Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Peter von Matt ist ein begnadeter Literaturerzähler. Mit ansteckender Freude lässt er seine Leser teilhaben an seinen Entdeckungen. In präzisen und unterhaltsamen Beiträgen über die Deutsche Literatur von Lichtenberg bis Freud, von E.T.A. Hoffmann bis Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek, von Goethe bis Kafka und Heiner Müller macht Peter von Matt anschaulich, warum die Literatur im Leben so wichtig ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Peter von Matt ist ein begnadeter Literaturerzähler. Mit ansteckender Freude lässt er seine Leser teilhaben an seinen Entdeckungen. In präzisen und unterhaltsamen Beiträgen über die Deutsche Literatur von Lichtenberg bis Freud, von E.T.A. Hoffmann bis Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek, von Goethe bis Kafka und Heiner Müller macht Peter von Matt anschaulich, warum die Literatur im Leben so wichtig ist.
Peter von Matt
Das Wilde und die Ordnung
Zur deutschen Literatur
Carl Hanser Verlag
Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen.
Goethe. Zahme Xenien III
Cover
Über das Buch
Titel
Fußnoten
Über Peter von Matt
Impressum
»Mein geliebtes Deutsch« — Ja welches denn eigentlich?
Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten
»Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen«
Die Szene, von der man schweigt
Tod und Gelächter
Appetit und Heroismus
Die handgreifliche Seite der geistigen Dinge
Dreizehn Variationen über einen Satz von Lichtenberg
Das Tier Murr
Abschied von der Dämonie
Dichten in der Niemandszeit
Die Kunst, die Freiheit, der Teufel und der Tod
Nestroy oder das Leiden an der eigenen Intelligenz
Eros und Politik
Wetterleuchten der Moderne
Der Chef in der Krise
»Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!«
Freud und das Lesen
Lesen als Katastrophe
Die Wissenschaften und die Zeit
Das große K in Kafkas Handschrift
Erzählen zwischen Flut und Versteinerung
Nachweise
Register
Als Faust, vom Osterspaziergang angenehm entspannt, sich daran macht, das Neue Testament zu übersetzen, beginnt der Pudel, der ihm zugelaufen ist, zu knurren und zu murren. Noch kennt Faust des Pudels Kern nicht. Mephisto, der elegante Teufel, ist tief in dem Tier versteckt. Das großartige Unternehmen einer neuen Bibelübersetzung scheitert nach dem ersten Satz. »In principio erat verbum« heiße, sagt Faust, nachdem er mehrere Varianten erprobt hat: »Im Anfang war die Tat.« Jetzt heult der Pudel auf, und wir wissen nicht, geschieht es, weil die Übersetzung so gänzlich falsch oder weil sie erstmals ganz richtig ist. Auf jeden Fall sind wir Zeugen des kürzesten von all den vielen Versuchen im Gang der Kulturgeschichte, die Bibel endgültig ins Deutsche zu übersetzen.
Wenn man genau zusieht, zeigt es sich, daß in Fausts hochgemutem Unterfangen von Anfang an der Wurm steckt. Der erste Impetus scheint zwar noch ganz rein und ungebrochen. »Mich drängt’s«, sagt der Doktor,
Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
»Mein geliebtes Deutsch« — das ist hier eine fraglose Gegebenheit. Aus der gelassenen Art, mit der Faust davon spricht, darf man entnehmen, daß er sich dieser Sprache ganz sicher fühlt. Das geliebte Deutsch ist ein Teil seiner Natur. Wenn ihm der Urtext die Seele füllt, wird sich die deutsche Gestalt von selbst ergeben. So denkt er, als er das Buch aufschlägt. Dann aber stellt ihm der erste Satz ein Bein:
Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Aus dem tiefen Vertrauen in das geliebte Deutsch heraus zweifelt er plötzlich am Wort. Das Wort, kommt es ihm vor, sei nur Schale, tote Hülle. Der Sinn, meint er, sei weit mehr als das Wort. Also müsse es heißen: »Im Anfang war der Sinn.« Aber auch das will ihm nicht gefallen, und er setzt statt »Sinn« den Ausdruck »Kraft«. Wieder meldet sich das Unbehagen; er verwirft auch die Kraft und gelangt zur letzten Variante: »Im Anfang war die Tat«.
Man könnte an dieser Szene die ganze Geschichte der Sprachphilosophie von Aristoteles bis Wittgenstein und Derrida abhandeln. Zuerst ist immer das unbestrittene Ereignis des lebendigen Wortes da, der tönenden Sprache, in die wir hineinwachsen und aus der heraus wir werden, was wir sind. Unsere innerste Existenz hängt ab von der Unerschütterlichkeit des Wortes. Daher geht alle Sprachskepsis und alle Sprachkritik von dem zunächst unbestrittenen Ereignis des gesicherten Wortes aus. Der Zweifel setzt die Gewißheit voraus. Sie muß da sein, bevor sie hinterfragt werden kann. Und alle Sprachskepsis und wütende Sprachkritik, von Nietzsches Lüge im außermoralischen Sinn über die modrigen Pilze im Munde des Lord Chandos bis zum postmodernen Zweifel am Logos, sie können den Weg zu den Lesern und Hörern nur finden, weil es die Unerschütterlichkeit des Wortes dennoch gibt. So zuverlässig ist das Wort, daß es auch noch die grimmigsten Beweise seiner Unzuverlässigkeit getreulich vermittelt.
Immerzu wiederholt sich hier das gleiche. Einer beginnt über das Wort nachzudenken. Zweifel schießen in ihm hoch an dessen Tauglichkeit. Diese Zweifel wollen ausgesprochen sein. Und dafür bedarf es ebendieses Wortes. Nietzsche und Hofmannsthal haben selten wortmächtiger geschrieben, als wenn sie die Ohnmacht des Wortes schilderten, über Seiten hin. Als Schiller seine Sprachphilosophie in zwei Verse faßte, ein Distichon, beklagte er die Kluft zwischen dem lebendigen Geist und dem erstarrten Wort. Der Geist sei eingesperrt im Kerker des Wortes; ein lebendiger Geist vermöge dem andern über das Wort gar nicht zu begegnen. Diese Aussage selbst aber wurde unter Schillers Händen zu einem vollkommenen Stück deutscher Sprache, deutscher Dichtung, deutscher Philosophie, zu einem Kunstwerk von römischer Lapidarität und elegant zugleich wie Meißner Porzellan:
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?
Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.
Schillers lebendiger Geist erscheint uns in diesem Epigramm als strahlende Gegenwart, und wir merken gar nicht, daß unsere Freude an dieser Begegnung den Inhalt der Verse widerlegt.
Der Widerspruch zwischen Fausts herzlichem Bekenntnis zum geliebten Deutsch und seinem fundamentalen Zweifel am Wort spiegelt sich nicht nur in der Geschichte der Sprachskepsis, er findet auch eine Entsprechung im Nachdenken über die deutsche Sprache als ein lebendiges Ganzes. Wo erfasse ich sie denn in ihrem Wesen? Wann kann ich sagen: Seht her, das ist es, mein geliebtes Deutsch! Geschieht es, wenn ich vor Grimms Wörterbuch stehe, den sämtlichen Bänden, unter denen sich das Bücherbrett leicht, aber unübersehbar biegt? Geschieht es, wenn ich den »Faust« aufschlage und denke, herrlichere deutsche Verse habe es nie gegeben? Oder muß ich zu Luthers Bibelübersetzung greifen, um im archaischen Klang, den sie inzwischen gewonnen hat, die ursprüngliche Seele der deutschen Sprache zu wittern (obwohl ich dabei die Patina mit dem Metall verwechsle)? Soll ich von der genormten Schriftsprache, der Standardsprache, wie sie mit einem Ausdruck von ausnehmender Häßlichkeit genannt wird, hinuntersteigen in das blühende Reich der Mundarten, der Umgangs- und Gruppensprachen, um zwischen Jargon, Slang und Lokaldialekten endlich das volle Leben der deutschen Sprache zu finden, ein Leben wie das wuselnde und wuchernde, schwänzelnde und schlängelnde, glucksende und läutende, orgelnde und schallende Treiben eines Froschteichs? Führt nicht eine einzige Jakobsleiter aus dieser Tiefe hinauf zu den gefährlichsten Spitzen dichterischer Rede, den späten Fragmenten Hölderlins, den Orakelworten Georg Trakls und Paul Celans?
Oder verfalle ich mit dieser Annahme einmal mehr dem alten deutschen Laster der Romantik, welche die Wahrheit nur im Ursprung sehen will, den Ursprung aber im Unergründlichen, von dem sich nur noch raunen läßt? Gibt es nicht auch Gründe für die Annahme, daß ein klarer deutscher Satz besser sei als das heilige Stammeln, das keiner wirklich begreift? Soll man also den Maßstab umkehren und das Herz der deutschen Sprache dort suchen, wo sie am deutlichsten ist, taghell, beim Polemiker Lessing, in Lichtenbergs Sudelbüchern, in Börnes Pariser Briefen oder Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner? Es ist ein verlockender Gedanke. Aber unterschlägt man mit diesem vernünftigen Maßstab nicht doch wieder die Tatsache, daß alles klare Sprechen seine Grenzen findet am Geheimnis der Welt und unserer eigenen Seele? These steht hier gegen These, so wie das Wissen immer neu gegen die Ahnung steht, das aufgeklärte Licht gegen das romantische Dunkel und die rhetorische Prägnanz gegen den Hallraum der Poesie. Dennoch gibt es Sätze, die beides leisten. Sie sprechen die Geheimnisse der Welt und unserer Seele aus und stehen dabei so deutlich da wie ein Obelisk im Sonnenschein. Zu ihnen gehört der erste Satz von Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung«. Er lautet:
»Die Welt ist meine Vorstellung:« — dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten.
Zugegeben, man muß es vielleicht zweimal lesen, aber dann hat man es verstanden und hat etwas begriffen von der Welt und von sich selbst. Und überdies hat man dabei eine Erfahrung gemacht mit der Kunst des deutschen Satzbaus und den verwegensten Raffinessen der Interpunktion.
Was also gilt jetzt? Wo also fasse ich das, was Faust so herzlich »mein geliebtes Deutsch« nennt? Man könnte sagen, die Frage selber sei absurd. Schließlich hätten die Sprachwissenschaftler längst ein weitläufiges System entworfen, in dem alle Stufen und Varianten, alle Idiolekte und Soziolekte, alle hochentwickelten und verkümmerten Formen deutschen Redens und Schreibens aufgefangen seien, und die Syntax des späten Thomas Mann finde darin ebenso ihren Ort wie die flinken Wendungen, mit denen sich die jungen Leute heute per SMS verständigen. Das stimmt, und doch ergibt sich aus diesem ganzen System mit seinen vielen Kategorien jene gesuchte Einheit keineswegs. Das System ist eine Voraussetzung für die linguistischen Forschungen. Es ist überaus nützlich, aber meiner existentiellen Erfahrung der deutschen Sprache nützt es wenig. Sonst könnte Faust ja auch sagen:
Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In meine geliebte Standardsprache zu übertragen.
Tatsächlich habe ich noch nie jemanden getroffen, der erklärte, er liebe die deutsche Standardsprache. Aber ich kenne viele, die sich rückhaltlos zu dem bekennen, was Faust »mein geliebtes Deutsch« nennt.
Jage ich hier aber nicht doch einem Phantom nach? Wenn sich schon unter dem lieben Gott jeder etwas anderes vorstellen darf, mag sich ja wohl auch bei der deutschen Sprache jeder denken, was er will. Solange die verschiedenen Religionen darauf verzichten, den lieben Gott näher zu definieren, kommen sie bekanntlich bestens miteinander aus. Soll man es da mit dem »geliebten Deutsch« nicht ähnlich halten und die Frage nach dessen Wesen und Einheit getrost auf sich beruhen lassen? Ist eine solche Suche nicht Essentialismus, altväterisches Denken in einer Zeit, die alle Wirklichkeit als Konstruktion erkannt hat, sogar das Ich, das Geschlecht und die Erinnerung?
Man braucht indessen nur zurückzudenken in die ersten Jahrzehnte nach dem Hitlerreich, um zu erkennen, wie lebenswichtig die Auseinandersetzung um das Wesen der deutschen Sprache für eine ganze Epoche sein kann. Ganz unübersehbar war die Literatur nach 1945, bis weit in die sechziger Jahre hinein, geprägt von der Erfahrung einer geschändeten Sprache. Die deutsche Sprache als solche stand nach dem Nationalsozialismus in Verdacht. Öffentlich vom »geliebten Deutsch« zu sprechen, war eine Unmöglichkeit geworden oder ein politisch verdächtiger Akt. Das Schreiben von Ingeborg Bachmann und Paul Celan, den repräsentativen Lyrikern jener Jahre, war der unablässige Versuch, einen Ausweg zu finden aus dem erlebten Korruptionszustand der deutschen Sprache. Leidenschaftlich erstrebten sie ein anderes Deutsch, ein Deutsch ohne den Makel der Lüge und das Brandmal der Unmenschlichkeit. Die deutsche Sprache war zur Hure eines perversen Regimes gemacht worden und hatte sich zu jedem schändlichen Treiben erniedrigen lassen. Das Wörterbuch des Unmenschen steckte im Herzbereich des deutschen Wortschatzes. Wie konnte die Literatur diesem Deutsch auf deutsch entkommen? Alle die Wörter und Wendungen, die getränkt waren von der Propaganda des wüsten Regimes, waren sie je wieder zu gebrauchen? Hatten sie nicht mit ihrem Glanz, ihren Klängen und Farben jede Untat rechtfertigen helfen? War nicht gerade das, was Faust sein geliebtes Deutsch nannte, bis in den Kern verdorben?
Ein großer Teil der Nachkriegsliteratur ist zu verstehen von der paradoxen Aufgabe her, der korrumpierten deutschen Sprache in deutscher Sprache zu entkommen. Ingeborg Bachmann will in ihren Gedichten zur vergessenen Unschuld der Sprache vorstoßen. Die falsche Sprache denunzierend, will sie die wahre gewinnen. Zwei schmale Bände lang ringt sie um das schuldlose Wort im Gedicht; dann verstummt sie als Lyrikerin, als hätte sie der eigenen Lösung doch nicht getraut. In ihrer Prosa bleibt sie dieser Suche weiterhin verhaftet. Und zunehmend verbindet sich für sie die wahre und falsche Sprache mit der wahren und falschen Liebe. Die Lügen der Vergangenheit leben fort in den falschen Wörtern der Gegenwart; die Verbrechen von damals erscheinen wieder in der verratenen Liebe von heute.
Paul Celans Antwort auf die paradoxe Aufgabe war eine andere. Er gewann das unbescholtene Wort zurück, indem er es im Akt des Setzens dem Hörer und Leser wieder entzog. Der unerhörte Klang seiner Verse entfaltete sich in dem Maße, in dem sie einen unmittelbaren Sinn verweigerten. Jedes Celan-Gedicht war von der Erfahrung bewegt, daß das Verstehen der Wörter auch ein Unterwerfen sei, ein Akt der Gewalt. Also suchte er ein deutsches Gedicht, das solcher Macht entzogen bleibt, ein Deutsch, das niemandem zu Diensten steht und keiner Herrschaft Hure werden kann. Dieses Ziel, im Akt des Sagens den Sinn zu entziehen und im Entzug dessen Anwesenheit doch zu gewinnen, hat das Werk Celans erst ermöglicht. Seine Gedichte zeugen von einer Liebe zur deutschen Sprache, die sich nicht bekennen darf, weil sie damit jenen in die Hände arbeiten würde, welche sie geschändet haben. So unmöglich es Celan gewesen wäre, den Ausdruck »mein geliebtes Deutsch« mit eigener Hand niederzuschreiben, so spürbar regt sich diese Liebe doch in jeder Zeile seiner Dichtung.
Es geht hier nicht darum, die Debatten der fünfziger und sechziger Jahre wiederzuerwecken. Es ist auch nicht möglich, die poetischen Spielarten alle aufzulisten, mit denen die Autorinnen und Autoren damals versuchten, der Unmöglichkeit des Schreibens schreibend zu entkommen. Der Rückgriff auf die Avantgarden der frühen Moderne gehörte dazu, der bunte Neodadaismus der Wiener Gruppe und der Konkreten Poesie, auch die Wiederkehr der Sprachspiele eines James Joyce bei Arno Schmidt. Es geht hier nur darum, im Verweis auf dieses weitläufige, die Kultur der Nachkriegszeit prägende Geschehen vor Augen zu führen, daß wir uns nie völlig davon verabschieden können, nach dem lebendigen Ganzen der deutschen Sprache zu fragen. Auch wenn uns das philosophische Gewissen sagt, daß wir dabei ein Wesen suchen, das es »an sich« gar nicht gibt, ändert sich nichts an der tatsächlichen Erfahrung einer lebendigen Ganzheit deutscher Sprache. Denn was geliebt wird, das gibt’s.
Wie sehr das, was als Substanz erlebt wird, konstruiert ist, wie sehr aber auch jede Konstruktion nur einen Sinn gewinnt, wenn sie zuletzt als Substanz erlebt wird, zeigt sich beim Blick auf die unterschiedlichen Begründungen einer Einheit der deutschen Sprache im Verlauf der Zeiten. Sie beruhen bald auf rationalen, bald auf irrationalen Voraussetzungen, kommen bald nüchtern soziologisch, bald mythisch aufgeladen daher. Auch die Theorie vom Status corruptionis der deutschen Sprache nach dem Hitlerreich war ja eine Mischung aus linguistischer Sachlichkeit und Dämonisierung.
Im frühen 18. Jahrhundert pflegte man die deutsche Sprache aus dem Gegensatz zur französischen und italienischen zu erfassen, und Einstimmigkeit herrschte darüber, daß das Französische als fremde Macht das Deutsche unterdrückt und in Fesseln gelegt habe. Das war sachlich begründet. Die Verachtung der deutschen Sprache und Literatur durch Friedrich den Großen ist legendär und steht beispielhaft für die Haltung der Höfe und der Aristokratie. Dem entsprach bei der jungen Intelligenz das bittere Bewußtsein eines Rückstands der deutschen literarischen Kultur gegenüber Frankreich, England, Spanien und Italien. Der Wille, diese andern einzuholen, mit ihnen gleichzuziehen und sie schließlich zu übertreffen, steht als gewaltige Schubkraft hinter dem, was wir im weitesten Sinne die deutsche Klassik nennen. Das war noch kein Nationalismus; es war ein großartiger Wettbewerb der Geister. Die Übersetzungsszene im »Faust« kann symbolisch auch dafür stehen. Wie im Roman, in der Tragödie, in der Lyrik sollte das »geliebte Deutsch« auch in der Bibelübertragung zu einer Stimme gleichen Klanges, gleichen Ranges im Chor der europäischen Kultursprachen werden. Die unbegreiflich reiche literarische Produktion in den letzten drei Jahrzehnten des deutschen 18. Jahrhunderts wird nur verständlich durch die Tatsache, daß die jungen deutschen Autoren überall in Europa große literarische Formen verwirklicht sahen, für die es in Deutschland noch keine Entsprechung gab. Und sie loderten in der Überzeugung, man müsse bloß der Sprache vertrauen, sie freisetzen, und sie würde den Rückstand in gewaltigen Sprüngen einholen. Aus ungestümer Seele lieben mußte man sie, und der deutsche Hamlet würde so wenig auf sich warten lassen wie der deutsche Don Quijote und das deutsche Paradise Lost. Förmlich aus dem Boden schießen würden die deutschen Diderots und Rousseaus, die Sternes und Fieldings, die Boccaccios und Ariostos. Das tönt nach Größenwahn und Verblendung — aber so geschah es in der Tat. Drei Jahrzehnte, drei Sprünge, und das literarische Deutschland stand unter den Literaturen Europas gleichberechtigt da, stand da wie einer von Hölderlins »Eichbäumen« in dem Gedicht, das am genauen Ende des dritten dieser Jahrzehnte entstand:
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
»Mein geliebtes Deutsch« — in diesem Wort aus Fausts Mund pocht das mächtige Sprachvertrauen, aus dem die neue Literatur geboren wurde, eine Literatur, die ihre höchste Verkörperung in dieser Faustdichtung selbst gefunden hat. Das ganze Faust-Projekt beginnt ja mit der Erfahrung des Eingesperrtseins:
Weh! steck ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch!
Man kann dieses Eingesperrtsein und den Gestus der Kerkersprengung, von dem der »Faust« in beiden Teilen bis zum letzten Vers lebt, übertragen auf die Erfahrung, die Lessing und Wieland, Herder und Goethe, Bürger und Klopstock mit jener deutschen Sprache machten, die sie antrafen und die sie in Freiheit setzten. Und wenn man an Fausts Erlebnis mit dem Pudel denkt, darf man wahrhaftig sagen, sie haben sie befreit auf Teufel komm raus.
In der Parole vom »geliebten Deutsch« steckt die erlebte Einheit der Sprache. Sie mag sprachtheoretisch fragwürdig sein, geschichtlich wurde sie unabsehbar wirksam.
Auch die Romantik hat ihre Theorien von Wesen und Einheit der deutschen Sprache entwickelt, auch diese wurden historisch wirksam, aber auf etliche dieser Wirkungen hätten wir gerne verzichtet. Mehr und mehr entfaltete sich jetzt ein nationalistischer Sprachmystizismus, der das sogenannte Wesen der deutschen Sprache mit dem ebenso sogenannten Wesen des deutschen Volkes verknüpfte. Den Geist der Sprache leitete man aus dem Geist der Nation ab und den Geist der Nation aus dem Geist der Sprache. Keiner dieser geheimnisvollen Geister war als Wirklichkeit fassbar; also bewies man kurzerhand das eine Phantom durch das andere. Der wütende politische Nationalismus, auf den die Kriege des 19. und die Weltkriege des 20. Jahrhunderts zurückzuführen sind, nährte sich stets von der Beschwörung dieser beiden Phantome. Sie sind auch heute noch nicht ganz aus der Welt verschwunden. Immer noch gibt es Politiker, die die Einheit einer Nation von der Einheit der Sprache herleiten wollen. Für einen Schweizer, der sich seiner viersprachigen Nation zugehörig fühlt, ist das Unsinn. Aber selbst Hugo von Hofmannsthal hat in den Zwanziger Jahren vom Geist der deutschen Nation geraunt, der im tiefsten der Geist der deutschen Sprache sei. Man traut seinen Augen nicht, wenn man das heute liest. So tönte das in Hofmannsthals Rede »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«:
In einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das bloße natürliche Verständigungsmittel; denn in ihr redet Vergangenes zu uns, Kräfte wirken auf uns ein und werden unmittelbar gewaltig, denen die politischen Einrichtungen weder Raum zu geben, noch Schranken zu setzen mächtig sind, ein eigentümlicher Zusammenhang wird wirksam zwischen den Geschlechtern, wir ahnen dahinter ein Etwas waltend, das wir den Geist der Nation zu nennen uns getrauen.
»Wir ahnen dahinter ein Etwas waltend…« — dagegen läßt sich nicht leicht aufkommen. Schon ein »Etwas« ist schwer greifbar, aber erst recht ein »Etwas« das »wir ahnen« und überdies »dahinter«. Hier zeugt ein Phantom das andere. Deshalb kann dieser Redner auch im gleichen Atemzug den Vereinigten Staaten der Charakter einer Nation absprechen: »Hierdurch unterscheiden sich unsere alten europäischen Nationen von jenem jungen, nach außen mächtigen amerikanischen Staatswesen, in dem wir eine Nation in diesem Sinne noch nicht zu erkennen vermögen.« Offenbar kann er hinter den USA kein waltendes Etwas ahnen. Als Wiener, aufgewachsen in einem Vielvölkerstaat, hätte er es eigentlich besser wissen müssen. Schlicht ärgerlich aber ist es heute noch, wie Hofmannsthal, indem er den Geist der Nation im Geist der Sprache beschwört, eine explizite Abwertung der politischen Ordnung seiner Zeit vornimmt. Auch wenn er es verschnörkelt sagt, ahnen wir dahinter doch ein Etwas waltend, das sich gegen die demokratische Willensbildung stellt.
Es ist wichtig, diese Vorgänge unzimperlich klarzulegen. Die Erfahrung der deutschen Sprache als einer naturhaften Einheit — »mein geliebtes Deutsch« — hat einst wesentlich beigetragen zum fabelhaften Aufstieg der deutschen Literatur. Aber die pseudoreligiöse Stilisierung dieser Sprache zur erscheinenden Gestalt des Volksgeistes hat auch die übelsten nationalistischen Verblendungen befördert und ästhetisch dekoriert.
Offenbar besteht da ein Dilemma. Wer die deutsche Sprache liebt, kann nicht umhin, sie als große Einheit zu sehen. Wer sie aber als Einheit sieht, ist auch schon in Gefahr, einem Phantom hinterherzulaufen. Tatsächlich ist die Wirklichkeit der deutschen Sprache eine Wildnis von so dschungelhafter Vielfalt, daß keiner sagen kann, er kenne sich darin bis in die letzten Reviere aus. Es gibt ein paar breite Straßen quer durch diesen Urwald, aber davon zweigen Seitenstraßen ab und von den Seitenstraßen Wege und von den Wegen Trampelpfade, und dann geht es immer noch weiter ins Ungebahnte. Solche dschungelhafte Vielfalt kennzeichnet aber auch die deutsche Literatur. Auch hier geraten wir allzu rasch in die Versuchung, eine Einheit zu setzen, die es nicht gibt. Und wenn dies heute auch nicht mehr zur Beschwörung eines deutschen Literaturgeistes führt, so hat es doch viele Ausgrenzungen zur Folge, wohlbedachte und unreflektierte. Die Idee der Einheit setzt stets eine Norm, und jede Norm setzt Grenzen, und alle Grenzen schließen aus.
Man sieht das sehr schön bei den Kanondebatten und Kanonvorschlägen, die heute Konjunktur haben. Gewiß ist es vielen Leuten dienlich, wenn eine Art Kernbestand der deutschen Literatur in Form von Titelverzeichnissen und Anthologien vorgelegt wird. Diese entsprechen einem Bedürfnis, das zu respektieren ist. Aber es wird damit doch unterstellt: Wenn du das gelesen hast, kennst du, was zählt, und das übrige kannst du vergessen. Bei genauerem Zusehen setzt sich dieser angebliche Kernbestand jedoch schlicht aus dem zusammen, was durch die Gewohnheiten des Deutschunterrichts einmal populär wurde. Nichts gegen Hauptstraßen, aber wie herrlich sind die Seitenwege, die Trampelpfade und das Ungebahnte. Dahin sollte man die guten Leser führen. In abgelegene Gegenden sollte man sie locken und ihnen beibringen, wie man sich dort zurechtfindet. Ich plädiere für einen Abenteuertourismus in der deutschen Literatur. Welch ein Vergnügen kann es sein, sich mit einem Text herumzuschlagen, der quer steht zu allem Geläufigen. Wie viel kann eine Begegnung bringen mit einer Erzählung, um die eine Aura des Unvertrauten schwebt. Wie aufregend ist es nur schon, sich bei Eichendorff statt des ewigen »Taugenichts« einmal die Erzählung »Eine Meerfahrt« vorzunehmen, dieses »Heart of Darkness« der deutschen Romantik. Oder wie brummen einem die Ohren, wenn man sich langsam durch Niebergalls »Datterich« beißt, obwohl man kein Darmstädter ist und immer mal wieder ein Wort nachschlagen muß. Aber man lernt dabei einen Kerl kennen von unvergleichlicher Nichtsnutzigkeit, einen Prahler und Wirtshauskunden, der auf so einfallsreiche Art zu gar nichts taugt, daß man sich an ihm auch dann noch freut, wenn man ihn von ganzem Herzen hinter Gitter wünscht. Aber das ist ja Dialekt, heißt es dann, das ist Darmstädter Mundart, das kann man schon in Frankfurt keinem Menschen mehr zumuten. Regionale Spezialitäten sind das, die gehören gewiß nicht zum Kanon. Tatsächlich, so ist es, aber je weiter etwas von dem entfernt ist, was heute auf den Kanonlisten steht, um so größer ist die Chance, daß wir damit eine aufwühlende Erfahrung machen. Es sollte Gegenkanones geben, Listen mit Werken jener Art, über die die Medien mit der Bemerkung »heute vergessen« hinweggehen. Listen mit Werken, die sich für keinen Small talk eignen, von denen aber der Satz gilt: Wer es liest, kann was erleben.
Selbst bei Goethe und Schiller, die fälschlicherweise für das Kanonische schlechthin gehalten werden, gibt es diesen Unterschied zwischen den begradigten Hauptstraßen und den Trampelpfaden, gibt es abseitige Reviere, wo man niemanden mehr antrifft und wo einem doch plötzlich der Pfingstwind deutscher Poesie um die Ohren braust:
Zündet das Feuer an!
Feuer ist obenan.
Höchstes, er hat’s getan,
Der es geraubt.
Wer es entzündete,
Sich es verbündete,
Schmiedete, ründete
Kronen dem Haupt.
Wasser, es fließe nur!
Fließet es von Natur
Felsenab durch die Flur,
Zieht es auf seine Spur
Menschen und Vieh.
Fische, sie wimmeln da,
Vögel, sie himmeln da,
Ihr’ ist die Flut,
Die unbeständige,
Stürmisch lebendige,
Daß der Verständige
Manchmal sie bändige,
Finden wir gut.
Erde, sie steht so fest!
Wie sie sich quälen läßt!
Wie man sie scharrt und plackt!
Wie man sie ritzt und hackt!
Da soll’s heraus.
Furchen und Striemen ziehn
Ihr auf den Rücken hin
Knechte mit Schweißbemühn;
Und wo nicht Blumen blühn,
Schilt man sie aus.
Ströme du, Luft und Licht,
Weg mir vom Angesicht!
Schürst du das Feuer nicht,
Bist du nichts wert.
Strömst du zum Herd herein
Sollst du willkommen sein,
Wie sich’s gehört.
Dring nur herein ins Haus;
Willst du hernach hinaus,
Bist zu verzehrt.
Rasch nur zum Werk getan!
Feuer nun flammt’s heran,
Feuer schlägt obenan;
Der es geraubt,
Der es entzündete,
Sich es verbündete,
Schmiedete, ründete
Kronen dem Haupt.
Das hat den fremden Schall von Zaubersprüchen und Schamanenliedern. Man weiß damit zunächst nichts anzufangen, versteht es nicht einmal richtig. Aber man wird von Klängen eingeholt und Rhythmen, Bilder fahren vor den Augen vorbei; es trommelt wie aus einem dunklen Afrika. Goethes Festspiel »Pandora«, aus dem dieser Gesang der Schmiede stammt, steht auf keinem Abitur-Programm. Niemand sagt, man müsse es gelesen haben, um mitreden zu können. Wer es nicht kennt, ist weder ungebildet noch zu bedauern. Aber wenn einer darauf stößt, weil er die Trampelpfade liebt und das Dickicht, dann hüpft ihm das Herz. Und vielleicht schweigt er darüber selbst unter guten Bekannten, damit ihm keiner die Freude verdirbt.
Es gibt viele Formen der Ausgrenzung im weiten Feld der deutschen Literatur. Sie haben alle mit Ordnung zu tun, mit Gewohnheit, mit dem Willen zur Übersicht und der Angst vor dem Unvertrauten. Vor einiger Zeit hat ein bekannter Literat in einer angesehenen deutschen Wochenzeitung die Vermutung geäußert, Gottfried Keller sei geisteskrank gewesen, als er seinen letzten Roman »Martin Salander« schrieb. Es kämen nämlich Ausdrücke darin vor, die man im Grimmschen Wörterbuch vergeblich suche; er, der Rezensent, habe dort eigenhändig nachgeschlagen. Das ist kein Witz, das ist eine traurige Wahrheit. Ein paar eigentümliche Formulierungen, ein paar alemannisch eingefärbte Wendungen, und schon rückt man mit der Pathologie auf, einem Argument, von dem man denken würde, es sei in Deutschland aus dem Reden über Kunst ein für allemal verschwunden.
Ich liebe die Bücher, die man nicht gelesen haben muß. Nichts gegen »Emilia Galotti«, nichts gegen »Nathan den Weisen«, aber könnten die deutschen Theater, deren Regie oft so gleichförmig originell ist, daß es schon wieder abgedroschen wirkt, nicht auch einmal einen Lenz spielen, die rabenschwarze Komödie »Der Engländer« zum Beispiel, die vielleicht noch gar nie auf einer bedeutenden Bühne zu sehen war? Nichts gegen »Effi Briest«, gewiß nicht, aber da wären doch auch »Die Poggenpuhls«, dieser kürzeste aller Fontane-Romane, nicht dicker als ein Bleistift, ein Werk, in dem auf hinreißend moderne Weise gar nichts passiert.
Es gibt viele Formen der Ausgrenzung. Oft sind sie zufällig, oft haben sie System. Die konsequente Verachtung etwa, die Brecht und die DDR-Ästhetik der österreichischen literarischen Tradition gegenüber praktiziert haben, wirkt auf den deutschen Theatern immer noch nach. Der große Grillparzer, der seine klassizistische Form mit einer unheimlichen Psychologie unterlief, existiert in Deutschland nicht mehr. Raimund und Nestroy sind nur noch ein Gerücht. Als ob wir gute Komödien zum Verschwenden hätten! Ich glaube nicht, daß da ein heimlicher Nationalismus am Werk ist. Was hier wirkt, ist der Abwehrreflex gegen eine etwas fremde Aura und gegen alles angeblich Dialektale. Was auch nur im Geruch steht, mit Dialekt etwas zu tun zu haben, ist erledigt. Günter Grass kann sich solche Eskapaden leisten; schließlich hat er den Nobelpreis. Aber sonst wird da eine Grenze gezogen, die mehr einer fixen Idee als einem begründeten Vorbehalt entspricht. Gewiß ist die teilweise oder durchgehende Mundartlichkeit eines Werks nicht jedermanns Sache. Aber genau besehen, stellt sie keine höhere Schranke dar als viele anerkannte Formen avantgardistischen Schreibens. Ist Johann Peter Hebels Gedicht »Die Vergänglichkeit«, das neben dem Größten bestehen kann, was auf deutsch je geschrieben wurde, wirklich schwieriger, fremder, ausgefallener als, sagen wir, die »Maulwürfe« von Günter Eich oder die »Hamletmaschine« von Heiner Müller? Jeremias Gotthelf war um 1850 der meistgelesene Schriftsteller in Berlin. Er saß in seinem Bauerndorf im Emmental, schrieb über die Welt, die ihm vor Augen lag, und in Berlin machte er damit ein Vermögen. Dort fand man ihn trotz seiner dialektalen Einsprengsel so aufregend exotisch, wie es uns heute mit den Romanen aus Lateinamerika oder Indien geht. Dieser Gotthelf ist aber noch mit der »Schwarzen Spinne« vorhanden; der Rest liegt an den Trampelpfaden und im Ungebahnten. Eine Schranke ist da gefallen, die der lesenden Welt ein gewaltiges Werk vorenthält, eines, das ihr einst erwiesenermaßen zugänglich war. So feierte auch Nestroy zu seinen Lebzeiten Triumphe in Berlin.
Es ist merkwürdig. Auf viele Texte der Moderne, die unserem spontanen Verstehen laufend das Bein stellen, antworten wir mit Spielfreude und Sprachlust. Von Ernst Jandls Wortakrobatik lassen wir uns so wenig abschrecken wie von Oskar Pastiors Palindromen. Aber wo eine andere Wildheit deutscher Sprache in die Texte drängt, wo regionale Klänge auftauchen, die doch auch zum großen Orchester gehören, da schreckt sogar die professionelle Kritik säuerlich zurück. Da gelten plötzlich wieder Normen wie aus einem Benimmbuch.
»Mein geliebtes Deutsch« — seine Einheit und Ganzheit besteht nicht in einem Geist oder Wesen, das wir irgendwo dahinter ahnen oder sprachphilosophisch konstruieren. Die Einheit und Ganzheit besteht allein in unserer Liebe. Was ich liebe, steht lebendig vor mir und ist doch tausendfältig und immerzu bewegt und niemals auszuschauen. Die Liebe ist unsere höchste schöpferische Kraft. Solange wir der Fülle und Vielfalt deutscher Sprache, deutscher Literatur mit neugieriger Liebe begegnen, braucht uns um sie auch in Zeiten der Anglizismen, der Korrekturprogramme und der Gedichte per SMS nicht bange zu sein.
Auch den »Wahlverwandtschaften« von Goethe liegt, wie schon der Titel andeutet, wenn gleich ihm unbewußt, der Gedanke zum Grunde, daß der Wille, der die Basis unsers eigenen Wesens ausmacht, der selbe ist, welcher sich schon in den niedrigsten, unorganischen Erscheinungen kund giebt, weshalb die Gesetzmäßigkeit beider Erscheinungen vollkommene Analogie zeigt.
Schopenhauer: »Die Welt als Wille und Vorstellung«. 2. Band. Kapitel 23
1785 ließ Kaiser Joseph II. zu Wien sein Reich vermessen. Hunderte von Landvermessern schwärmten in die Provinzen. Aller Grundbesitz wurde aufgenommen und in Katastern verzeichnet. Die Adligen auf ihren alten Schlössern leisteten noch einigen Widerstand, aber ein Jahr später war die riesige Monarchie ausgemessen und in 23.739 Katastralgemeinden registriert. Das Reich, dessen Grenzen bisher irgendwo im Osten verdämmerten, lag bis zum letzten fruchtbaren Grundstück sauber auf Papier gezeichnet und beziffert vor den Augen der aufgeklärten Majestät.
Seither bewegen sich die Landvermesser auch durch die Literatur. Wo sie auftauchen, sind sie ein Signal. Sie stehen für den rationalen Umgang mit der Natur und für eine zielbewußte Einrichtung der Welt. Wenn sich das Jenseits verflüchtigt, wird das Diesseits zur praktischen Aufgabe.
Daß die Landvermesser in der österreichischen Literatur besonders häufig sind, hängt mit dem Fortleben Josephs II. im Bewußtsein der Intelligenz zusammen. Der vernunftgelenkte Kaiser verkörperte ein höchstes zivilisatorisches Prinzip. Wenn der Held von Stifters »Nachsommer« als Landvermesser arbeitet, stellt er sich damit zeichenhaft unter das josephinische Ethos, und wenn Kafkas Josef K., der nicht zufällig Josef heißt, als Landvermesser am Fuße seines Schlosses scheitert, wiederholt er darin das Scheitern des Kaisers selbst. Adel und Kirche hatten ja den stürmischen Weltreformer zu Wien zuletzt in die Knie gezwungen. Sarastro mußte der Königin der Nacht doch noch unterliegen.
Wie sehr das Landvermessen eine Grundaktivität der Aufklärung, insbesondere der Pariser Aufklärung war, ist heute nur noch in Ansätzen bewußt. Das Café Procope im Quartier Latin war nicht nur der Treffpunkt der Literaten und Philosophen, sondern ebenso sehr auch der Geometer, und noch im 19. Jahrhundert spottete Sainte-Beuve, daß im späten Ancien Régime jede elegante Dame zu Paris ihren Hausgeometer haben wollte. Der erste unbestrittene König dieser Wissenschaft war Maupertuis*1. Ihm war 1736/37 bei einer sensationellen, abenteuerlich-lebensgefährlichen Expedition in den hohen Norden mit Vermessungen, wie es sie bisher noch nie gegeben hatte, der Nachweis gelungen, daß die Erde an ihren Polen abgeplattet ist. Das Vermessen der Erde, der Länder und Landschaften trug wesentlich bei zum neuen Blick auf die Welt, zur Verwandlung der panoramatisch-plastischen Schau in das schematisch-senkrechte Sehen von oben, die Landkarten-Perspektive.
In Goethes »Wahlverwandtschaften« fällt das Stichwort vom Landvermessen auf den ersten Seiten. Eduard, der Schloß- und Gutsbesitzer, der mit seiner späterrungenen Jugendliebe Charlotte weitab von Residenzen und Metropolen dahinlebt, wohlig, aber etwas gelangweilt, im maßvollen Glück von Frührentnern, möchte die Landschaft, die ihm gehört, endlich genau ausmessen und kartographisch aufnehmen. Das freundliche Gelände mit Hügeln und Teichen, Schloß und Dorf liegt zwar überschaubar vor Augen, wenn man spazierengeht — und spazieren geht man täglich, mit dem maßvollen Bewegungsdrang von Frührentnern —, aber es könnte doch noch einiges unternommen werden. Noch ist die kleine Welt verbesserbar. Und dies soll nun nicht zufällig, nach Einfall und Laune, geschehen, sondern mit System, zielsicher und vernunftgesteuert. Voraussetzung ist die Vermessung. Sie erst macht alles verfügbar. Durch sie erst wird die Natur Objekt. Kein unbekannter Winkel mehr. Alles bietet sich der Planung und Gestaltung dar, dem Zugriff und dem Eingriff.
Zum Zweck der Landvermessung holt sich Eduard den Hauptmann, holt sich das friedliche Liebespaar den Dritten ins Haus. Der versteht sich auf Geodäsie und Triangulation. Und tatsächlich, als die Vermessung vollzogen ist, sieht Eduard sein kleines Reich ganz anders vor sich, fast wie Joseph II. seine Monarchie: »Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste, aus dem Papier, wie eine neue Schöpfung, hervorgewachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennen zu lernen; sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören.«*2
Man liest, und man stutzt. »Aus dem Papier, wie eine neue Schöpfung« — ist das nicht Ironie? Das gewaltige Wort von der neuen Schöpfung, ein Schlüsselwort der frühen Klassik — »Und neu erschaffen wird die Erde!« ruft Marquis Posa aus*3 —, verbindet sich hier mit der dürren Banalität des Papiers. An die Stelle der unmittelbaren Anschauung tritt der schematisierte Plan. Daß die Betrachtung mit den lebendigen Augen durch nichts ersetzt werden könne, gehört zu Goethes höchsten und dauerhaften Axiomen. Das würde für Ironie sprechen. Aber sicher ist es nicht. Denn andererseits besitzt der Hauptmann, der tatkräftige Landvermesser, die vorbehaltlose Sympathie des Erzählers. Trotzdem bleibt die Stelle zwielichtig. Sie ist ein erstes Beispiel dafür, daß man in diesem Roman keinem Wort trauen darf. Jede Vokabel kann einen Doppelsinn mit sich führen. Bei jedem neuen Lesen leuchten die Wörter anders auf, geben sie einen andern Sinn frei. Man traut dann oft genug den eigenen Augen nicht und denkt, das stand doch beim letzten Mal noch gar nicht da.
Oft sind das nur Vermutungen, die man abschüttelt als absurd, und dennoch bleiben sie haften. So etwa die Stelle, gleichfalls ganz zu Beginn, wo Charlotte Bedenken äußert gegen die Berufung des Hauptmanns, die »Dazwischenkunft eines Dritten«, wie sie sagt. Es sind Bedenken aus einer bloßen »Ahnung« heraus, sie gibt es zu. Und da heißt es nun von Eduard: »Wenn mir nur nicht, versetzte Eduard indem er sich die Stirne rieb, bei alle dem, was du mir so liebevoll und verständig wiederholst, immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns würde nichts gestört, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt.«*4 »Indem er sich die Stirne rieb« — das erinnert an die berühmte Geste Othellos, als er fürchtet, von Desdemona betrogen zu werden, und meint, er spüre auf der Stirn bereits die Hörner des Hahnreis wachsen: »I have a pain upon my forehead, here.«*5
Dieser Querbezug erscheint viel zu drastisch für die Stimmung der Szene und die gesittete Konversation dieses Paars, und überdies sind die »Wahlverwandtschaften« ein Ehebruchsroman ganz ohne Eifersucht, aufs unheimlichste sind sie ohne Eifersucht. Was sollte da ein versteckter Verweis auf den rasenden Othello, den Gnadenlosen, den Killer? Alles spricht dagegen, nur steht die Geste eben im Text. Sie irritiert, man vertreibt den Gedanken, er haftet trotzdem. Ist Eduard nicht auch ein Killer, viel gesitteter zwar, aber doch einer? Wird Ottilie nicht zu seinem Werkzeug, das in Trance seinen Wunsch erfüllt und das Kind tötet, telepathisch gelenkt? Läßt sie nicht, fremdgesteuert, das Steuerruder fahren und mit dem Steuerruder das Neugeborene, die Frucht des doppelten Ehebruchs, an dem sie beteiligt ist, unschuldig und doch leibhaftig, durch den sie Mutter wird und dennoch Jungfrau bleibt, eine blasphemische Madonna? Liegt das Ungeheuerliche dieser Blasphemie wirklich so weit ab von der Ungeheuerlichkeit des schäumenden Othello, des zuckenden Epileptikers, der den Ritualmord an der weißen Unschuld vollzieht?
Der Roman zwingt mir Deutungen auf, die ich nicht will. Sie sind unbeweisbar. Ich habe alle Argumente dagegen, und doch gehen sie mir nicht aus dem Sinn. So wie ich mit der Zeit keinem Wort mehr traue, traue ich mir allmählich selbst nicht mehr beim Lesen. Gibt es ein zweites Buch, wo einem das geschieht?
Und nur zur Ergänzung: So gesucht die Assoziation zu Eduards harmloser Geste — »indem er sich die Stirne rieb« — erscheinen mag, Tatsache ist immerhin, daß Goethe wenige Wochen vor Beginn der Arbeit am Roman Kleists »Zerbrochnen Krug« zur Aufführung brachte. Darin sagt der mißtrauische Ruprecht:
… jetzt ists noch Zeit, o Ruprecht,
Noch wachsen dir die Hirschgeweihe nicht: —
Hier mußt du sorgsam dir die Stirn befühlen,
Ob dir von fern hornartig etwas keimt.*6
Ist das nun ein Beweis für den Doppelsinn? Wohl kaum. Aber die Irritation verstärkt sich.
Dabei ist der Roman so klar gebaut, so planvoll entworfen und zielsicher durchgeführt, als wäre er seinerseits das Unternehmen eines josephinischen Weltgestalters. Der Hauptmann verkörpert leibhaftig jenen Reformwillen, der damals in Preußen vollenden wollte, was im Österreich Josephs II. noch gescheitert war. Die »Wahlverwandtschaften« entstanden historisch zeitgleich mit den Reformen des Freiherrn vom Stein. Auf dem Höhepunkt der aufgeklärten Staatsverbesserung in Deutschland erzählt der Roman die Aporien der aufgeklärten Weltverbesserung. Ein Stück schöner Erde, bewohnt von einer Gruppe guter Menschen, soll beispielhaft in den Zustand der Vollkommenheit versetzt werden. Vollkommenheit als Produkt zivilisatorischer Arbeit, nicht als ekstatischer Sprung zurück in die Wildnis. Vollkommenheit als Ziel, nicht als Ursprung. Vollkommenheit als Ergebnis des rationalen Eingriffs in die Natur und der rationalen Planung des Zusammenlebens. Gepflegt sind die Gärten, gepflegt ist die Liebe. Hier wie dort waltet der taghelle Geist der Landvermesser. Wenn sich das Jenseits verflüchtigt, muß der Himmel auf der Erde eingerichtet werden.
Es ist sogar so, daß die konzentrierte Lektüre des Romans früher oder später unausweichlich dazu führt, daß der Leser seinerseits eine kleine Karte des ganzen Romanschauplatzes für sich zu skizzieren beginnt. So anschaulich die einzelnen Szenen auch erzählt sind, sie rekurrieren doch immer auch auf andere, bereits erwähnte Lokalitäten, auf Verbindungswege, auf den Blick, der von einem Ort auf den andern fällt. Man sieht sich lesend vor die Notwendigkeit gestellt, die vom Hauptmann kartographierte Landschaft in allen Details vor dem inneren Auge präsent zu haben, und da dies mnemotechnisch schwierig ist, beginnt man irgendwann wie von selbst zu zeichnen: das Schloß, das Dorf, die Teiche, die Mühle, die Mooshütte, das neue Haus, diesen Weg, jenen Weg, die Pappeln, die Eichen, die Dämme … So daß der Satz, mit dem das vierte Kapitel beginnt, in seltsamer Ironie auch für die Lesearbeit am Roman gilt: »Die topographische Charte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen, nach einem ziemlich großen Maßstabe, charakteristisch und faßlich durch Federstriche und Farben dargestellt war, […] war bald fertig.«*7 Das heißt aber auch, daß der Roman mich zwingt, den Blick des Geometers, den Landkartenblick senkrecht von oben, selber langsam zu entwickeln und ihn wie ein Instrument immerzu bereit zu halten, auch dann, wenn die Erzählung mich vor herkömmlich aufgebaute, frontal betrachtete Landschaftsszenerien stellt. Dieser doppelte Blick tritt zu den vielen andern Doppelungen.
Der taghelle Geist eines Landvermessers scheint den Roman selbst entworfen und durchgeführt zu haben. Gepflegt wie die Gärten, gepflegt wie die Liebe ist die Erzählung. Nur daß man keinem Wort trauen kann. Der lauterste Sinn wird plötzlich zu seinem Gegenteil. Jedes Nomen entdeckt sich als ein Omen. Die Sprache dieses Romans bewegt sich im leichten Duktus der geselligen Konversation und ist zugleich dunkle, antike Orakelrede. So ein weiteres Mal bereits im obigen Zitat. Als Eduard sich die Stirne reibt, sagt er, durch die Gegenwart des Hauptmanns werde »alles beschleunigt und neu belebt«. Das ist ein freundliches Argument gegenüber der zögerlichen Charlotte, und es ist eine gnadenlose Vorhersage dessen, was tatsächlich geschieht. Denn neu belebt werden die tödlichen Leidenschaften, und beschleunigt wird der Sturz in die Katastrophe.
Diese Präsenz des Ominösen in jeder verständigen Äußerung, diese Nachtseite jedes klaren Wortes überbrückt den scheinbaren Widerspruch zwischen der beherrschten Form des Romans und seiner haltlosen Tragik. Hinter der heiteren Rede kauert und lauert es wie die schwarze Phorkyas hinter der weißen Helena.
Es gab in jenen Jahren den Typus des »verwilderten Romans«. Brentano hatte mit »Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman« 1801 den Begriff geschaffen und gleich ein ungestümes Beispiel geliefert. Der verwilderte Roman als charakteristischer Typus romantischen Erzählens fand seine Parallele in den innerhalb dieser Romane vielfach erscheinenden verwilderten Gärten. Berühmt war Achim von Arnims »Gräfin Dolores«, deren verwüstet-verwucherter Schloßgarten noch den Heine der »Romantischen Schule« von 1835 in Begeisterung versetzte. Von solcher Wildnis, von Verwilderung überhaupt schienen sich die »Wahlverwandtschaften« demonstrativ zu unterscheiden*8. Formal, konnte man denken, sei das ein reaktionärer Protest aus Weimar gegen die tollen Experimente der Romantiker, ein Lehrstück architektonischer Zucht und randscharfer Fügung. In Wahrheit aber wohnt die Gegenmacht bereits in dieser Ordnung selbst. Das Wort gewinnt in den »Wahlverwandtschaften« jene Struktur einer doppelten Wahrheit, welche die moderne Psychologie in Gestalt des doppelten Bewußtseins dem Subjekt zuschreibt. In der erwähnten Szene, wo sich Eduard die Stirn reibt beim Gedanken an »den Dritten«, diskutieren die Eheleute das anthropologische Phänomen des Unbewußten so grundsätzlich, wie es in der deutschen Literatur vorher wohl noch nie geschehen ist. Es seien »unbewußte Erinnerungen«, die zu ihren warnenden »Ahnungen« führten, sagt die Frau. Darauf der Mann: »Das kann wohl geschehen […] bei Menschen, die nur dunkel vor sich hin leben, nicht bei solchen, die schon durch Erfahrung aufgeklärt sich mehr bewußt sind.« Eine rundum bewußte Existenz, heißt das, kann erreicht werden, und dann gibt es nichts mehr daneben oder darunter. Worauf die Frau erwidert: »Das Bewußtsein, mein Liebster, […] ist keine hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für den der sie führt.«*9 Diese psychologische Reflexion rückt dem aufgeklärten Kopf seine eigene Nachtseite vor Augen, dem bewußten Ich sein Unbewußtes im heutigen Sinn. Das steht in Parallele zum Phänomen, daß in der Rede des Romans hinter dem deutlichen Wort stets ein Gegensinn haust, hinter der eleganten Konversation der rollende Orakelsatz und, als letzte Konsequenz, hinter der zielgewissen Welteinrichtung bereits die Weltzerstörung. So wird im Verlauf des Romans der tatenfroh entworfene Himmel auf Erden zu einer Hadeslandschaft, wo die Menschen nur noch wie Schatten langsam und ziellos umhergehen. Selbst die einzelnen Dinge verdoppeln ihr Wesen. Der Kahn zum Beispiel, das fröhliche Lustgefährt, auf dem man nach Kythera zu schiffen dachte, treibt am Ende finster wie Charons Nachen über den künstlichen See.
Diese Zwiegestalt von Konversation und Orakelrede, die den Roman einerseits als durchaus modisches Ereignis des europäischen Empire erscheinen läßt — sind die Figuren nicht alle wie von Ingres gezeichnet? wird die Empire-Kleidung der Frauen nicht explizit erwähnt?*10 —, andererseits aber als Tragödie von euripideïscher Raserei und Fatalität, führt sogar zu einer Verdoppelung der Lesearbeit. Daß das Buch mehr als einmal gelesen werden müsse, bemerkte schon die zeitgenössische Rezeption, und Wieland überliefert eine entsprechende Anweisung durch Goethe selbst.*11 Das hat nichts mit dem herkömmlichen Unterschied zwischen oberflächlicher und vertiefter Lektüre zu tun. Es ergibt sich vielmehr aus der objektiven Struktur eines zweifachen Diskurses, die beim ersten Lesen gar nicht bemerkt werden kann. Erst wenn ich weiß, was am Ende passiert, erkenne ich die Vorhersagen. Erst wenn ich den Tod der Liebenden mitangesehen habe, fallen mir die Orakelworte ins Ohr.
Aber selbst dann bin ich nie ganz sicher. Oft streift mich das Omen nur wie ein kalter Hauch. Als der Landvermesser eintrifft, erklärt er, wie er vorgehen werde. Nicht, wie bei seiner Schulung zu erwarten wäre, mit dem Theodolit will er arbeiten, sondern »mit der Magnetnadel«. »Das erste was wir tun sollten, sagte der Hauptmann, wäre, daß ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme. Es ist das ein leichtes heiteres Geschäft, und wenn es auch nicht die größte Genauigkeit gewährt, so bleibt es doch immer nützlich und für den Anfang erfreulich.«*12 Damit ist ein Stichwort gefallen, das vom leichten heiteren Geschäft senkrecht in die okkulte Mitte des Romans führt. Der Hauptmann weiß mit der Magnetnadel, dem Kompaß also, umzugehen, und er ist »in dieser Art des Aufnehmens sehr geübt«. Ahnungslos bedient sich der Landvermesser damit jener Kraft, aus der am Ende die rettungslose Tragik entspringt und die seine eigene kultivatorische Leistung, den schönen Garten für die schönen Menschen, sinnlos macht. Denn was die Magnetnadel lenkt, das knüpft auch die Liebenden aneinander. Die magnetische Gewalt unterwirft Ottilie und Eduard einem Zwang, der gleichermaßen seelisch wie physikalisch ist und der die absolute Unausweichlichkeit der Liebesverhängnisse besitzt, die in der antiken Tragödie von den Göttern erlassen wurden. So verhängt bei Euripides die Göttin Aphrodite in den ersten Versen des »Hippolytos« über Phädra die Liebe als eine Gewalt, gegen die es keine Rettung gibt und die unaufhaltsam zu ihrem und ihres Geliebten Tode führt.
In der Tat wird man den Roman nie ganz begreifen, wenn man ihn nicht im Kontext jenes großen, gesamteuropäischen Vorgangs sieht, in dessen Verlauf das Trauerspiel auf der Bühne abgelöst wird vom tragischen Roman. Der Roman entwickelt sich zum literarischen Medium des 19. Jahrhunderts schlechthin. In ihm allein erreicht die Epoche die Spitzenleistungen Shakespeares, Racines, Calderons, jener Autoren, deren Werk ausgelöst wurde durch die Wiederbegegnung der europäischen Renaissance mit dem Schauspiel der Antike.
Wie radikal das Konzept des Tragischen in den »Wahlverwandtschaften« ist, erkennt man schon daran, daß dieser Roman, in offenem Bruch mit allen bisher gültigen Traditionen seiner Gattung, als ein Geschehen ohne Bösewicht angelegt ist, ohne Intrige und ohne ein Finale mit der Aufdeckung verschlungener Geheimnisse und verborgener Identitäten. Da gibt es nichts als das gradlinig sich entwickelnde Unheil von vier liebenswürdigen, guten Menschen. Das Fehlen des Intriganten, der Intrigantin im Kerngeschehen nimmt uns die Möglichkeit, die Katastrophe durch ein moralisches Urteil zu entschärfen. Man findet keinen Schuldigen, dem alles zuzuschreiben wäre und der an der Stelle eines metaphysisch zu begreifenden Geschicks den psychologisch und soziologisch auflösbaren Faktor des bösen Menschen verkörpern würde. Was die zwei Paare in diesem Roman in die Katastrophe stürzt, ist so ganz und gar jenseits der Kategorien von Gut und Böse wie die Gravitation im Kosmos, das Sonnenlicht, ein Blitzschlag oder der Zug eines Kometen.
Ich kann — wiederum — nicht beweisen, daß jenes Wort von der »Magnetnadel« ein Teil der Orakelrede ist und vorausdeutet auf das schwere Geschick der magnetischen Bindung der neuen Paare. Aber daß der Roman aus dem Nachdenken über die magnetische Kraft entstanden ist, dafür gibt es Belege. Die erste Erwähnung des Projekts, damals noch als Novelle gedacht, findet sich im Tagebuch vom 11. April 1808. Unmittelbar vorher, vom 6. bis 8. April, hat Goethe mit dem Physiker Seebeck zusammen einige Vorlesungen gehalten über Elektrizität und Magnetismus. Dazu sind Stichworte erhalten, vom 6. April*13, aus denen hervorgeht, daß er über den Magneten und seine Geschichte gesprochen hat und daß er dabei auch zeitgenössische naturphilosophische Theorien erwähnte, in denen die Liebe mit dem Magneten nicht nur metaphorisch verglichen, sondern als ontologisch wesensverwandt erklärt wurde. »Wernerische Liebes Theorie«*14, heißt eines der Stichworte. Das nächste lautet: »Vereinigung mit Gewalt«. Das übernächste: »Romanen Motive«.*15
Das heißt, drei Tage vor der ersten Schematisierungsarbeit am Plot der »Wahlverwandtschaften«*16 referierte Goethe öffentlich über die Frage einer Verwandtschaft zwischen den anorganischen und den zwischenmenschlichen Anziehungskräften und über die Romanmotive, die sich daraus ergeben könnten. Gleichzeitig ging es um das brandneue Phänomen der Elektrolyse: bestimmte Stoffe werden durch die chemisch erzeugte Elektrizität mittels der Volta-Säule zersetzt, und aus der Zersetzung entstehen neue Elemente, zum Beispiel Natrium und Kalium.*17 Dieses Verfahren war kurz zuvor vom Engländer Humphry Davy publik gemacht worden, und der Physiker Seebeck hat es bei Goethe zuhause mehrfach durchgeführt. Grundstürzend neu daran war zweierlei. Zum ersten die Tatsache, daß Elektrizität hier nicht, wie es bisher ausschließlich geschah, durch Reibung, eine mechanische Aktivität also, erzeugt wurde. Elektrischer Strom ließ sich produzieren durch eine rein chemische Installation. Alexander Volta hatte das acht Jahre zuvor entdeckt und bekanntgemacht in der Schrift »On the Electricity excited by the Mere Contact of Conducting Substances of Different Kinds«, erschienen in London 1800. Die chemische Versuchsanlage bestand aus einer Säule von Kupfer- und Zinkplatten, die getrennt waren durch mit Salzlösung getränkte Kartonstücke. Aus dem Kontakt zwischen diesen Stoffen entstand Elektrizität. Es war die erste Form dessen, was wir heute eine Batterie nennen.*18 Und es war — was man damals noch nicht wissen konnte — die Geburtsstunde einer neuen technischen Zivilisation. Neben diese beim Beginn der Romanarbeit acht Jahre alte Entdeckung trat nun unmittelbar vor dem Beginn und als dessen Auslöser die zweite: daß mit dieser Art von Elektrizität Elemente zersetzt und neue Elemente geschaffen werden konnten. Goethe fieberte in den Monaten Februar und März 1808 der Vorführung des Experiments in Weimar förmlich entgegen. Schon am 24. Februar stellte er Caroline von Wolzogen in Aussicht, sie könne »vielleicht bald jene famosen Versuche von Davy mit Augen sehen«*19. Am 6., 7. und 8. April war es endlich so weit. Und am 11. April notierte Goethe die ersten Stichworte zu den »Wahlverwandtschaften«. Was er dabei vor Augen hatte, war der Prozeß der elektrolytischen Auflösung und Neuschaffung von Elementen.
Dazu tritt wissenschaftsgeschichtlich ein weiteres. 1791, neun Jahre vor der Erfindung der Volta-Säule, hatte Luigi Galvani in Bologna seine Entdeckung bekanntgegeben, daß es im Körper von Lebewesen Elektrizität gibt und daß durch Elektrizität bei sezierten Fröschen Muskelzuckungen ausgelöst werden können. Diese Entdeckung machte zwar großes Aufsehen*20, blieb aber zunächst folgenlos. Solange man nur die Produktion von Elektrizität durch Reibung kannte und etwas anderes nicht vorstellbar war, erschien die sogenannte »tierische Elektrizität« als ein seltsames, in seinen Ursachen dunkles Phänomen. Mit Voltas Nachweis einer rein chemischen Stromproduktion aber wurde Galvanis Kuriosum zu einem epochalen wissenschaftlichen Ereignis, zum Beginn der modernen Biochemie. Davon ahnten die Zeitgenossen nichts. Über die Maßen aufregend war für sie jedoch die Tatsache, daß nun der Beweis erbracht schien für elektromagnetische Phänomene bei Lebewesen und also auch — dies der naheliegende Schluß — zwischen Lebewesen. Die »tierische Elektrizität«, die jetzt ihre chemische Basis gefunden hatte, versprach eine baldige Aufklärung über den ganzen Komplex dessen, was man seit Franz Anton Mesmers »Schreiben über die Magnetkur« von 1775 als »tierischen Magnetismus« oder »animalischen Magnetismus« europaweit diskutierte. Die neue Karriere, die für den Mesmerschen Magnetismus oder Mesmerismus im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann, beruhte nicht nur auf der neuen Aufmerksamkeit der romantischen Generation für okkulte Phänomene, sondern auch auf der durch die naturwissenschaftlichen Durchbrüche der Elektrochemie stimulierten Überzeugung, in absehbarer Zeit die unzweideutige Erklärung für die von Mesmer und seinen Schülern behaupteten Phänomene zwischenmenschlicher Anziehungskraft, seelischer Fernwirkung, eines generellen Magnetismus zwischen Menschen zu besitzen.*21
Was besagt das nun für die Entstehung der »Wahlverwandtschaften«? Es besagt, daß hinter dem berühmten Ausgangsgleichnis des Romans von der chemischen Reaktion sogenannter wahlverwandter Stoffe in Wahrheit das neue Phänomen der chemischen Elektrizität und der Elektrolyse steht. Der Grund für den erzählerischen Rückgriff auf einen älteren, längst bekannten chemischen Vorgang muß ein romantechnischer gewesen sein: die Beschreibung der Voltasäule und der elektrolytischen Prozesse war erzählerisch zu vertrackt. Die Vorgänge müssen ja innerhalb und außerhalb des Romans von naturwissenschaftlichen Laien begriffen werden. Sogar noch beim jetzigen, sehr plausiblen Gleichnis vereinfacht der Erzähler den wissenschaftlichen Zusammenhang, indem er dort, wo die chemischen Formeln genannt werden müssten, umschwenkt in ein Operieren mit den Buchstaben A, B, C, D. Die »seltsamen Kunstwörter« der Chemie, meint Eduard, seien zu »beschwerlich«.*22
In Goethes Vortragsnotizen vom 6. April erscheint die Theorie der Elektrizität, der Elektrolyse, der »Voltaische(n) Säule«*23 und der animalischen Elektrizität (»Wirkung aufs Organische / Tote Frösche«*24) bruchlos mit der Theorie der magnetischen Kräfte überhaupt verknüpft. Und in der Wirklichkeit des Romans wird dann auch in der Tat das Wirken magnetischer Anziehung und Abstoßung unvergleichlich wichtiger als die rein chemische Reaktion zwischen den sogenannten wahlverwandten Stoffen. Diese bleibt Gleichnis, Allegorie, eine rhetorische Figur auf der Ebene der uneigentlichen Rede: so wie im Reagenzglas zwischen Kalkstein und Schwefelsäure, kann es zwischen lebendigen Menschen ablaufen. Die magnetische Kraft hingegen gehört im Roman nicht zum Bereich des uneigentlichen Redens, sie ist kein Gleichnis, sondern eine körperhafte Wirklichkeit.
Das stelle ich hiermit fest. Und ich stelle es fest im Bewußtsein, daß sich genau da die Lektüre des Romans entscheidet. Nur wenn ich die magnetische Bindung als eine gleichermaßen physikalische wie seelische Wirklichkeit anerkenne — keine Metapher, sondern eine Gegebenheit im Kosmos —, gewinnt das Geschehen die Dimension einer antiken Tragödie. Die magnetische Bindung zwischen Eduard und Ottilie entspricht dem von Aphrodite über Phädra verhängten Liebeszwang. Was dort ein Wort aus dem Mund einer unberechenbaren Göttin ist*25, ist hier eine Emanation der unberechenbaren Natur.
Diese magnetische Gewalt entzieht sich dem Zugriff der Landvermesser, der aufgeklärten Landschaftsgärtner und der effizienten Beziehungstherapeuten. Nicht zufällig ist die groteskeste Gestalt des Romans ein rasender Eheberater, der durch die Welt jagt, um überall zu flicken, wo häusliches Porzellan in Scherben geht. Und gerade er erweist sich zuletzt als der Elefant im Fachgeschäft. Mittler, so heißt er mit dem sprechenden Namen einer Nestroy-Figur, Mittler, diese frappierende Vorwegnahme der therapeutischen Folklore unserer Tage, tritt mit seinen Lehrsätzen an die Liebe heran wie der Landvermesser mit seiner Magnetnadel an die Natur. Beide wissen nicht, mit welchen Mächten sie es zu tun haben.
Und doch haben beide auch wieder recht, wenn sie diese Welt vernünftig einrichten wollen, auf daß es den Menschen guten Willens darin gefalle. Was will man denn eigentlich mehr? Man will gar nicht mehr, sagt der Roman. Man muß.
Als wollte er ironisch auf seine eigene Entstehungsgeschichte anspielen, inszeniert der Roman ein konkretes magnetisches Ereignis zwischen zwei Menschen unmittelbar bevor die große chemische Allegorie von der Wahlverwandtschaft zwischen Kalkstein und Schwefelsäure vorgetragen wird. Es wird sogar zum Auslöser dieses Lehrgesprächs. Als Charlotte ihrem Mann, der in Gesellschaft gerne vorliest, dabei ins Buch schaut, wird er gereizt und ausfällig. Er kann das grundsätzlich nicht ausstehen, aber diesmal verschärft sich die Idiosynkrasie zu einer Brüskierung der Frau, die allen peinlich ist. Zwar versucht er sich zu erklären, doch seine Gründe reichen nicht aus für den unheimlichen Satz, mit dem er die Verteidigung schließt: »Wenn mir Jemand ins Buch sieht, so ist mir immer als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde«.*26
Das ist zum einen ganz unverkennbar ein Teil der Orakelrede und weist voraus auf die kommende Zerstörung, aber wichtiger ist das Ereignis eines realen magnetischen Vorgangs: der Abstoßung. Goethes Vorlesungsnotizen machen das deutlich. An jenem 6. April 1808 hat er darüber referiert, daß man zwar die Anziehungskraft des Magneten schon früh erkannt habe, nicht aber das komplementäre Phänomen der Abstoßung. Seine Stichworte lauten: »Anziehen. / früh bekannt. / Abstoßen sehr spät / Gleichgültigkeit. / Entzweiung / aus einer Natur entwickelt sich eine Zweiheit. / Am Magneten am deutlichsten./ Erregung / immer beides zugleich. / Wernerische Liebes Theorie. / Schließung Vereinigung mit Gewalt. / Licht. / Knistern. / Funke / Schlag / Blitz / Körperliche Erschütterung / Romanen Motive«.*27
Fragmentarisch beschrieben wird hier der Vorgang, bei dem ein Stück Eisen aus dem nichtmagnetischen Zustand der »Gleichgültigkeit« in den magnetischen Zustand versetzt wird, wobei sich das Eisen in sich selbst entzweit zu einem negativen und einem positiven Pol: »Entzweiung / aus einer Natur entwickelt sich eine Zweiheit«. Das sind fast genau die Worte, die Eduard zur Rechtfertigung für seine schroffe Abweisung vorbringt: Es ist mir, »als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde«. »Entzweiung aus einer Natur« also. Die zwei Hälften sind der Plus- und der Minus-Pol, die je abstoßend oder anziehend wirken auf den gleichen oder den Gegenpol: Plus stößt Plus ab und zieht Minus an. Das Phänomen der magnetischen Abstoßung ereignet sich hier dramatisch als ein erotisches Geschehen vor aller Augen: Charlotte rückt heran und wird weggestoßen.
Die Bestätigung dieser Lektüre erfolgt vier Kapitel später. Jetzt spielt sich das genaue Gegenereignis ab: die Anziehung. Wiederum liest Eduard vor. Diesmal ist auch die geliebte Ottilie dabei, und es heißt: »Ottilie saß Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob, wenn er las. Alsdann rückte sich Ottilie wohl näher, um ins Buch zu sehen […]; und Eduard gleichfalls rückte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu machen; ja er hielt oft längere Pausen als nötig, damit er nur nicht eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.«*28 Man könnte sogar das Licht, das Eduard, zwischen sich und Ottilie stellt, auf Goethes Vortragsnotizen beziehen: »Schließung Vereinigung mit Gewalt. / Licht.« heißt es dort. Das meint natürlich die Lichtphänomene, die im elektromagnetischen Feld auftreten können. Trotzdem ist es verblüffend konsequent, wie sich im Moment der magnetischen Schließung das Licht zwischen die zwei Liebenden hinbewegt. Im »Kater Murr« von E.T.A. Hoffmann kann man solche Phänomene übrigens noch handfester verfolgen. Dort kommt es zu starken elektrischen Schlägen, wenn Menschen, die in einem magnetischen Rapport stehen, einander auch nur flüchtig berühren.
Die körperliche Wirklichkeit der magnetischen Verbindung zeigt sich noch an einer andern Plus-Minus-Polarität: beide Liebenden leiden an Kopfschmerzen, Ottilie auf der linken, Eduard auf der rechten Seite. Und als ob der Erzähler fürchtete, daß sein Hinweis nicht beachtet werde, läßt er Eduard sagen: »Es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Elbogen, sie auf den linken gestützt, und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt; so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben.«*29 Links und rechts entspricht hier dem Plus- und dem Minus-Pol, und das Gegenübersitzen ergibt die Situation der heftigsten Attraktion.
Dies ist eine Inszenierung der magnetischen Schließung, wie sie sich den Roman hindurch immer wieder und auf unterschiedlichste Weise ereignet. Am ergreifendsten geschieht es ganz gegen Ende, als Ottilie schon auf ihrem lautlosen Weg in den Tod ist. Da findet sich die berühmte, die wahrhaft unvergeßliche Stelle: »Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegen einander aus. Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade an einander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange und sie standen, sie saßen neben einander. Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug: nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.«*30
Zu beachten ist die völlige Willenlosigkeit. Die beiden handeln nicht, es geschieht mit ihnen. Sie entscheiden sich nicht, es ist über sie entschieden. Die Prinzipien der Landvermesser und Weltreformer: Planung und Ausführung; Reflexion, Entschluß und Tat; Bewußtsein als höchster menschlicher Zustand, sie sind alle außer Kraft gesetzt, sind wie nie gewesen. Die beiden wohnen im größten Elend, im Lebensunglück, und doch heißt es von ihnen, mit einem unglaublichen Satz: Sie waren zusammen »nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und der Welt«. Das ist der Zustand der magnetischen Schließung, wo nichts mehr anderswohin will, nur da sein, wo es ist, wo aber auch keine andere Kraft in der Welt von irgendwelchem Belang ist außer eben dieser Anziehung, die sich im Zusammenschluß vollendet.