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Amélie hat Schmetterlinge im Bauch, seit sie wieder mit Nicolas zusammen ist. Aber ansonsten ist das Leben ziemlich kompliziert: Nervige Streits mit der Mutter, die Schule, ihre besten Freunde – wie soll Amélie das alles nur unter einen Hut bekommen? Und dann gibt es da diese riesengroße Neuigkeit...
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Seitenzahl: 415
Aus dem Französischen übertragen von Maren Illinger
KOSMOS
Umschlagillustration: Carolin Liepins, München
Innenillustration: Josée Tellier, Montreal
Umschlaggestaltung von init. büro für Gestaltung, Bielefeld
Titel der französischen Originalausgabe:
Le journal d'Aurélie Laflamme, Plein de secrets
© 2010 Les Éditions des Intouchables, Montreal, Quebec, Kanada
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15011-5
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für meine Freunde, die Hüter meiner Geheimnisse.
Ich sterbe. Schon klar, alle Menschen sterben irgendwann. Das ist nichts Neues. Man lebt und zögert den Moment hinaus, doch eines Tages kommt er, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Ich für meinen Teil habe ihn so lange wie möglich hinausgezögert, aber jetzt kann ich nicht mehr. Lebt wohl!
Ich schließe die Augen, ziehe den Kopf ein, kreische »Aaah!« und warte darauf, dass es vorbei ist. Es dürfte schnell gehen, wenn ich mir den Laster ansehe, der da mit Vollgas auf mich zusteuert.
Es heißt ja immer, dass im Moment des Todes das ganze Leben noch einmal an uns vorbeizieht. Ich werde also vermutlich gleich in schneller Folge Augenblicke meines Lebens vor mir sehen. Ha, da kommt schon einer. Ich bin etwa vier Jahre alt und mit meiner Mutter und meinem Vater bei meiner Tante Loulou zum Abendessen eingeladen.
Äh …? Ist das alles? Ich sterbe und das Einzige, woran ich mich erinnere, ist irgendein blödes Abendessen bei meiner Tante Loulou? Dieses Bild soll ich mit ins Jenseits nehmen? Ich habe ja schon immer gewusst, dass mein Gehirn einen Schaden hat und meine Gehirnzellen nicht ganz richtig funktionieren. Aber so schlimm? Ich sterbe und alles, was von meiner Durchreise auf der Erde übrig bleibt, ist ein Abendessen bei meiner Tante Loulou? Das ist meine Hinterlassenschaft auf diesem Planeten? Ein Abendessen, an das ich nicht mehr gedacht habe, bis ein Laster geradewegs in mich hineinrast?
Ich flehe mein Gehirn an, sich ein bisschen zu konzentrieren, damit ich auf meinem Weg ins Jenseits noch ein paar Erinnerungen an die Menschen mitnehme, die meinen Weg gekreuzt haben.
Der Erste, der mir in den Sinn kommt, ist mein Fahrlehrer, der neben mir sitzt und wohl auch gerade die wichtigsten Ereignisse seines Lebens noch einmal durchlebt. Als ich vorhin zu meiner ersten Fahrstunde zu ihm ins Auto gestiegen bin, hatte ich eine Riesenpanik. Die Panik wich schnell dem Ekel, weil der Herr einen starken Geruch verströmt. Ich würde mal sagen, »schlecht verdauter Koriander« und ähnlich Appetitliches, gemischt mit Schweiß. Wie soll ich mich aufs Fahren konzentrieren, wenn derjenige, der es mir beibringen will, wie ein Komposteimer riecht?
Upps, ich verliere den Fokus. Beim Sterben sollte man ganz im Einklang mit der Welt sein. Ich darf mich nicht über meinen stinkenden Fahrlehrer aufregen. Oder wütend werden. Ich muss ganz ruhig sein. Tief einatmen. Ah-fu. Ah-fu.
Ich sollte lieber an die Menschen denken, die ich liebe.
An meine Mutter, die echt cool ist, trotz ihres Putzfimmels.
An François (der sich nur auf dieser Liste befindet, weil er der Freund meiner Mutter ist, und mir, wenn ich an sie denke, automatisch eine Nanosekunde lang ein Bild von François durch den Kopf schießt).
An meine Großmutter Laflamme und unsere enge Verbundenheit, die den Graben der Generationen überwindet.
An meine Großeltern Charbonneau, die mich zum Lachen bringen und mir diesen Sommer eine, äh, positivere Einstellung zum Camping vermittelt haben.
An Sybil, meine Katze, die mein Ableben vermutlich nie überwinden wird, mit der ich aber sicher in Kontakt bleibe, weil Katzen doch angeblich mit den Geistern der Toten kommunizieren können.
An Kat, meine best friend 4ever and ever, die ich nie vergessen werde, nicht mal als Zombie.
An Tommy, meinen besten Kumpel und Ex-Nachbarn, bei dem ich herumspuken werde, weil ich mir sein Gesicht beim Anblick eines Gespensts nicht entgehen lassen will.
An Nicolas, meine einzige große Liebe, der mir im Jenseits unglaublich fehlen wird. Und der, im Gegensatz zu gewissen anderen Personen, kein Problem mit schlechtem Körpergeruch hat, da er den besten Duft der Welt verströmt. Nämlich nach einem mysteriösen, in keinem Geschäft auffindbaren Weichspüler, der sich mit dem Geruch seines Melonenkaugummis vermischt. Mmmh …
Und an meinen Vater. Ich denke an die Freude, ihn wiederzusehen, wenn ich erst mal auf der Seite der Toten bin, an die Angst, was das bedeutet (weil ich alle eben genannten Menschen nicht mehr um mich haben werde, was mich sehr traurig macht, abgesehen vom Fahrlehrer, der wird mir garantiert nicht fehlen, vor allem, weil das Paradies meiner Meinung nach »geruchstechnisch« angenehm sein sollte), und daran, wie peinlich es wird, wenn ich auf der anderen Seite bin und mein Vater mich fragt: »Nanu, was machst du denn schon hier, meine Kleine?«, und ich ihm antworten muss: »Mein Fahrlehrer, der, nebenbei bemerkt, krass nach Curry stinkt, was die Konzentration beeinträchtigen kann, hat mich den toten Winkel überprüfen lassen, aber ich habe den Kopf zu weit vorgebeugt und bin mit der Nase gegen das Fenster geprallt. Ich habe mich so erschreckt, dass ich die Kontrolle über das Lenkrad verloren habe. Um ganz ehrlich zu sein – ich nehme mal an, dass im Paradies oder wo auch immer man sich nach dem Tod befindet, nachdrücklich empfohlen wird, ehrlich zu sein – also, als ich den Kopf nach links gedreht habe, um den toten Winkel zu überprüfen, sind meine Hände der Bewegung gefolgt und haben das Lenkrad ebenfalls nach links gedreht. Bei der Gelegenheit habe ich übrigens festgestellt, dass mein Körper gerne alle seine Glieder gleichzeitig in dieselbe Richtung bewegt. Diese ganze Bewegungskoordination war allerdings sehr ungünstig, weil sich im berühmten toten Winkel ein Laster befand, der rasend schnell näherkam, und als ich das Lenkrad in dieselbe Richtung drehte wie meinen Kopf, bin ich geradewegs in ihn reingerast, und da mein Gesicht an der Scheibe klebte, konnte ich noch dazu nur undeutlich sehen und nicht mehr ausweichen. Es heißt ja immer, bei einem Unfall würde sich alles binnen Sekunden abspielen. Tja, das kann ich bestätigen. Das Leben hängt an einem seidenen Faden … oder in meinem Fall an einer schlechten Kopf-Hand-Koordination. Wow! Der Tod macht mich echt philosophisch. Also, kurz und gut, hallo Papa, lange nicht gesehen, du könntest mir ruhig erst mal Guten Tag sagen, bevor du mich fragst, warum ich hier bin. Na, verderben wir uns unser Wiedersehen nicht mit Floskeln. Ich hoffe, es ist dir nicht zu peinlich, mich den anderen Engeln oder Außerirdischen vorzustellen oder wie die Mitglieder in eurem Club hier im Himmel auch heißen. Es war keine Absicht. Ich denke ja gerne, dass meine Schwächen genetisch bedingt sind. Meine Stärken natürlich auch. Aber davon habe ich nicht so viele. Ich will dich ja nicht beleidigen, aber daran bist du nicht ganz unschuldig.«
Ich kreische also immer noch mit geschlossenen Augen »Aaah« und stelle mich auf den Tod ein, als der Fahrlehrer ins Lenkrad greift, nach rechts lenkt (oder auf die Seite, auf der kein Laster ist, aber ich bin zu gestresst, um sagen zu können, ob es rechts oder links ist) und schreit (wobei er extrem starken Currygeruch verströmt, da er viel Luft in Wallung gebracht hat, um uns das Leben zu retten): »WAS WÜRDEN SIE DENN MACHEN, WENN SIE ALLEIN IM AUTO WÄREN???!!!!!!!?????«
Antwort (nicht gesagt): Ich werde nicht allein im Auto sein. Punkt.
Und falls doch (im äußersten Notfall, wenn ich jemandem das Leben retten muss oder so), habe ich schon eine Rede für meinen Vater vorbereitet, um im Himmel meinen frühzeitigen Abgang zu rechtfertigen.
Ein Glück, dass ich nicht tot bin. Meine Mutter wäre aus-ge-flippt. Vor allem, weil sie mir die Fahrstunden zum Geburtstag geschenkt und darauf bestanden hat, dass ich zur Fahrschule gehe. Ich habe die theoretische Prüfung für die vorläufige Fahrerlaubnis ziemlich schnell abgelegt. Da ich in Gedanken oft auf einem anderen Stern bin, wenn ich irgendwelche Theoriekurse besuchen muss, habe ich lieber allein gelernt. Zugegeben, Theorie zu lernen ist auch nicht meine Stärke. Also habe ich für den Großteil der Prüfungsfragen meinen gesunden Menschenverstand benutzt. Ich habe mir gesagt, dass das auf der Straße am sinnvollsten ist. Soll man sich in Gefahrensituationen nicht auf seinen Instinkt verlassen? Ich habe die theoretische Prüfung jedenfalls sofort bestanden! Aber meinem heutigen Auftritt in der ersten Fahrstunde nach zu urteilen, ist mein Instinkt in Sachen Fahrverhalten nicht gerade ausgeprägt.
Nach dieser Erfahrung kann ich bestätigen, dass Autofahren echt super sein könnte – nur bitte ohne 1) Fußgänger, 2) Fahrradfahrer, 3) andere Autos, 4) Schlaglöcher, 5) Fahrlehrer, die bei absoluter Inkompetenz (meinerseits) aggressiv werden, 6) hyperaktives Gehirn, 7) Hupen, 8) tote Winkel, 9) unergonomische und leicht verwechselbare Pedale, 10) Linksabbieger ohne Vorfahrt, 11) missverständliche Verkehrsschilder, 12) sprechende Beifahrer, 13) Vorurteile der anderen Verkehrsteilnehmer, da das Schild »Fahrschule« auf dem Dach des Fahrzeugs steht, 14) Curry und 15) permanente Lebensgefahr.
Der Fahrlehrer hat mich nach Hause gefahren. Gerade als er wieder losfährt, merke ich, dass ich meinen Pullover im Auto vergessen habe. Ich laufe dem Wagen nach, rudere mit den Armen und schreie, aber er hält nicht an. Ziemlich merkwürdig, weil er mir ungefähr eine Million Mal eingeschärft hat (genauer gesagt, etwa 13 Mal), alle zehn Sekunden in den Rückspiegel zu schauen. Jetzt stehe ich nicht nur wie eine Verrückte auf meiner Straße, wo ich sowieso noch eine Fremde für die Nachbarn bin, weil ich erst seit zwei Monaten hier wohne, sondern muss auch noch feststellen, dass mein Fahrlehrer sich nicht mal selbst an seine Empfehlungen hält! Sonst hätte er mich sehen müssen. Oder denkt der etwa, ich renne hinter dem Auto her, weil mich eine plötzliche Leidenschaft fürs Fahren gepackt hat und ich gleich mit der nächsten Fahrstunde loslegen will? Und fühlt er sich deswegen bedrängt und … flieht?
Atemlos höre ich auf zu rennen und überlasse meinen Pullover seinem Schicksal. Wenn er länger in dem Auto bleibt, ist er ohnehin hinüber, er wird nach Curry stinken und ich werde ihn nicht mehr tragen wollen. So oder so ist er verloren. Ich gehe unverrichteter Dinge ins Haus.
Ich komme rein. Meine Mutter sitzt im Wohnzimmer und liest.
»Und? Wie war’s?«
Ich: »Hm … ich glaube, ich nehme erst mal eine Auszeit.«
Meine Mutter: »Nach nur einer Fahrstunde?«
Ich: »Hmja, weißt du, ich mache dieses Jahr meinen Abschluss und ich glaube, das wird ziemlich anstrengend. Ich finde, ich sollte mich lieber auf meine Zukunft konzentrieren.«
Meine Mutter: »Man darf nicht gleich bei der kleinsten Schwierigkeit aufgeben.«
Ich: »Ich gebe ja gar nicht auf. Ich verschiebe (nicht gesagt: meinen Tod) nur ein bisschen. Jedenfalls, laut Statistik sind Jugendliche hinterm Steuer sowieso nicht verantwortungsvoll. Ich halte es für meine, äh, Bürgerpflicht, die Straßen nicht mit meiner Unerfahrenheit zu belasten. Außerdem habe ich lange nachgedacht und Autofahren ist nicht gerade umweltfreundlich. Ich glaube, tief in meiner Seele bin ich eher Fahrradfahrerin als Autofahrerin. Ich finde es wichtiger, den Planeten zu retten, als Autofahren zu lernen.«
Meine Mutter: »War es so schlimm?«
Ich: »Mama, es war noch schlimmer als schlimm! Ich dachte, ich sterbe! Echt! Mein Leben ist noch einmal an mir vorbeigezogen! O.k., eigentlich nur eine einzige Erinnerung, aber das spielt keine Rolle! Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«
Ich laufe zu ihr und umarme sie fest.
Meine Mutter seufzt und sagt, bevor sie ihr Buch weiterliest: »Es ist deine Entscheidung.«
Vermerk an mich selbst: Ich habe überlebt!!!!!!!!! Ich bin dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen!!!!!!!!!
Vermerk an mich selbst Nr. 2: In Zukunft jeglichen Leichtsinn meiden (also Autofahren).
Vermerk an mich selbst Nr. 3: Wo ich schon dabei bin, Curry ebenfalls meiden.
Nachdem ich wegen totem Winkel und Curryüberdosis beinahe das Leben verloren hätte (o.k., vielleicht nicht das Leben, aber zumindest, äh, ein Haar …), habe ich beschlossen, dass man jeden Moment maximal genießen sollte. Man sollte sein Leben so angenehm wie möglich gestalten (jedenfalls ich das meine), um bessere letzte Erinnerungen zu haben als ein Abendessen bei seiner Tante!
Da heute der letzte Ferientag ist, habe ich alle angerufen und vorgeschlagen, gemeinsam in den Freizeitpark zu gehen. O.k., nicht wirklich alle. Ich stelle mir gerade das Gesicht eines Japaners vor, der an der Börse arbeitet und einen Anruf von einem Mädchen aus Québec bekommt, das ihn in den Freizeitpark einlädt. Hihi! Das wäre echt witzig! (So witzig nun auch wieder nicht, ich übertreibe.) Ich habe Kat und ihren Freund Emmerick, Tommy, Jean-Félix und Nicolas angerufen.
In den letzten Tagen war ziemlich viel los. Kat und ich haben in mehreren Geschäften im Einkaufszentrum Bewerbungen um einen Job abgegeben. (So ein Abschlussball scheint ganz schön teuer zu sein, also kann ein bisschen Taschengeld nicht schaden.) Es war cool, einen ganzen Tag zusammen zu sein, weil wir in den letzten Wochen so viel Zeit mit unseren Freunden verbracht haben. Da Emmerick nicht auf dieselbe Schule geht wie wir, haben Kat und er die Ferien genutzt, um so viel wie möglich zusammen zu sein. Und ich habe die verlorene Zeit mit Nicolas nachgeholt. Es war fast so, als hätten wir uns nie getrennt. Klar, es hat damals ein großes Missverständnis gegeben, als Tommy, der neu in unserem Viertel war, mich (ich präzisiere: gegen meinen Willen) geküsst hat, und zwar vor dem Fenster von MusiquePlus, was unglücklicherweise im Fernsehen übertragen und von Nicolas gesehen wurde, bevor ich ihm diese wirklich bescheuerte und bedeutungslose und eigentlich sogar saukomische Geschichte (Nicolas ist noch nicht so weit, sie saukomisch zu finden, aber das kommt schon noch) selbst erzählen konnte. Er hat noch ein paarmal davon geredet, aber wir haben uns versprochen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wie als er mich (in der Vergangenheit) in der Schule blöd behandelt hat, weil ich mit Johann zusammen war. Aber wir haben uns geschworen, ganz neu anzufangen. Wir haben versucht, getrennte Wege zu gehen, aber das hat nicht geklappt, denn wenn wir uns sehen, schlagen unsere Herzen immer ganz heftig (seins aaauuuuuuuch!!!!!!!!).
Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich hatte damals geglaubt, dass ich für ihn nur eine kurze, bedeutungslose Affäre gewesen sei wie die anderen Freundinnen, die er nach mir hatte (es waren ziemlich viele). Aber er hat mir gestanden, dass er die ganze Zeit nicht aufgehört hat, mich zu lieben. Und so war es für mich auch, auch wenn ich mir selbst das Gegenteil einredete. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, bekam ich weiche Knie. Seit einer Woche verbringen wir jede freie Minute miteinander.
Ich habe ihm gestanden, dass es jedes Mal, wenn ich ihn sah, »Titilititi« in meinem Kopf gemacht hat, und darüber musste er sehr lachen. Und jetzt sagen wir das zueinander (nicht vor den anderen, das würde ziemlich komisch rüberkommen, nur, wenn wir allein sind).
Übrigens, obwohl wir viel Zeit zusammen verbracht haben, haben wir uns vorgenommen, auch was mit unseren Freunden zu machen. Ich muss dazu sagen, dass Tommy mich diese Woche dreimal angerufen hat, um etwas zu unternehmen, und ich war jedes Mal mit Nicolas zusammen. Ich hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen, ihn so im Stich zu lassen, aber er meinte, er könne mich verstehen, er wisse, dass ich Nicolas so lange vermisst habe. Er sei mir nicht böse.
Also ist der Tag im Freizeitpark eine schöne Gelegenheit, mit allen zusammen was Cooles zu machen, bevor die Schule wieder losgeht. Und es war sozusagen einer meiner Träume, dass Nicolas zu meiner Clique gehört. Keine Chance, dass ich noch mal so was mitmache wie mit Johann und seiner Clique und zwischen zwei Tischen in der Cafeteria hin- und herspringe. Nicolas und ich haben beschlossen, unsere Cliquen zusammenzuführen. Dann können wir mittags alle zusammen essen.
In der U-Bahn zum Freizeitpark.
Ich kann es kaum erwarten, mit dem Goliath zu fahren, meiner Lieblingsachterbahn!
Tommy spielt auf seinem neuen Handy herum. Kat unterhält sich mit Jean-Félix, während Emmerick Tommy zuschaut. Nicolas hält meine Hand und wir können die Augen nicht voneinander lassen.
Kat: »He, ihr zwei! Wollt ihr euch den ganzen Tag so anglotzen?«
Nicolas lächelt und flüstert mir »Upps, Titilititi« ins Ohr und ich pruste los.
Kat: »Am, was ziehst du morgen an?«
Ich: »Scheiße, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht!« (Zu Nicolas:) »Was ziehst du morgen an?«
Nicolas: »Wieso? Was spielt das für eine Rolle?«
Tommy (ohne den Kopf von seinem Spiel zu heben): »Herzlich Willkommen in der Welt von Kat und Laf.«
Ich: »Na … wir tauschen uns aus, damit wir nicht zufällig beide gleich angezogen sind … oder unpassend. Wenn du ganz in Grün kommst und ich ganz in Rot. Das sähe dann aus wie … Weihnachten.«
Nicolas: »Warum sollte ich mich ganz in Grün anziehen?«
Kat: »Das ist nur ein Beispiel!« (Zu mir:) »Gutes Beispiel, Am.«
Ich: »Danke, das ist mir einfach so eingefallen, peng.«
Kat: »Es wäre echt bescheuert, wie Weihnachten auszusehen.«
JF: »Ich habe mir im Urlaub in Deutschland ein echt cooles Shirt gekauft, ich glaube, das ziehe ich an. Und du, Tom?«
Tommy: »Ist doch scheißegal. Irgendwas, was nicht zu dreckig ist.«
Kat: »Das ist der erste Tag unseres letzten Schuljahrs. Das ist doch was Besonderes.«
Nicolas: »Am Abschlussball kann man sich schick machen.«
Ich: »Klar, der Ball. Aber es ist auch ein besonderer erster Schultag. Wenn wir den vermasseln, wird uns das ein Leben lang prägen. Wenn du dir zum Beispiel heute die Haare schneiden lassen würdest und der Schnitt total daneben gehen würde, würdest du dir dein Leben lang sagen: ›Am ersten Tag meines letzten Schuljahrs hatte ich eine schreckliche Frisur!‹«
Kat: »Du bist heute echt genial mit deinen Beispielen! Stimmt genau!«
Ich: »Ja, oder? Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist! Ich glaube, dass ich dem Tod haarscharf entronnen bin, hat mein Gehirn auf Touren gebracht.«
Nicolas: »Macht ihr euch den Stress nicht völlig umsonst?«
Tommy: »Du hättest sie mal letztes Jahr erleben sollen. Sie haben mir ihre gesamte Garderobe vorgeführt.«
Kat: »So schlimm war es gar nicht!«
Ich: »Genau, du hattest eine exklusive Modenschau!«
JF: »Ihr hättet mich einladen sollen.«
Kat: »Da kannten wir dich noch gar nicht.«
Die Durchsage teilt uns mit, dass wir an der Station Jean-Drapeau angekommen sind, der Haltestelle für den Freizeitpark. Als ich aufstehen will, bleibe ich am Sitz kleben, und ich muss noch einen Anlauf nehmen, um hochzukommen. Ich stelle fest, dass ich auf einem Karamellbonbon gesessen habe, das jetzt an meiner rechten Pobacke klebt. Ich begutachte meinen Hintern und versuche, das Bonbon zu lösen, aber es bleibt an meiner Hand kleben, was ich absolut ekelhaft finde (ein von einem Wildfremden angelutschtes Bonbon an meinen Fingern: ääääääärk!). Ich schüttele die Hand, um es loszuwerden, und als ich gerade aus der Bahn springen will, schließen sich vor mir die Türen und ich bleibe eingesperrt im Wagen, während meine Freunde auf der anderen Seite der Tür sind. Nicolas versucht, die Türen zu öffnen, ohne Erfolg. Die Bahn fährt weiter. Mit mir.
Grummel, grummel, grummel. Ich bin an der Station Longueuil und muss auf die andere Seite, um die nächste Bahn zu nehmen, die mich zurück zu Jean-Drapeau bringt. Grummel, grummel, grummel. Warum passiert so was immer mir? An meiner Jeans kleben immer noch Bonbonreste und ein Stück einer Papierserviette. Grummel, grummel, grummel. An meinen Händen auch. So sehr ich sie auch reibe, es geht nicht ab. Grummel, grummel, grummel.
Die nächste Bahn kommt in fünf Minuten, steht auf der elektronischen Anzeige. Grummel x 1000.
Ich steige aus der Bahn und gehe die Treppe hoch, um den Bus zum Vergnügungspark zu nehmen, als ich meine Freunde sehe, die mit den Armen rudern und meinen Namen rufen. Sie haben auf mich gewartet! Ich renne die letzten Stufen zu ihnen nach oben.
Ich: »Ihr habt auf mich gewartet?«
Kat: »Na, was hast du denn gedacht, du Doofi? Dass wir ohne dich in den Park gehen? Also echt!«
Nicolas: »Was war denn los?«
Ich: »Ich habe auf einem Bonbon gesessen …«
Tommy: »Ach, deshalb warst du viel größer als alle anderen.«
Kat: »Du bist so ein Schwachkopf!«
Ich: »Jetzt bin ich voll klebrig!«
Ich drehe mich um und zeige ihnen meinen Hintern mit den Bonbon- und Serviettenresten und dann meinen Daumen und meinen Zeigefinger, die dank der Bonbonreste auf meiner Haut fest zusammenkleben.
Tommy (zu Nicolas): »Du wirst sehen, man gewöhnt sich dran, so ist es immer mit ihr.«
Nicolas: »Ich kenne sie doch, das stört mich nicht.« (Zu mir:) »Wenn du willst, halte ich für dich nach Klebefallen Ausschau.«
Wenn man von diesem kleinen, äh, morgendlichen Zwischenfall absieht, der unsere Ankunft im Freizeitpark leicht verzögert hat, kann ich mich an dieses Datum erinnern und es unter meinen Top Five der schönsten Tage meines Lebens abspeichern. Ich führe noch keine solche Hitliste, aber es wäre gut, für den Fall, dass noch weitere Nahtoderfahrungen anstehen. Dann könnte mein Gehirn sich direkt an den Erinnerungen auf dieser Liste bedienen.
Wir haben alle Sachen gemacht, auch die blöden. Über Gott und die Welt geredet. Gelacht. Quatsch gemacht. Tommy hat sogar ein grässliches Riesenkuscheltier gewonnen, das er den ganzen Tag mit sich rumschleppen musste.
Wir waren zum vierten Mal im Goliath und ich bewunderte die Landschaft während des ersten Aufstiegs in den rosa, blau und malvenfarbenen Himmel, an dem eine dunkelorangefarbene Sonne schien, die sich schon halb hinter der Linie des Horizonts versteckte. Ich hatte allen versprechen müssen, dieses Mal die Augen offen zu lassen. Der erste Anstieg der Achterbahn ist nämlich echt hoch und die Abfahrt einfach schwindelerregend. Das Gefühl zu fallen ist so stark, dass ich jedes Mal Panik kriege und die Augen schließe.
In dem Moment, in dem die Bahn abwärts gesaust ist, habe ich mich zu Kat und Emmerick gedreht, die neben Nicolas und mir saßen, um ihnen zu sagen, wie schön der Himmel war. Aber Kat hat Panik bekommen und gekreischt: »Scheiß auf den Himmel! O nein, o nein, warum bin ich noch mal in das Ding gestiegen? O nein, o nein!!!«
Emmerick hat gelacht. Nicolas hat mich angesehen, meine Hand genommen, die immer noch klebrig von dem Bonbon war, hat seine Finger mit meinen verhakt und gesagt: »Ich liebe dich, Amélie Laflamme, und ich lasse dich nie mehr los.«
Und in dem Moment wusste ich, dass es nur eine Sache auf der Welt gibt, die mein Gesicht davon abhalten kann, bei Nicolas’ Anblick ein dümmliches Lächeln zu zeigen: die erste Abfahrt des Goliath. Ich habe die Augen geschlossen und geschrien: »WUUUAAAAAAHHHHH!!!!! HIIIILFEEEEE!!!!!!!!!!«
Hand in Hand mit Nicolas. Dieses Bild wird mir vom ersten Tag meines letzten Schuljahrs in Erinnerung bleiben. Ich werde mich vielleicht nicht an meine Klamotten erinnern. Ich werde mich vielleicht nicht an seine Klamotten erinnern. Aber ich werde mich daran erinnern, dass wir Hand in Hand waren. Dass es schön war und heiß. Und dass ich auf die Türen zusteuerte, um das letzte Schuljahr in Angriff zu nehmen.
Während wir auf den Eingang zugehen, überkommt mich ein Anflug von Wehmut. Ich denke an meine alte Schule zurück, wo ich von der siebten bis zur neunten Klasse gelernt habe (o.k., lernen ist ein großes Wort, sagen wir, wo ich hingegangen bin). Eine private Mädchenschule, die schließen musste, weil die Leute gemischte Schulen vorziehen und es nicht genügend Anmeldungen gab. Ich denke an meine Lieblingslehrerinnen, Schwester Rose, die Bio-Lehrerin, Madame Claude, die Französischlehrerin, und an Monsieur Beaulieu, den Direktor, der alles getan hat, um die Schule zu retten. Angeblich unterrichtet er jetzt Literatur an der Uni. Ich hatte auch versucht, unsere Schule zu retten. Aber es hat nichts gebracht. Das Gebäude wird gerade in ein Haus mit Eigentumswohnungen umgebaut.
»Warum machst du so ein Beerdigungsgesicht?«, fragt Kat.
Ich habe sie gar nicht kommen sehen. Sie ist in Begleitung ihrer Schwester Julianne, die heute ihren ersten Tag auf unserer Schule hat und nervös wirkt.
Ich: »Ich weiß auch nicht … Ich habe an unsere alte Schule gedacht. An Schwester Rose und Monsieur Beaulieu.«
Julianne: »Auf die Schule wäre ich auch gerne gegangen.«
Kat: »Hier haben wir viel mehr Spaß. Wenigstens gibt es hier Jungs.«
Ich: »Am Unterricht ändert das auch nichts.«
Kat: »Es bringt Leben in die Bude.«
Ich: »Wir haben selbst jede Menge Leben in die Bude gebracht!«
Kat: »Weißt du noch, als wir – hahahahahaha – der Statue der Jungfrau Maria eine Tasche an den Arm gehängt haben und Beaulieu – hahahahahaha – nicht herausgefunden hat, wer es war? Hahahahahaha! Wir fanden uns superwitzig!!!«
Ich: »Hahahahaha! Vor allem, weil die olle Tasche so gut zu ihrem Outfit gepasst hat!«
Nicolas: »Das habt ihr gemacht?«
Kat und ich lachen.
Julianne: »Ich wäre echt gerne auf eure alte Schule …«
Kat: »Das wird schon werden, Ju. Am und ich hatten keine großen Schwestern, als wir in die Siebte gekommen sind, und wir sind auch klargekommen. Du findest bestimmt auch eine beste Freundin fürs Leben, so wie wir.«
Sie legt mir den Arm um die Schulter.
Tommy stößt zu uns und fragt: »Was ist das für eine Versammlung?«
Nicolas: »Am und Kat hängen Marienstatuen Taschen um …«
Kat: »Jetzt doch nicht mehr, da waren wir noch klein!«
Julianne: »Da wart ihr so alt wie ich! Ich bin nicht klein!«
Kat: »Na, aber jedenfalls bist du kleiner als wir!«
Nicolas: »Julianne ist gestresst wegen ihres ersten Tags auf der Oberschule …«
Julianne: »Ich bin nicht gestresst!«
Kat: »Klar bist du gestresst!«
Tommy: »Das geht vorbei.«
JF kommt zu uns und sagt: »Na, ihr Idioten! Gibt’s einen Bombenalarm oder was? Worauf wartet ihr, warum geht ihr nicht rein?«
Kat: »Wir haben auf dich gewartet, du fetter Schwachkopf!«
JF: »He, ich bin nicht fett. Findest du mich fett? Ich esse viel, aber ich mache auch viel Sport. Karate und so.«
Er macht einen Karateschlag, als wolle er Kat angreifen, und Kat lacht.
Kat: »Ach Quatsch, du bist doch nicht fett!«
Raphael, Nicolas’ bester Freund, kommt zu uns und sagt Hallo. Hinter ihm kommt ein anderer Freund von Nicolas, den ich noch nicht getroffen habe, ein dünner Typ, der Jonathan Bolduc heißt, aber den die anderen Kufe nennen. Als ich Nicolas gefragt habe, warum er diesen Spitznamen hat, meinte er nur, das komme vom Eishockey. Aha.
Tommy: »Sind alle so weit?«
Während wir in die Schule gehen, vergleichen wir unsere Stundenpläne, die wir letzte Woche bekommen haben. Tommy und ich haben keinen einzigen Kurs zusammen, obwohl wir beide den kunst- und geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt gewählt haben. Kat und Nicolas, die sich beide für den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt entschieden haben, haben zusammen Französisch und die freie Lernstunde (ich bin ein bisschen neidisch, weil ich auch gerne eine Stunde mit Nicolas gehabt hätte). JF und Tommy haben gemeinsam Mathe. Ich bin enttäuscht, dass ich keinen einzigen Kurs mit meinen Freunden habe, aber was soll’s, ich werde es überleben. So ein Drama ist es nun auch nicht. (Doch, ist es! Voll blöööööööööööööööd!)
Sobald wir drinnen sind, schlägt Kat die Richtung zu den Klassenräumen der Siebtklässler ein und ruft uns zu, dass wir uns später sehen, weil sie ihre Schwester zu ihrer ersten Stunde bringen will.
Ich habe das blödeste Schließfach im Universum! Fach 0226. Ganz weit weg von allen anderen! Mitten in der Reihe. Leicht zu finden, weil es so verblasst ist. Es ist zweifach lackiert (grau, die ursprüngliche Farbe, und ein hässliches Gelb, die neue), und es ist ganz zerkratzt von einem Schlüssel oder Stift und es sind jede Menge Beleidigungen draufgeschmiert, »bitch« und andere, die ich hier nicht wiederhole. Keine Ahnung, wem dieses Fach vorher gehört hat, aber irgendwer war wohl auf ihn oder sie ziemlich sauer. Oder er/sie auf jemand anderen.
Ich geselle mich zu Nicolas und berichte ihm von meinem lädierten Fach. Er lacht. Er hat die Nummer 0775, gleich neben der 0777, dem Traumfach! Ganz am Ende einer Reihe, direkt neben dem Getränkeautomaten. Nicolas fasst mich um die Taille, zieht mich in die Ecke zwischen dem Getränkeautomaten und Fach 0777 und sagt mit einem Grinsen: »Guck mal, der perfekte Ort zum Knutschen. Niemand kann uns sehen.«
Er küsst mich und steckt seine Hände in meine Jeanstaschen, wie er es oft macht.
Wir werden von Audrey Villeneuve gestört, die ankommt, auf ihren Stundenplan schaut und vor dem Fach 0777 stehen bleibt. Sie hat lange, schwarze perfekte Haare und ist ein bisschen größer als wir. Sie entschuldigt sich mit einem breiten Lächeln für die Störung (man sieht beinahe ihre hyperweißen Zähne wie in einer Zahnpastawerbung blitzen). Dann öffnet sie ungerührt das Fach, als handele es sich nicht um das beste Fach der Welt. Pfff. Manche Menschen wissen ihr Glück echt nicht zu schätzen. Wenn ich dieses Fach bekommen hätte, hätte ich vor Freude einen Luftsprung gemacht. O.k., vielleicht keinen Luftsprung, aber zumindest gelächelt.
Nicolas und ich lösen uns voneinander und ich sage ihr Hallo. Sie schaut mich an und scheint sich zu fragen, wer ich bin und warum ich sie grüße. Äh … aus Höflichkeit? Ich fühle mich plötzlich blöd wegen des sozialen Elans, der wahrscheinlich über mich gekommen ist, weil ich so glücklich war, in Nicolas’ Armen zu sein. Sie lächelt und murmelt leise »Hallo«, dann räumt sie ihre Bücher in ihr nicht-wertgeschätztes Fach.
Kats Fach liegt am anderen Ende der Welt! Tommys auch. Als Kat zurückgekommen ist, habe ich sie gefragt (wenn auch nicht genau in diesen Worten), woher ihre plötzliche Empathie kommt (für Julianne, wohlgemerkt), diese selbstlose Nächstenliebe (es geht schließlich um Julianne), die Bereitschaft, einem anderen Menschen (nicht zu vergessen, dass es sich um ihre Schwester Julianne handelt) zu Glück, Seelenheil und Selbstverwirklichung in der Schule zu verhelfen, ohne etwas im Gegenzug zu verlangen. (Ich glaube, die Kat, die ich kenne, hätte ihrer Schwester nicht geholfen.)
Sie hat geantwortet: »He, du übertreibst! Ich liebe meine Schwester. Und ich will nicht, dass sie sich an ihrem ersten Schultag verläuft und mich blöd dastehen lässt!«
Ich: »Ahhhhh!«
Das mit der »selbstlosen Nächstenliebe« nehme ich zurück.
Kat: »Im Ernst, der erste Tag auf einer neuen Schule ist nicht leicht. Erinnerst du dich noch an unseren ersten Tag?«
Ich hatte Pa-nik! Kat und ich hatten uns bei der Aufnahmeprüfung kennengelernt, aber wir waren nicht in Kontakt geblieben. Also war ich an meinem ersten Schultag ganz allein. Und sie auch. Wir hatten beide eine öffentliche Schule verlassen, um auf diese Privatschule zu gehen. Wir kannten niemanden. Für Kat war es fast wie eine Strafe. Sie war sauer auf ihre Eltern. Ihre Mutter wollte sie unbedingt auf diese Schule schicken, weil sie selbst dorthin gegangen war. Ich für meinen Teil hatte mich wegen eines Jungen mit meiner besten Freundin verkracht und wollte so was nicht noch mal erleben. Ich sagte mir, auf einer Schule ohne Jungen würde dieses Problem nicht auftauchen (klar, im Nachhinein habe ich diese Logik infrage gestellt). Gleich am ersten Tag habe ich mich (natürlich) verlaufen. Ich war völlig verschüchtert. Also habe ich, als ich einen Lehrer nach dem Weg fragen wollte und keine zwei Wörter aneinanderreihen konnte, einen Satz aus einem Film zitiert, den ich auswendig konnte und in dem die Hauptperson nach dem Weg fragt (der Film wurde von Schauspielern aus Frankreich synchronisiert, weshalb ich mit einem Akzent gesprochen habe. Ich weiß: mega-bescheuert). Als ich diesen Satz vortrug und der Lehrer mich perplex ansah, weil ich so unnatürlich redete (ich bin eine schlechte Schauspielerin), war Kat gerade drauf und dran, den Feueralarm auszulösen, um aus der Schule verschwinden zu können. Aber als sie mich hörte, erkannte sie die Filmszene und sagte zu dem Lehrer: »Ist schon in Ordnung, ich nehme sie mit, da muss ich auch hin.« So haben wir uns kennengelernt und seitdem haben wir uns nicht mehr verlassen.
Der erste Tag meines letzten Schuljahrs könnte nicht schlechter beginnen als mit einer Stunde Mathe (ich wäre fast eingeschlafen, ich habe noch nicht vom Ferienmodus umgeschaltet). Außerdem habe ich Französisch (Begabtenkurs, wie immer) ausgerechnet mit dieser nicht-für-ihr-Fach-dankbaren-und-nicht-Hallo-sagenden Tussi, besser bekannt unter dem Namen Audrey Villeneuve. Auch das noch. Argh.
Der Französischlehrer Monsieur Brière, ein großer Dünner in den Vierzigern mit Intellektuellenmiene und runder Brille, stellt uns das Programm vor: »Der erfolgreiche Abschluss der elften Klasse ist sehr wichtig für den Eintritt in den Arbeitsmarkt und ist eine Grundvoraussetzung für alle, die studieren möchten. Wir haben dieses Jahr also viel vor. Es ist überaus wichtig, motiviert zu sein.«
Monsieur Brière (redet weiter): »Der größte Erfolgsfaktor ist die Anzahl an Stunden, die Sie dem Lernen widmet.« (Er schreibt die Wörter »Einsatz« und »Engagement« an die Tafel.) »Ich bin der Ansicht, dass ein Teilzeitjob von mehr als zwanzig Stunden in der Woche Ihrem Erfolg in der Schule schadet und bitte Sie, daran zu denken. Außerdem werden Sie anlässlich Ihres Abschlusses in verschiedenen Komitees mitwirken. Ich halte das für eine gute Art, sich in das schulische Leben einzubringen und an einem positiven und bereichernden Projekt mitzuwirken. Sie sind im Französisch-Begabtenkurs, Sie haben in diesem Fach also ein größeres Potential als der Durchschnitt der Schüler. Ich gratuliere Ihnen dazu und garantiere Ihnen, dass dieses Jahr ein Jahr harter Arbeit sein wird. Der Ball, die Party, das kommt am Ende des Jahres. In der Zwischenzeit wartet viel Arbeit auf uns. Also, fangen wir an?«
Niemand antwortet. Hat er etwa geglaubt, dass wir uns nach dieser Rede begeistert zeigen? Ich fühle mich richtiggehend in Angst und Schrecken versetzt.
Monsieur Brière (redet weiter): »Dieses Jahr kommt in den Abschlussprüfungen alles dran, was Sie in der gesamten Zeit auf der Oberschule gelernt haben. Fangen wir also damit an, Ihre Erinnerungen an etwas aufzufrischen, das Sie in der siebten Klasse gelernt haben. Ich weiß, das ist lange her, aber …«
Irgendjemand bemerkt sarkastisch: »Das ist so lange her, dass ich mich frage, wie die Autos damals aussahen.«
Alle lachen (einschließlich mir) und ich drehe mich um, um zu sehen, wer das gesagt hat. Ich sehe einen Jungen mit, ich würde sagen, karamellfarbenen Haaren, nicht wirklich gut gekämmt, die ihm bis ans Kinn reichen, einer grauen Jeans und einem schwarzen T-Shirt, dessen Motiv ich nicht erkennen kann. Er kritzelt etwas in sein Heft und hebt kaum den Kopf, als Monsieur Brière ihn anfährt: »Monsieur Bérubé, ich schlage vor, dass Sie sich Ihren Humor für Ihre Aufsätze aufheben. Sie werden dieses Jahr mehrere schreiben dürfen. Ich will ja nicht, dass es Ihnen dann an Ideen mangelt. Da fällt mir ein, in einigen Wochen werde ich Ihnen von einem Schreibwettbewerb berichten, an dem alle meine Schüler teilnehmen sollen.«
Gegen meinen Willen schiele ich zu Audrey. Ich fühle schon Kampfgeist in mir aufsteigen, was eigentlich gar nicht meine Art ist.
Sybil döst vor sich hin. Plötzlich schreckt sie auf und beginnt, eine Minute lang eine Stelle an ihrem Rücken zu lecken, als fände sie ganz plötzlich genau diese Stelle besonders dreckig. Danach schläft sie ebenso plötzlich wieder ein. Darüber muss ich lachen. Kat blickt von ihrem Schulplaner auf und fragt, was los ist.
Ich: »Das wäre zu umständlich zu erklären.«
Ich kraule den Kopf meiner Katze, die ganz dicht neben mir liegt. Kat und ich sitzen uns auf meinem Bett im Schneidersitz gegenüber und dekorieren unsere Schulplaner. Tommy sitzt auf dem Sofa und spielt ein Videospiel. Ich hatte ja einige Schwierigkeiten, mich an mein neues Zimmer zu gewöhnen, aber jetzt finde ich es einfach genial mit der kleinen Sofaecke, der Arbeitsecke und meinem eigenen Badezimmer. Das ist fast wie eine eigene kleine Wohnung!
Tommy meint, es sei Zeitverschwendung, dass wir unsere Schulplaner verschönern (und das sagt ausgerechnet einer, der seine Zeit mit Videospielen verbringt), aber Kat und ich halten das für einen wichtigen Bestandteil des Schuljahresanfangs. Vor allem ist es eine Tradition, die wir seit der siebten Klasse pflegen, da können wir doch nicht dieses Jahr damit aufhören. Abgesehen davon ist der Planer so hässlich, dass er durch unseren künstlerischen Einsatz nur schöner werden kann. Wir schreiben inspirierende Zitate rein. Wir kleben Fotos von Schauspielern oder Musikern ein, die wir aus unseren alten Ausgaben der Miss ausgeschnitten haben. Wir kleben Smileys und Frownies neben die Fächer, die wir mögen beziehungsweise nicht mögen. Und der beste Teil ist, wenn wir unsere Kalender tauschen und uns gegenseitig Überraschungssätze hineinschreiben, die wir dann im Laufe des Jahres entdecken. Totalen Blödsinn. Wie »Ich fress einen Besen« (ein Ausdruck meiner Mutter, den wir lustig finden) oder »Robert Pattinson am Spieß, lecker!« mit dem Kopf von Robert Pattinson auf einen Fleischspieß geklebt über einem mit orangefarbenem Filzstift gemalten Feuer. Über so was können wir uns totlachen, besonders, wenn wir eine dieser Inschriften im Unterricht entdecken!
Abendessen mit François und meiner Mutter. Hähnchen mit Olivensoße.
Meine Mutter (während sie mir Hähnchen auftut): »Und, wie war der erste Schultag?«
Ich: »Ziemlich normal. Ein paar Lehrer sind ganz cool, andere ganz schön streng, zum Beispiel der Französischlehrer. Und … ich hatte irgendwie, äh, eine Art Zwicken im Bauch, dass ich den Abschluss nicht auf meiner alten Schule machen kann. Ich weiß nicht, warum. Irgendwie deprimiert mich der Gedanke, dass jetzt Eigentumswohnungen in das Gebäude kommen. Ich war damals echt traurig, dass sie schließen musste. Obwohl, wenn sie nicht geschlossen hätte, hätte ich den Abschluss nicht zusammen mit Nicolas machen können. Also … ist eigentlich alles cool, aber irgendwie ist es auch traurig.«
Meine Mutter, die sich seit meinem zweiten Satz nicht mehr gerührt hat, sagt: »Es ist selten, dass ich so eine ausführliche Antwort bekomme, wenn ich dir eine Frage stelle. Einen Augenblick, ich muss erst mal überlegen, wie ich darauf reagiere.«
Ich: »He, Mama, du musst langsam mal einsehen, dass ich reifer geworden bin.«
Sie schaut François perplex an und setzt sich.
François: »Es macht dich also traurig, dass du die Schule nicht mit den Leuten abschließen kannst, mit denen du sie begonnen hast, aber du findest es cool, dass du das letzte Jahr mit deinem Freund verbringen kannst.«
Ich (mit vollem Mund): »Und mit Tommy und JF.«
Meine Mutter: »Weißt du, was dein Vater immer gesagt hat?«
Ich höre überrascht auf zu kauen. Es kommt so selten vor, dass meine Mutter einfach so meinen Vater zur Sprache bringt. Ich werfe einen Blick auf ihren Hals: keine roten Flecken wie sonst, wenn sie von ihm redet. Ich bekomme heftiges Herzklopfen und sage: »Nein. Was hat er immer gesagt?«
Meine Mutter: »Er sagte, dass das Leben uns viele Geschenke macht, aber manchmal sind sie in Boxhandschuhen verpackt.«
Ich: »Häh? Also echt, was ist denn das für ein Schwachsinn!«
Meine Mutter: »Warum? Wenn deine Schule nicht geschlossen hätte, würdest du deinen Abschluss nicht zusammen mit deinen Freunden machen. Es war also ein Geschenk, auch wenn es am Anfang schwer für dich war.«
Ich: »Und was soll das für ein schlecht verpacktes Geschenk sein, dass er gestorben ist?«
Meine Mutter zuckt die Schultern und François wechselt extrem auffällig das Thema, indem er das Essen lobt (obwohl er Hühnchen mit Olivensoße eigentlich gar nicht mag).
Ich liege auf meinem Bett, werfe einen Ball an die Decke (wobei ich versuche, nicht die Leuchtsterne zu treffen) und fange ihn wieder auf. Meine Mutter kommt und fragt, was ich da mache, weil sie oben Klopfgeräusche gehört hat. Ich entschuldige mich und lege den Ball auf den Nachttisch. Sie setzt sich zu mir aufs Bett.
»Tut mir leid, meine Große, dass ich diese Erinnerung an deinen Vater ausgegraben habe. Ich dachte, es sei ein guter Satz. Komischerweise habe ich ihn immer sehr positiv gesehen und ihn mir ins Gedächtnis gerufen, wenn ich etwas Schwieriges erlebt habe. Aber ich habe ihn bis jetzt nie mit seinem Tod in Verbindung gebracht. Du hast recht, darin liegt kein Geschenk.«
Ich bin ziemlich erleichtert, dass meine Mutter das sagt. Ich hatte schon befürchtet, sie würde sagen, das Geschenk sei, dass sie nie mit François zusammengekommen wäre, wenn mein Vater noch leben würde.
Ich: »Wir überraschen uns heute Abend wohl gegenseitig. Es kommt selten vor, dass du von Papa sprichst.«
Meine Mutter lacht und sagt: »Du musst langsam mal einsehen, dass ich reifer geworden bin.«
Ich lache auch und sage: »Hör nicht auf, von ihm zu sprechen, o.k.? Ich habe vorhin überreagiert. Es tut mir leid.«
Meine Mutter: »Wir werden doch jetzt nicht den Abend damit verbringen, uns zu entschuldigen, hm?«
Ich: »Weißt du, Mama, ich weiß, dass wir uns manchmal streiten und so, aber … du bist schon in Ordnung, als Mutter … meistens. Ich würde sogar sagen, dass du meine Lieblingsmutter bist.«
Meine Mutter: »Du hast ja auch keine Wahl, stimmt’s? Du bist auch meine Lieblingstochter!«
Sie steht auf, geht zur Treppe, dreht sich noch einmal um und sagt: »Es stimmt, du bist wirklich reifer geworden.«
Ich: »O nein, ich versuche nur, dich zu manipulieren, damit du mir ein Superkleid für den Abschlussball kaufst!«
Sie schnappt sich ein Sofakissen und bewirft mich damit, ich fange es auf und sie wirft ein zweites hinterher. Ich gehe in Deckung, lache wie verrückt und kreische: »Du kannst dir niemals wirklich sicher sein!«
Ich sitze am Küchentisch und mache Hausaufgaben. Meine Mutter und François reden die ganze Zeit und ich kann mich nicht auf meine Aufgabe für Ethik und Kultur konzentrieren. Sie ereifern sich über ein aktuelles Thema und werden immer lauter.
Ich: »Äh … Ich mache hier gerade Hausaufgaben!«
Meine Mutter: »Äh … Hast du nicht den ganzen Keller für dich? Mit einem schönen Schreibtisch, den ich dir genau zu diesem Zweck gekauft habe? Wir hören jedenfalls nicht auf zu reden, nur weil du Hausaufgaben machst.«
Mecker-mecker-mecker-mecker! Sie glaubt, dass sie immer im Recht ist. So ein Keller ist düster! Und feucht! Es kann doch nicht gut für die Gesundheit sein, wenn man ständig da unten Hausaufgaben macht!
Google. Google ist mein einziger Verbündeter.
Ich schnappe mir den Computer meiner Mutter und gebe ein: »Folgen für die Gesundheit (und die Konzentration), wenn man Hausaufgaben in einem dunklen und feuchten Keller macht«.
Das Rädchen des Cursors dreht sich. Dreht sich. Dreht sich immer noch.
Argh. Nie funktioniert das Internet, wenn ich meiner Mutter eins reinwürgen will!
Meine Mutter: »Was suchst du?«
Ich (stehe auf): »Nichts. Ich gehe in mein Zimmer.«
Seit einer Woche bin ich echt diszipliniert, was Hausaufgaben angeht. Ich mache jeden Tag ein bisschen, genau wie es in allen Büchern nach dem Motto »Erfolgreich in der Schule« geraten wird. Eine echte Streberin!
Nach nur einer Woche haben wir schon total viel auf. Zu viel, wenn man mich fragt, aber das ist natürlich meine persönliche Meinung, die meine Lehrer nicht zu teilen scheinen.
In Geschichte habe ich wie letztes Jahr Monsieur Létourneau und darüber bin ich froh, weil sein Unterricht echt spannend ist. Außerdem hat er uns in der ersten Stunde gesagt, dass es sein letztes Schuljahr ist, weil er am Ende des Jahres in Pension geht. Er hat uns eine Aufgabe zu den amerikanischen Präsidenten und deren historischem Beitrag in den unterschiedlichen Epochen gestellt.
In Französisch hat Monsieur Brière uns Grammatikübungen aufgebrummt.
In Mathe hat Madame Tanguay uns fünf Seiten im Übungsbuch aufgegeben. Kat und Nicolas haben Madame Lavoie und Jean-Félix und Tommy haben Monsieur Jobin (den coolsten Lehrer).
Den Theaterkurs habe ich hauptsächlich wegen Madame Séguin gewählt, weil ich sie so mag. Sie hat uns noch nichts aufgegeben. In der ersten Stunde mussten sich alle vorstellen und ich habe den berüchtigten Monsieur Bérubé aus Französisch kennengelernt, mit dem ich auch Ethik und Kultur und Spanisch habe. Sein Vorname ist Jason. Er ist neu auf der Schule. Er hat den Theaterkurs belegt, weil es keinen Filmkurs gibt. Madame Seguin, positiv wie immer, hat gerufen: »Ach, das ist ja super! Du könntest uns doch filmen!« Darauf hat er allerdings nicht geantwortet (er ist ein bisschen blöd).
In Spanisch hat Madame Simon uns eine Liste an Vokabeln gegeben, die wir lernen sollen.
Und in Sport habe ich wieder Monsieur Pelletier. Er hat mich augenzwinkernd gebeten, dieses Jahr das Programm zu respektieren, weil ich ihn letztes Jahr um Veränderungen gebeten habe. Er hat uns verkündet, dass er das Budget beantragen konnte, um drei Dance Dance Revolution Tanzmatten anzuschaffen, die den Schülern sogar während der Mittagspause zur Verfügung stehen. (Dank meiner Initiative, hehe.)
In Ethik und Kultur (wofür ich gerade Hausaufgaben mache) habe ich Monsieur Giguère, der ziemlich cool ist. Er hat uns aufgegeben, uns selbst vorzustellen, mit unseren Stärken, unseren Schwächen, unseren Zielen und unseren Träumen. Das ist schwieriger, als ich gedacht hätte. Ich habe noch nicht wirklich rausgefunden, was ich mal machen möchte.
Es ist mir noch nie gelungen, auf diese Frage die perfekte oder auch nur, äh, einigermaßen zutreffende Antwort zu geben. Es gab eine Zeit, als ich Musketier werden wollte. Da war ich sechs und hatte gerade einen Mantel-und-Degen-Film gesehen. Dann folgte eine Phase, in der ich sagte: »egal was, Hauptsache in England«, weil Prinz William auf allen Titelseiten war und ich davon träumte, ihm über den Weg zu laufen. Anschließend wollte ich Anwältin werden, aber warum, weiß ich nicht mehr.
Glücklicherweise haben wir einen Monat Zeit für diese Aufgabe.
Ich habe mir fest vorgenommen, dieses Jahr gut abzuschneiden. Mich nicht von meinem Privatleben ablenken zu lassen und mich nur auf die Schule zu konzentrieren. Das müsste sogar ziemlich leicht werden, weil alle, die ich kenne, denselben Vorsatz haben. Also sind alle beschäftigt. Kat hat wieder Reitunterricht und verbringt ihre restliche freie Zeit mit Emmerick, da der in einem anderen Stadtteil wohnt und nicht auf unsere Schule geht und es für sie komplizierter ist, sich zu treffen. (Heute hat er sie von der Schule abgeholt und sie hat sich auf ihn gestürzt, als hätten sie sich seit Jahrhunderten nicht gesehen.) Tommy arbeitet als Computerspieltester, Nicolas in der Zoohandlung und JF hat einen Job in einem Klamottenladen gefunden. Kat und ich haben ihn angefleht, uns seinem Chef zu empfehlen.
Mein letztes Schuljahr ist also ganz gut gestartet. Wenn das so weitergeht, breche ich alle Rekorde und räume sämtliche Preise bei der Schülerehrung am Ende des Schuljahrs ab.
OMann!!!!!!!! Das stehe ich NIE bis ans Ende des Jahres durch!!!!!
Ich sitze gerade mal seit fünf Minuten im Französischunterricht und es ist jetzt schon sooooo langweilig! Es ist, als wäre meine eine Hälfte lernwillig, aber die andere Hälfte noch in den Ferien.
Monsieur Brière erklärt uns, wie ein narrativer Text verfasst wird: »Um einen narrativen Text zu verfassen, müssen Sie die Zeit, den Ort, die Personen, die Themen und den Stil festlegen.«
Wenn er redet, habe ich das Gefühl, als würde man mir die Haut abziehen und Salz aufs Fleisch streuen, auch wenn ich das ehrlich gesagt noch nie erlebt habe (was auch seltsam wäre, muss ich sagen, aber ich habe ein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen für Schmerzen, die ich niemals erleben will).
Ich schaue nach draußen und suche nach einem Fluchtweg. Vor dem Fenster steht ein Baum und ich stelle mir vor, wie ich auf einen Ast springe, den Stamm runterklettere, bis zum Zaun des Schulhofs renne, mich mit einigen professionellen Bewegungen darüber schwinge, auf dem Bürgersteig lande und so schnell wie möglich zum Flughafen renne, um ein Flugzeug ans andere Ende der Welt zu nehmen. Man würde mich finden, natürlich nur mit Hilfe des FBI (weil ich mich sehr gut versteckt hätte), und zurück nach Québec bringen, wo mir der Prozess gemacht würde, der große mediale Aufmerksamkeit bekäme.
Der Oberstaatsanwalt würde mit allen Mitteln zu beweisen versuchen, dass ich der »Schulflucht« schuldig wäre, und ich würde auf »Ausweglosigkeit wegen tödlicher Langeweile« plädieren.
Im Gericht würde er mit fester Stimme sagen: »Mademoiselle Laflamme, zahlreiche Indizien sprechen gegen Sie. Sie haben die gesamte Oberschule auf einem anderen Stern verbracht und Noten erhalten, die Ihren Fähigkeiten nicht entsprechen, weil sie geträumt und gefaulenzt und weder Ihren Lehrern, noch dem Unterricht Interesse entgegengebracht haben. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«
Ich: »Dass die Schule blöd war.«
Oberstaatsanwalt: »Was wollen Sie tun, um die Jury gnädig zu stimmen?«
Mein Anwalt würde aufspringen und rufen: »Einspruch, Euer Ehren! Sie wollen die Angeklagte beeinflussen.«
Der Richter: »Einspruch abgelehnt. Antworten Sie, Mademoiselle Laflamme.«
Ich: »Äh …? Wie war noch mal die Frage?«
Oberstaatsanwalt: »Was wollen Sie tun, um die Jury gnädig zu stimmen?«
Ich: »Nichts. Ich plädiere auf schuldig, Euer Ehren. Das Bildungssystem ist nicht auf meine, äh, Bedürfnisse zugeschnitten.«
Oberstaatsanwalt: »Und was bitte sind Ihre Bedürfnisse?«
Ich: »Abgesehen von ganz normalen Dingen wie essen, schlafen, One Tree Hill und Gossip Girl gucken, würde ich sagen: Dinge lernen, die mir im Leben wirklich etwas bringen.«
Oberstaatsanwalt: »Was wollen Sie denn später mal machen?«
Ich: »Keine Ahnung …«
Oberstaatsanwalt: »Also, woher wollen Sie wissen, ob das, was Sie in der Schule lernen, Ihnen später mal was bringt?«
Mein Anwalt würde wieder einschreiten: »Einspruch, Euer Ehren! Er versucht, der Angeklagten die Worte in den Mund zu legen.«
Richter: »Einspruch stattgegeben. Herr Oberstaatsanwalt, bitte stellen Sie objektivere Fragen.«
Oberstaatsanwalt: »Sind Sie absolut sicher, dass das, was Sie lernen, ihnen später nichts bringen wird? Hat Ihnen das, was Sie bis jetzt gelernt haben, noch nichts gebracht?«
Mein Anwalt würde auf den Tisch hauen und fauchen:
»Einspruch! Man bombardiert die Angeklagte mit Fragen!«
Richter: »Einspruch stattgegeben. Herr Oberstaatsanwalt, bitte stellen Sie direktere und präzisere Fragen.«
Der Oberstaatsanwalt würde in seine Akte schauen und mich fragen: »Haben Sie am 29. August letzten Jahres etwa nicht auf eine Kopfrechenmethode zurückgegriffen, um sich«, (er überprüft seine Akte), »Gummibärchen zu kaufen?«
Ich: »Äh … ich erinnere mich doch nicht an die genauen Daten meiner Gummibärchenkäufe.«