Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten - Peter von Matt - E-Book

Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten E-Book

Peter von Matt

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Beschreibung

Nur im Detail erkennt man die Wunder der Literatur: Peter von Matts Einladung, lesend die Welt neu zu entdecken.

Wer erfahren will, wie Literatur einen anderen Blick auf die scheinbar vertraute Welt richtet, der wende sich an Peter von Matt. Noch im unscheinbaren Detail eines Textes entdeckt er eine Idee, neu zu begreifen, was sich oft schwer auf den Punkt bringen lässt: Woher kommt die Lust zur Verschwendung? Wie funktioniert Dummheit? Was hat es mit Familiengeheimnissen auf sich? Große Literatur, von Shakespeare, Goethe und Chamisso etwa, bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial, aber auch in der »Zauberflöte« oder im »Struwwelpeter« kann man fündig werden. Noch in der knappen Form des Essays entfaltet Peter von Matt ganze Welten – der Verführung, immer weiterzulesen, ist da kaum zu widerstehen.

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Das ist das Cover des Buches »Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten« von Peter von Matt

Über das Buch

Wer erfahren will, wie Literatur einen anderen Blick richtet auf die scheinbar vertraute Welt, der wende sich an Peter von Matt. Noch im unscheinbaren Detail eines Textes entdeckt er eine Idee, neu zu begreifen, was sich oft schwer auf den Punkt bringen lässt: Woher kommt die Lust zur Verschwendung? Wie funktioniert Dummheit? Was hat es mit Familiengeheimnissen auf sich? Große Literatur, von Shakespeare, Goethe und Chamisso etwa, bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial, aber auch in der »Zauberflöte« oder im »Struwwelpeter« kann man fündig werden. Noch in der knappen Form des Essays entfaltet Peter von Matt ganze Welten — der Verführung, immer weiterzulesen, ist da kaum zu widerstehen.

Peter von Matt

Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten

Die Möglichkeiten der Literatur

Hanser

I

Grundsätzliches

Im Streit der Fakultäten

Über Zwietracht und Einklang der Natur- und Geisteswissenschaften

Ordnung muss sein. Zu den Leidenschaften des Menschen gehört das Bedürfnis, die Dinge der Welt zu klassifizieren. Die britische Armee zum Beispiel teilt alle Bäume in drei Arten ein: pine trees, palm trees und trees with a bushy top — Tannenbäume, Palmbäume und Bäume mit einem buschigen Wipfel. Das reicht für die gegenseitige Verständigung bei kriegerischen Aktionen. Demgegenüber kannte und benannte Carl von Linné schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts 7700 Pflanzenarten. Das System der englischen Armee erscheint also etwas schlicht. Es ist aber immer noch differenzierter als unsere geläufige Ordnung der Wissenschaften. Diese kennt zwei Sorten: Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Auch sie reichen für die gegenseitige Verständigung bei kriegerischen Aktionen. Wenn es zum Beispiel um Geld geht.

Da die Klassifizierung eine grundlegende Tätigkeit aller Wissenschaften ist, richtet sie sich besonders gern auf deren eigene Vielfalt. In der Ordnung der Disziplinen wird daher die Wissenschaftsgeschichte anschaulich. Diese Ordnung hat immer eine Tendenz zur Hierarchie, und wo sich eine Hierarchie der Wissenschaften herausbildet, steht sie in Verbindung mit der politischen Macht. Dass die Philosophie jahrhundertelang als Ancilla theologiae galt, als Magd der Theologie, hing mit der Macht der Kirche zusammen. Immanuel Kant hat diese Verflechtungen in seiner späten Schrift Der Streit der Fakultäten scharfsinnig analysiert. Damals galt an allen Universitäten die traditionelle Unterscheidung zwischen drei oberen Fakultäten und einer unteren Fakultät. Die drei oberen waren die theologische, die juristische und die medizinische, die untere war die philosophische Fakultät. Diese letztere umschloss allerdings alles, was wir heute zu den Geistes- und Naturwissenschaften zählen. Kant schreibt:

»Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departemente, das eine der historischen Erkenntnis (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehört, was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet); das andere der reinen Vernunfterkenntnisse (der reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander.«

Von einer kategorialen Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften kann da keine Rede sein. Die empirische Naturforschung bildet eine Einheit mit Geschichte und Sprachwissenschaft. Dass die philosophische Fakultät aber der theologischen, der juristischen und der medizinischen untergeordnet ist, hängt damit zusammen, so erläutert Kant, dass diese drei ein Instrument für die Regierung bilden, um die Untertanen im Zustand der Zufriedenheit zu erhalten. Die Rechtsprechung sichert den Menschen ihren Besitz, die Medizin sichert ihre Gesundheit und die Theologie zeigt ihnen den Weg in das ewige Leben. Das entspreche den drei innigsten Interessen der Bevölkerung. Deshalb wacht die Regierung scharf über die oberen Fakultäten, während die untere Fakultät treiben mag, was sie eben will.

Wir alle kennen diese alte Einteilung aus den ersten Versen von Goethes Faust: »Habe nun, ach! Philosophie, / ​Juristerei und Medizin, / ​Und leider auch Theologie! / ​Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.« Wobei Faust provokativ die Hierarchie umkehrt und die untere Fakultät, die philosophische, zuerst nennt und die erste der oberen Fakultäten, die Theologie, zuletzt. Er attackiert also die installierte Hierarchie der Disziplinen. Allerdings nur, um gleich darauf das Ganze zu verwerfen. Diese Wissenschaften taugen allesamt nichts. Man müsste sich kopfvoran ins Herz der Welt stürzen können, um in einem einzigen ungeheuren Erkenntnisakt das Ganze zu begreifen. Das wirkt etwas pubertär, aber das Faust-Projekt war ein Symptom des wissenschaftlichen Umbruchs. Was in den Jahren, als Goethe daran arbeitet, im Bereich der Chemie und der Physik passiert, in der Erforschung der Elektrizität, aber auch in der Erkenntnistheorie und der Geschichtsphilosophie, ist ungeheuer. Und doch denkt niemand daran, den wissenschaftlichen Kosmos aufzuspalten, den Apfel der Erkenntnis in zwei Hälften zu teilen, die eine für Adam, die andere für Eva. Die Romantiker kultivieren vielmehr das Ineinander von Physik und Poesie, von Elektrizität und Metaphysik. Daraus konnte auf die Dauer allerdings so wenig werden wie aus Fausts Kopfsprung. Neuordnungen wurden dringlich.

Eine der brillantesten legte gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts der Franzose Auguste Comte vor. Sein Wurf bestand darin, dass er eine neue Klassifizierung der Wissenschaften mit einem geschichtstheoretischen Modell verknüpfte. Die Menschheit durchläuft drei Phasen: das Zeitalter der Religion, das Zeitalter der Metaphysik und das Zeitalter der positiven Wissenschaft. Dieses ist jetzt angebrochen. Religion und Philosophie sind also überwunden, und Comte kann die verbleibenden Wissenschaften sortieren. Er ordnet sie vertikal, wobei jede Disziplin auf der vorherigen aufbaut. Die Basis ist die Mathematik, auf ihr ruht die Astronomie, auf dieser die Physik, darauf die Chemie, auf ihr die Biologie, und die Krone, die alles überdacht, ist die Soziologie, die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Auguste Comte hat den Begriff Soziologie überhaupt erst lanciert. Methodische Bedingung ist auf allen Ebenen die Arbeit mit dem unbestreitbar Faktischen, dem Gegebenen, lateinisch positum. Daher der Begriff Positivismus, der zugleich eine Parole war.

Aber auch hier gibt es keine Polarisierung der Wissenschaften. Der Apfel der Erkenntnis bleibt unzerteilt. Erst gegen Ende des Jahrhunderts geschieht der große Schnitt. Wilhelm Dilthey installiert mit dem neuen Begriff der Geisteswissenschaften das fundamentale Gegenüber zweier wissenschaftlicher Kulturen. Und so, The Two Cultures, werden sie seit C. P. Snows berühmtem Buch von 1959 denn auch weltweit genannt.

Der Akt ist so gewaltsam wie das von Kant beschriebene System der Fakultäten oder Auguste Comtes Trick mit den drei Epochen. Klassifizierungen werden nie vorgefunden, Klassifizierungen werden gemacht. Wer sie als naturgegeben betrachtet, begeht einen Fehler. So aber, als willkürlich gesetzte, werden sie auf neue Weise interessant.

Ich greife ein Ereignis heraus, das nur selten im vorliegenden Zusammenhang betrachtet wird. Ein Jahr vor seinem Tod hat Heinrich von Kleist den folgenden kleinen Text veröffentlicht. Er nennt ihn Fragment: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.«

Das ist ein exemplarischer Akt der Klassifizierung. Und er betrifft gleich alle Menschen. Die Kommentatoren sind vorwiegend der Meinung, Kleist wolle hier die Wissenschaftler von den Künstlern unterscheiden. Nun bilden aber Wissenschaftler und Künstler zusammengenommen nur einen kleinen Teil der ganzen Menschheit. Die Aussage ist jedoch eine übergreifend anthropologische. Als solche betrifft sie auch die wissenschaftlich Tätigen, bei denen es folglich ebenfalls beide Klassen geben muss, jene, die sich auf eine Metapher, und jene, die sich auf eine Formel verstehen. Damit umreißt Kleist fast hundert Jahre vor Dilthey die Trennung in zwei wissenschaftliche Kulturen.

Die Formel und die Metapher, je als ein Grundakt der Erkenntnis — kann man das überhaupt gelten lassen? Ist denn die Metapher nicht der Inbegriff des Verwaschenen, eine diffuse Aussage, die überdies im Verdacht steht, alles zu beschönigen? Metaphern, heißt es, sind etwas für lyrische Seelen, die lieber fühlen als denken. Das ist ein Irrtum. Die Metapher ist eine hochkomplexe intellektuelle Operation mit einem Effekt von geschliffener Präzision. Als Kennedy seine Rede in Berlin hielt — ich hörte sie damals live am Radio — und unerwartet ausrief: »Ich bin ein Berliner«, schien die Stadt im Bruchteil einer Sekunde zu explodieren. Ein einziger Jubelschrei stieg zum geteilten Himmel. Das war eine Metapher, aber alles andere als eine diffuse Aussage. Jeder hatte verstanden. Es war der genauestmögliche Ausdruck für ein vielschichtiges politisches Programm. Wenn wir das, was Kennedy damit mitteilte, ausformulieren müssten, würde ein langer Text entstehen.

Metaphern. Als der Königsmörder Macbeth in Shakespeares Tragödie am Ende seiner Herrschaft steht und vernimmt, dass seine Frau tot ist, sie, die immer die Stärkere war, die Furchtlose im Verbrechen, erfasst ihn ein Erkenntnisschock. Die Augen gehen ihm auf, und was er sieht, ist das Nichts. Sinnlos das Dasein, sinnlos die Welt. Wie soll er das benennen? Nur eine Metapher kann das Entsetzen ausdrücken; es ist eine der schrecklichsten, die je über unser menschliches Leben ausgesprochen wurden: »Life … it is a tale / ​Told by an idiot, full of sound and fury, / ​Signifying nothing.« Das Leben ist eine Geschichte, die ein Idiot erzählt, voller Lärm und Wut, und sie bedeutet nichts. Die Philosophen des Existentialismus haben einst Bücher gefüllt, um dieser Erfahrung näher zu kommen, die hier so kurz benannt wird. Der Satz endet mit dem Begriff, der jede Hoffnung ausschließt: nothing. Es ist auch hier so, dass wir im Moment, wo uns die Metapher trifft, alles verstehen. Gewiss gibt es im alltäglichen Gerede jede Menge von trivialen und schiefen und verblasenen Metaphern. Das ändert aber nichts daran, dass dieser Operation des Gehirns eine Schlüsselfunktion zukommt in der Arbeit unserer täglichen Orientierung in der Welt. Und wo es das Äußerste gilt, das Äußerste an Verzweiflung oder das Äußerste an Glück, ist die Metapher die einzige Rettung vor dem tragischen Verstummen.

Dass die Metapher auch im wissenschaftlichen Diskurs ihre Funktion hat, zeigt eines der berühmtesten Beispiele des 20. Jahrhunderts. Es zirkuliert als vereinfachtes Zitat und lautet: »Gott würfelt nicht.« Historisch gesichert ist die Formulierung in einem Brief Albert Einsteins an Max Born über die Quantenmechanik: »Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt.« Mit dem Alten ist Gott gemeint, aber nicht als theologisches Bekenntnis. Es geht vielmehr um die innersten Gesetzmäßigkeiten der Materie. Der Alte ist also Teil der Metapher. Ob Einstein mit seiner Aussage recht oder unrecht hatte, wissen die Fachleute. Wichtig ist hier nur, dass auch die Naturwissenschaftler auf die Dauer nicht ohne Metaphern auskommen, das beginnt schon mit dem Big Bang.

Wenn wir versuchen, Schlüsselmetaphern, die einen komplexen Zusammenhang auf den Punkt bringen, auszuformulieren, entdecken wir, dass die Metapher im Grunde eine komprimierte Erzählung ist, eine Schilderung, die auf ein paar Wörter schrumpft. Wenn ich von jemandem sage: »Er ist ein Don Quijote«, dann schrumpft dabei sogar ein Roman von tausend Seiten auf ein paar Wörter zusammen. Wer sich auf Metaphern versteht, versteht sich also auf das Erzählen. Damit aber tut sich eine immense wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf. Das Ordnen der Welt begann einst mit den Erzählungen von ihrem Anfang und ihrem Untergang. Erzählen ist nie der Abklatsch eines verworrenen Ganzen, Erzählen ist die Übersetzung eines verworrenen Ganzen in ein Modell. Als ein Modell ist die Erzählung die ältere Schwester der Theorie. Und wenn eine Theorie schließlich vom Modell zur Formel vorstößt, wirkt darin immer noch die ordnende Kraft der Erzählung fort. Daher hat eine Formel wie E = mc² die gleiche geschliffene Präzision wie eine Metapher, der es gelingt, eine komplexe Gegebenheit auf einen Ausdruck zu verdichten.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie heute in ganz unterschiedlichen Wissenschaften die Kategorie der Erzählung eine neue Aktualität gewinnt. Der Begriff des Narrativs zirkuliert gegenwärtig weltweit. Dabei galt der Akt des Erzählens noch vor kurzem als Inbegriff der Unwissenschaftlichkeit. Wissenschaftliche Theorien, die sich als unhaltbar erwiesen hatten, erschienen plötzlich wie Märchen oder Legenden. Das Urbeispiel ist die Lehre von den vier Elementen, die jahrtausendelang die Grundlage der Naturwissenschaften war. Noch im 18. Jahrhundert hielt man das Feuer für eine Substanz, die sich in den Flammen verflüchtigt: das Phlogiston. Das endete erst mit Lavoisiers Werk über die neue Chemie von 1789. Seit diesem Datum — es ist erst drei Menschenleben her — sind die vier Elemente kein wissenschaftliches Faktum mehr, sondern eine phantasievolle Erzählung. Also, folgerte man, ist die Erzählung das Gegenteil von Wissenschaft.

Man hätte auch anders folgern können: Also ist Wissenschaft immer ein verstecktes Erzählen. Sie berichtet ja von der Beschaffenheit der Welt und des Menschen. Ihr Antrieb ist eine der ungeheuersten Gewalten, die es auf unserem Planeten gibt: die Neugier des Homo sapiens. Neugier ist eine Lust, und eine Lust ist daher auch das Forschen. Das wussten schon die Kirchenväter. Sie erschraken darüber und verurteilten die Libido sciendi, das Begehren nach neuem Wissen, als schwere Sünde. Dante steckte den Odysseus in die Hölle, weil er aus Wissensdurst über die Meerenge von Gibraltar hinaus in den weiten Atlantik gesegelt sei und so die dem Menschen gesetzten Grenzen der Erkenntnis überschritten habe. Diese exemplarische Strafe hat die Libido sciendi auf Erden aber nicht gedämpft. Sie pulsiert weiter in jedem Wissenschaftler, jeder Wissenschaftlerin, von welcher Disziplin auch immer, ob sie nun unter pine trees forschen, unter palm trees oder unter trees with a bushy top. Und alle erzählen sie in ihren Resultaten von bisher unbekannten Gesetzlichkeiten der Welt und des menschlichen Geistes. Die Evolutionstheorie und die Geschichte des Kosmos sind die Odyssee und die Ilias der Moderne, gewaltige Epen, die noch längst nicht auserzählt sind. Die Gemeinsamkeit von elementarer Neugier und harter Arbeit überspannt alle Differenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die Deklaration ihrer absoluten Trennung ist ein Narrativ, eine modellbildende Erzählung, die der Kritik bedarf wie einst das Phlogiston. Es gibt keine Kluft zwischen dem Wort und der Zahl. Beide sind aufeinander angewiesen. Sie sind Anfang und Ende aller Erkenntnis.

Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten

Vom Umgang der öffentlichen Phantasie mit den Wissenschaften und vom unvergessenen Verrat am Mythos

Die literarische Phantasie ist ein Teil der kollektiven Einbildungskraft. Sie nährt sich ebenso sehr von den öffentlichen Träumen wie von den privaten Vorstellungen des einzelnen Autors. Und rückwirkend füttert sie auch wieder das gemeinschaftliche Phantasieren ihrer Zeit, sogar der späteren Epochen. Don Quijotes Windmühlen, Hamlet mit dem Totenschädel, Odysseus in der Höhle des Zyklopen, Robinson vor der Fußspur im Sand — sie sind zu Zeichen geworden, mit denen sich die Menschheit über alle Sprachen hinweg verständigt.

Auch einzelne Berufe werden imaginativ bearbeitet. Den dürren Schneider und den fetten Wirt kennt schon das Märchen. Von Zeit zu Zeit erleben die Bankiers eine pittoreske Stilisierung. Kein Metier aber wurde über die Jahrhunderte hin einer intensiveren Bearbeitung durch die allgemeine und insbesondere die literarische Phantasie unterzogen als die Wissenschaften. Über ihre Vertreter beiderlei Geschlechts zirkulieren die Klischees, die sich nicht ausrotten lassen. Sie werden bald auf diese, bald auf jene Sparte angewendet, einmal mehr auf die Geistes-, dann wieder mehr auf die Naturwissenschaftler, gerne auch auf alle zusammen. Die Bilder schillern und changieren. Hier sind sie mit Verachtung unterfüttert, dort mit Verehrung. Die Spannweite ist enorm. Ungeheurer Verdacht wechselt mit großäugiger Bewunderung, Spott mit Andacht, Staunen mit schnöder Gleichgültigkeit. Zur Ruhe kommt das nie.1 Und so tanzt es auch über die Leinwände und Bildschirme: The Nutty Professor, Dr. Strangelove, Dr. Mabuse, Dr. Caligari, Dr. Jekyll, Victor Frankenstein — den Doktor Faust nicht zu vergessen. Der Film hat sich schon in seinen Anfängen auf das Thema förmlich gestürzt und eine Reihe von Gestalten geschaffen, die zur Mythologie des 20. Jahrhunderts gehören.

Verbrecher, Narren, Heilsbringer

Die Figur des Wissenschaftlers in der Literatur und den Künsten ist die dramatische Zuspitzung einer öffentlich zirkulierenden Stereotype. Aus einem diffusen Verdacht heraus kristallisiert sich der Wissenschaftler als Verbrecher, aus landläufigem Spott der Wissenschaftler als Narr, aus unklarem Respekt der Wissenschaftler als Heilsbringer. Nur Wissenschaftler und insbesondere Wissenschaftlerinnen, die ruhig und ausdauernd ihr tägliches Pensum harter Arbeit absolvieren, scheinen für die Welt des Imaginären unproduktiv zu sein. Ganz frei von einem Grundverdacht bleiben allerdings auch sie nicht.

Hier steckt ein Problem. Offenbar provoziert der Wissenschaftler die Menschen schon durch seine bloße Existenz. Ein beliebtes Mittel, diese Irritation abzuleiten, ist die Metapher vom Elfenbeinturm. Sie geht politischen Größen wie Lokaljournalisten gleich leicht von den Lippen. So trivial sie sich ausnimmt, so aufschlussreich ist sie doch — nicht für die wissenschaftlich Tätigen, sondern für deren Bild in der Volksseele. In seinem Ursprung ist der Elfenbeinturm eine erotische Phantasie. Sie stammt aus dem Hohenlied. »Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen. Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge. Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm.«2 So steht es im Urtext aller Liebeslyrik. Daraus auf eine entsprechende sinnliche Attraktivität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schließen, wäre indessen vorschnell. Im Mittelalter wurde die Turris eburnea zu einem Mariensymbol; in den Litaneien der katholischen Kirche lebte der Anruf »Du elfenbeinerner Turm« bis in die Gegenwart hinein. Das französische 19. Jahrhundert machte die Tour d’ivoire zu einem positiv verstandenen Begriff der Kunsttheorie: der Elfenbeinturm als Voraussetzung für die Produktion verbindlicher Kunst.3 Noch Flaubert identifizierte sich damit: »Que ne peut-on vivre dans une tour d’ivoire!«4, schreibt er an Louise Colet. Daraus entstand dann langsam die heutige verächtliche Bedeutung.

Worin besteht die therapeutische Funktion dieser populären Metapher? Sie macht die Wissenschaftler zu weltfremden Wesen, die in einem geschützten Winkel an ihren Theorien basteln, sich unverständlich ausdrücken und von der Welt, wie sie ist, so wenig Ahnung haben wie vom gesunden Menschenverstand. Aber warum kommt diese Vorstellung breiten Kreise so entgegen? Eine Zürcher Tageszeitung hat vor einiger Zeit sogar den Bericht über den Studentenball an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH unter den Titel gesetzt: »Tanz unter der Elfenbeinkuppel«. Von den Wissenschaften scheint eine schleichende Kränkung auszugehen, die nur zu ertragen ist durch Abwertung und Ridikülisierung. Das ist nicht nur in der Schweiz so, wo die Theoriefeindlichkeit zum nationalen Glaubensgut gehört, das ist eine Grundgegebenheit der Wissenschaftsgeschichte. Erasmus von Rotterdam hat daraus in seinem Lob der Torheit einen ironischen Mythos gemacht. Er ließ die personifizierte Torheit von der Kanzel herunter erklären:

Einfach und arglos lebte jenes Geschlecht des Goldenen Zeitalters, ohne die Krücken der Wissenschaft, allein geleitet von seinem natürlichen Instinkt. […] Jene Menschen waren viel zu gottesfürchtig, um in gewissenloser Neugier die Geheimnisse der Natur, die Größe, Bahn und wirkenden Kräfte der Gestirne sowie den verborgenen Urgrund aller Dinge zu erforschen, denn in ihren Augen wäre es eine schwere Sünde gewesen, wenn ein sterblicher Mensch über die ihm gesetzten Grenzen hinaus nach Wissen gestrebt hätte. […] Als aber nach und nach die lautere Unschuld des Goldenen Zeitalters sich verflüchtigte, wurden zuerst von bösen Geistern die Wissenschaften und Künste erfunden …5

Die Wissenschaft als Sündenfall. Hinter der antikischen Draperie werden die alten theologischen Vorbehalte gegenüber der Libido sciendi sichtbar. Auch wenn Erasmus sie ironisiert — es ist ja die Torheit, die das alles sagt —, zeichnet sich doch eine Position ab, welche die Genese der Wissenschaften mit dem Versprechen der Schlange im Apfelbaum verbindet: »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum«. Die Wissenschaft rückt in die Nähe des Verbrechens, und dies befördert in der öffentlichen Phantasie die Imaginationen vom Wissenschaftler als Übeltäter. Das ist insofern merkwürdig, als der Verbrecher völlig unvereinbar erscheint mit dem weltfremden Eigenbrötler im Elfenbeinturm. Offenbar liegen da zwei ganz verschiedene Instrumente vor, mit welchen den chronischen Irritationen durch die Wissenschaft begegnet werden kann. In den öffentlichen Debatten über die sogenannte Schulmedizin, die Gentechnologie und die Stammzellenforschung zeichnet sich das Schema des wissenschaftlich Tätigen als Verbrecher oft sehr deutlich ab, während der Wissenschaftler als weltfremder Eigenbrötler in diesem Zusammenhang nie aktualisiert wird.

Beide Klischees haben ihr ehrwürdiges Herkommen. Beide stärken das Selbstgefühl jener, die sich in der Konfrontation mit der Wissenschaft ihrer bedienen. Dem weltfremden Wissenschaftler ist man in der Lebenspraxis überlegen, dem verbrecherischen in der Moral. Der Locus classicus zur Weltfremdheit der Wissenschaft ist die Stelle in Platons Theaitetos, wo Sokrates erzählt, wie Thales von Milet, einer der ersten Philosophen überhaupt, bei seinen astronomischen Studien in die Höhe starrte und dabei in einen Brunnen fiel. Eine »geistreiche und witzige thrakische Magd« habe ihn ausgelacht mit den Worten: »Du suchst zu wissen, was am Himmel ist, aber was dir vor den Füßen liegt, davon hast du keine Ahnung.«6 Dieses Lachen des gesunden Menschenverstandes hört man heute noch. Wobei nun allerdings nicht übersehen werden sollte, dass die Anekdote ihrerseits in einem philosophisch anspruchsvollen Text überliefert ist und in der Philosophie bis heute vielfach diskutiert wird.7 Ohne die Wissenschaft selbst wäre also jenes Lachen über sie folgenlos verhallt. Sokrates nennt jene Frau zudem »geistreich und witzig«, also nicht etwa ahnungslos und dumm. Das heißt: Die Wissenschaft hat ihre Noblesse. Sie versteht es, ihre Ridikülisierung durch den Common Sense in die strenge Reflexion aufzunehmen, während für die Lachenden der Spott nur die Funktion hat, ihr Unbehagen angesichts der Wissenschaft zu neutralisieren.

Wenn Thales in den Brunnen stürzt und so den soliden Erdboden des Alltagsverstandes nach unten verlässt, setzt sich der Sokrates des Aristophanes in die Höhe ab. In der bösen Komödie Die Wolken hängt der Philosoph in einem Korb hoch oben an einem Mast, weil man nur in der Luft schwebend die Himmelsphänomene richtig sehen könne. »Ich beschreite die Luft und erforsche die Sonne«, sagt er. Die Gedanken seien mit der Luft verwandt und müssten sich daher mit ihr mischen. Der Erdboden aber lähme das Denken. Das ist der krasse Hohn eines populären Komödiendichters auf die weltferne Wissenschaft — gedacht und gesprochen vom Erdboden aus, terre-à-terre, wie der Common Sense sich selbst ja versteht. Da es den Elfenbeinturm um 423 vor Christus noch nicht gibt, muss ein Mastkorb dafür herhalten.

Nun verbindet Aristophanes aber dieses Gelächter noch mit anderen und viel schärferen Attacken. Sokrates leugnet bei ihm offen die Existenz des höchsten Gottes. Wörtlich: »Es gibt keinen Zeus.«8 Zur Strafe dafür wird die Denkwerkstatt des Philosophen am brutalen Schluss des Stücks zerstört und Sokrates selbst in den Trümmern verbrannt. Der Anführer der Attacke, der aufs Dach steigt, um die Ziegel herunterzuwerfen, ruft dabei aus: »Ich beschreite die Luft und erforsche die Sonne.« Diese Hinrichtung des Sokrates auf dem Theater, die den Atheismus-Vorwurf zum öffentlichen Spektakel machte, sollte sich später, als es tatsächlich zum Prozess gegen den Philosophen kam, verheerend auswirken. Die populistische Hetze war in den Köpfen hängen geblieben, und Sokrates musste wirklich sterben. Im Verlauf der Komödie aber kann man verfolgen, dass sich der Topos vom weltfremden Wissenschaftler unheimlich rasch in den Topos vom Wissenschaftler als Verbrecher verwandelt.

Daraus ist zu lernen: Wo die Wissenschaften oder einzelne Disziplinen durch das Klischee von ihrer Weltfremdheit abgewertet werden, sind drastische Folgen nie ausgeschlossen. So ist etwa die Ridikülisierung der Geisteswissenschaften in Politik und Öffentlichkeit oft genug das Vorspiel zur Abschaffung von Lehrstühlen und ganzen Fächern. In der in diesem Zusammenhang stets eingesetzten Metapher der »Orchideenfächer« steckt die Behauptung, dass es wissenschaftliche Disziplinen gebe, die reiner Luxus seien, also ohne gesellschaftlichen Nutzen, also unnötig. Der naheliegende Gegenbegriff der »Kartoffelfächer« wird allerdings nie verwendet. Er würde die Absurdität jener Disqualifizierung rasch aufdecken.

Das Repertoire der Klischees

Es gibt ein breites Repertoire an Klischees, mit denen die angebliche Skurrilität der Wissenschaft, der Narr im Elfenbeinturm, literarisch ausgemalt und ausgekostet wird. Am häufigsten tritt der zerstreute Professor auf; jeder kennt das Witzmotiv. Aber in einem Campus-Roman wie Vladimir Nabokovs Pnin wird genau dieses Stereotyp plötzlich lebendig und tritt vor uns hin in der Gestalt eines ergreifend komischen, wahrhaft unvergesslichen Menschen. Bei diesem Pnin könnte man auch ansetzen, wenn es um ein weiteres Klischee geht. Ich nenne es den Kampf mit dem Manuskript. Dieser würde ein eigenes Forschungsvorhaben verdienen. Erasmus hat auch hier vorgearbeitet und mit grimmigem Witz den Wissenschaftler am Schreibtisch geschildert, wie er »sich endlos abquält; er flickt in den Text ein, ändert ihn, streicht, macht die Streichung rückgängig, fängt wieder von vorne an, schreibt um, stellt das Erscheinen des Buches in Aussicht, hält es bis zum Druck neun Jahre zurück — und ist doch mit dem Ergebnis niemals zufrieden.«9 Jeder von uns kennt solche Komödien bei Bekannten und Studierenden. Sie verwandeln sich oft genug in Tragödien. Thomas Bernhard hat einen seiner berühmtesten Romane zu genau dieser Langzeitkatastrophe geschrieben: Das Kalkwerk. Da sitzt ein Forscher jahrzehntelang an einer Studie über das Gehör. Er hat das ganze Werk im Kopf und ist doch nicht fähig, ein einziges Wort aufs Papier zu bringen. Wie Sisyphos den Stein wälzt, täglich, endlos, setzt sich der Mann täglich an seinen Schreibtisch, ergreift die Feder, lässt sie über dem Papier schweben und legt sie wieder hin, endlos. Zuletzt erschießt er seine Frau und wird, mit seiner fertigen Studie im Kopf, ins Zuchthaus oder ins Irrenhaus gebracht. Ein Verbrecher? Ein Wahnsinniger? Wer soll es entscheiden? In Bernhards Prosa aber gewinnt die sisyphontische Repetition eine verzehrende Musikalität. Das sinnlose Tun übersetzt sich in den reinen Rhythmus, einen Ravel’schen Boléro aus Sprache über die Unmöglichkeit, zur Sprache zu kommen.

Auch Berichte über die körperliche Verfassung von Wissenschaftlern zählen zu den gern verwendeten Klischees. Erasmus nimmt hier ebenfalls kein Blatt vor den Mund. In der Fortsetzung des Zitats über die Leiden am Manuskript schreibt er: »Dazu kommt die Zerrüttung der Gesundheit, Verkümmerung der äußeren Gestalt, Entzündung der Augen oder gar Blindheit, Armut, Neid, Rückzug von allen Vergnügungen, vorzeitige Vergreisung, früher Tod und ähnliche Geschenke.«10 Das Spannungsfeld zwischen den Taten des Geistes und der Beschaffenheit des Körpers, in dem dieser Geist wohnt, liefert der literarischen Phantasie nahezu unerschöpflichen Stoff. Auch durch die Philosophiegeschichte zieht sich dieser Topos; man denke nur an die vielen Anekdoten über Kant. Ein jüngerer Meisterstreich auf diesem Feld ist Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt.11 Wie der ins Groteske gewendete Märtyrer eines Barockdramas verachtet darin der Wissenschaftler Alexander von Humboldt alle Ansprüche und Nöte seines Leibes, zum Vergnügen der Leserinnen und Leser, die das Auseinanderdriften von Geist und Körper ebenso komisch finden wie einst die thrakische Magd den Sturz des Philosophen in den Brunnen und die Athener die Auffahrt des Wissenschaftlers im Mastkorb. Das betrifft übrigens auch das Liebesleben im Elfenbeinturm, womit ein weiteres Klischee wenigstens angedeutet sei. Kehlmanns Roman ist auch in dieser Hinsicht ausgesprochen ertragreich. Wer es noch drastischer möchte, greift am besten zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen.12

Der Wissenschaftler, so ist nach all dem festzustellen, besitzt in der öffentlichen und literarischen Phantasie eine eigentümliche Dezentriertheit. Sie verunsichert, wirkt komisch und macht aggressiv. Sie bemisst sich nach dem Abstand des theoretischen Denkens vom Common Sense. Der gesunde Menschenverstand betrachtet sich ja als die demokratische Gestalt der Theorie. Und er stützt sich tatsächlich auf die Mehrheit. In Wahrheit aber ist er dogmatisch, weil er sich stets von vornherein im Besitz der Resultate glaubt.

Faust und das Gleiten der Denkbilder

Es gibt wohl kein Werk der Weltliteratur, in dem das große Spektakel, zu dem die Wissenschaft und die Wissenschaftler in der öffentlichen Phantasie unentwegt aufgeboten werden, vollständiger in Erscheinung tritt als in Goethes Faust. Das Werk entsteht über Jahrzehnte hin, und diese Jahrzehnte sind zugleich die Durchbruchszeit der modernen Naturwissenschaften. Was das heißt, kann man etwa an dem Kulturschock abmessen, den die Abschaffung der alten vier Elemente durch die neue Chemie auslöste. Woraus sich jahrhundertelang die Welt zusammengesetzt hatte, Wasser, Feuer, Erde, Luft, das verdampfte in den neuen Laboratorien zu einem Kindermärchen. Die ehrwürdige Quaternität kehrte zwar auf allen esoterischen Kanälen rasch wieder zurück und hält sich dort bis heute. Aber der Riss zwischen dem Elementaren als einer unmittelbaren Erfahrung und als einer mathematischen Formel sollte sich nie mehr schließen. Als 1789 Lavoisiers Traité Élémentaire de Chimie in Paris erscheint, das Werk, mit dem die Alchimie als Wissenschaft endgültig verabschiedet wird, sitzt Goethe in Weimar an der Umarbeitung des Urfaust in die Fassung Faust. Ein Fragment. Darin wird zwar nicht die aktuelle Naturwissenschaft diskutiert, wohl aber eine so radikale Krisenerfahrung aller Wissenschaften in Szene gesetzt, dass man den untergründigen Bezug zum gleichzeitigen Kollaps der alten Naturlehre und Naturforschung nicht übersehen kann.

Mit dem Osterspaziergang, den Faust mit seinem Famulus Wagner unternimmt, inszeniert Goethe eine verblüffende Überblendung des Wissenschaftlers als Lichtgestalt mit dem Wissenschaftler als Verbrecher. Faust wird vom Volk verehrt und wie ein Erlöser umdrängt. Wagner, nach heutigen Begriffen etwa sein Oberassistent, registriert das nicht ganz ohne Neid, wenn er sagt:

Welch ein Gefühl musst du, o großer Mann!

Bei der Verehrung dieser Menge haben! […]

Der Vater zeigt dich seinem Knaben,

Ein jeder fragt und drängt und eilt,

Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt.

Du gehst, in Reihen stehen sie,

Die Mützen fliegen in die Höh’:

Und wenig fehlt, so beugten sich die Knie,

Als käm’ das Venerabile.13

Wie vor dem Allerheiligsten also, der geweihten Hostie mit der Realpräsenz des Erlösers, will das Volk vor Faust in die Knie sinken. Das ist die reinste Ausprägung einer bedingungslosen Verehrung des Arztes und Wissenschaftlers. Skepsis und Spott sind undenkbar. Die Szene ist ein Messpunkt im großen Phantasiefeld, das hier erkundet wird.

Deshalb ist, was nun geschieht, fast unglaublich. Seiner Verklärung zur Lichtgestalt macht Faust selbst ein Ende, indem er sich vor Wagner unverblümt als Massenmörder bekennt. Mit seinem Vater zusammen habe er einst Tausende, wörtlich: »Tausende«, umgebracht. Die Germanistik geht über diese Stelle meist rasch und etwas betreten hinweg. Sie lohnt aber die Betrachtung. Fausts Vater war Alchimist. In seiner »schwarzen Küche« braute er Heilmittel, die er mit dem Sohn zusammen im Volk verteilte. Angesichts der eben erlebten Huldigung durch die Menge bricht jetzt die Selbstanklage aus Faust förmlich heraus:

Hier war die Arzenei, die Patienten starben,

Und niemand fragte: wer genas?

So haben wir, mit höllischen Latwergen,

In diesen Tälern, diesen Bergen,

Weit schlimmer als die Pest getobt.

Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,

Sie welkten hin, ich muss erleben,

Dass man die frechen Mörder lobt.14

Wagner findet das nicht weiter schlimm. Er braucht dafür ein Argument, zu dem auch andere Massenmörder gerne greifen: den Gehorsam des Untergebenen:

Wie könnt ihr euch darum betrüben!

Tut nicht ein braver Mann genug,

Die Kunst, die man ihm übertrug,

Gewissenhaft und pünktlich auszuüben.15

Die Stelle ist brisant, wenn man an die tatsächlichen Morde um der Wissenschaft willen im 20. Jahrhundert denkt und an ihre spätere Rechtfertigung durch höheren Befehl. Sosehr die literarische Phantasie dazu neigt, schrille Klischees auf die Wissenschaftler zu projizieren, sie deckt dabei doch auch bedrohliche Wirklichkeiten auf. Das hängt zusammen mit dem noch immer unklaren Ursprung dieser intensiven Klischeeproduktion.

Die Klischees vom Wissenschaftler, das zeichnet sich langsam ab, haben eine merkwürdige Eigendynamik. Sie neigen dazu, von der einen Ausprägung in die andere umzuschlagen. Bei Aristophanes kippte der weltfremde Philosoph in den verbrecherischen Gottesleugner. Bei Fausts Osterspaziergang kippt die Lichtgestalt in den Massenmörder. Die Denkbilder müssen also untergründig miteinander verknüpft sein. In der Tat kann diese Dynamik gelegentlich sogar zum Zentrum einer Geschichte werden. So geschieht es etwa in Stevensons berühmter Erzählung Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde.