ich dir, Egon. Du hast Recht, wenn du mir zürnst. Aber ich war zu feige, zu reden. Da ich jedoch angefangen habe, meine Schuld zu bekennen, sollt ihr auch alles wissen. – Ich hoffte im geheimen, mein Vater bliebe unauffindbar. Siebenunddreißig Jahre sind seit jener schrecklichen Silvesternacht vergangen. Der erste Weltkrieg lag gerade hinter uns. Inzwischen sind die Schrecknisse des zweiten über uns hereingebrochen. Unser Land ist zerteilt, unser Volk zersplittert. Es schien mir undenkbar, dass ich auch nur eine Spur von meinem Vater aufnehmen könnte. Ich meinte, mit dieser Selbsttäuschung die Stimme meines Gewissens zum Schweigen zu bringen. Musste Gott nicht mit mir zufrieden sein, wenn er sah, dass ich Nachforschungen anstellte?

So leicht machte er es mir indessen nicht. Er nahm mich beim Wort. Er ließ midi meinen Vater finden.“

Wilbert versuchte sein Empfinden hinter der Maske der Oberflächlichkeit zu verbergen. „Sehr interessant!“ sagte er. „Wirklich, sehr interessant.“ Herr Starkfürst hatte den Platz neben seiner Frau verlassen. Er durchquerte das große Zimmer mit langen Schritten, auf und ab, auf und ab.

Frau Starkfürst fühlte gar wohl, welchen Sturm sie heraufbeschworen hatte. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie fuhr fort: „Nachdem ich durch den Suchdienst des Roten Kreuzes, durch die Flüchtlings stellen und andere Ämter vergeblich versucht hatte, eine Spur von meinem Vater zu finden, erinnerte ich mich plötzlich an eine alte Frau, die in Berlin in unserer Nachbarschaft gewohnt hatte, und zu der meine Mutter oft mit mir geflüchtet war, wenn der Vater sinnlos betrunken heimkehrte. Ich hatte ihren Namen längst vergessen, aber auf einmal stand er deutlich vor mir. Ich schrieb an sie. Ihre Tochter antwortete mir, denn sie selbst war seit Jahren tot. Auf Umwegen erfuhr die Tochter, dass mein Vater in einem Altersheim lebt.“

Frau Starkfürst war nun auch aufgestanden. Sie trat vor ihren Mann. Bittend hob sie ihre Augen zu ihm. „Vater, ich habe dir nicht die volle Wahrheit gesagt, als ich dich bat, zum Grabe meiner Pflegemutter fahren zu dürfen. Wohl war ich dort, aber das war nicht der Hauptgrund meiner Reise. Ich habe – ich habe meinen Vater auf gesucht. Ich habe ihn gefunden.“

Und nun ließ sich Frau Starkfürst in einen Sessel fallen, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte: „Es war schrecklich, oh, es war schrecklich! – Und ich kann ihn nicht dort lassen. Ich muss ihn zu uns holen. – Bitte, Egon, bitte, erlaube es mir. Ich werde sonst nie mehr meines Lebens froh. Er ist so einsam und so notvoll untergebracht. Er ist so verbittert und hat den Glauben an Gott und Menschen verloren. Mit neun alten, zum Teil verkommenen Männern muss er in einem Saal schlafen. Er selbst ist auch nicht …“

In heftiger Erregung unterbrach Herr Starkfürst seine Frau. „Lore, ich denke, das Weitere lassen wir jetzt. Es ist Zeit, zu Bett zu gehen. Und ich meine, die Entscheidung treffen wir nicht vor unseren Kindern.“

Da trat Gerhard, der Älteste, einen Schritt vor. „Vater, vergiss bitte nicht, dass eure Kinder jetzt erwachsen sind. Es handelt sich hier um eine so wichtige Angelegenheit, dass wir auch gehört werden müssen. Du weißt, vor welch großen Entscheidungen gerade ich stehe.“

„Was gibt es denn da für Beratungen?“ schaltete sich Wilbert ein. „Ich meine, da muss Mutter wissen, was sie tut. Warum sollte sie ihren Vater nicht kommen lassen? Ich finde es sehr amüsant, den alten Herrn, von dessen Existenz wir alle nichts wussten, kennenzulernen.“

Ein schmerzerfüllter Blick seiner Mutter traf ihn, und der Vater fuhr ihn an: „Deine dummen Späße sind hier völlig fehl am Platze. Ich wünsche heute Abend über die ganze Sache nichts mehr zu hören. Vor allem werden Mutter und ich darüber zu reden haben. Gute Nacht!“ – Wie ein schwerer Tropfen fiel der erste Stundenschlag in die Nacht. Ein Uhr!

„Guten Morgen!“ sagte Wilbert und wandte sich dann an Gerhard. „Rauchst du noch eine Zigarette mit mir?“

„Nein, danke!“

Schließlich verließ Wilbert als letzter das Wohnzimmer. „Prosit Neujahr!“

Weihnachten war es gewesen, als die kleine Lore Stellmacher zum ersten Mal dem Gedanken Raum gab, ihrem Leben ein Ende zu machen. Sie hätte nicht erklären können, ob Verzweiflung über ihr trostloses Dasein, Angst vor dem immer betrunkenen Vater oder die schmerzhafte Sehnsucht nach ihrer verstorbenen Mutter die Ursache war. Sicher ertrug das Kinderherz den ganzen Jammer nicht länger. – Aus dem Hause Kanalstraße 47 war fröhliches Singen zu ihr in die kalte Dachkammer gedrungen. Der Duft schmackhafter Speisen hatte das Hungergefühl in ihr nur verstärkt, und das Wissen um den Heiligen Abend, den die Kinder im Hause mit ihren Eltern unter dem strahlenden Christbaum feierten, hatte sie nur noch stärker empfinden lassen, wie einsam sie war. – Der Vater hatte sie wieder entsetzlich geschlagen, als er nur einen Topf gekochter Kartoffeln vorfand, nachdem er wie üblich angetrunken nach Hause gekommen war. Woher hätte sie denn etwas anderes nehmen sollen?

Schmerzhaft war die Erinnerung an das vorhergehende Weihnachtsfest in ihr aufgestiegen. Da hatte die Mutter noch gelebt. Heimlich hatten sie miteinander ein paar Lichtlein an einem winzigen Bäumchen angezündet. Geschenke hatte es keine gegeben, und doch war es Weihnachten gewesen, wenngleich sie das Bäumchen beim Nahen des Vaters rasch versteckten.

Nachdem er an jenem Weihnachtsabend wieder in seine Stammkneipe gegangen war, hatte das einsame Kind sich in das alte Wolltuch der Mutter gehüllt und sich aus dem Haus geschlichen. Aus den erleuchteten Fenstern der Häuser schienen ihr Festfreude und Stimmung entgegenzufluten. Aber die Klänge der Weihnachtslieder und das Jubeln der Kinder hatten ihr Tränen in die Augen getrieben. So war sie über den leeren Weihnachtsmarkt geirrt. Nur vereinzelt waren Menschen auf der Straße zu sehen. Beladen mit Päckchen und Paketen strebten sie alle ihrem Ziel entgegen. Nur das kleine Mädchen war freud- und ziellos gewesen. Plötzlich hatte es sich nach einem Tannenzweiglein am Boden gebückt. Hier war der Christbaummarkt gewesen. Begierig hatte es den harzigen Tannenduft eingeatmet, und als es wenige Schritte weiter gar ein Silberfädchen auf dem Pflaster liegen sah, hatte es dieses beglückt um das Tannenzweiglein gewunden. Woher mochte das Silberfädchen kommen? – Lore hatte um sich geblickt, über sich – da war sie der vielen tausend Lichter am Himmel gewahr geworden. – Der nächste Gedanke galt ihrer Mutter. – Ob sie wusste, wie verlassen ihr kleines Mädchen an diesem Weihnachtsabend war? – Konnte es nicht sein, dass die Mutter ihr das Silberfädchen vom Himmel geworfen hatte, um sie zu erfreuen?

Als Frau Starkfürst mit ihren Gedanken so weit gekommen war, drehte sie sich leise seufzend auf die andere Seite. Wie harmlos und kindlich gläubig war sie damals noch gewesen! – Ach, sie hätte so gerne ihrem Mann in dieser Nacht von dem namenlosen Jammer ihrer Kindheit erzählt, jetzt, da sie endlich den Mut gefunden hatte, ihm Einblick in jene dunkle Zeit zu gewähren; aber er hatte kein einziges Wort mehr mit ihr gesprochen, nachdem sie vor ihm und den Kindern ihr Bekenntnis abgelegt hatte!

Ob Egon ahnte, was es ihr bedeutet hatte zu sprechen? Oder ob er sich nicht denken konnte, welchen Entschluss es sie kostete, die Vergangenheit, die sie Jahre hindurch zum Schweigen gebracht hatte, wachzurufen! Sie hatte es getan, einem inneren Zwang gehorchend. Sie wusste, sie würde nie mehr im Leben diese in ihr aufgebrochene Schuld loswerden, wenn sie nicht bekannte und gutmachte, was sie gefehlt und versäumt hatte. –

So war das Geständnis über ihre Lippen gekommen. Sie hatte gehofft, sich danach froher und freier zu fühlen. Das Gegenteil war eingetreten. Sie empfand deutlich: dunkles Erschrecken hatte ihre Familie im Gedanken daran befallen, dass sie ihren Vater kommen lassen wollte. Keiner hatte wahrhaft begriffen, um was es ihr in Wirklichkeit ging. – Ja, wenn ihr Vater vornehm und klug gewesen wäre und gut ausgesehen hätte. Angängig wäre es schließlich noch gewesen, wenn er als Spätheimkehrer oder Flüchtling in armseligen Kleidern elend und abgemagert, umgeben von dem Nimbus eines unschuldig Verfolgten aufgetreten wäre. Aber so? – Ein Trinker? Plötzlich presste Frau Starkfürst die Hände auf das wild klopfende Herz. Hätte er, Egon, sie vielleicht gar nicht geheiratet, wenn er dies alles gewusst hätte? Würde ihr bisher so harmonisches Eheverhältnis durch ihr Geständnis einen Riss bekommen? –

Sie versuchte mit aller Gewalt den in ihr aufbrechenden Sturm zu dämmen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. –

Egon Starkfürst wusste wohl von dem lautlosen Weinen, das aus dem bekümmerten Herzen seiner Frau emporstieg. Aber er vermochte nicht, sich zu überwinden, ihr ein gutes Wort zu sagen oder auch nur nach ihrer Hand zu fassen. Er war gekränkt und empört. Gewiss, er liebte seine Frau; da hatte es nie einen Zweifel gegeben. Es war nicht mehr die himmelstürmende Liebe jener Zeit, wo sie sich am Ostseestrand kennengelernt hatten. Seltsam, dass er in diesem Augenblick deutlich manche Episode ihrer damals gemeinsam erlebten Ferientage vor sich sah. Wie jung waren sie beide doch noch gewesen. Sie waren miteinander im Boot hinausgerudert. Unvergesslich blieb das große Schweigen, das sie umgab, als sie den Kahn bei Sonnenuntergang durch das Wasser gleiten ließen. Lore hatte ein hellgeblümtes Kleid getragen, das sie vorteilhaft kleidete. Ihr seidenweiches Haar hatte im Schein der untergehenden Sonne einen Goldglanz angenommen. – Sie gefiel ihm ausnehmend gut. Sie waren gemeinsam am Strand weite, einsame Wege gewandert, sie waren zusammen hinausgeschwommen und hatten, im Sande liegend, lange Gespräche geführt. Aber nie hatte Lore von ihrem Vater gesprochen. Das verargte er ihr heute. – Nicht, dass er sie deswegen etwa nicht geheiratet hätte. Was konnte ein Kind schließlich für die Zustände der Familie, aus der es kam? – Oder hätte es ihm doch etwas ausgemacht? – Natürlich war es etwas anderes, Lore als Pflegetochter einer feinsinnigen und gebildeten Dame zu wissen. Schließlich jedoch hatte er seine Frau um ihrer eigenen Qualität und um der Klarheit ihres Wesens willen geheiratet. – Der Sturm der ersten Liebe hatte sich in den Jahren allerdings gelegt. Er liebte seine Frau heute ruhiger, aber gewiss tiefer. Sie war die Mutter seiner Kinder und seine treue Lebensgefährtin, die in den siebenundzwanzig Jahren ihrer Ehe unveränderlich um der Familie Wohl bemüht an seiner Seite gestanden hatte. – Aber es kränkte ihn je länger desto mehr, dass ihr Vertrauen ihm gegenüber nicht so groß gewesen war, ihm völligen Einblick in ihr Leben zu gewähren. Das sollte sie ruhig fühlen. Er würde einige Tage bewusst zurückhaltend sein. – Oder war es mit dem Vater wirklich so schlimm, dass sie es nicht fertiggebracht hatte, zu irgendeinem Menschen darüber zu reden? – Durch ihre Pflegemutter hatte sie eine ausgezeichnete Erziehung und Ausbildung genossen. Nichts erinnerte an die dunklen Tage ihrer Kinderzeit. – dass sie aber nun auf die verrückte Idee kommen musste, nach diesem Vater zu forschen! Daran war nur der überspannte Missionar schuld. Er hatte ihr den Kopf verdreht. Es wäre viel besser gewesen, der Vater wäre verschollen geblieben. – Unter keinen Umständen würde er die Erlaubnis geben, ihn herzuholen. Es gelüstete ihn nicht, die Bekanntschaft dieses zweifelhaften Schwiegervaters zu machen. Schließlich war er ein geachteter Mann in angesehener Stellung. – Es war wohl nicht zu viel verlangt, wenn er erwartete, dass Lore darauf Rücksicht nahm. – Er versuchte den Gedanken an die ganze Sache von sich zu weisen. – Unnötiger Einbruch in die gepflegte Ordnung seines Familienlebens. Es genügte ihm wahrhaftig, dass er als Prokurist der Papierfabrik Kleienhuber mancherlei geschäftliche Sorgen und Unruhen, die man auf seinem Schreibtisch ablud, zu bewältigen hatte. Wahrhaftig, Lore hatte ihn an diesem ersten Tag im neuen Jahr mit derartigem verschonen können. – Aber so sehr er sich auch bemühte, damit fertig zu werden, es gelang ihm nicht. – Deutlich empfand er selber, dass in seiner Stellungnahme zu dem Bekenntnis seiner Frau etwas nicht ganz logisch war. – Auf der einen Seite empörte er sich darüber, dass sie nicht früher davon gesprochen, andererseits ärgerte er sich, dass sie es überhaupt getan hatte.

Indessen durchlebte Frau Starkfürst noch einmal die Schrecknisse jener Silvesternacht. Wie eine kleine Kostbarkeit hatte sie das Tannenzweiglein mit dem Silberfädchen heimgetragen in ihre freudlose Dachkammer und es vor den Augen des Vaters gehütet wie einen Schatz. So war der letzte Tag des Jahres gekommen. In seinen blaugefrorenen Händen hielt das Kind das Zweiglein, ihre einzige Weihnachtsfreude.

Ein wehes Schluchzen hob Frau Lores Brust. Ach, es hatte ja keinen Sinn, davon zu reden. Weder ihr Mann noch die Kinder würden je diese Armut, in der sie gelebt hatte, verstehen können. Ein Stück Brot mit billigstem Schmalz bestrichen, war ihr damals ein Leckerbissen. Oft hatte sie nicht einmal das. Eine Wassersuppe, in der einige Kartoffelstückchen schwammen, war ihre tägliche Mahlzeit. Kein Wunder, dass sie so elend war. Als der Vater ihr an jenem Abend des 31. Dezembers wutentbrannt, weil er nichts zu essen vorfand, das Tannenzweiglein mit dem Silberfädchen aus der Hand gerissen und wie irre auf sie eingeschlagen hatte, war sie nur noch von einem einzigen Wunsch erfüllt gewesen – sterben und so zur Mutter gelangen zu können. Sie erinnerte sich gut, dass sie bei diesem Gedanken ganz ruhig gewesen war. Sie hatte keine Vorstellung, wie es vor sich gehen sollte, dass sie zu ihrer verstorbenen Mutter käme; sie konnte sich auch nicht daran erinnern, Angst empfunden zu haben; sie wusste nur eines: alles andere war erträglicher, als an der Seite eines solchen Vaters weiter leben zu müssen.

dass die Mitbewohner des Hauses, durch den Gasgeruch auf das Geschehen aufmerksam gemacht, die Polizei gerufen hatten, wusste sie natürlich nicht. Das hatte sie erst später erfahren. Nachdem man die Tür zu ihrer Kammer gewaltsam geöffnet hatte, war sie ins Krankenhaus gebracht worden. Dort war sie in bitteres Weinen ausgebrochen, als sie nach erfolgreichen Wiederbelebungsversuchen zu sich gekommen war und begriffen hatte, dass sie sich nicht im Himmel bei der Mutter befand. Man war sehr gut zu ihr gewesen und hatte sie mit Liebe und Fürsorge verwöhnt. Erst sehr viel später hatte sie gehört, dass verschiedene kinderlose Ehepaare bei dem Chefarzt gewesen waren und sie adoptieren wollten. Aber der gewissenhafte und verantwortungsbewusste Arzt gab das Kind nicht her, zumal es körperlich sehr elend war und sich in einem bedenklichen Grad von Unterernährung befand. Die Angst, wieder zum Vater zurück zu müssen, hatte die Erholung im Krankenhaus lange Zeit unterbunden. Schon längst hatte der Arzt erkannt, dass das vor allem durch Mangel an Liebe erkrankte Kind nichts so nötig hatte als eine Mutter. Da er von der Einsamkeit des alten Fräulein Marlene wusste, glaubte er, beiden helfen zu können, wenn er sie zusammenführte. So war Lore zu einer Mutter gekommen und hatte doch noch frohe und sonnige Kinderjahre verlebt. Auch ihre Ehe war glücklich gewesen. Ihr Mann war in guter Stellung. Als der zweite Weltkrieg kam, wurde er zwar vorübergehend eingezogen, kehrte aber unversehrt zurück. Sie besaßen außerhalb der Stadt ein schönes Haus in einem prächtigen Garten, dessen Pflege Frau Starkfürsts Freude war. Die Kinder waren begabt und im Allgemeinen gut geartet. Eine große Freude war es für die Mutter, als Gerhard, ihr Ältester, sich entschloss, Theologie zu studieren. Der Vater hätte lieber einen tüchtigen Geschäftsmann aus ihm gemacht. Andererseits schmeichelte es seinem Stolz, dass sein Sohn Pfarrer werden sollte. Es entsprach auch seinen geheimsten Wünschen, dass Gerhard plante, sich mit der einzigen Tochter des Dekans zu verloben. Gerhard war jetzt auf seiner zweiten Vikarstelle und glaubte der Zusage des Dekans sicher zu sein.