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Sieben bedeutungsvolle Küsse der Literaturgeschichte von Marguerite Duras bis Heinrich von Kleist hat Peter von Matt für sein neues Buch ausgewählt. Eigentlich ist Küssen ja ein Alltagsgeschäft. Und dennoch sind wir fest davon überzeugt, das Leben nach dem Kuss sei ein besseres als zuvor. Daran hat auch die Literatur ihren Anteil, denn in zahllosen Geschichten nimmt das Schicksal nach dem entscheidenden Kuss einen neuen Lauf. Einmal mehr erweist sich Peter von Matt als Meister der kenntnisreichen und eleganten Interpretation, aus der Neugierige genauso viel lernen wie erfahrene Leser: ob es nun um Literatur geht, die Liebe – oder um Osculologie, die Wissenschaft vom Küssen.
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Seitenzahl: 326
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Das Küssen ist ein Alltagsgeschäft und wäre jeder Kuss ein Stück vom unendlichen Glück, lebten wir im Paradies. Von dem sind wir weit entfernt - und trotzdem fest davon überzeugt, das Leben nach dem Kuss sei ein besseres als zuvor. Daran hat auch die Literatur ihren Anteil, denn in zahllosen Erzählungen und Romanen nimmt das Schicksal nach dem entscheidenden Kuss einen neuen Lauf. Sieben bedeutungsvolle Küsse von Heinrich von Kleist bis Marguerite Duras hat Peter von Matt für dieses Buch ausgewählt. Der intime Moment wird für viele große Erzähler zu einer eminenten künstlerischen Herausforderung: Schon deshalb sollte man diese Szenen genau und gründlich lesen Dabei erweist sich Peter von Matt ein weiteres Mal als Meister der kenntnisreichen und eleganten Interpretation, aus der Neugierige genauso viel lernen wie erfahrene Leser: ob es nun um Literatur geht - oder um Osculologie, die Wissenschaft vom Küssen.
Hanser E-Book
PETER VON MATT
Sieben Küsse
Glück und Unglück in der Literatur
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25623-1
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2017
Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München
Motive:
1. Bild v.o.: Max Klinger, Die Sirene. © akg-images
2. Bild v.o.: © akg-images / Imagno / Franz Hubmann
3. Bild v.o.: Max Lingner, Arbeiterliebe (Detail). © akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
4. Bild v.o.: Félix Valloton, Der Kuss. © akg-images
5. Bild v.o.: © akg-images / Imagno
6. Bild v.o.: René Xavier Prinet, Tolstoj, Kreutzersonate. © Sotheby's / akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
7. Bild v.o.: René Magritte, Les amants, Detail. Foto © akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu
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Statt eines Vorworts:
Es ist seltsam, daß in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist – etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen.
Novalis
I
Das Wissen vom Glück und die Frage nach der Zahl der Küsse
II
Das verborgene Juwel – VirginiaWoolf
III
Der Totentanz der Roaring Twenties – F. Scott Fitzgerald
IV
Ein Traumspiel des bürgerlichen Erzählens – Gottfried Keller
V
Ein Gottesnarr der Musik – Franz Grillparzer
VI
Die Szene als Monster – Heinrich von Kleist
VII
Wenn Glück und Unglück zusammenschießen – Marguerite Duras
VIII
Glück als Infektion – Anton Tschechow
IX
Schluss
Anmerkungen
Bildnachweis
I
DAS WISSEN VOM GLÜCK UND DIE FRAGE NACH DER ZAHL DER KÜSSE
Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust. Es schmerzt nicht immer, aber es macht unruhig. Die Folge ist, dass der Mensch, um Pascals berühmte Diagnose zu zitieren, nicht fähig ist, gelassen in einem Zimmer zu bleiben – … de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre.1 Selbst der König, der doch alles habe, was der Mensch nur besitzen kann, meint Pascal, brauche vom Morgen bis zum Abend eine Menge Leute um sich herum, die für Betrieb und Unterhaltung sorgten, damit er keinen Moment für sich allein sei. Dann wäre er nämlich gezwungen, an sich selbst zu denken, und würde auf der Stelle in Trübsinn verfallen.
Für Pascal ist alles, was der Mensch außerhalb des Zimmers sucht, divertissement, Ablenkung durch Scheinvergnügen. Das kann die Hasenjagd sein oder der Krieg, der Tanz im Ballsaal oder der Gewinn eines großen Vermögens. Dass auch die Liebe dazugehört, erwähnt er nicht; er scheint sie für das belangloseste aller divertissements zu halten. Der überwiegende Teil der Menschheit ist da anderer Meinung. Bei den Philosophen ist es zwar denkbar, dass sich eine Mehrheit auf die Seite Pascals schlägt, aber schon bei den Dichtern sieht das Glück entschieden anders aus. In ihren Werken verkörpert das einsame Zimmer an sich schon tous les malheurs des hommes, wie Pascal sagt, alles Unglück der Menschen, und die Unfähigkeit, es dort drin allein auszuhalten, beruht auf der Tatsache, dass es für den Inbegriff des Glücks, wo immer sich die Literatur dazu äußert, zwei Menschen braucht.
Das heißt nicht, dass die Literatur recht hat. Sie ist ein jahrtausendealtes Unternehmen der Welterklärung, wie die Philosophie es ist, wie die Wissenschaften es sind und auch die Religionen, die einst sogar alle andern Systeme in sich einbeschlossen haben. Wie jede von diesen dreien treibt die Literatur das große Geschäft auf ihre Weise. Auch sie fragt zwar nach den ersten und letzten Dingen, nach dem, was immer war und immer sein wird, nach den Gesetzen, die alles steuern, was auf dem Planeten geschieht, aber sie nimmt sich das Recht, die größten Prozesse gegebenenfalls an den winzigsten Wesen zu studieren. Das Universale erkennen die Dichter am schärfsten im Belanglosen. Der Tod einer Fliege kann für sie so wichtig sein wie der Trojanische Krieg.
Das hängt damit zusammen, dass die Literatur ihren eigenen Blick auf die Welt hat. Dieser hat sich, im Unterschied zu den andern Systemen, nie ganz abgelöst vom Blick des Kindes. Für das Kind gibt es noch keine Ordnung der Dinge. Alles kann riesig sein oder wie nicht vorhanden. Ein Stein auf dem Weg ist kostbar wie der Rubin in der Königskrone. Er ist sogar lebendig wie ein Tier. Die Hierarchie all dessen, was ist, entsteht erst durch das unablässige Einreden der Erwachsenen auf das Kind: Das ist eklig, das ist schön, das ist verboten … Weil die Literatur noch Wege kennt hinter alle Hierarchien zurück, kann sie jederzeit verschollene Erfahrungen in uns wachrufen, Erfahrungen aus den Urzeiten des eigenen Lebens oder aus den Urzeiten der Menschheit. Für sie gilt Brechts Vers aus dem Lied von der Moldau: »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine« – wenn auch auf andere Weise, als Brecht es gemeint hat.
Das Spiel mit der Gewalt des Geringen und mit der Geringfügigkeit des Gewaltigen durchzieht die Literatur. Weil sie über die Kraft der symbolischen Aufladung verfügt, kann sie alle Ordnungen umbauen; sie kann das Winzige mit drei Worten zu einer Hauptsache machen und den babylonischen Turm zu einer Dekoration im Hintergrund. Es gibt zahlreiche Begriffe für die Prozesse der symbolischen Aufladung, man redet von Metaphern und Metonymien, von Synekdochen und Allegorien, entwickelt Zeichentheorien und destruiert sie wieder, indem man irgendwann den Zeichen ihre Verweisungskraft überhaupt bestreitet. Ganze Lehrstühle leben von der Produktion semiotischer Konzepte und der Demontage ihrer Vorgänger. Die Studierenden glauben daran, richten sich danach aus, schreiben Dissertationen darüber und müssen eines Tages zur Kenntnis nehmen, dass kein Hahn mehr nach ihrer wissenschaftlichen Heilslehre kräht. Die Prozesse der symbolischen Aufladung aber wirken immerzu in allen Künsten, mit bald zarten, bald mächtigen Effekten, unabhängig vom Stand der Theoriebildung. Die Kraft, die dem Kind einst die Puppe lebendig machte und den krummen Stecken zum galoppierenden Pferd, wirkt fort in der bildenden Hand der Malerinnen und Maler, in der unerwarteten Geste des Schauspielers, in der fahrenden Filmkamera, die einen Gegenstand erschreckend heranzoomt. Was aber einmal dergestalt aufgeladen ist, kann in der Literatur ein ganzes Werk durchstrahlen und zum Schlüssel werden für dessen Geheimnisse – falls nur der Leser aufmerksam genug ist und seine Freude hat am Spiel des Verbergens und Aufdeckens. Die symbolische Strahlung mag von einem mythischen Ungeheuer wie dem weißen Wal des Kapitäns Ahab ausgehen, dem Wesen, das nicht nur einen großen Roman durchzieht, sondern diesen Roman wie aus eigener Kraft verlängert und ausdehnt, bis das Opus selber leviathanische Ausmaße erlangt hat. Sie kann aber auch in einer einzigen Erzählsekunde stecken. So erscheint in Kafkas Proceß die Schwimmhaut zwischen Mittel- und Ringfinger des Mädchens Leni nur ein einziges Mal und wie im Vorbeigehen.2 Aber das seltsame körperliche Phänomen bleibt uns bis zum Schluss vor Augen. Wir spüren die symbolische Aufladung und kommen ihr doch nicht wirklich bei, so wenigstens nicht, wie wir gewohnt sind, den Symbolen im Erzählen des 19. Jahrhunderts beizukommen.
Die Menschen tragen das Wissen vom Glück immerzu mit sich herum. Sie messen daran ihre eigene Befindlichkeit und beobachten daraufhin alle andern. Sie erfinden wundersame Vorstellungen von einer ewigen Seligkeit und sind rasch bereit, andere um dieser Vorstellung willen totzuschlagen. Weil man das Paradies denken kann, muss es einmal existiert haben oder wird es sich einmal vor uns öffnen. Und wenn die religiöse Basis dieser Träume sich verflüchtigt, verflüchtigen sich doch keineswegs die Träume selbst. Sie verwandeln sich vielmehr in ein Projekt der ganzen Menschheit, die nun die Aufgabe hat, das Paradies auf diesem Planeten selbst einzurichten. Auch dafür muss man notfalls viele Menschen töten. Was wir Aufklärung nennen, ist nichts anderes als dieser Vorgang: die Abschaffung der jenseitigen Seligkeit und ihre Verwandlung in das Vorhaben, sie auf dieser gequälten Erde eigenhändig aufzubauen. Goethe hat darüber einen Roman geschrieben, Die Wahlverwandtschaften. Eine Gruppe guter, kluger, liebesfähiger Menschen will die Epochenvision vom selbstgeschaffenen Paradies in einem überschaubaren Raum mit Schloss und Dorf und ausgedehnter Natur verwirklichen. Kein Bösewicht stört die planvolle Arbeit. Dennoch endet sie schrecklich.
Weil die Literatur immer konkret ist, denkt sie nicht in Begriffen, sondern in Szenen. Das Wissen vom Glück erscheint daher in der Literatur immer und immer wieder als die leibhaftige Begegnung zweier Menschen. Das Nachdenken darüber verkörpert sich in deren Geschichte und weiterem Schicksal. Was in der Philosophie Theorie ist, ist in der Literatur Handlung. Gewiss wird über diese innerhalb der Literatur auch nachgedacht, aber die Reflexionen der Figuren holen ihr Handeln nie ganz ein. Eine Szene wird symbolisch aufgeladen, und wie immer man sich darüber innerhalb und außerhalb des Textes den Kopf zerbricht, zu einem vollständig in Sprache übersetzten Verständnis gelangt man nie. Ein Beispiel ist Hamlets stummer Besuch bei Ophelia, von dem diese ihrem Vater berichtet. Hamlet ist in verwahrlostem Zustand bei ihr erschienen, hat ihr Handgelenk gefasst und sie lange wortlos angeschaut, dann hat er so tief gestöhnt, dass es durch seinen ganzen Körper lief. Schließlich hat er das Zimmer auf eine seltsame Weise wieder verlassen, so nämlich:
That done, he lets me go,
And with his head over his shoulder turn’d
He seem’d to find his way without his eyes,
For out o’ doors he went without their helps,
And to the last bended their light on me.3
Danach, erzählt Ophelia also, ließ er mich los, und, den Kopf über seine Schulter zurückgedreht, schien er den Weg ohne seine Augen zu finden; denn er ging zur Tür hinaus ohne deren Hilfe und hielt den Blick bis zuletzt auf mich gerichtet.
Nun wissen wir zwar, dass Hamlet zur Tarnung den Verrückten spielt, wissen allerdings nicht, ob er nicht zuzeiten die Grenze zum Wahn tatsächlich überschreitet, und vor allem wissen wir nicht, ob die Szene bei und mit Ophelia nicht trotzdem die tiefste Wahrheit über seine Beziehung zu ihr zum Ausdruck bringt. Denn diese Art, das Zimmer zu verlassen und den Weg gleichsam in Trance zu finden, den Blick in jenen von Ophelia getaucht, mutet nicht wie ein psychopathologisches Symptom an, weder ein gespieltes noch ein echtes, sondern durchschlägt dieses Zeichenfeld mit der Gewalt eines bedeutungsschweren Verhaltens. Hamlets Gang aus dem Zimmer ist ganz und gar eindeutig in seinem Verlauf und verzweifelt schwierig in seiner Aussage. Will Hamlet damit Ophelia zu verstehen geben: Ich spiele zwar den Verrückten, aber du darfst nicht glauben, dass dies etwas an meiner Liebe zu dir ändert? Oder macht er sie zur Spielfigur in seiner Verstellungs-Intrige, über die er den Mord am Vater aufdecken will? Wenn das erste gilt, warum macht er es der jungen Frau nicht klar? Wenn das zweite gilt, warum treibt er gerade sie, die einzige unbedingt Schuldlose am dänischen Hof, in die Verzweiflung, in den tatsächlichen Wahnsinn und schließlich in den Suizid? An diesem Vorgang kann man studieren, was es heißt, dass die Literatur in Szenen denkt und nicht Gedanken in Szenen übersetzt. Womit sie der Philosophie gleichzeitig unter- und überlegen ist und weshalb die eine durch die andere nie ganz ersetzt werden kann.
Auch das unbedingte Glück erscheint in der Literatur zumeist als eine Szene, und in tausend Fällen gehört zu dieser Szene der Kuss. Dabei ist Küssen ein Allerweltsgeschäft. Wäre mit jedem Kuss das unbedingte Glück verbunden, lebte die Menschheit im Paradies. Dass diese zarte Tätigkeit ungezählte Formen kennt und entsprechend unterschiedliche Bedeutungen aufweist, ist von den Dichtern vielfach festgestellt worden. Grillparzer hat es in knappe Form gebracht:
Auf die Hände küßt die Achtung,
Freundschaft auf die offne Stirne,
Auf die Wange Wohlgefallen,
Selge Liebe auf den Mund;
Aufs geschloßne Aug die Sehnsucht,
In die hohle Hand Verlangen,
Arm und Nacken die Begierde,
Überall sonst hin Raserei.4
Die Liste ist noch ausbaufähig. Dennoch bildet sie eine hübsche Osculologie, wie man die Wissenschaft vom Küssen gelegentlich nennt. Das Wort leitet sich vom lateinischen osculum ab, was sowohl ein Mündchen meint wie den Kuss selbst. Auch der junge Goethe kennt den Ausdruck Mäulchen für den Kuss, wobei er meistens Mäulgen schreibt. Als Frankfurter sprach er nämlich das g im Wortinnern gleich aus wie das ch, woraus sich für ihn ein dauerndes orthographisches Problem ergab. Mädgen für Mädchen ist das bekannteste Exempel, und Gretchens berühmtes Gebet: »Ach neige, / Du Schmerzenreiche […]« war für Goethes Ohren korrekt gereimt.
Als wissenschaftliche Disziplin im strengen Sinne gibt es die Osculologie nicht. Auch in Dudens Großem Fremdwörterbuch, 1557 Seiten stark, fehlt der Begriff. Aber da die Dichter, wenn sie von der Liebe reden, diese immerzu auch zu erforschen suchen, gewinnt alles Dichten und Erzählen im weiten Feld des Erotischen früher oder später einen osculologischen Einschlag. Ein berühmter Fall ist Johannes Secundus, der Holländer, der 1536 mit vierundzwanzig Jahren starb und doch bereits unsterblich geworden war mit einem Zyklus lateinischer Gedichte. Diesen nannte er kurzerhand Basia, was zu Deutsch Küsse heißt; denn neben osculum kannten die Römer auch das Wort basium für den Kuss (es lebt im französischen le baiser weiter). Und folgerichtig heißt auch jedes einzelne Gedicht im Zyklus des Secundus Basium, mit angefügter Zahl von I bis XIX.5 Goethe beschäftigte sich mit dem Werk in der Zeit seiner heftigsten Liebe zu Charlotte von Stein, wobei die unverblümte Körperlichkeit der Basia auch eine Kompensation gewesen sein dürfte für das von Charlotte verordnete Verbot aller liebenden Handgreiflichkeiten. Jedenfalls schrieb er ein Gedicht mit dem Titel An den Geist des Johannes Secundus, das sich handschriftlich im Nachlass der Frau von Stein erhalten hat.6 Der Anfang ist sprachgewaltig, in einem archaisch sperrigen Rhythmus:
Lieber, heiliger, großer Küsser,
Der du mir’s in lechzend atmender
Glückseligkeit fast vorgetan hast!
Dann jedoch läuft das Gedicht eher merkwürdig auf die Klage hinaus, dass er, der Dichter, nicht mehr küssen könne, weil ihm in der herbstlichen Kälte die Lippe schmerzhaft aufgesprungen sei. Keineswegs, betont er, sei ihm die Lippe etwa aufgesprungen wegen allzu stürmischer Küsse der Geliebten, nein, die Wunde sei ausschließlich wetterbedingt. Das Motiv nimmt sich ziemlich uninspiriert aus, deshalb ist man wiederum verblüfft über die Gewalt, mit der nun das, was gerade nicht geschieht, zur Sprache findet:
Gesprungen ist sie! Nicht vom Biß der Holden,
Die, in voller ringsumfangender Liebe,
Mehr möcht’ haben von mir, und möchte mich Ganzen
Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte!
Das schließt für einen aufregenden Moment an die ersten drei Verse an, besitzt, wie jene, den unerhörten Klang der neuen Sprache, die Goethe in diesen Jahren aus der Begegnung mit Shakespeare und Hamann und Herder gewinnt. Der Widerspruch, der sich zwischen dieser poetischen Wucht und dem dünnen Motiv der gesprungenen Lippe ergibt, wird jedoch gelöst, wenn man die Novemberkälte als Metapher für die spröde Abwehr der umworbenen Charlotte liest. Das überraschende doppelte »ganz« – »und möchte mich Ganzen / Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte« – verweist jetzt auf das, was der geliebten Frau fehlt, das, worin sie, im betonten Unterschied zum liebenden Mann, eben nicht ganz ist.
Bei diesem Johannes Secundus erscheint nun auch ein Motiv, das für unser Thema von besonderer Bedeutung ist: die Zahl der getauschten Küsse. Secundus übernimmt den Gedanken aus der Tradition der antiken Liebeslyrik. Die Verliebten versuchen, die Intensität ihrer Gefühle in die Zahl der gewünschten oder versprochenen Küsse zu übersetzen. So beginnt Secundus das Basium VI mit der Feststellung, seine Freundin und er hätten sich auf zweitausend Küsse verschworen, und tatsächlich, tausend Küsse habe er gegeben, und tausend Küsse habe er empfangen – in lateinischer Knappheit: »basia mille dedi, basia mille tuli«. Doch jetzt zeige es sich, dass man die Liebe niemals mit Zahlen ergründen könne. Eine welterschütternde Erkenntnis ist das nicht, aber sie gehört seit Jahrtausenden zum Reden über ein welterschütterndes Gefühl.
Das Basium VI ist ein schlankes humanistisches Echo auf das schlechthin berühmteste Gedicht der Weltliteratur über die Zahl der Küsse, das Zählen der Küsse und den Umgang mit den gezählten Küssen, das fünfte Carmen7 von Catull, dem römischen Erotiker, der fast so jung gestorben ist wie sein Nachfolger Secundus in der Renaissance. Der Auftakt formuliert, im Zuruf an die Geliebte Lesbia, die leidenschaftlichste Parole aller europäischen Lyrik: »Wir wollen leben und wir wollen lieben!« – »Vivamus atque amemus.« Denn der Tod komme rasch genug, und das Licht des Lebens sei kurz: »brevis lux«. Catull konnte nicht wissen, wie sehr das auf ihn selbst zutreffen sollte. Nach diesem Auftakt aber, der ebenso antik wie barock ist, entspringt aus dem Gedanken an den lauernden Tod ein Tumult der Zahlen, ein tobendes Über- und Durcheinander der Tausender und Hunderter und ihres Vielfachen, und alle Zahlen meinen Küsse, die Küsse, um die Catull seine Lesbia bestürmt. Aber, sagt er dann, niemand außer ihnen beiden dürfe die endgültige Zahl wissen. Eigenhändig müssten sie zuletzt die Rechnung wieder verwirren, denn es gebe Leute, die ihnen schaden könnten, aus Neid über das ungeheure Glück solchen Küssens. Man muss nicht Latein verstehen, um im Original das Zahlengeprassel der Wörter – mille, tausend, milia, Tausende, und centum, hundert – zu erleben:
Da mi basia mille, deinde centum,
dein mille altera, dein secunda centum,
deinde usque altera mille, deinde centum.
Dein, cum milia multa fecerimus,
conturbabimus illa, ne sciamus […]
Wörtlich übersetzt: Gib mir tausend Küsse, dann hundert, dann nochmals tausend, dann ein zweites Mal hundert, dann nochmals tausend, dann hundert. Dann, wenn wir viele tausend gegeben haben, werden wir alles durcheinanderbringen, damit wir das Ergebnis selbst nicht mehr wissen.
Irritierend mutet uns heute an, dass Catull immer von tausend wieder auf hundert kommt. Sind wir es doch gewohnt, dass eine Steigerung umgekehrt verläuft, vom Hundertsten ins Tausendste, wie der Volksmund sagt. Das wäre eine Belanglosigkeit, wenn nicht eine magische Stimme der deutschen Literatur, Eduard Mörike, dieses Gedicht übertragen und dabei genau diese Irritation korrigiert hätte. Er macht aus hundert jedes Mal hunderttausend. Mörike war ein erprobter Lateiner und subtiler Übersetzer; vielleicht glaubte er sogar, philologische Gründe zu haben für seine Variante. Das mag entscheiden, wer dafür zuständig ist. Auf jeden Fall wurde Catulls Gedicht durch Mörikes Übersetzung zu einem Stück deutscher Literatur, und so darf es mit seinem ganzen Zahlentumult hier vollumfänglich anschließen:
Laß uns leben, mein Mädchen, und uns lieben,
Und der mürrischen Alten üble Reden
Auch nicht höher als einen Pfennig achten.
Sieh, die Sonne, sie geht und kehret wieder:
Wir nur, geht uns das kurze Licht des Lebens
Unter, schlafen dort eine lange Nacht durch.
Gib mir tausend und hunderttausend Küsse,
Noch ein Tausend und noch ein Hunderttausend,
Wieder tausend und aber hunderttausend!
Sind viel tausend geküßt, dann mischen wir sie
Durcheinander, daß keins die Zahl mehr wisse
Und kein Neider ein böses Stück uns spiele,
Wenn er weiß, wie der Küsse gar so viel sind.8
Ein Jahrhundert nach Catull versuchte sein Lyrikerkollege Martial, der beim Vorgänger viel gelernt hatte, diesen in Sachen Kusszahl zu übertreffen. Rein numerisch war das nicht möglich, es ging nur über Vergleiche und zudem, was raffinierter war, über eine grundsätzliche Kritik am Operieren mit Zahlen im Bereich dieser beliebten Tätigkeit. Martials Gedicht richtet sich an einen schönen Jüngling – eine Variante, die auch Catull kennt. Er bittet diesen um heiße Küsse und bekommt als Antwort die Frage: »Wie viele?« Worauf Martial hymnisch wird und erklärt, dazu müsste er ja die Wellen des Ozeans zählen können und die Muscheln am Strand und die schwärmenden Bienen und – eine kulturgeschichtliche Momentaufnahme – »die Stimmen und Hände, die im vollen Theater lärmen, wenn das Volk plötzlich Caesars Gesicht sieht«.9 Dann aber kommt er direkt auf Catulls Kussgedicht zu sprechen, das offenbar jedermann kannte, selbst sein Jüngling: »Ich will nicht so viele Küsse, wie dem wohlklingenden Catull auf seine Bitte Lesbia schenkte.« Der Satz bedeutet aber nicht, dass Martial mit weniger zufrieden wäre, sondern im Gegenteil, Catulls Begehren sei dem seinen unterlegen, weil dieser überhaupt gezählt habe. Denn, so die Pointe: »Weniges nur begehrt, wer es zu zählen vermag.« Lateinisch lapidar: »Pauca cupit qui numerare potest.«10 So kommunizieren die »lieben, heiligen, großen Küsser« über die Jahrhunderte hin miteinander.
Das Wissen vom Glück, das die Menschen umtreibt, zwingt sie dazu, an das Maximum zu denken, dieses sich vorzustellen, sich nach diesem auf die Jagd zu machen. Das spiegelt sich in den Gedichten über die maximale Zahl der Küsse. Diese Steigerung aber bedroht nun selbst wieder, was sie doch anstrebt. Sie entwertet nämlich den einzelnen Kuss. Das ist zwar selten ein Problem für die Verliebten selbst, wohl aber ist es eines für die Literatur. Denn so wie diese das eine Mal die größtmögliche Zahl der Küsse zum Thema macht, macht sie ein anderes Mal den singulären Kuss zum Thema. Dieser muss dann als Ereignis alle mögliche Vielzahl überstrahlen.
Als symbolisch aufgeladene Szene ist der singuläre Kuss ein Geschehnis der Kunst, das auf seine Stellung und Funktion im jeweiligen Werk hin befragt werden muss. Der oft zitierte und Jean Paul zugeschriebene Satz »Zehn Küsse werden leichter vergessen als ein Kuss« macht zwar deutlich, dass der einmalig-einzigartige Kuss sehr wohl zur Lebens- und Liebeswirklichkeit der Menschen gehört – und um dies zu wissen, bedarf es auch gar keiner Dichterzitate –, dennoch kommt ihm in der Literatur, im delikaten Gefüge eines Romans, eines Stücks, eines Films, ein besonderer Wert zu: Er ist ein spektakuläres Ereignis der Gestaltung.
Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Todesszene. In der Lebenswirklichkeit wird genauso oft geboren wie gestorben. In der Literatur aber findet sich zwar gelegentlich die Schilderung einer Geburt, das Verhältnis der Geburts- zu den Todesszenen dürfte jedoch 1 : 10 000 übersteigen. Auch die Todesszene ist symbolisch immens aufgeladen. In ihr schießen vielfach alle Handlungsstränge und Problemstrukturen eines Werks zusammen. Sie kann den Drehpunkt oder das Finale einer Tragödie, eines Romans bilden, den Moment, wovon weg oder worauf zu alles läuft. In ihr verdichtet sich deshalb auch oft genug der höhere Sinn des erzählten oder gespielten Ganzen. Genauer gesagt: Wenn wir in einem erzählten oder gespielten Ganzen den höheren Sinn suchen, was wir ja reflexartig tun, setzen wir bei den Szenen an, die aus allem andern so hervortreten wie die Todesszenen. Das hängt damit zusammen, dass der Moment des Todes irreversibel ist. Erst mit ihm gewinnen die vorhergehenden Ereignisse den Charakter eines zwingenden Schicksals. Deshalb ist in der Todesszene das winzigste Detail aussagekräftig für das Ganze.
Diese Eigenschaften kommen nun auch dem singulären Kuss in der Literatur zu. Auch er erscheint im Handlungsgefüge so, dass danach alles anders ist als vorher, und zwar sowohl für die zwei Küssenden als auch für die Leserinnen und Leser. Das Ereignis greift tief in die Selbst- und Welterfahrung der Protagonisten ein. Deshalb stellt es für den Autor eine Aufgabe dar, die ihm alle erzählerischen Fähigkeiten abverlangt. Was vorher war und nachher sein wird, ist in dem kurzen Geschehen geisterhaft anwesend.
Dies erfordert eine poetische Arbeit, die ihrerseits, als handwerklicher Vollzug, studiert sein will. Erfindung, Form und Einfühlung scheinen eins zu werden und sollen es für die spontanen Leser auch sein. Deshalb kann die genaue Beobachtung hier zu neuen Aufschlüssen über die Geheimnisse des Erzählens führen.
II
DAS VERBORGENE JUWEL
Es gibt Bücher, die ihren Rang erst im Verlauf vieler Jahrzehnte gewinnen. Man sieht zwar rasch, dass hier etwas Beachtliches vorliegt, aber in seiner Einzigartigkeit kann es vorerst noch nicht erkannt werden. Es müssen ein paar jener Abschnitte hinter uns liegen, in die wir die Jahrhunderte unterteilen – sei’s nach historischen Zäsuren, sei’s nach Umbrüchen der Kunst –, damit wir erkennen, dass diese Bücher wie Signallichter in der Kulturgeschichte stehen. Sie decken nicht nur die geheime Wahrheit ihrer eigenen Gegenwart auf, sondern sagen auch die Wahrheit der unsrigen voraus. Man bemerkt die eigentümliche Beschaffenheit dieser Bücher zunächst daran, dass man ihnen im öffentlichen Diskurs immer wieder begegnet und dass man selbst nicht umhinkann, sie im Gespräch zu erwähnen. Sie haben sich irgendwann im kulturellen Bewusstsein eingenistet; man bezieht sich auf sie, weil man weiß, dass man dabei verstanden wird und komplexe Zusammenhänge durch das bloße Nennen des Titels oder der Hauptfigur verdeutlichen kann. So geschah es zum Beispiel – sehr langsam – mit Melvilles Bartleby. Diese Erzählung erschien erstmals 1856 in den USA, zur ersten deutschen Übersetzung kam es 1946 in der Schweiz. Den Beruf, den Bartleby ausübt – Kopist in einem Büro neben anderen Kopisten –, gibt es längst nicht mehr, aber das ändert nichts an der Aktualität der Geschichte. Das Setting ist veraltet, die Figur erscheint so gegenwärtig, wie sie es hundert Jahre lang nicht war. Ihre symbolische Aufladung bewirkt, dass sie von einem Gegenstand der Betrachtung zu einem Element des Nachdenkens selbst geworden ist.
Das gilt nun auch von zwei Romanen, die beide im Jahr 1925 erschienen sind, der eine in England, der andere in den USA. Beide lagen drei Jahre später in deutscher Übersetzung vor, ohne allerdings besonderes Aufsehen zu erregen. Heute erhellen sie uns das europäische und amerikanische 20. Jahrhundert und auch noch manches an den anschließenden Jahrzehnten. Dies nicht, weil sie die Verwirrungen der Epoche auf geschliffene Formeln bringen würden, sondern, im Gegenteil, weil sie hinter einer bunten Oberfläche Blicke in eine Tiefe ermöglichen, die mehrdeutig ist, Nachdenken verlangt und uns zwingt, einzelne Stellen wieder und wieder zu lesen. Dann aber, wenn wir uns wirklich einlassen auf die Erzählspiele und Leserprovokationen, führen sie zu Einsichten, die anderswo schwer zu finden sind. Diese Einsichten sind an die Figuren und Szenen gebunden, an die Handlungen also, in denen die Literatur denkt, in denen sie argumentiert, polemisiert, verehrt und rühmt und verhöhnt und schließlich auch Beweise führt. In beiden Romanen gehört dazu prominent der singuläre Kuss. Hier wie dort ist er das Ereignis, über dem sich das Verständnis des Ganzen entscheidet. Dabei ist die erzählerische Aufbereitung keineswegs so beschaffen, dass die Bedeutung des Geschehens auf der Hand läge.
Der eine Roman ist Mrs Dalloway von Virginia Woolf, der andere The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald.
Virginia Woolf bereitet die Kuss-Szene planvoll vor, obwohl der Akt selbst plötzlich und wie von selbst geschieht. Zehn Seiten umfasst der Bericht, der auch als Initiation der Leser in die innersten Geheimnisse der Titelfigur betrachtet werden kann. Diese heißt Clarissa und ist Mrs. Dalloway, und dass der Roman selbst Mrs Dalloway lautet (auf Deutsch mit einem Punkt nach Mrs, im Englischen ohne Punkt), ist von Bedeutung. Eigentlich gibt es wohl keinen banaleren Titel. Schon Clarissa als Überschrift hätte mehr Atmosphäre, würde das Versprechen einer Person, eines Schicksals mit sich führen, und der Verzicht auf den Nachnamen würde diese Person behutsam intimisieren. Mrs. Dalloway hingegen könnte auch die Gemüsehändlerin um die Ecke heißen.
Clarissa als Titel wäre im Englischen allerdings besetzt, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Damals legte Samuel Richardson mit Clarissa einen der Grundsteine des englischen Romans und überspülte das lesende Europa mit einer Flutwelle verzehrender Gefühle. Der Name Clarissa wurde zum Synonym für das uferlose Innenleben einer liebenden und verführten und verratenen Frau. Niemand wusste das besser als Virginia Woolf. Dass der Name literarisch riskant war, stand für sie also fest, etwa so riskant, wie wenn ein Autor den Helden seines neuen Kriminalromans Sherlock nennen wollte.
Im Romantext heißt die Titelfigur bei der ersten Erwähnung Mrs. Dalloway (was zugleich die ersten zwei Wörter des Romans sind), bei der zweiten Erwähnung Clarissa Dalloway, bei der dritten Clarissa. Man sieht, hier wird erzählstrategisch operiert. Der befrachtete Vorname muss entschärft, seine sentimentale Brisanz gedämpft werden, ohne dass sich die Erinnerung daran gänzlich verflüchtigt.
Genau besehen benennt die Differenz zwischen »Mrs. Dalloway« und »Clarissa« die Grundspannung des Romans. Die Frau, die beide Namen trägt, verliert sich zwar zeitweilig in ihren Phantasien, ist daneben aber von bestechendem Scharfsinn. Sie ist einundfünfzigjährig, schon leicht ergraut, gehört zur englischen Oberschicht und wohnt in einem der besten Quartiere Londons. Sie weiß, dass sich an ihrem Leben nicht mehr viel ändern wird. Was bleibt, ist – und jetzt kommen wieder die Namen, kommt sogar noch eine Erweiterung –, was bleibt, ist »dieses Mrs.-Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs.-Richard-Dalloway-Sein«.11 Der gesellschaftliche Sprachgebrauch hat sogar ihren Vornamen mit dem des angetrauten Mannes vertauscht. Ist das eine Entmündigung? So wie die Namenreihe daherkommt, ist die Vermutung schwer zu widerlegen. Auch die auffällige Wortbildung mit »Sein«, die ihre ganze Existenz ins Auge fasst – »dieses Mrs.-Richard-Dalloway-Sein«, im Original: »this being Mrs Richard Dalloway« –, spricht dafür. Erkennt sich hier eine Frau als Unterdrückte? Kündigt sich sogar ein Aufstand an, ein Kampf um die Grundrechte des weiblichen Geschlechts? Das wäre tatsächlich ein mögliches Schema für den Romanverlauf, ein einfacher, aber wirkungsvoller Plot. Auch der moralische Grundriss wäre damit gezogen: Opfer und Täter stünden fest. Romane nach diesem Schema gibt es inzwischen viele, nur gehört derjenige von Virginia Woolf nicht dazu. Er wirft zwar diese Fragen auf den Tisch, lässt auch keinen Zweifel darüber aufkommen, wo die Sympathien der Autorin liegen, und doch gerät er nie zu einer geschlechterpolitischen Kampfschrift. Warum nicht? Weil er große Literatur ist. Ist das nicht eine Floskel? Nein, es besagt ganz einfach, dass dieser Roman in Handlungen denkt, in Handlungen von Personen. Diese Personen sind schwierige, verwickelte Wesen mit widersprüchlichen Wünschen und Genüssen. Sie genießen, was sie nicht unbedingt wünschen, und wünschen, was sie doch lieber nicht genießen möchten. Die Widersprüche sind weder logisch noch sozialpsychologisch aufzulösen. Nur im Handeln der Figuren, zu dem auch ihr Denken und Erinnern gehört, sind alle Widersprüche aufgehoben. Sie sind unmittelbarer Lebensvollzug.
Und so erleben wir denn auch Mrs. Dalloway, die immerzu fluktuiert zwischen dem Clarissa-Sein und dem Mrs.-Richard-Dalloway-Sein. Sie genießt nämlich beides, so wie sie auch an beidem leidet. Ihr Scharfblick kann die High Society, zu der sie selbst gehört, unversehens in eine Parade der grotesken Lemuren verwandeln, wie sie auf den Stichen von William Hogarth nicht böser gezeichnet sind, und doch geht sie ganz und gar, süchtig beinahe, in dem Geschäft auf, diese Society zu großen Abendgesellschaften zu empfangen. Der Roman spielt denn auch an einem Tag dieser Art, vom frühen Morgen, als sie in die Stadt geht, um an der vornehmen Bond Street die nötigen Blumen zu kaufen, bis in den tiefen Abend hinein, als fast alle Geladenen das Haus schon wieder verlassen haben.
Das ist ein Handlungsrahmen von demonstrativer Banalität, woran auch die Tatsache nichts ändert, dass der Premierminister persönlich dem Hause Dalloway die Ehre seines Besuches abstattet. Denn im aufblitzenden bösen Blick der Erzählung wird der Premierminister zu einer Person, bei der bürgerliche Biederkeit und dekorierte Rolle nebeneinander hergehen wie ein Komikerpaar. Sein Gang durch die festlichen Räume der Dalloways verwandelt alle Anwesenden ebenfalls in Rollenspieler, die sein wollen, was sie mimen, und sich gegenseitig versichern, dass dies tatsächlich der Fall sei:
Man konnte über ihn nicht lachen. Er sah so gewöhnlich aus. Man hätte ihn hinter eine Ladentheke stellen und Gebäck bei ihm kaufen können – der arme Kerl, ganz mit Goldtressen behängt. Und um gerecht zu sein, als er die Runde machte, zuerst in Begleitung Clarissas, dann Richards, machte er seine Sache sehr gut. Er bemühte sich, bedeutend auszusehen. Es war unterhaltsam, das zu beobachten. Niemand drehte sich nach ihm um. Sie redeten einfach weiter, aber es lag auf der Hand, dass alle wussten, es bis ins Mark spürten, wie diese Majestät vorüberschritt; dieses Symbol für das, wofür sie alle standen, die englische Gesellschaft.12
Und wie sehr Clarissa – oder müssen wir jetzt sagen: Mrs. Richard Dalloway? – hier dazugehört, zeigt sich in einer Passage, die wenig später folgt:
Und nun begleitete Clarissa ihren Premierminister ins Zimmer; schritt stolz neben ihm her; glänzte in der Pracht ihres grauen Haars. Sie trug Ohrringe und ein silbergrünes Meerjungfernkleid. Sie schien auf den Wogen zu schaukeln und ihre Locken zu flechten, denn diese Gabe besaß sie noch immer; zu sein; da zu sein; in dem Augenblick, in dem sie vorüberging, alles zusammenzufassen; […] mit vollendeter Unbefangenheit und der Miene eines Geschöpfes, das in seinem Element schwimmt.13
Der Mann, aus dessen Blick diese Szene erzählt wird, hat zwar vor Jahren um Clarissa geworben, und noch immer ist sie ihm nicht gleichgültig. Dies scheint im Bild von der Meerjungfrau auf, die, wie die Loreley, ihre Locken flicht. Ein emotional Unbeteiligter würde schwerlich auf den Vergleich kommen. Aber das romantische Signal kann in keiner Weise verdecken, wie beschwingt Clarissa in ihrem Mrs.-Richard-Dalloway-Sein aufgeht. Das besagt nicht, dass ihre andere Seite, für die der Vorname steht, sich jetzt verflüchtigt hätte. Sie ist immer da, mit ihrem anderen, ihrem größeren Gewicht. Trotzdem spielt Clarissa ihre Rolle der perfekten Gastgeberin souverän, im Einklang mit ihrem Mann, Richard, der Mitglied des englischen Parlaments ist (wenn er auch, was mehrfach mit Untertönen bemerkt wird, nicht im Kabinett sitzt, es also nicht bis zum Minister gebracht hat). Eine Frau wie Clarissa könnte ihre Rolle in der Gesellschaft auch als verfluchte Pflicht empfinden. Sie könnte sie, mit gleicher Perfektion, auch unter heimlichen Qualen spielen, ja, nach allem, was wir von ihr wissen, wäre dies sogar zu erwarten. Aber so ist es nicht. Sie spielt, ganz ohne Zweifel spielt sie, was sie für die meisten Anwesenden durch und durch ist, und sie genießt die Makellosigkeit ihres Spiels.
Das gipfelt in ihrer Fähigkeit zu bezwingender Präsenz. Man käme wohl kaum auf diese Feststellung, wenn nicht mehrmals im Roman davon mit auffälligem Nachdruck die Rede wäre. Im obigen Zitat wird auf ihre Gabe hingewiesen, »zu sein; da zu sein«. Das mutet etwas verschwommen an; erst die Wiederholung zwingt uns, den Charakterzug ernst zu nehmen. So vernehmen wir anderswo, erneut aus dem Blickwinkel ihres einstigen Verehrers (der übrigens Peter Walsh heißt):
Sie trat in ein Zimmer; sie stand, wie er es oft gesehen hatte, in einer Tür, von vielen Menschen umringt. Aber es war Clarissa, an die man sich erinnerte. Nicht, dass sie bemerkenswert gewesen wäre; überhaupt nicht schön; es war nichts Malerisches an ihr; nie gab sie etwas besonders Kluges von sich; dennoch, da war sie; da war sie.14
Dieses merkwürdige Phänomen einer Magie der reinen Präsenz, eines Gegenwärtigseins, das alle in Bann schlägt, wird von der Autorin, die in Sachen Psychologie – und zwar bei beiden Geschlechtern – weiß Gott beschlagen ist, nie so weit analysiert, dass man es zu seinem eigenen Vorrat an Kenntnissen menschlicher Eigenschaften schlagen könnte. Es bleibt ganz und gar an Clarissas Handeln gebunden, genauer: an ihr erzähltes Handeln. Deshalb kann seine Bedeutung auch nur durch Strategien des Erzählens vermittelt werden. Das gipfelt im letzten Satz des Romans.
Wer das Buch nicht mehr als einmal gelesen hat, wird den Satz seltsam finden, zumal an so exponierter Stelle. Nur wenn man erkennt, dass hier eine Kette von Beobachtungen an ihr Ende kommt, mit einem Dröhnen, möchte man fast sagen, obwohl alles lautlos bleibt, leuchtet der Romanschluss unmittelbar ein. Es ist wieder Peter Walsh, der den Vorgang erlebt. Er hat in einem Nebenraum mit Sally geplaudert, die in jungen Jahren mit ihm wie auch mit Clarissa befreundet war. Sally verabschiedet sich, Peter will auch gehen. Jetzt aber erlebt er im Bruchteil einer Sekunde eine geisterhafte Ausdehnung der Zeit. Er wird von Gefühlen überrannt, von Schrecken und Verzückung zugleich, und weiß nicht, warum. Die Gefühle lodern in ihm auf, bevor ihm bewusst wird, was seine Augen sehen. Und so lautet das Ende von Virginia Woolfs Roman:
»Ich komme mit«, sagte Peter, aber er blieb noch einen Augenblick sitzen. Was ist dieser Schrecken?, was ist diese Verzückung?, dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit solch sonderbarer Erregung erfüllt?
Es ist Clarissa, sagte er.
Denn da war sie.15
Es gehört zu den Kühnheiten dieses Romans, dass ein psychischer Vorgang, der sich außerhalb dessen abspielt, was wir normal nennen, an so exponierter Stelle in so brüskierender Knappheit erzählt wird. Zugleich wird damit das unerklärte Phänomen der Magie von Clarissas reiner Präsenz – das, wie mehrmals deutlich gemacht wird, keineswegs die Magie einer ungewöhnlichen Schönheit ist – endgültig bekräftigt. Da nun nichts weiter mehr kommt und also alles zu Sagende gesagt ist, bleibt auch das Rätsel dieser Ausstrahlungskraft auf immer ungelöst.
Es sei denn, die Lösung wäre anderswo versteckt. Die Frage nach dem singulären Kuss, der hier so nachdrücklich angekündigt wurde, drängt sich immer dringlicher auf. Wer hat da wen geküsst? Um gleich eine erste Klarheit zu schaffen: Trotz des erotischen Flammenwurfs im zitierten Finale ist es nicht Peter Walsh, der in diesem Roman irgendwann Clarissa küsst oder von ihr geküsst wird.
Verwickelt in den Vorgang ist er allerdings schon. Er ist der Mann, der das extreme Glück dieses Kusses stört, obwohl er ihn nicht mit angesehen hat. Er muss, in Clarissa verliebt, etwas gewittert haben, als er, kurz nach dem Ereignis, das für Clarissa der »köstlichste Augenblick ihres ganzen Lebens«16 ist, mit einer ungehobelten Bemerkung auf sie zutritt und sie aus einer maßlosen Seligkeit reißt:
Es war, als stoße man in der Dunkelheit mit dem Gesicht gegen eine Granitmauer! Es war schockierend; es war entsetzlich!17
Das geschieht viele Jahre vor dem Tag, an dem Mrs. Dalloway ihre Abendgesellschaft empfängt. Aber in einem bestimmten Moment dieses Tages taucht die Erinnerung an jenes äußerste Glück in ihr wieder auf. Sie hat Blumen gekauft in der Stadt, ist zurückgekehrt in ihr Haus in Westminster, das in etwa gleicher Entfernung von den Houses of Parliament liegt, wo der Premierminister wirkt, und dem Buckingham Palast, wo der König residiert. Beim Telefon in der Eingangshalle hat sie eine Nachricht gefunden, die sie verletzt hat: Ihr Mann, Mr. Dalloway, wird zu Mittag bei einer Bekannten speisen, die es nicht nötig gefunden hat, auch Mrs. Dalloway einzuladen. Das gibt ihr einen Stich. Weniger der Clarissa, die ohnehin keine Lust auf diesen Lunch gehabt hätte, als der Mrs. Richard Dalloway, die sich in ihrem sozialen Ansehen gekränkt fühlt. Sie steigt in ihr Zimmer hoch, um sich umzuziehen. Der Ärger hat sie verschattet: Sie »fühlte sich plötzlich geschrumpft, gealtert, ohne Brüste«.18 Sie zieht die Nadel aus dem gelben Federhut und sticht energisch in das Nadelkissen – ein symbolischer Racheakt an der Frau, die sie verletzt hat. Und jetzt, in den wenigen Augenblicken, da sie sich umzieht, wird ihr bewusst, dass sie eigentlich nonnenhaft neben ihrem Mann dahinlebt, in einem eigenen kleinen Zimmer mit schmalem Bett schläft. Sie versteht sich mit ihm bestens, obschon ohne Leidenschaft, hat sich ihm auch oft aus einer gewissen inneren Kälte heraus entzogen. Nebenbei fällt der Hinweis, dass Richard Dalloway meistens mit einer Wärmflasche zu Bett geht.