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Kurz vor ihrem 16. Geburtstag hat Amélie einiges zu tun: Das letzte Schuljahr in der Unterstufe gut abschließen, einen Nebenjob finden, Umzugskisten packen. Ihre Mutter und deren Freund wollen endlich zusammenziehen und haben ein Haus gekauft. Doch Amélie fällt der Abschied schwer. Außerdem steht ein Campingurlaub mit ihren Großeltern an. Camping! Gefährliche Tiere, keine Internetverbindung, riesige Spinnen ... Immerhin entkommt sie so für einige Zeit dem neuen Haus, in dem sie eigentlich gar nicht leben möchte. Und hübsche Jungs gibt es auf dem Campingplatz auch. Wenn nur nicht immer noch Nicolas durch ihre Gedanken spuken würde ...
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Seitenzahl: 334
Aus dem Französischen übertragen von Maren Illinger
KOSMOS
Umschlagillustration: Carolin Liepins, München
Innenillustration: Josée Tellier, Montreal
Umschlaggestaltung von init. büro für Gestaltung, Bielefeld
Titel der französischen Originalausgabe:
Le journal d'Aurélie Laflamme, Ҫa déménage
© 2009 Les Éditions des Intouchables, Montreal, Quebec, Kanada
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15010-8
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für meine Großväter, die mir ein Vermächtnis des Herzens hinterlassen haben.
Ganz ruhig. Keine Panik. So spät bin ich gar nicht. Und es ist schließlich nicht meine Schuld, wenn mein Wecker so unglaublich leise klingelt, dass ich ihn nicht höre. O.k., ich geb’s zu, die Lautstärke ist normal. Aber anscheinend habe ich mich mit der Zeit an sein Klingeln gewöhnt und jetzt weckt er mich, äh, weniger. Vor allem am Wochenende. Mein Körper ist darauf konditioniert, am Wochenende zu schlafen. Und wenn mein Wecker am Wochenende zu einer unmenschlichen Uhrzeit klingelt (also viel zu früh, so wie heute), denkt mein Körper trotz des anhaltenden Piepens, dass er weiterschlafen kann (das liegt an einer bestimmten Art der Intelligenz, die man, glaube ich, physisch nennt – noch mal im medizinischen Lexikon nachschlagen …).
Unter anderen Umständen wäre es von Vorteil, dass mein Körper den Wecker einfach ignoriert. Immerhin ist das eine Reaktion, die er durch jahrelanges Training entwickelt hat. Zum Beispiel an Tagen, an denen ich den Wecker versehentlich gestellt hatte, obwohl gar keine Schule war. Aber heute darf ich auf keinen Fall zu spät kommen.
Ein Glück, dass es Sybil gibt! Ich habe es nur meiner Katze zu verdanken, dass ich doch noch aufgewacht bin. Sie hat mein Gesicht mit Küsschen bedeckt und mich so aus dem Tiefschlaf geholt, in dem ich träumte, dass mein Wecker klingelte und ich mich total ärgerte (jaja, ich weiß, mein Gehirn ist nicht gerade originell).
Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch. Für einen Job. (Und nicht etwa für ein Hollywoodcasting, da ich leider kein Filmstar bin.)
Nicht dass ich so scharf darauf wäre, zu arbeiten. Meine Mutter hat mich gezwungen.
Im Großen und Ganzen hatte sie das gleiche Argument wie immer: Ich soll mehr Verantwortungsgefühl entwickeln. (Das Argument ist langsam überstrapaziert. Neulich ist sie mir sogar damit gekommen, als ich den Küchenschrank offen ließ, nachdem ich meine Cornflakes rausgeholt hatte … tsss). Es folgte ein großer Krach mit Türenknallen, Versöhnung und meinem Versprechen, dass ich versuchen würde, mir einen Job zu suchen. (Meine Mutter gewinnt einfach immer, weil sie eine erstklassige Manipulatorin ist. Und da sie im Marketing arbeitet, schafft sie es jedes Mal, mir irgendwelche Vorteile vorzuspiegeln. In diesem Fall hat sie behauptet, dass ein Job mich unabhängiger machen würde und ich mir endlich die Sachen kaufen könnte, die ich unbedingt haben will, die sie aber überflüssig findet, zum Beispiel den Rock von Volcom, in den ich mich neulich verliebt habe.)
Und heute habe ich um 9:45 ein Vorstellungsgespräch in einem Sandwichrestaurant.
Wenn ich in einem Sandwichrestaurant arbeite, könnte das der neue Treffpunkt meiner Clique werden. Meine Freunde könnten vorbeikommen und, na ja, Sandwiches essen und mich unterhalten, während ich die Theke putze oder so. Mein Chef würde es bestimmt super finden, dass ich neue Kundschaft anwerbe.
Meine beste Freundin Kat würde mich oft besuchen. Sie würde mich beim Schuften anfeuern und mir den neuesten Klatsch erzählen. Ihr Freund Jean-Félix würde nach seinem Karatetraining dazustoßen. Sie würde ihn wegen seines Karateanzugs auslachen und dann würden sie sich an einen Tisch in einer Ecke verziehen, um zu schmusen. (Bäääääh! Schmusen, was für ein ekliges Wort! Aber so nennt man das wohl, wenn Verliebte aneinanderkleben und die Pfoten nicht voneinander lassen können.) Und dann würde noch Tommy kommen, mein zukünftiger Ex-Nachbar-und-bester-Kumpel, ich würde mit dem Kinn auf Kat und Jean-Félix zeigen und wir würden kichern und uns hinter ihrem Rücken über sie lustig machen.
Was für ein herrliches Leben!
Dieser Job wäre echt perfekt für mich!
Vermerk an mich selbst: Diese Begründung lieber nicht im Vorstellungsgespräch bringen.
Schnell, schnell! Jacke an und los!
Offen gestanden hilft mir die Suche nach einem Job dabei, mich von einem »Ereignis« abzulenken, das mir gerade ganz schön zu schaffen macht: unser Umzug. Das neue Haus ist ein paar Straßen von unserem alten entfernt, pfff! Meine Mutter will mit ihrem Freund François zusammenziehen und sie glaubt, wenn sie weiter in dem Haus wohnt, in dem sie mit meinem verstorbenen Vater gelebt hat, könne sie sich nicht auf die neue Beziehung einlassen. Sie sagt, sie lebe mit einem Gespenst zusammen (metaphorisch gesprochen). Ich finde ja, dass sie total übertreibt! Ich komme schließlich auch damit klar. Und ich zwinge niemanden zum Umzug. (Hm, stimmt nicht ganz … ich habe zumindest einmal versucht, meine Mutter zum Umzug zu bewegen, als ich mir in der Schule eine megapeinliche Aktion geleistet hatte. Welche? Keine Ahnung, das passiert mir einfach zu oft! Aber ich habe mich jedenfalls nicht so angestellt wie sie! Und ich habe ihre Entscheidung gegen einen Umzug respektiert, weil es keine gute Idee war, sondern eine überstürzte Fluchtreaktion, genau wie diese Schnapsidee meiner Mutter, ein neues Haus zu kaufen!)
Ich hatte mir schon eine Lösung überlegt: einfach zu meiner Großmutter Laflamme zu ziehen, der Mutter meines Vaters. Da würde ich wenigstens an einem Ort leben, der mir vertraut ist, an dem ich mich wohlfühle und an dem früher auch mein Vater gelebt hat. Aber diese Lösung hat weder Tommy noch Kat gefallen. Und wenn ich drüber nachdenke, glaube ich auch, dass ich meinen Abschluss lieber auf der Schule machen will, auf der ich jetzt bin. Ich musste schon letztes Jahr die Schule wechseln, das hat gereicht. Zu viele Veränderungen sind anstrengend …
Denn wenigstens hat meine Mutter bei ihren Umzugsplänen genug, äh, Feingefühl bewiesen, ein Haus im gleichen Viertel zu suchen, damit ich nicht noch mal die Schule wechseln muss.
Ich habe das Haus gesehen, für das sie sich entschieden haben, François und sie. Immerhin haben sie es mir gezeigt, bevor sie es gekauft haben (wie großzügig!). Es ist ganz in Ordnung, mehr aber auch nicht. Die Farben gefallen mir nicht besonders. Meine Mutter meint, dass sie noch streichen wollen. Hmpf. Gut geschnitten ist es auch nicht. Jeder Wohnexperte würde bestätigen, dass die Zimmer nicht nach dem Feng-Shui-Prinzip angeordnet sind. Ich kenne mich damit zwar nicht aus, aber ich habe ein angeborenes Gespür dafür. (Es wurde zwar noch nicht wissenschaftlich bewiesen, aber ich fühle einfach, dass mein Instinkt auf diesem Gebiet sehr ausgeprägt ist. Wenn ich im Wartezimmer beim Zahnarzt Wohnzeitschriften lese, weil es keine anderen Zeitschriften gibt, habe ich immer total gute Ideen und das ist ja wohl der Beweis.) Das Haus ist also wirklich nicht mein Fall und ich glaube nicht, dass es Feng-Shui-verträglich ist. Das habe ich meiner Mutter auch gesagt und die meinte, wenn ich helfen wolle, das Haus nach Feng Shui einzurichten, könne ich das gerne tun. Ich habe ihr erklärt, soweit ich (instinktiv) wisse, würde es viel zu viel Arbeit erfordern, das Haus harmonisch umzugestalten. Meine Mutter hat gefragt: »Seit wann interessierst du dich für Feng Shui?«
Darauf ich: »Ich studiere seit Jahren die Wohnzeitschriften beim Zahnarzt! Ich habe mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, o.k.?!«
Aber da meine Sachkenntnis dann doch eher begrenzt war und meine Einwände keinen »triftigen Grund« darstellten, das Haus nicht zu kaufen, hat meine Mutter beschlossen, nicht auf meinen Rat zu hören.
François hat vorgeschlagen, das Haus von einem Feng-Shui-Meister untersuchen zu lassen, wenn es mir so wichtig sei. Ich habe gesagt: »Glaubt ihr mir etwa nicht oder was?!?!?!«
François: »Doch, natürlich. Deshalb sind wir ja auch bereit, einen Spezialisten zu Rate zu ziehen.«
Meine Mutter: »Da du dich so für das Thema interessierst, könnten wir ihm das ganze Haus zeigen. Eine Kollegin von mir hat einen Feng-Shui-Experten engagiert und sie war sehr zufrieden.«
François: »Monique?«
Meine Mutter: »Nein! Eine Kollegin bei meiner neuen Arbeit.«
Und dann drehte sich das Gespräch nur noch um die Arbeit und darum, dass François sich wünscht, dass meine Mutter wieder zurück in seine Firma kommt, dass er ihr Gehalt erhöhen würde und dass sie das gut für die Hypothek gebrauchen könnte und so weiter. Sie gackerten rum wie Kindergartenkinder und mir wurde plötzlich ganz schwindlig und ich verließ das Zimmer (das definitiv nicht Feng Shui war).
Als sie zusammengekommen sind, war François noch der Chef meiner Mutter. Dann haben sie sich getrennt, aber sie haben sich wieder versöhnt (dank mir, aber wenn ich das mit dem Umzug geahnt hätte, hätte ich mich da rausgehalten!) und meine Mutter hat beschlossen, sich einen neuen Job zu suchen, weil sie nicht immer bloß »die Freundin vom Chef« sein wollte.
Ich glaube, dieser Jobwechsel hat sie auf die Idee gebracht, dass ich mir auch einen Job suchen sollte. Sie kommt immer ganz energiegeladen und motiviert von der Arbeit nach Hause (behauptet sie zumindest). Und da dachte sie sich, ein Job würde mir auch guttun. Das Problem bei meiner Mutter ist, dass sie immer glaubt, das, was sie glücklich macht, müsse auch mich glücklich machen. FALSCH! Der Beweis: Putzen macht sie glücklich, mich aber nicht. Wir haben einfach ganz unterschiedliche Interessen, nur leider ist diese Tatsache noch nicht in ihrem Gehirn angekommen.
Kurz gesagt, wenn ich mich nicht in das Leben meiner Mutter eingemischt und dafür gesorgt hätte, dass sie sich wieder mit François versöhnt, müsste ich jetzt nicht in ein Haus ziehen, das die Feng-Shui-Regeln total missachtet und ich hätte heute Morgen ausschlafen können, weil sie mich nicht dazu gezwungen hätte, mir einen Job zu suchen! Das hat man nun davon!
Pfff! Meine eventuellen zukünftigen Arbeitgeber sind nicht gerade pünktlich. Sie bestellen mich zu einer unmenschlichen Zeit zum Vorstellungsgespräch und dann kommen sie selbst zu spät. Für wen halten die sich? Erst zwingen sie mich dazu, mitten in der Nacht aufzustehen, und dann lassen sie mich auch noch warten!
Die anderen Bewerber und ich mustern uns und lächeln uns schüchtern an. Ich frage mich, ob sie sich fragen, genau wie ich mich frage, ob sie genommen werden. Wenn wir alle um denselben Job konkurrieren, sollten wir uns dann verbünden?
Das Mädchen neben mir wippt so heftig mit dem Bein, dass mein Stuhl wackelt, und das ist, ich kann’s nicht anders sagen, wahnsinnig nervig.
Ich habe dem Mädchen, das mit dem Bein wippt, einen Seitenblick zugeworfen. Ich hoffe, sie hat kapiert, dass er genau Folgendes bedeutet: »Hör sofort auf, mit dem Bein zu wippen!«
Offensichtlich hatte sie meinen Blick nicht verstanden. Ob sie beleidigt ist, wenn ich mich umsetze? Sie soll auf keinen Fall denken, dass sie stinkt oder so. Es wäre ja blöd, wenn sie glaubt, dass ihr Geruch mich vertrieben hat und nicht ihre extreme Nervosität.
Mir ist gerade aufgefallen, dass ich selbst mit dem Bein wippe.
Vermerk an mich selbst: Übermäßiges Mitgefühl vermeiden.
Ich zucke zusammen, als jemand in der Uniform des Restaurants meinen Namen aufruft (nicht wegen der Uniform, sondern weil ich mit den Gedanken gerade ganz woanders war). Ein großer Typ, der unter seiner Kappe rothaarig zu sein scheint, bittet mich, ihm zu folgen, und führt mich in das Büro des Geschäftsführers.
Ich habe es genau so gemacht, wie meine Mutter mir geraten hat. Ich habe dem Chef in die Augen gesehen und fest seine Hand geschüttelt. Er heißt Monsieur Lalonde. Er trägt einen Anzug. Außerdem ist noch eine junge Frau dabei, Sandra Dunkan, die ebenfalls die Uniform des Restaurants trägt und einen englischen Akzent hat.
Monsieur Lalonde überfliegt meine Bewerbung und sagt: »Ich muss gestehen, dass uns deine Angaben etwas … überrascht haben. Ich frage mich, welchen Vorteil deine ›Angewohnheit, Büroklammern zu verbiegen‹ für deine Arbeit bei uns hätte?«
Ich sehe ihn an. Ist er ein Mensch mit trockenem Humor? Sollte ich lachen (falls es ein Witz war) oder mich rechtfertigen (falls es ein Vorwurf war)?
Hm. Ich muss dazu sagen, dass ich vorher noch nie einen Bewerbungsfragebogen ausgefüllt habe. Und weil die Rubrik »Weitere wissenswerte Informationen über Sie« mindestens dreißig Zeilen hatte, habe ich die Gelegenheit zu einer kleinen Selbstanalyse/Bestandsaufnahme genutzt und alle möglichen ungewöhnlichen Informationen über mich aufgeschrieben, wie in den Steckbriefen der Stars in der Miss. Ich dachte, die Rubrik sollte dabei helfen, die Bewerber besser einzuschätzen.
Also habe ich dort alles Wissenswerte über mich aufgelistet:
Ich mag den Geruch von Kaminfeuer (aber ich mag nicht den Geruch, der danach an meiner Kleidung hängt).
Ich hasse es, mich im Winter draußen zu unterhalten, wenn mir der Mund einfriert und ich nicht mehr richtig sprechen kann.
Ich schlurfe im Herbst gerne mit den Füßen durchs Laub (aber im Frühling schlurfe ich nicht gerne, weil dann überall Schneepfützen sind und die Hosenbeine nass werden).
Ich hasse den Teergeruch im Sommer, wenn die Dächer neu gedeckt werden.
Ich hasse es, auf Kaugummi zu treten.
Ich habe die Angewohnheit, Büroklammern zu verbiegen, sobald mir eine zwischen die Finger kommt. (Sein Beispiel.)
Ich schaue mir gerne zehntausend Mal denselben Film an (nur wenn ich ihn mag, andernfalls wäre das echt masochistisch, was ich nicht bin).
Ich mag keine Idioten, die ihren Müll einfach auf die Straße werfen.
Ich mag Eichhörnchen nicht besonders (weil ich immer das Gefühl habe, dass sie mich angreifen wollen) und Vögel auch nicht (weil sie im Vorbeifliegen gerne auf mich kacken). Kurz gesagt, ich mag überhaupt keine Tiere, die mich vollkacken könnten.
Ich höre gerne Musik und lese gerne Zeitschriften.
Ich lese gerne die Danksagungen und die Texte in den Booklets von CDs.
Ich mag es nicht, wenn der Friseur mir die Haare zu kurz schneidet.
Ich hasse es, mich an einem Blatt Papier zu schneiden (ich finde, diese Art der Verletzung beleidigt die Intelligenz).
Ich knacke gerne die Luftkammern von Luftpolsterfolie.
Ich sehe Monsieur Lalonde an und sage: »Die Angewohnheit mit den Büroklammern wird meine Arbeit hier nicht beeinflussen. Das ist eher … eine Freizeitbeschäftigung.«
Monsieur Lalonde grinst ein bisschen, schaut weiter auf meinen Fragebogen und sagt: »Du magst Musik … aber du würdest doch nicht bei der Arbeit Musik auf dem iPod hören, oder?«
Ich: »Nein.«
Sandra, die ein bisschen skeptisch wirkt, wirft ein: »Wir hatten schon viele Angestellte, die bei der Arbeit Musik gehört haben.«
Ich: »Echt? Das ist ja unhöflich.«
Sie scheint mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Uff. Ich muss zugeben, dass ich immer nervöser werde. Ich hätte das nicht alles schreiben sollen. (Ich glaube, ich wollte meine eigene Bewerbung sabotieren … aber zu dem Zeitpunkt habe ich ja auch noch nicht davon geträumt, dass der Sandwichladen zum Treffpunkt meiner Clique werden würde!) Ich spüre den Schweiß unter den Achseln. Ich hoffe, ich habe Deo genommen. Ich glaube nicht, weil ich es so eilig hatte … O nein!!!
Monsieur Lalonde: »Du musst wissen, dass immer viele Vögel an unsere Mülltonnen gehen, und es wird deine Aufgabe sein, den Müll rauszubringen.«
Ich: »Ich dachte, es geht darum, Sandwiches zu machen?!«
Monsieur Lalonde: »Ja, aber du musst auch die Küche putzen, den Tresen reinigen, das Besteck sortieren, das Brot rösten und den Müll rausbringen.«
Ich: »Ich … ach, so schlimm finde ich Vögel gar nicht.« (Falsch. Aber ich habe gehört, dass man in Bewerbungsgesprächen manchmal lügen muss.)
Monsieur Lalonde: »Und das Putzen?«
Ich: »Äh … Putzen … hat mich noch nie gestört …«
Monsieur Lalonde: »Stimmt es wirklich, dass du eine …« (Er blickt auf meine Bewerbung.) »… ›ausgeprägte‹ Leidenschaft für Sandwiches hast?«
Er bezieht sich auf die Frage: »Warum möchten Sie für unsere Firma arbeiten?« Ich wollte natürlich nicht antworten »Weil meine Mutter mich dazu zwingt« oder »Um mein Taschengeld aufzubessern«, das klang nicht sehr überzeugend.
Also habe ich geschrieben: »Seit meiner frühesten Kindheit bin ich fasziniert von Sandwiches. Ich habe schon alle möglichen Sorten probiert. Um ehrlich zu sein, habe ich eine ausgeprägte Leidenschaft für Sandwiches. Es ist mein großer Traum, in der Sandwich-Gastronomie zu arbeiten. Deshalb bin ich auch so begeistert von Ihrem Jobangebot.«
WAS HÄTTE ICH DENN SONST SCHREIBEN SOLLEN?????!!!!!
Ich liiiiieeebe Sandwiches! Das stimmt jedenfalls. Und alle sagen, dass man in Bewerbungsschreiben ein bisschen übertreiben soll. O.k., ich habe vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragen und es ist nicht wirklich mein Traum, Sandwiches zu machen, aber ich dachte, es wäre zumindest möglich, dass ein Mädchen in meinem Alter diesen Traum hat. Die Mitarbeiter werden schließlich von Erwachsenen eingestellt und Erwachsene denken meistens, dass Jugendliche keine, äh, großen Ambitionen haben. Also könnten sie das durchaus glaubwürdig finden. Außerdem weiß ich ja wirklich noch nicht, was ich später mal machen will. Meine Vorstellungen sind sehr vage. Also, ja, im Moment ist meine einzige Ambition, mein einziger Traum, wenn man so will, Sandwiches zu machen (und mir jede Menge Sachen leisten zu können, die meine Mutter für überflüssig hält). Deshalb stimmt es sogar irgendwie, auch wenn ich es in erster Linie geschrieben habe, um mich »besser zu verkaufen«.
Und es hat ja auch geklappt, sonst hätte ich heute kein Gespräch mit dem Geschäftsführer. Ha!
Ich presse die Lippen zusammen. Ich denke an meine Mutter, die wirklich stolz wäre, wenn ich den Job bekomme. Ich denke an Tommy, der an einer Tankstelle arbeitet und mir zur Vorbereitung auf das Gespräch gesagt hat, ich solle einfach lächeln und vor allem ganz normal sein. Normal sein … kann ich das überhaupt? Wenn ich nervös werde, drehe ich immer ein bisschen durch. Ich rede dummes Zeug. Ich erzähle den größten Blödsinn. Ich betrachte Monsieur Lalonde in seinem blauen Anzug, seinen Kopf mit dem sich lichtenden Haar, ich versuche, nicht auf seinen Geruch nach Kaffee und Zigaretten zu achten, und antworte: »Ja! In meiner Familie bin ich die Sandwich-Beauftragte!« (Auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es nicht an, Hauptsache, ich kriege den Job.)
Ich glaube, alles in allem ist es ganz gut gelaufen. Ich habe das Büro verlassen, nachdem ich Monsieur Lalonde und seiner Mitarbeiterin noch einmal die Hand geschüttelt habe. Im Nachhinein fallen mir die besten Antworten ein. Als er das mit den Büroklammern sagte, hätte ich erwidern sollen: »Das zeigt eben, dass ich sehr geschickt bin, und auf Geschicklichkeit kommt es bei der Zubereitung von Sandwiches schließlich an.« Die Antwort hätte ihn bestimmt überzeugt. Ich frage mich zum millionsten Mal, warum mir die besten Antworten immer erst hinterher einfallen. Argh. Ich dachte, das Gehirn wäre ein Organ, das sich weiterentwickelt, aber in meinem Fall stockt die Entwicklung irgendwie … und zwar seit meiner Geburt!
Tommy und ich sind auf dem Weg zur Schule. Wir gehen schnell, weil wir spät dran sind (was größtenteils seine Schuld ist, weil er mich mit den Worten begrüßt hat: »Willst du das wirklich anziehen?« Ich hatte einen Wollpulli an und er behauptete, es sei total warm draußen, also habe ich mich umgezogen, aber als ich rauskam, war mir kalt und ich musste mich wieder umziehen. Wenn ich nicht auf ihn gehört hätte, wären wir jetzt nicht so spät dran und müssten nicht so rennen!).
Ich bleibe plötzlich stehen, weil mein Fuß am Boden klebt, und schreie: »Arghhhhhhhh! Ich trete schon die ganze Woche in Kaugummi!!!!! Was will das Universum mir damit sagen?!!!«
Tommy: »Vielleicht: ›Latsch nicht in Kaugummi!‹«
Tommy. Mein Nachbar. Mein bester Kumpel. Ich schaue ihn an und lache. Nach unserem Umzug werde ich nicht mehr jeden Morgen mit ihm zur Schule gehen können. Genau genommen werde ich gar nicht mehr zur Schule gehen können. Das neue Haus ist zwar im selben Stadtteil, aber weiter von der Schule entfernt, sodass ich den Bus nehmen muss (den gelben Schulbus, wie in der Grundschule). Es zwickt mich im Herzen, wenn ich daran denke. Und wenn ich daran denke, dass ich nicht mehr mit Tommy zur Schule gehen kann. Nicht mehr heimlich an sein Fenster klopfen kann, um mich von ihm trösten zu lassen oder einfach bei ihm abzuhängen und Rock Band zu spielen. (O.k., ich geb’s zu, diese Wehmut ist etwas voreilig, weil ich, laut Definition, nicht wegen einer Sache wehmütig sein kann, die noch gar nicht eingetreten ist. Ich glaube, es ist so, dass mein Gehirn immer verzögert reagiert, während mein Herz in der Lage ist, Gefühle schon im Voraus zu empfinden. Immerhin ein Organ, das funktioniert!)
Tommy: »Hör auf, mich so anzustarren, Laf!«
Ich: »Ich bin nur traurig, dass wir nach den Sommerferien nicht mehr zusammen zur Schule gehen können …«
Tommy: »Ich habe doch schon gesagt, dass wir uns daran gewöhnen werden, mach dir keine Sorgen. Vielleicht komme ich dann mal pünktlich in die Schule, weil ich nicht auf eine Trödelliese warten muss, die sich nicht entscheiden kann, was sie anzieht!«
Ich: »Du hast behauptet, dass es warm ist, dabei ist es saukalt!«
Tommy: »Quatsch, es ist total warm! Dein System funktioniert nicht richtig!«
Auf die Liste meiner nicht-funktionierenden Organe setzen: Meinen Hypothalamus, der die Wärmeregulation steuert. (Aber ja, ich weiß das! Der ganze Biounterricht muss doch zu irgendwas gut sein!)
Tommy und ich kommen völlig außer Atem in die Schule. Wir sind das letzte Stück gerannt. (Ziemlich schwer, zu rennen, wenn der eine Fuß immer am Boden festklebt, weil irgendein Idiot sein *&?%$$#@! Kaugummi auf den Boden gespuckt hat! Igitt, wenn ich nur daran denke, dass ich nicht nur ein altes Kaugummi, sondern auch die Spucke von irgendwem unter der Sohle habe, wird mir schlecht.) Wir hören auf zu rennen, als wir einen Lehrer sehen, um uns keinen Verweis wegen »Rennens auf dem Gang/im Treppenhaus« einzuhandeln. Wir gehen trotzdem zügig, weil wir nur noch vier Minuten haben, um unsere Bücher zu holen und zur ersten Stunde zu gehen.
Als wir zu den Fächern kommen, erwarten Kat und Jean-Félix uns schon.
Kat: »Wo wart ihr denn???!!!«
Tommy: »Na hier! hast du uns nicht gesehen?«
Kat verdreht die Augen. JF gibt ihr einen Kuss auf die Wange und sagt: »Ciao, mein Schatz, bis später. Viel Glück bei deinem Englischtest.«
Kat: »Tschüs, mein Schnuckelputz. Danke.«
Tommy und ich sehen uns an und verdrehen die Augen. Dann schrecke ich auf: »Englischtest???«
Kat: »Klar! Unregelmäßige Verben.«
Ich: »Oh nein!!!! Ich werde durchfallen!«
Kat: »Das ist nur ein Wiederholungstest. Wir hatten das alles schon in der Achten. Das ist nur zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung.«
Ich: »Aber du weißt doch, dass mein Gehirn keine unnützen Informationen behält!«
Kat: »Ich finde, das sind ziemlich nützliche Informationen …«
Tommy: »Macht’s gut, Mädels, bis später.«
Auf dem Weg zum Englischraum betet Kat mir schnell die unregelmäßigen Verben vor:
awake, awoke, awoken
be, was/were, been
become, became, become
begin, began, begun
dream, dreamt, dreamt
etcetera, etceterate, etceteraten. (Hihi, ein Witz, selbst ausgedacht.)
Wahnsinn, was das Gedächtnis uns für Schnippchen schlägt (im positiven Sinne). Mir sind die unregelmäßigen Verben alle wieder eingefallen, dabei ist es über zwei Jahre her, dass ich sie gelernt habe.
Vermerk an mich selbst: Ich habe offensichtlich ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Nicht vergessen.
Ich versuche, Mathehausaufgaben zu machen, aber ich habe eine kleine (winzig kleine) Zwangsvorstellung im Kopf. Ich muss umziehen. In vierundfünfzig Tagen. Tief einatmen. Ah-fu, ah-fu. Ich darf nicht an die Nachteile denken, zum Beispiel daran, dass ich dann nicht mehr neben Tommy wohne oder dass ich das Haus verlassen muss, in dem ich aufgewachsen bin (mit meinem Vater). Schließlich könnte man an viel schlimmeren Orten leben, im Dschungel oder so, wo man gegen wilde Tiere kämpfen muss, und das ist ja wenigstens nicht der Fall (diejenigen, auf die das zutrifft, haben echt Pech gehabt, abstammungsmäßig). Das Ganze hat bestimmt auch sein Gutes (also der Umzug, nicht die wilden Tiere) … zumindest für meine Mutter und François. Und wenn ich von glücklichen Menschen umgeben bin, wird das zweifellos auch auf mich abfärben, folglich werde ich vor Glück strahlen. Genau. Dieser Umzug bringt garantiert viele Vorteile mit sich. Ich muss mich auf die positiven Aspekte konzentrieren. Ich bekomme ein großes Zimmer im Keller, mit Blick auf die Straße. Das ist was ganz Besonderes, dass man im Keller Blick auf die Straße hat. Und das ist bestimmt praktisch. Zum Beispiel um, äh, sagen wir mal, Autos zu beobachten. Ich kenne mich mit Autos und Mechanik überhaupt nicht aus, vielleicht könnte ich mich ja in dem Bereich spezialisieren. Und wie lernt man besser, als indem man das Terrain observiert, mit anderen Worten, die Straßen, auf denen Autos fahren? Also, hier sind die Vorteile des neuen Hauses:
Meine Kenntnisse in Mechanik verbessern (durch Beobachtung).
Vor Glück strahlen (durch Abfärben).
?
To do: Weitere Vorteile finden (am besten, wenn ich gerade nicht Mathehausaufgaben machen muss und mich der Versuch, Vorteile des neuen Hauses zu finden, nicht von meinen schulischen Pflichten abhält).
To do Nr.2: Herausfinden, warum ich über meine existenziellen Probleme hauptsächlich dann nachdenke, wenn ich Mathehausaufgaben machen muss.
Während wir zusammen zu Mittag essen, Tommy, Kat, Jean-Félix und ich, und Kat eine Geschichte über ihren Vater erzählt, der irgendwas gesagt oder getan hat – keine Ahnung was, weil ich nicht zuhöre – werfe ich einen Blick zu Johann rüber, meinem Ex. Er sitzt zwischen Frédérique, seiner Ex-die-drei-Sekunden-nach-unserer-Trennung-wieder-seine-Freundin-war, Nadège und Roxanne. Kat nennt die drei immer die »Wellensittiche«, weil sie so laut lachen und sich (Kats Ansicht nach) zu knallig anziehen. Als ich mit Johann zusammen war, war ich mit ihnen befreundet. Sie sind eine beliebte Clique und ich habe dazugehört. Im Film wirkt es immer ziemlich cool, beliebt zu sein, aber im echten Leben habe ich keinen anderen Vorteil daran erkennen können, als dass ein Mädchen mich plötzlich grüßte, das sich in der Grundschule immer über mich lustig gemacht hatte.
Wenn ich Johann, Frédérique, Nadège oder Roxanne jetzt über den Weg laufe, grüßen wir uns, als läge unsere Freundschaft ewig zurück, dabei ist es gerade mal ein paar Wochen her, dass ich mittags an ihrem Tisch gesessen habe. Bei dem Gedanken kommen bei mir weder Wehmut noch Bedauern auf. Meine eigenen Freunde sind mir viel lieber, auch wenn sie nicht so beliebt sind. Als ich mit Johann zusammen war, habe ich mich ein bisschen von ihnen entfernt. Ich habe mich sogar mit Kat gestritten. Meiner besten Freundin. Aber jetzt weiß ich, dass ich nicht ohne sie leben kann. Sie ist meine best friend for ever and ever. Vielleicht sogar meine kosmische Seelenschwester. Und wenn ich mich mit ihr streite, fühlt es sich so an, als ob mir ein wichtiger Körperteil amputiert wurde. Sie hat gesagt, dass es ihr genauso geht. Wir sind uns nicht in allem einig. Aber viele Dinge verbinden uns. Ich weiß genau, dass uns niemals etwas trennen kann.
Übrigens haben wir nach diesem Streit beschlossen, unsere »Beste-Freundinnen-Regeln«, die wir in der siebten Klasse gemacht haben, zu überarbeiten. Letzte Woche haben wir uns getroffen, um sie zu aktualisieren.
Ich: »Regel Nummer eins: Nie wieder streiten.«
Kat: »Auch wenn wir neue Freunde haben – das ist erlaubt –, nie unsere beste Freundin im Stich lassen.«
Ich: »Unsere neuen Freunde warnen, dass uns nichts von unserer besten Freundin trennen kann.«
Kat: »Ist ja gut, das reicht jetzt.«
Ich: »O.k., das war vielleicht ein bisschen zu ausführlich. Was sollen wir schreiben?«
Kat: »Vielleicht einfach, dass wir unzertrennlich sind.« (Sie schreibt es auf.) »O.k., Regel Nummer zwei?« Wir denken nach. »Oh, ich weiß. Nicht petzen.«
Ich: »Das würden wir nie tun! Hm … außer in Lebensgefahr.«
Kat: »In welcher Situation sollten wir denn in Lebensgefahr geraten?«
Ich: »Ach, keine Ahnung. Vielleicht sagst du zu mir: ›Ich gehe schwimmen.‹ Du gehst irgendwo schwimmen, wo man nicht schwimmen darf, du bittest mich, niemandem was davon zu sagen, du ertrinkst fast und ich weiß nicht, wie man Mund-zu-Mund-Beatmung macht. Dann müsste ich es doch jemandem sagen.«
Kat: »Hm, ja, o.k.« (Sie schreibt es auf, während ich vorschlage, dass wir einen Erste-Hilfe-Kurs machen sollten, weil das vielleicht mal praktisch sein könnte, und sie fügt die Notiz hinzu.) »O.k., Regel Nummer drei? Nie was mit einem Typen anfangen, der doof ist oder der unsere beste Freundin nicht mag.«
Ich: »Was mich betrifft, könntest du auch einfach schreiben ›Nie was mit einem Typen anfangen‹.«
Kat: »Hm … nein. Abgelehnt. Das hast du schon mal gesagt und du weißt selbst, wohin das geführt hat. Außerdem kann uns sowieso kein Typ trennen.«
Ich: »Das steht ja schon unter Punkt eins.«
Kat: »Ja, aber weißt du, mit Jungs ist das anders. Da ist man emotionaler.«
Ich: »O.k., stimmt. Also, dann schreiben wir: ›Nicht zulassen, dass ein Junge uns separiert‹?«
Kat: »›Separiert‹? Du mit deinen Wer-wird-Millionär-Wörtern! Wie schreibt man das?«
Ich: »Wir hätten es einfach unter Punkt eins aufnehmen sollen, wie ich gesagt habe.«
Kat: »Ich schreibe: ›Nicht wegen Kleinigkeiten streiten.‹«
Ich: »Ha. Ha.«
Kat: »Machen wir eine Klausel wegen Tommy?«
Ich: »Häh?«
Kat: »Er geht mir echt auf die Nerven. Das weißt du doch.«
Ich: »Aber er ist mein bester Kumpel.«
Kat: »Ich schreibe eine Zusatzklausel unter den Punkt, dass kein Junge uns separieren darf.« (Sie schreibt.) »Tommy wird toleriert, aber seine Position muss überdacht werden, wenn er Kat zu sehr nervt.«
Ich seufze.
Kat: »Was denn! Er hackt dauernd auf mir rum!«
Ich: »So schlimm ist er gar nicht. Vielleicht bist du einfach ein bisschen empfindlich!«
Kat: »Ich, empfindlich?«
Ich: »Du hackst ja auch dauernd auf ihm rum!«
Kat: »Ich?!?«
Ich: »Siehst du, jetzt brechen wir gerade zwei Regeln: ›Nicht wegen Kleinigkeiten streiten‹ und ›Uns von keinem Jungen separieren lassen‹.«
Kat: »O.k., ist ja gut. Was machen wir mit der Regel ›Nie jemandem verraten, dass wir mal bescheuerte Musik gut fanden‹?«
Ich: »Die können wir streichen. Wir sind jetzt erwachsener. Wir stehen dazu.«
Kat: »Hm …«
Ich: »Wir stehen dazu, also echt!«
Kat: »O.k., o.k. Als Letztes: ›Unsere Geheimnisse sind topsecret.‹«
Ich: »Logisch.«
Kat: »Also, im Großen und Ganzen: Wir sind unzertrennlich, wir streiten uns nicht wegen Jungs, wir verpetzen uns nicht und unsere Geheimnisse sind top secret.«
Ich: »Unsere Regeln sind sich alle ziemlich ähnlich …«
Kat: »Hauptsache, sie sind eindeutig. Glaubst du, wir müssen mit unserem Blut unterschreiben oder so?«
Ich: »Nein, das wird schon gehen. Ich habe keine Lust, mir wegen solcher Selbstverständlichkeiten in den Finger zu piksen.«
Kat: »Tja, ganz ehrlich, das war reine Zeitverschwendung!«
Ich: »Na ja …«
Es ist mir im Nachhinein echt peinlich, dass ich Johann und seine Freunde so wichtig genommen und mich auf unbedeutende Dinge konzentriert habe. Ich hätte mich lieber mehr in der Schule anstrengen und mir nichts aus dem ganzen Rummel machen sollen. Und aus der Beliebtheit. Aber … so bin ich wohl leider nicht.
Ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen (in einem unserer seltenen harmonischen Momente) und sie hat gesagt, ich müsse eben meine Erfahrungen machen. Da habe ich mich ein bisschen besser gefühlt. Ab und zu (genauer gesagt, sehr selten) gibt sie auch mal was Sinnvolles von sich.
Jetzt habe ich jedenfalls wieder mehr Zeit, um mich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Mein einziges romantisches Interesse gilt Robert Pattinson, dem Darsteller von Edward Cullen in den Twilight-Verfilmungen. Der lenkt mich wenigstens nicht von der Schule ab, sein Poster hängt nämlich an der kirschroten Wand in meinem Zimmer.
Ich werfe einen kurzen (echt superkurzen!) Blick zum Tisch von Nicolas. Meine erste große Liebe. Er hat mit mir Schluss gemacht, weil Tommy mich wegen eines Missverständnisses geküsst hat (er dachte, ich hätte keinen Freund und würde mich für ihn interessieren). Tja, leider wurde dieses Missverständnis gefilmt und bei MusiquePlus ausgestrahlt (nur wegen eines bescheuerten Kameraschwenks, aber ich habe dem Kameramann nie Vorwürfe gemacht, obwohl ich einen Brief an MusiquePlus geschrieben habe, um die Leute da über die Richtlinien zu Kameraeinstellungen zu informieren, die ich mühsam recherchiert habe. Den Brief habe ich nie abgeschickt). Ich habe Nicolas alles erklärt, aber er ist trotzdem bei seiner Entscheidung geblieben. Einige Monate später haben wir die ganze Geschichte vergessen und sind Freunde geworden. Aber dann hat er mich diesen Winter geküsst, obwohl ich mit Johann zusammen war (und mein Mund hat gegen meinen Willen mitgemacht und ihn zurückgeküsst und dann bin ich ganz schnell abgehauen). Danach hat er mich ziemlich uncool behandelt. Seitdem reden wir nicht mehr miteinander. Also gehe ich ihm so gut wie möglich aus dem Weg.
Dazu nutze ich die simple Technik der Vermeidung. Das ist nicht weiter schwer, weil ich seinen Stundenplan in meinem Fach habe und daher zumindest grob weiß, wo er sich zum jeweiligen Zeitpunkt aufhält. Bei unvorhergesehenen Begegnungen ergreife ich Notfallmaßnahmen, ich ändere zum Beispiel die Richtung und renne aufs Klo oder ich verstecke mich hinter einem Fach und tue so, als würde ich etwas suchen. Und beim Essen schaue ich höchstens zwei- oder dreimal in seine Richtung (statt zwölftausendmal). Ehrlich gesagt, wenn ich schon umziehen muss, würde ich am liebsten in eine Höhle ziehen. Dann müsste ich mich nicht jeden Tag mit ihm herumschlagen. Und vor dem Rest der Menschheit hätte ich auch meine Ruhe! Nicht dass ich keinen Mut hätte. Ich habe nur eine etwas andere Art von Mut, die eben darin besteht, in einer Höhle zu überleben.
Kat: »Am, du hörst mir gar nicht zu!«
Ich: »Doch, doch, ich höre, dein Vater hat Makkaroni mit Fleischsoße gemacht, aber statt Fleisch hat er Würstchen genommen und das war voll eklig.«
Kat: »Das war vor zehn Minuten! Eben habe ich von den Physikhausaufgaben gesprochen. Das hätte ich in unsere Best-Friends-Regeln schreiben sollen! Dass du mir zuhören musst, wenn ich rede!«
Ich: »Zu spät, sie sind schon mit unserem Blut besiegelt!«
Tommy: »Ein Pakt, der mit Blut besiegelt wird? Lebt ihr noch im Mittelalter?«
Kat (starrt mich an, um mir zu verstehen zu geben, dass Tommy sie nervt): »Wir haben gar kein Blut genommen, sondern roten Nagellack.«
Tommy: »Warum habt ihr nicht noch eine Kopie gemacht und unter einem Baum vergraben, falls ihr das Original verliert?«
Ich: »Weil wir … normal sind?«
Tommy: »Stimmt, das wäre auch das erste Wort, das mir zu euch einfällt.«
Jean-Félix lacht.
Kat: »Wenn du über seine Witze lachst, mache ich Schluss!«
Jean-Félix: »Ach, Kat! Merkst du nicht, dass er nur schrecklich eifersüchtig ist, weil wir zusammen sind?«
Tommy: »In your dreams, Alter!«
Ich: »He! Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, esse ich wieder bei Johann!«
Wir haben alle einen Verweis wegen »ungebührlichen Verhaltens« bekommen, weil wir zu laut waren. Peinlich. Genau das, was ein Ex nicht unbedingt mitkriegen muss, geschweige denn zwei.
Eigentlich ist es doch nicht so schlecht, dass das Gedächtnis bestimmte Dinge vergisst. Ich bin sicher, dass ich mich in zwanzig Jahren nicht mehr an dieses Ereignis erinnern werde.
Yeah!!!!!!!!!! Ich hab den Job!!!!!!!! (Ich bin voll stolz!!!)
O.k., keine Ahnung, warum ich mich so freue, schließlich habe ich eigentlich überhaupt keine Lust zu arbeiten. Ich werde gezwungen. Vielleicht hat es was mit Eitelkeit zu tun. Ich wurde auserwählt. Unter allen Bewerbern. Ich. Ich? Ich!!!
Ich saß gerade mit meiner Mutter und François beim Abendessen (es gab ekligen Hackbraten), als das Telefon klingelte. François ging dran (das macht er immer öfter und das nervt mich echt, aber ich muss mich wohl daran gewöhnen, denn wenn wir bald offiziell zusammenwohnen, kann ich schlecht was dagegen sagen, dass er in seinem eigenen Haus ans Telefon geht, deshalb betrachte ich das jetzt schon als Training), reichte mir den Hörer und sagte: »Da ist ein Herr dran.«
Unnötig zu sagen, dass er diesen Satz nicht geflüstert hat. Und dass der fragliche Herr, mein zukünftiger Boss, also gehört hat: »Da ist ein Herr dran.« Ich weiß nicht mehr, in welchem Tonfall François das gesagt hat, ob »überrascht« oder »neugierig«. Aber egal, was es war, ich finde es nicht gerade cool, dass mein zukünftiger Chef gehört hat, wie der Freund meiner Mutter sagt: »Da ist ein Herr dran.« Stimmt schon, durch diese Information habe ich mich anders gemeldet als wenn ich beispielsweise Kat erwartet hätte. Es wäre nicht sehr professionell gewesen, meinen künftigen Boss mit den Worten zu begrüßen: »Hey, yo, what’s up?!« (Erläuterung: Ich sage niemals »Hey, yo, what’s up?«, denn 1. passt der Satz nicht zu meiner Gesichtsanatomie, 2. habe ich schon mehrfach Sätze eingeübt, mit denen man ein Gespräch eröffnet, und diesen habe ich schnell wieder aussortiert und 3. lebe ich nicht in einem amerikanischen Hip-Hop-Video.) Es wäre wohl auch nicht gut angekommen, wenn ich, in der Annahme, dass es Tommy sei, genervt gesagt hätte: »Alter, was sollte der Mist mit Kat heute? Lass sie einfach in Ruhe!« Mein zukünftiger Boss hätte mich als unreif und aufbrausend eingestuft und vielleicht seine Meinung über meine Einstellung geändert.
Also, kurz gesagt, vielleicht war es ja gut, dass François mir diese Information gegeben hat. Es waren nur ein paar Dezibel zu viel. Informationen dieser Art flüstert man. Ist doch logisch. Mein zukünftiger Boss hat gesagt:
»Genau, da ist ein Herr dran. Und der Herr teilt dir mit, dass wir dich zum Sandwichmachen einstellen, was ja laut deiner Bewerbung dein großer Traum ist. Kannst du Samstag anfangen?«
Wenn François nicht so laut »Da ist ein Herr dran« gesagt hätte, dann hätte ich – weil mir das nicht so peinlich gewesen wäre – garantiert was anderes gesagt als: »Hihihi! Äh ja … super … Hihihi, ja, Samstag. Tschüs … der Herr.«
Arrrggggghhhhhhhhh!!!
Während des restlichen Essens habe ich François böse Blicke zugeworfen. Denn ich finde, es ist seine Schuld, dass ich meinen Einstellungsanruf vermasselt habe. Wenn er nicht so laut »Da ist ein Herr dran« gebrüllt hätte, hätte ich ganz flüssig gesagt: »Was für eine gute Neuigkeit! Ich bin hocherfreut. Ich kann anfangen, wann immer Sie wünschen. Dann also bis Samstag!«
PS: »Ich bin hocherfreut« zu sagen, wäre ungefähr so seltsam gewesen wie »Hey, yo, what’s up?«. Nicht gerade authentisch. Hm, aber wenigstens hätte ich nicht so bescheuert gewirkt.
PPS: François und meine Mutter haben natürlich nicht kapiert, warum ich nach dem Anruf so ein böses Gesicht gemacht habe. Ich habe ihnen nicht erklärt, dass ich mich lieber von einem Anrufer überraschen lasse oder wünsche, dass mir seine Identität etwas diskreter mitgeteilt wird. Meine Mutter war übrigens total begeistert. Sie sah mich schon als zukünftige Geschäftsführerin, obwohl ich noch nicht mal angefangen habe. Da fand ich eine Diskussion über die angebrachte Lautstärke für die Weitergabe von Informationen etwas fehl am Platz.
Uff! Ich glaube, ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Stress. Ich weiß nicht, wie mein Körper diese Akkordarbeit aushalten soll! Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Arbeit in einem Sandwichrestaurant an Sklaverei grenzt. (Diesen Spruch habe ich mir an meinem ersten Arbeitstag lieber verkniffen, weil ihn meine Kollegen vielleicht nicht besonders lustig gefunden hätten.)
Und ich hatte gedacht, dass ich einfach nur Sandwiches belegen müsste! Dass ich lernen würde, die besten Sandwiches im Universum zu machen! Tja … nicht ganz. Stimmt schon, es ist meine Aufgabe, Sandwiches zu belegen, wenn gerade Kundschaft da ist. In Lichtgeschwindigkeit und ohne einen Fehler zu machen. Aber ich muss auch kassieren. Allein der Umgang mit der Kasse ist eine echte Herausforderung. Und das ist noch nicht alles! Ich muss den Tresen putzen, das Brot rösten, dafür sorgen, dass immer alle Zutaten verfügbar sind, nachsehen, ob die Toiletten sauber sind, den Boden fegen und wischen, die Teller abräumen und die Tische abwischen.
Also, ich bin natürlich nicht die einzige Angestellte (puh, sonst hätte ich schon nach drei Stunden ein Burn-out gehabt), aber das alles gehört zu meinen Aufgaben.
Ich betrachtete das gerahmte Bild vom Angestellten des Monats an der Wand und sagte mir, dass mein Foto wohl nicht über Nacht da erscheinen würde.
Der Angestellte des Monats, besser gesagt, die Angestellte des Monats, ist Caroline Tremblay. Ich habe sie zu Beginn meiner Schicht kennengelernt. Sie wirkte nett, wenn auch ein bisschen hektisch.