Ganz wie Mutter - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Ganz wie Mutter E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Nie hätte Henriette Brenner geglaubt, auf eigene Mutterfreuden verzichten zu müssen. Das höchste Erdenglück schien ihr, Weggenossin eines geliebten Mannes zu sein und sich ganz der Pflege und Erziehung eigener Kinder widmen zu können. - Es blieb ihr versagt. Und doch warteten Mutterpflichten auf sie, zwar anders, als sie es sich ausgemalt, aber doch auch glückspendend und ihr Dasein ausfüllend. Wohl war es ein harter Weg, voll Mühe und Selbstverleugnung. Manch bittere Enttäuschung war ihr beschieden, manche Stunde innerer Einsamkeit und Not. Als sie aber erkannt hatte, worauf es ankam, nämlich auf die beiden großen Mutterkünste, warten können und Liebe üben - immer wieder, da erlebte sie den schönsten Dank, die größte Belohnung, indem die Kinder ihres Bruders, dem der Tod die Lebensgefährtin entrissen hatte, bekannten: Sie ist ganz wie Mutter. Henriette Brenner blieb nicht an den unerfüllten Wünschen und Hoffnungen ihres Lebens stehen, sondern fand, da sie mit offenen Augen, warmem Herzen und arbeitswilligen Händen durch ihre Tage ging, ein großes Betätigungsfeld für ihre starke Mütterlichkeit. Reich war ihr Leben, weil sie gab. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Ganz wie Mutter

Band 3

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-124-4

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Ganz wie Mutter

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Ganz wie Mutter

»… und dabei bleibt's; am Ersten geh' ich.«

Auguste, die Haushälterin, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und stand mit energischem Gesichtsausdruck vor ihrem Herrn, Professor Brenner, der an seinem Schreibtisch saß und in den Seiten eines mächtigen, wissenschaftlichen Werkes blätterte. Diese Störung passte ihm gar nicht. Seit Stunden hatte er sich mit einer schwierigen, wissenschaftlichen Aufgabe befasst und glaubte, gerade eine außerordentlich wichtige Lösung gefunden zu haben, da war die Haushälterin eingetreten. Sie hatte einige Mal an das Studierzimmer geklopft, aber keine Antwort erhalten. – Plötzlich stand sie vor ihm und hatte sofort einen Wortschwall auf ihn losgelassen. Es war ihm nicht möglich gewesen, auch nur ein Drittel ihrer Rede zu begreifen, und er wünschte, sie möchte sich kurz fassen und ihn baldigst wieder seinen Erwägungen überlassen. Aber sie ließ sich nicht unterbrechen, und wie ein nicht zu dämmender Wasserfall sprudelte es auf ihn nieder.

Der Professor saß da mit einem Gesicht, als bereite ihm allein das Zuhören körperlichen Schmerz.

Auguste machte eine kleine Pause. Die benutzte er schleunigst, auch einmal zu Wort zu kommen.

Es ist gut, beste Amanda, wir sprechen in einigen Tagen wieder darüber.«

»Erstens heiße ich Auguste, Sie verwechseln mich wieder mit einer Ihrer vorigen Haushälterinnen, und zweitens«, sie rang in komischer Verzweiflung die Hände – »du meine Güte, der Herr Professor hat scheinbar wieder einmal kein Wort von dem, was ich gesagt habe, begriffen. In ein paar Tagen darüber sprechen? In vierzehn Tagen ist doch schon der erste Juni. Ich habe ordnungsgemäß am Ersten gekündigt. Nun trifft der Herr Professor keine Anstalten, Ersatz für mich zu suchen.«

Die gute Alte hatte sich ganz in Schweiß geredet. Der Professor strich seufzend über seine Stirne. Seine Nerven litten unter solchen Geräuschen. Jetzt aber schien er doch begriffen zu haben, um was es sich handelte.

»Also Sie wollen fort von uns? Ja, aber beste Auguste, warum denn nur? Gefällt es Ihnen denn so schlecht bei uns?«

»Ach du gütiger Himmel«, jammerte das alte Mädchen. »Jetzt fragt er auch noch warum! Soll ich denn den ganzen Sums noch einmal hersagen? Ich möchte wirklich einmal wissen, wer es hier länger als drei Monate aushält. Alle meine Vorgängerinnen sind in den ersten acht bis zehn Wochen wieder ausgerückt, und ich hab's wahrhaftig auf ein halbes Jahr gebracht, und wenn das Peterle nicht da wär« – nun fing sie tatsächlich an zu schluchzen –, »nur wegen dem unschuldigen armen Lamm, das ohne Mutter aufwachsen tut, hab' ich ausgehalten. Aber nun ist's aus, nun ist's ganz und gar aus. Ich mach einfach nicht mehr mit.«

Große Tränen rollten ihr über die Backen und kullerten an der steifgestärkten Schürze herunter. Der Professor rieb sich verlegen die Hände.

»Aber beste Auguste, das tut mir ja alles unendlich leid, was kann ich denn tun, um Ihnen zu helfen?«

Nun war Auguste an der Reihe, den Kopf zu schütteln. Es war unmöglich, mit dem Mann war nichts anzufangen. – Sie wollte sich gerade erheben, um das Zimmer zu verlassen, als die Türe heftig auf gerissen wurde und ein fünfzehnjähriges, bildhübsches Mädchen hereinstürmte.

»Papa, ich muss auf der Stelle fünf, sechs Mark haben. Morgen macht unsere Klasse einen Schulausflug. Ich will dafür Einkäufe besorgen.«

Professor Brenner griff wortlos in die Schublade seines Schreibtisches, wo er in einer Pappschachtel verschiedene Geldstücke liegen hatte.

Auguste aber erhob Einspruch.

»Franzi, was brauchst du fünf oder sechs Mark? Es ist alles in der Speisekammer, was du nötig hast. Ich packe dir deinen Rucksack voll. Nütze die Gutmütigkeit deines Vaters nicht aus.«

Franziska maß die Haushälterin mit einem herausfordernd hochmütigen Blick.

»Ich wüsste nicht, dass ich mit Ihnen gesprochen hätte. Mischen Sie sich gefälligst nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen.«

Auguste verließ zornig das Zimmer.

»Das ist gewiss, am Ersten geh7 ich.« Wütend schlug sie die Tür hinter sich zu.

Der Professor reichte seiner Tochter das gewünschte Geld und sagte in ängstlich besorgtem Ton: »Fränzi, so solltest du nicht zu der Auguste reden. Sie hat mir soeben gesagt, dass sie fortgehen will, wir müssen die Mädchen auch vernünftig behandeln, sonst bleibt niemand bei uns.«

Das junge Mädchen warf schnippisch den Kopf in den Nacken.

»Lass sie doch gehen, dann kommt eben wieder eine andere.« Und schon war sie draußen, während ihr Vater sich seufzend dem wissenschaftlichen Werk zuwandte.

Auguste hatte wirklich nicht übertrieben. Es sah schlimm aus im Hause des Professors Brenner. Vor fünf Jahren, an dem Tage, als Peter, der herzige, von allen verwöhnte Liebling geboren wurde, war die Mutter, die seelengute, stille und doch stets heitere Mutter gestorben. Mit ihr, so schien es, hatte man alles Licht, alle Wärme, alle Freude, aber auch jegliche Ordnung aus dem Hause getragen. Frau Maria war des Hauses Seele gewesen. Sie hatte die Familie zusammengehalten, den Haushalt mustergültig geführt und den stets zerstreuten, oft recht eigentümlichen Gatten zu nehmen gewusst. Alle hingen mit unbeschreiblicher Liebe an ihr. Der Professor nannte sie seinen guten Engel, ohne den er, trotz seines reichen Wissens, ein unbeholfener Mensch war. Es konnte sich niemand das Dasein ohne die Mutter vorstellen. Und dann kam jener schreckliche Morgen. Paula, das Mädchen, weckte die drei Kinder mit der Nachricht, dass in der Nacht ein Brüderlein angekommen sei und dass sie leise zur Mutter kommen dürften. Daraufhin waren sie natürlich mit Hallo davongestürzt und hatten alle drei hineingeschrien in das verdunkelte Schlafzimmer: »Mama, Mama, wo ist das Brüderlein, das neue Brüderlein?« Aber eine fremde Frau in weißer Schürze und Haube hatte entsetzt die Hände erhoben und dann einen Finger auf den Mund gelegt, während sie auf die Mutter deutete, die totenblass aber freundlich lächelnd im Bette lag. Da waren sie alle ganz still geworden, und Ruth, deren Tränen von jeher locker saßen, hatte angefangen zu weinen, worauf die fremde weiße Frau sie alle drei hinausschob, wie man einen ungezogenen Hund aus dem Zimmer sperrt. So hatte wenigstens Herbert, der ältere, damals gesagt. Daraufhin schlug er vor Wut mit der Faust an die Türe, die die Frau gleich hinter ihnen zugeschlossen hatte, was Fränzi so entrüstete, dass sie auf die Türklinke spuckte. Das Brüderlein hatten sie gar nicht zu sehen bekommen. Am Mittag war plötzlich eine so beängstigende Unruhe im Hause gewesen. Und dann war Mama gestorben.

Die drei hatten es zuerst gar nicht fassen können. Erst als man sie an den blumengeschmückten Sarg führte, in dem die Mutter wie ein schlafender Engel lag, hatten sie die Tragweite des Geschehnisses begriffen. Am Abend hatten sie sich gefürchtet. Alle drei waren in ein Bett gekrochen und hatten flüsternd und schluchzend von ihrer einzigen lieben Mama gesprochen.

»Und ich hab' noch mit der Faust an die Tür geschlagen«, klagte Herbert sich reumütig an, »und du, Franzi, hast sogar auf die Türklinke gespuckt.«

»Aber doch nicht wegen Mama, sondern nur wegen der fremden Frau«, schluchzte diese.

Dann war plötzlich die Türe auf gegangen, und der Vater war hereingekommen. In den Armen hielt er, so ungeschickt wie nur möglich, ein weißes Bündel, auf das er hilflos niedersah. Das war Peterle, das neue Brüderchen. Vater setzte sich auf den Bettrand zu den Kindern, und es schien ihm gar nicht merkwürdig, dass alle drei zusammenlagen. Die Kinder sahen ihn mit großen ängstlichen Augen an. Er aber saß da, das kleine Kind im Arm, und eine Träne nach der andern rollte über das Gesicht und er sagte nichts als das eine: »Nun ist sie tot – nun ist sie tot!«

Die Kinder aber, die ihren Vater nie hatten weinen sehen, begannen alle herzzerbrechend zu schluchzen, selbst das kleine Brüderlein bewies seine Zugehörigkeit zu dieser Trauergemeinde, indem es kläglich zu schreien begann. Dieses jammervolle Weinen aber verwirrte den Professor derartig, dass er das Kleinste zu den andern ins Bett legte. Die Mutter fehlte. Die gute Mutter, die wusste ja immer Rat. Aber nun war sie tot. Seine Maria, seine geliebte Frau, war tot.

Paula, die ihn und das neugeborene Kind suchte, fand ihn zusammengekauert am Totenbett sitzen. Die drei Kinder aber hatten sich in den Schlaf geweint. Eng aneinandergeschmiegt, zwischen sich das Brüderchen, lagen sie da.

Paula nahm behutsam den Kleinen hoch und flüsterte mitleidig: »Ihr armen Kinder, wie wird's euch gehen ohne Mutter?«

Und es ging nicht gut.

Es schien, als ob etwas zerbrochen wäre, was einfach nicht mehr Zusammenhalten wollte. Paula, die viele Jahre im Hause des Professors treue Dienste geleistet hatte, musste plötzlich zu ihren alten Eltern, um die schwerkranke Mutter zu pflegen. Und nun begann der Zerfall der Familie. Wie viele Dienstmädchen und Haushälterinnen waren in diesen fünf Jahren schon dagewesen … Die Kinder zählten sie spaßhalber manchmal an den Fingern auf. »Anna, Trude, Martha, Berta, und so weiter …« Sie blieben nie lange. Vier Kinder, darunter ein ganz Kleines, und so ein grübelnder, nur seiner Wissenschaft lebender Mann, der den praktischen Dingen des Lebens fremd und hilflos gegenüberstand, nein, das passte ihnen nicht. Mit der Zeit war der Haushalt vollständig verwahrlost. Einige untreue Dienstboten eigneten sich aus dem Hausbestand Wäsche oder Silberstücke an, das Haushaltungsgeld wanderte in die eigene Tasche und die Kinder wurden vernachlässigt. Um ihre Erziehung kümmerte sich niemand. So geschah es, dass sie wild und zügellos aufwuchsen. Klagten die Dienstboten dem Vater die Unarten der Kinder, so schlug dieser ganz plötzlich einen energischen Ton an. Er strafte auch hin und wieder einmal. Es war ihm aber zu zeitraubend, sich mit den Streitpunkten und deren Ursachen näher zu befassen, und so mussten alle drei – Peterle war natürlich ausgeschlossen – wahllos herhalten und der Unschuldige mit dem Schuldigen leiden. Mit der Zeit aber wussten die Kinder solchen Strafmaßnahmen aus dem Wege zu gehen.

Jetzt war Herbert ein fast siebzehnjähriger junger Mann, der die Oberschule besuchte. Franziska war ein intelligentes Mädchen, in der Töchterschule eine gelehrige Schülerin, jedoch bekannt als hochmütig und schnippisch. Ruth, jetzt elfjährig, war von jeher kränklich, daher sehr empfindlich und oft launenhaft. Peterle, das Nesthäkchen, wurde als letztes Vermächtnis der verstorbenen Mutter betrachtet und daher von allen verwöhnt. Auguste, die augenblickliche Haushälterin, hatte wirklich versucht, in diesem verwahr- losten Haushalt Ordnung zu schaffen. Sie war eine mütterliche Natur und empfand tiefes Mitleid mit den mutterlosen Kindern. Aber ihre Erfahrungen im Hause des Professors waren so entmutigend, dass sie es einfach nicht länger aus- halten konnte. Ihre Pflichttreue aber verbot ihr, das Haus früher zu verlassen, bis jemand anderes für sie gefunden war. Da die Verhältnisse im Hause des Professors im ganzen Ort bekannt waren, wollte sich niemand bereit erklären, Augustes Nachfolgerin zu werden.

Ein herrlicher Sommertag war's. Über den mit tausend würzigen Alpenblumen bedeckten Bergmatten wölbte sich ein strahlendblauer Himmel. Majestätisch hoben sich die gewaltigen Schneeberge davon ab. In unbeschreiblicher, blendender Reinheit standen Jungfrau, Mönch und Eiger da. Wie klein kam man sich dagegen vor. Leuchtend strahlte das Weiß des ewigen Schnees hinein in die festliche Atmosphäre des Sommertages, und als von Interlaken herauf die Glocken den Sonntag einläuteten, da war es, als wenn alles Sichtbare sich die Hand gereicht hätte zu einem Bund ewiger Harmonie. Es war überwältigend!

Das rege Leben in den Hotels und Pensionen, die um diese Jahreszeit von Sommergästen überfüllt waren, hatte noch nicht begonnen. Die meisten der Fremden liebten es, lange zu schlafen. Ihr Tag begann erst kurz vor Mittag. Unter den wenigen Fußgängern, die an diesem Morgen das Straßenbild belebten, fiel ein ungleiches Paar auf. Ein älterer Herr und eine jüngere Dame. Der Herr trug den Hut in der Hand, so dass der leichte Wind mit seinem vollen weißen Haar spielte. Hinter der Hornbrille blickten ein paar kluge und doch ungemein gütige Augen forschend umher. Er stützte sich leicht auf seinen Bergstock, aber sein Gang war trotz seines Alters noch fest und sicher. Seine Begleiterin mochte etwa dreißig Jahre alt sein. Ihr schlicht gekämmtes blondes Haar war zu einem vollen Knoten am Hinterkopf aufgesteckt. Über einem grauen Wollrock trug sie eine gestickte Bluse.

Man hätte die beiden unbedingt für Vater und Tochter halten können, aber soeben wandte sich die Dame ihrem Begleiter zu: »Onkel, wird dir der Weg nicht zu weit sein? Ich fürchte, du mutest dir in diesen Tagen zu viel zu.«

Der alte Herr hob in humorvoller Weise drohend den Stock. »Ich muss doch sehr bitten, du tust gerade, als sei ich ein ausgemergelter, alter Knopf. Wer hat denn kürzlich bei unserer Tour auf den Harder schlapp gemacht? Du oder ich?«

»Ach Onkel«, erwiderte die Nichte lachend, »das muss ich noch oft hören. Dabei war es das erste Mal, dass es mir ein wenig übel wurde bei einer Tour, und das hatte ja auch seinen Grund. Ich hatte am Morgen kaum etwas gegessen. Das hat sich dann gerächt.«

»Nun gut«, sagte der alte Herr, »wir wollen sehen, wer von uns beiden heute am meisten Ausdauer hat.«

Sie stiegen tapfer drauflos. Ringgenberg, ein freundliches Dörfchen, war ihr Ziel. – Pfarrer Winter war ein großer Naturfreund, der am liebsten jeden Tag eine Tour gemacht hätte. Seine Gattin, die kränklich war, konnte ihn bei seinen Ausflügen nicht begleiten, hatte aber eine ausgezeichnete Vertretung in ihrer Nichte, Henriette Brenner. Während Frau Winter, wohlversorgt von der Pensionsmutter, zu Hause blieb, zogen die beiden auf ihre Forschungsreisen, wie sie ihre Touren nannten, von denen sie gewöhnlich die Arme voller Blumen heimbrachten. Die Hochmatten mit ihrer Fülle von Alpenrosen, Enzian, Bärentölpli, und wie die Blumen sonst noch heißen, waren aber auch märchenhaft schön. Die beiden Touristen vermochten sich kaum loszureißen von der stillen Schönheit dieser Bergwelt, –

Mit gefalteten Händen stand der alte Pfarrer oft zwischen all den Tausenden duftender Blumen und schaute mit glänzenden Augen hinauf zu den gewaltigen Bergen. »Und da gibt es Menschen, die an dem Dasein Gottes zweifeln!« – Henriette störte ihn nicht in solchem Selbstgespräch. Auch ihr Herz war feierlich gestimmt und beugte sich in schweigender Ehrfurcht vor der unfasslichen Schöpfermacht Gottes. Einmal hatten sie sogar Edelweiß mit nach Hause gebracht. Die Schilderungen ihrer Touren waren so lebhaft, dass die Pfarrfrau meinte, sie mit ihnen zu erleben und sich herzlich daran erfreute.

Auch heute, an diesem leuchtenden Sonntagmorgen, gingen die beiden Wanderer vollständig auf in der Schönheit rings um sie her. Beide Hände hatte Henriette schon gefüllt mit tiefblauem Enzian und strahlendgoldenen Trollblumen, und noch immer schien es ihr nicht zu reichen. Sie wandte sich an den alten Herrn an ihrer Seite.

»Komm, Onkel, du musst den Strauß tragen, ich pflücke dann noch einen. Wir wollen doch der Tante soviel wie möglich von der würzigen Alpenschönheit bringen.«

Spät am Mittag kehrten sie heim, sonnenverbrannt und blumengeschmückt.

»Tante, sieh nur diese Pracht«, rief Henriette begeistert der alten Dame entgegen. »Dein ganzes Zimmer wird gleich blühen und duften.« Und sie schüttete der alten Dame die bunte Gabe in den Schoß.

»Ich danke dir, sieh, hier habe ich auch etwas für dich.«

Henriette griff nach dem Brief, der nebenan auf dem Tische lag und ihre Adresse trug. Er war an das Pfarrhaus im Erzgebirge, wo Pfarrer Winters Wirkungskreis war, gesandt und hierher nachgeschickt worden.

Henriette öffnete den Umschlag und blickte erstaunt und gleichzeitig belustigt auf den Brief. Der Schreiber mochte selten eine Feder zur Hand nehmen. – Sie las laut vor:

»Güntherstal bei Freiburg Wertes Fräulein Brenner!

Jetzt weiß ich mir wirklich keinen Rat mehr. Die Kinder können auf keinen Fall allein bleiben. Besonders nicht das kleine unschuldige Lamm. Ich bleibe solange, bis Sie kommen. Es muss jemand den Haushalt übernehmen, der was davon versteht. Und nach vielem Fragen habe ich herausgekriegt, dass der Professor eine Schwester hat, das müssen Sie wohl sein. Bitte packen Sie gleich Ihre Koffer. Sie werden nötig gebraucht.

Mit bestem Gruß Auguste Schmalzbach.«

Henriette blickte fragend auf Tante und Onkel. »Das muss die Haushälterin meines Bruders geschrieben haben.«

»Und was gedenkst du zu tun?« fragte der Onkel.

»Das möchte ich euch fragen?« antwortete die Nichte.

Nun polterte der alte Herr los. »Ich will dir mal was sagen, Henni, diese Auguste Schmalztopf oder Schmalzbach, wie sie heißt, scheint sich einzubilden, dass du nur so hergepfiffen werden kannst. Das wäre ja noch schöner, mitten aus unserem Ferienaufenthalt heraus. Wer soll denn da mit mir auf die Berge steigen – und – und –« Pfarrer Winter war ganz in Erregung gekommen und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wer weiß, ob dein Bruder, der Paul, überhaupt von diesem Brief eine Ahnung hat. Seit Jahren hat der würdige Herr Professor nichts von sich hören lassen, und nun soll seine kleine Schwester plötzlich ihren Pflichtenkreis verlassen und –«

»Lass es vorerst einmal gut sein, Vater«, unterbrach ihn jetzt seine Gattin, »Henni ist alt genug, um zu wissen, was sie tun muss.« Und zu ihrer Nichte gewandt fuhr sie fort: »Was sagt dir dein Herz, mein Kind?«

Henriette Brenner stand noch immer auf demselben Fleck, den Blick auf den Brief in ihrer Hand gerichtet.

»Sie werden nötig gebraucht«, las sie jetzt noch einmal halblaut vor. »Ich meine, das ist ausschlaggebend.«

»Ja, wirst du vielleicht hier nicht nötig gebraucht?« fuhr der Onkel auf.

Da sah ihn seine Frau ernst an. »Vater, ich dächte, ein mutterloser Haushalt ist etwas anderes als zwei alte Leute, denen es verhältnismäßig gut geht. Du weißt, wie sehr ich Henni vermissen werde, wenn sie für einige Wochen fort ist. Es handelt sich selbstverständlich nur um eine kurze Zeit, bis Paul wieder einen zuverlässigen Menschen für die Kinder hat. Eine Frau empfindet da eben doch anders als ihr Männer, aber ich meine, du, Vater, solltest das doch begreifen.«

»Und ich meine«, sagte schon halb versöhnt und lächelnd ihr Gatte, »dass du besser zu einem Pfarrer gepasst hättest als ich. Deine Predigten sind wundervoll. Im Ernst, Frauchen, du hast recht, ich bin ein ekelhafter, alter Egoist, der nur an sich selbst denkt.«

Über Henriettes Züge ging ein warmer Schein. »Ach, Onkel«, sagte sie, »ich kenne doch dein gutes Herz.« Sie legte den Arm um seine Schulter. »Denk doch, die armen Kinder, so unversorgt ohne Mutter. Wie wäre es denn mir ergangen, wenn ihr mich nicht zu euch genommen hättet, damals, als Mutter starb. Wie wohl tat mir, der Zehnjährigen, eure Liebe.«

Die Augen der Tante schimmerten feucht. »Und wie glücklich waren wir, die Kinderlosen, über unser Töchterlein.«

Henriette küsste die Tante zärtlich.

»Ich fahre, wenn es euch recht ist, morgen früh. Wer weiß, wie sich die armen Kleinen nach jemand sehnen, der ein wenig lieb zu ihnen ist.«

»Gib aber nicht alles weg, bring auch noch ein wenig Liebe mit zurück«, neckte der Onkel. »Im übrigen kann ich mir nicht recht denken, dass die Kinder deines Bruders noch alle klein sind. Sind es nicht schon drei oder vier Jahre her, dass seine Frau starb? Acht oder neun Jahre wird das älteste gewiss schon sein.«

»Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich es tatsächlich nicht weiß. Als Maria starb, war ich im Ausland, und Paul hat ja in all den Jahren nie einen Briefwechsel gepflegt. Zwei oder drei Briefe, die ich schrieb, blieben unbeantwortet. Dann schrieb auch ich nicht mehr. Vielleicht war das nicht recht von mir. Ich hätte die Verbindung pflegen müssen. Na, ich werde ja morgen sehen.«

»Und ich«, sagte der Onkel, »werde dir einen guten Zug aussuchen und ein Telegramm an deinen Bruder aufgeben.«

Henriette ging auf ihr Zimmer, um ihren Koffer zu packen. Die Tante sah ihr liebevoll nach.

»Gutes Kind, sie hat das Herz auf dem rechten Fleck.«

An diesem Abend lag Henriette noch lange schlaflos. Mancherlei Bilder zogen an ihrem Geiste vorüber. Sie war als Nachkömmling geboren und hatte ihren fast fünfzehn Jahre älteren Bruder nur besuchsweise gesehen. Er wurde damals in einem Institut erzogen. Sie ging noch nicht zur Schule, als der Vater starb. Vier Jahre später begrub man auch die Mutter. Der einzige Bruder stand damals mitten in seinen Studien und konnte sich der kleinen Schwester nicht annehmen. Sie war aber keinesfalls heimatlos, denn im Pfarrhause bei Onkel und Tante Winter erwartete man die kleine Henni mit großer Freude. Ein Stücklein Paradies war der prächtige Garten beim Pfarrhaus im Erzgebirge, und Henriette verlebte eine reiche, schöne Jugend bei den Verwandten. Aus der Schule entlassen, hatte sie sich entschlossen, Erzieherin zu werden, und die Pflegeeltern hatten für eine vorzügliche Ausbildung gesorgt. Einige Jahre weilte sie im Ausland, in einer deutschen Familie, wo sie die Erziehung der einzigen Tochter übernahm. Als Tante Winter aber kränklich wurde, bat sie Henriette, zurückzukommen. So lebte sie bei dem alten Paar und war gehalten wie das eigene Kind. Aber bei all dem Schönen bewegte sie oft die Frage nach ihrem tiefen eigentlichen Lebenszweck in ihrem Herzen. »Ich habe es so gut bei meinen Angehörigen«, sagte sie sich, »aber sollte ich nicht auch noch andere Aufgaben zu erfüllen haben?« Mit dreiundzwanzig Jahren hatte sie sich mit einem Missionar verlobt. Kurz vor der Hochzeit starb dieser ganz plötzlich. Unsagbar hatte sie darunter gelitten. Je älter sie wurde, desto mehr sehnte sie sich nach einer befriedigenden Lebensaufgabe, damit sie diesen tiefen Schmerz, der immer wieder brennend heiß in ihr aufstieg, vergessen könne.

Onkel und Tante Winter unternahmen jedes Jahr mit ihr eine Ferienreise. Wie viele schöne Plätze hatten sie nun schon gemeinsam aufgesucht. An der Nord- und Ostsee, im Harz, im Schwarzwald und in Österreich waren sie gewesen, und in diesem Jahr war eine Schweizerreise geplant worden. – Wie hatte Henriette all die Schönheit genossen. In stummer Anbetung hatte sie vor den gewaltigen Schneebergen gestanden. Wie groß, wie überwältigend war das! Eigentlich war es schade, dass sie jetzt mittendrin abbrechen musste. Tatsächlich, sie brachte ein Opfer. Aber nein, sie wollte nicht an sich denken. Da wartete eine Schar Kinder auf sie, mutterlose Kinder, die sich nach Liebe sehnten. Im Geiste sah sie sich umringt von drei, vier Lockenköpfchen. In all den Jahren hatte sie ihren Bruder nur einige Male ganz flüchtig gesehen. Bei einem Familienfest war sie auch mit seiner Frau bekannt geworden und hatte sich sehr zu ihr hingezogen gefühlt. Man war jedoch durch die Verhältnisse immer weiter auseinander gekommen. Die Kinder kannte sie überhaupt nicht. Aber jetzt freute sie sich auf sie.

Endlich schlief Henriette ein.

»Was sagt ihr nun dazu?« Franziska Brenner saß, mit den hängenden Füßen wippend, auf dem Tisch in Herberts Zimmer, während ihre Schwester Ruth sich auf das Bett des Bruders geworfen hatte, nicht im geringsten darauf achtend, dass ihre Schuhsohlen allerlei Abdrücke auf dem Federbett hinterließen. Herbert stand am Fenster und rauchte eine Zigarette. Peterle aber war dabei, sich vor dem Spiegel den Inhalt einer Zahnpastatube auf die Locken zu streichen.

»Was soll man dazu sagen?« erwiderte Herbert gedehnt. »Jemand muss ja schließlich den Haushalt führen, und wenn die Dienstboten nicht aushalten, dann ist's wahrscheinlich das beste, wenn eine Verwandte ins Haus kommt.«

»Die soll sich nur nicht einbilden, dass sie hier zu bestimmen hat«, sagte Franziska, »ich bin kein kleines Kind mehr und lasse mir nichts von ihr gefallen.«

Ruth richtete sich ein wenig auf. »Ich aber auch nicht. Ha, so dumm.«

»Wie alt ist sie denn?« interessierte sich Herbert.

Franziska hob geringschätzig die Schultern. »Wer soll das wissen? Aus Papa wird kein Mensch schlau, ich habe schon versucht, ihn auszufragen. Er scheint sie ja kaum zu kennen. Sie wird eine richtige alte Schraube sein. Wenn sie was Gescheites wäre, hätte sie wohl auch einen Mann bekommen. Das ist schon maßgebend.«

»Dann sorge du nur, dass du nicht auch einmal eine alte Jungfer wirst«, spottete der galante Bruder.

Franziska aber blieb ihm keine Antwort schuldig. »Sei unbesorgt, das ist schließlich meine Angelegenheit, wenn ich auch nicht so frühzeitig auf Brautschau gehe wie du.« Ein vielsagender Blick traf den nun doch errötenden Bruder.

»Du, sei nicht anzüglich, sonst könntest du ein wenig plötzlich mein Zimmer verlassen müssen.«

In diesem Augenblick hatte Ruth die Tätigkeit des kleinen Bruders entdeckt. Schreiend sprang sie auf. »Der Peter, der Peter!«

Der Kleine stand da und klebte buchstäblich voll Zahnpasta. Herbert blieb gelassen am Fenster stehen.

»Für den Kleinen ist es auf jeden Fall höchste Zeit, dass eine vernünftige Person ins Haus kommt. Der geht direkt hier zugrunde. Du«, er wandte sich an Franziska, »kümmerst dich auch kein bisschen um das Kind.«

Die Schwester, in ihrer Ehre schwer gekränkt, sprang mit einem Satz vom Tisch herunter und schrie ihn an: »Kümmerst du dich vielleicht um ihn, du blöder Mensch?«

»Ich bin auch kein Mädchen – aber jetzt, mein Fräulein, verschwindest du auf der Stelle.« Er trat ihr drohend einen Schritt näher.

Franziska aber setzte ihre hochmütigste Miene auf und verließ das Zimmer. »Grober Flegel!« rief sie ihm über die Schulter zu.

Ruth hatte inzwischen versucht, den kleinen Bruder notdürftig zu reinigen. Der empfand es unbehaglich und begann jammervoll zu schreien. Das wurde dem älteren nun doch zu bunt. Er öffnete die Türe und rief in befehlerischem Ton: »Auguste, holen Sie den Peter!«

Das alte Mädchen war gerade am Backen und kam mit hochrotem Kopf vom Backofen aus der Küche gestürzt. Sie nahm den weinenden, verklebten Kleinen auf den Arm. »Was haben sie wieder mit dir gemacht, du armes Herzchen? Komm, die Auguste macht dich sauber«, und behutsam trug sie ihn in die Küche.