Das Winkelbergsche Herz - Ewald Gerhard Seeliger - E-Book

Das Winkelbergsche Herz E-Book

Ewald Gerhard Seeliger

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Beschreibung

Das Winkelbergsche Herz Schlesien um 1900. Baron Fritz von Winkelberg kehrt aus den USA in seine Heimat zurück. Dem von seinen Vorfahren ererbten, abgewirtschafteten Majorat will er zu neuer Blüte verhelfen. Ihm zur Seite stehen der erzkonservative Gutsinspektor, dessen hübsche und kluge Tochter, ein innovativer und naturliebender Lehrer, der alte Jude Abraham und viele andere tüchtige Helfer. Aber auch Gegner seiner fortschrittlichen und liberalen Ideen stellen sich ihm in den Weg, und seine von seinen Vorfahren ererbte Herzkrankheit. Wird Fritz von Winkelberg all seine Pläne und Herzenswünsche umsetzen können, um das Majorat schuldenfrei an seine Kinder weitergeben zu können? Eingebettet in eine herzbewegende Liebesgeschichte beschreibt der Erfolgsautor Ewald Gerhard Ewger Seeliger, Vater von 'Peter Voss der Millionendieb', seine alte schlesische Heimat, deren Menschen, ihre Stärken und ihre allzu menschlichen Schwächen. Das Winkelbergsche Herz ist das Symbol für die tiefe Verbundenheit der Familie, die trotz aller Konflikte und Schicksalsschläge nie zerbricht. 'Zurück zur Scholle' war der ursprüngliche Titel dieses Romans. Er zählt wohl zu den ersten Grünenromanen Deutschlands und ist als solcher heute wieder hochaktuell. 'Das Winkelbergsche' Herz wurde von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt, da es nicht ihren Idealen entsprach.

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Ewald Gerhard Hartmann (Ewger) Seeliger

geboren am 11. Oktober 1877 in Schlesien, zu Rathau, Kreis Brieg, gestorben am 8. Juni 1959 in Cham/Oberpfalz, zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Zu seinen bekanntesten Werken gehört u. a. „Peter Voß der Millionendieb“. Seine schlesische Heimat beschreibt er in „Siebzehn schlesische Schwänke“, „Schlesien, ein Buch Balladen“, „Schlesische Historien“ und in vielen Romanen. „Das Winkelbergsche Herz“, ursprünglich „Zurück zur Scholle“ betitelt, gehört zu den ersten Grünen-Romanen, die in Deutschland geschrieben wurden.

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX

X.

XI

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

XXIX.

XXX.

I.

Frau Knorreck brachte die Kaffeekanne, goss die vier Tassen voll und schob den kleinen Streuselkuchenberg in die Mitte des Frühstückstisches. Denn es war der vierte Tag nach Weihnachten. Im Ofen prasselte das Feuer. Draußen lag eine dünne, hartgefrorene Schneedecke. Der Christbaum stand noch zwischen den Fenstern, durch die man den weiten, leeren Gutshof und das ganze Dorf Britzkawe übersehen konnte.

August Knorreck, der Inspektor, hatte noch immer das alte, sorgenschwere Gesicht aufgesteckt und aß schweigend. Seine Frau streifte ihn zuweilen mit einem scheuen Blick, hütete sich aber, zu seufzen; denn dann konnte er wild werden. Hedwig hatte keinen rechten Appetit, schob bald die Tasse zurück und schaute gelangweilt zum Fenster hinaus. Nur Thomas Hauschild, der Wirtschaftsassistent, legte Ehre ein und stopfte zu Frau Knorrecks Zufriedenheit mit ungewöhnlicher Ausdauer die süßen Streifen in sich hinein. Als er sich zum dritten Mal die Tasse füllen ließ, erhob sich August Knorrreck, nahm Mütze und Stock und ging mit leichtem Nicken hinaus. Sie sahen ihm schweigend nach, wie er langsam und mit gesenktem Haupt über den Hof schritt und hinter den Kuhställen verschwand.

Jetzt stieß Frau Knorreck einen langen Seufzer aus.

„Wie lange das noch dauern wird!“, sprach Hedwig unwillig und warf den schmalen, von flachsblonden Flechten gekrönten Kopf in den Nacken. „Es ist zum Auswachsen hier!“

„Ich halt‘s aus!“, brummte Thomas Hauschild zufrieden und bat um neue Füllung.

„Ach Sie!“, rief Hedwig wegwerfend.

„Hedwig!“, mahnte die Mutter.

„Lassen Sie nur, Frau Knorreck!“, lachte der Wirtschaftsgehilfe und zeigte seine weißen, gesunden Zähne. „In sechs Wochen haben wir unsern Fastnachtsball in Zdurotschin.“

„Keinen Tanz geb ich Ihnen!“, rief Hedwig und wurde trotzdem rot.

„Abwarten!“, erwiderte Thomas Hauschild ungläubig, stand auf, stellte sich vor den Spiegel und zwirbelte herausfordernd seinen braunen Schnurrbart. Er war ein gutgewachsener, hübscher Junge von zweiundzwanzig Jahren, und wenn er mit schiefer Mütze und blanken Schaftstiefeln durchs Dorf schritt, kicherten die Mägde hinter ihm drein.

„Vierter Feiertag!“, sagte er und unterdrückte mühsam ein Gähnen.

„Sie würden‘s auch aushalten, wenn's ein ganzes Jahr Feiertage gäbe!“, erwiderte Hedwig gereizt.

„Das will ich nicht so schlankweg behaupten“, lachte er und nahm die Mütze vom Stuhl. „Aber ausprobieren möcht ich‘s mal!“

Hedwig hatte schon wieder eine spitze Antwort auf den Lippen, doch die Mutter hielt sie mit einer eindeutigen Geste zurück.

„Bemühen Sie sich nicht, Frau Knorreck!“, begütigte sie Thomas Hauschild. „Ich bin nicht verwöhnt. Was sich liebt, das neckt sich!“

Und draußen war er. Die Hände in den Hosentaschen schritt er pfeifend über den kirchenstillen Hof ins Dorf hinunter.

„Du behandelst ihn schlecht!“, mahnte die Mutter.

„Er verdient's nicht besser“, erwiderte Hedwig und trat zum Spiegel.

„Willst du denn auf einen Prinzen warten!“, sprach die Mutter sanft und faltete die Hände auf der Schürze. „Du bist doch keine sechzehn mehr! Mit einundzwanzig muss man damit im Reinen sein. Was hast du eigentlich gegen ihn?“

„Ich finde ihn unausstehlich!“, rief Hedwig wütend.

„Das ist eine von deinen Redensarten“, entgegnete die Mutter, die viel hartnäckiger war, als sie aussah. „Er ist nun schon bald zwei Jahre hier. Wenn du ihm nur einen Schritt entgegenkommen würdest!“

„Ich mag aber nicht!“, erwiderte Hedwig und stampfte mit dem Fuß auf.

„Er ist wirklich ein anständiger Mensch und erbt einmal das Gut. Vater kennt es genau, er war mal in der Nähe angestellt. Dreiundsechzig Morgen sind's. Und im Schweidnitzschen auf der andern Oderseite ist der Boden noch einmal so gut. Ein schönes Stück Geld kriegt er auch mal in die Hand. Und wenn er jetzt auch ein bissel wild ist, das gibt sich alles in der Ehe. Glaub mir‘s, dein Vater war nicht viel anders. Willst du denn eine alte Jungfer werden?“

„Ich will überhaupt nicht heiraten!“

„Denk doch nur ein bissel weiter. Jetzt bist du noch die Tochter vom Britzkawer Gutsinspektor. Wenn aber Vater seine Stellung verliert?“

„Oho!“, begehrte Hedwig auf. „Das gibt‘s nicht. Fünfundzwanzig Jahre auf einem Gut, ich denke, das genügt.“

„Trotzdem kann uns der neue Herr sofort den Stuhl vor die Türe setzen!“, wies die Mutter sie zurecht. „Vater ist doch nur ein Privatbeamter. Und die neuen Herren – “

„Erst muss er doch mal da sein!“, warf Hedwig ein.

„Und wenn er nicht kommt, wer weiß, wer dann das Majorat übernimmt. Dann wird Vater gekündigt, und wir müssen ausziehen. Und wenn wir erst in Zdurotschin auf der Mietswohnung sitzen, dann bist du nur Fräulein Knorreck und kannst in Stellung gehen. Denn wir haben nichts. Hugo, der arme Junge, braucht doch auch etwas Geld zu seinem Studium. Und Vater hat es nie verstanden, etwas auf die Seite zu bringen. Alle lassen sich Provision geben, bloß er nicht. Er hätte in den Jahren längst ein reicher Mann sein können. Aber so?“

„Ich erwarte von meinem Vater auch nichts anderes!“, sprach Hedwig stolz und sah die Mutter fest an.

„Ach ja!“, seufzte die. „Du bist deines Vaters Tochter!“

„Und warum muss Hugo durchaus studieren?“, begehrte Hedwig auf.

„Das verstehst du nicht!“, rief die Mutter heftig, denn das war ihre empfindliche Stelle.

In diesem Augenblick schlug Waldmann an, der unter dem Christbaum lag, und der alte Briefträger öffnete die Tür.

„Ein Telegramm!“ Er und legte es auf den Tisch.

„Von Hugo!“, stieß Frau Knorreck heraus und sank leichenblass aufs Sofa zurück. Hedwig las die Adresse.

„Inspektor Britzkawe. Das ist für Vater!“

Und schon sprang sie hinaus und über den Hof, um es ihm zu bringen.

„Wissen sie nicht, was drin steht?“, fragte Frau Knorreck mit einem tiefen Atemzug.

„Keine Ahnung!“, antwortete der Briefträger und ließ sich den Kaffee schmecken. „Von Herrn Hugo ist es jedenfalls nicht. Der telegraphiert doch nicht an den Herrn Inspektor. Er wird schon wissen, warum. Haben Sie was mitzugeben, Frau Knorreck?“

„Ich hab ihm ja erst zu Weihnachten zweihundert Mark geschickt.“

„Also bis morgen!“, nickte der alte Postbote, bedankte sich und ging ins Dorf.

Hedwig suchte den Vater. Der stand hinter den leeren Stallungen mitten auf dem festgefrorenen Düngerhaufen. Das war das Einzige, was die Räuber dagelassen hatten! Da bog Hedwig um die Ecke.

„Ein Telegramm!“, rief sie laut und schwang das Papier.

August Knorreck brauchte erst gar nicht vom Düngerhaufen herunterzuklettern. Schon war sie bei ihm. Er klemmte den Inspektorstock, der einen kleinen Spatel am Ende hatte, zwischen die Knie und riss mit einem Griff die Depesche auf.

„Er kommt!“, stieß er heraus. „Schon heut Mittag um zwölf. Der Wiegelt muss den Schlitten geben. Thomas soll ihn holen.“

„Der ist längst bei ihm“, erwiderte sie und sprang mit einem Satz vom Haufen herunter, der wie ein kleines Schneegebirge vor der langen Reihe der Stalltüren lag.

„Mädel, fall nicht!“, warnte der Vater und half sich mit dem Stocke vorsichtig herunter. „Es ist hier glatt.“

„Wenn's nur hält!“, lachte sie und blieb bis an die Ecke neben ihm.

„Sag Mutter Bescheid!“, befahl er und gab ihr das offene Telegramm. „Ich geh selber zum Wiegelt.“

„Ich möcht mitfahren!“, bat sie, beinahe schüchtern, und schlug unwillkürlich die Augen nieder. „Ich bin so neugierig, wie er aussieht.“

„Wie wird er schon aussehen?“ August Knorreck steckte zum ersten Mal sein sorgenvolles Gesicht weg. „Wie die Herren von Winkelberg schon seit zweihundert Jahren ausgesehen haben!“

„Aber er war doch so lange weg!“

„Dreizehn Jahre! Was ist das für ein Mann?“

„Aber doch in Amerika!“

„Da wird auch bloß mit Wasser gekocht.“

„Darf ich mit?“, schmeichelte sie dem Alten um den grauen Bart.

„Meinetwegen!“, knurrte er gutmütig. „Mach dich zurecht. In einer halben Stunde komm ich vorgefahren.“

Eilig lief sie davon, dass ihr die Rocksäume um die schlanken Fesseln flatterten. Der Vater schaute ihr mit großem Wohlgefallen nach. Das hatte er verkehrt gedeichselt. Hugo hätte das Mädchen und Hedwig der Junge sein müssen! Und doch war's kein Fehler. Ein herzhaftes Mädel war allemal mehr wert als ein herzhafter Junge!

Dann ging August Knorreck durch das Hoftor und über den weiten Dorfplatz auf die rote Laterne zu, über deren Eingang ein schäumendes Bierglas und mit weißen Buchstaben: FRANZ WIEGELT gemalt waren. Lange Schritte machte er, und fest trat er auf. Seine Gestalt war breit und wuchtig. Und wenn er den scharfen Stock niederhieb, dann wusste der Boden, wer über ihn dahinschritt.

In der Wirtsstube fand er Thomas Hauschild hinter den Karten hocken. Franz Wiegelt saß bei ihm und ließ sich schmerzlos die Groschen abknöpfen.

„Wiegelt!“, sagte August Knorreck und trat an den Tisch. „Ich brauche Euren Schlitten.“

„Kleine Fuhre machen?“, gab Franz Wiegelt behäbig zurück. „Nach Zdurotschin?“

„Nach Luschelau“, antwortete der Inspektor und setzte sich. „Der Herr Baron kommt.“

Franz Wiegelt blieb vor Verwunderung der Mund offen stehen. Aber er machte trotzdem keine üble Figur. Sechs Jahre hatte er bei den Husaren gedient, war, ohne es je erwartet zu haben, durch den Tod eines Onkels in den Besitz des größten und besten Bauerngutes von Britzkawe gelangt, hatte, da er ein unternehmender Mann war, den danebenliegenden Kretscham gekauft und betrieb, weil er es einmal in der Jugend gelernt hatte, nebenbei den Viehhandel und die Fleischerei. Seine Dauerwurst war weit über Sulitsch und Krotoschin hinaus bekannt. Außerdem war er Gemeindevorsteher.

„Er kommt also doch!“, sagte er, nachdem er sich erholt hatte. „Ich hätt's nicht geglaubt. Wird schon nicht lange bleiben. Das Gut ist nicht zu halten.“

„Abwarten!“, erwiderte der Inspektor ernst und ließ sich ein Glas Bier geben.

„Ihnen hätt' ich die Fuhre umsonst gegeben“, meinte Franz Wiegelt, „für den Baron kostet sie zwei Taler.“

„Das ist nicht recht!“, versetzte August Knorreck ärgerlich. „Ihr solltet Euch freuen, dass die Tiere bewegt werden!“

„Tu ich auch!“, lachte der Wirt. „Aber der Baron – “

„Was habt Ihr gegen den Herrn Baron?“

„Weil er ein Baron ist!“, rief der stiernackige Wirt und stemmte beide Fäuste auf den Tisch. „Warum bin ich nicht Baron?“

Thomas Hauschild lachte hell auf.

„Ihr wärt mir der rechte Baron!“, gab August Knorreck verächtlich zurück und wischte sich den Schaum aus dem Bart. „Spannt lieber an!“

Franz Wiegelt ging hinaus und rechnete. Das war seine Lieblingsbeschäftigung. Nur bei Thomas Hauschild kam er niemals auf die Kosten. Der rückte jetzt näher heran.

„Wollen Sie mit?“, fragte ihn August Knorreck, der seine Hintergedanken hatte.

„Wenn's nicht sein muss?“

„Muss es nicht“, erwiderte der Inspektor kurz, fast barsch. „Aber in Ihrem Interesse. Wenn so ein neuer Herr kommt – “

„Ich bleib ja doch nicht hier!“, sprach Thomas Hauschild hochmütig.

„Das würd' mir leid tun!“, sagte August Knorreck ehrlich.

„Sie wissen ja ganz genau, was mich hier hält. Aber wenn man so wenig Entgegenkommen findet, dann verliert man allmählich die Lust. Ihre Frau ist ja auf meiner Seite, aber es hilft nichts. Wenn Sie mal ein gutes Wort für mich einlegen wollten!“

„Ich werde mich hüten!“ August Knorreck sagte dies mit dem Brustton der Überzeugung. „Das ist Ihre Sache! Wenn Sie mit ihr ins Reine kommen, soll's mich freuen. Und wenn nicht, dann werd ich mich auch nicht ärgern.“

Thomas Hauschild ließ enttäuscht den Kopf hängen. Die Gedanken liefen ihm durcheinander wie die Hasen bei der Treibjagd. Endlich erwischte er einen bei den Löffeln.

„Wiegelt sagt, der Baron sitzt bis an den Hals drin. Er hat's in Sulitsch auf dem Markt gehört. Der Bartenstein und der Levisohn sollen ihn ganz in der Hand haben.“

„Quatsch!“, rief August Knorreck unwillig und griff zur Mütze. Draußen läuteten schon die Schlittenschellen.

Als Thomas Hauschild den achten Groschen gewonnen hatte, sauste der Schlitten das Dorf hinunter. Hedwig kutschierte auf dem Bock, neben ihr saß der Vater. Da warf Thomas Hauschild mit einem ärgerlichen Fluch die Karten hin, bezahlte sein Bier und ging hinaus. Ein paar Minuten später war sein Unmut schon verflogen. Da stand er bei Pelagia Dubin am Pfarrgutsgarten und schäkerte mit ihr über den niedrigen Zaun hinweg. Unterdessen zogen die beiden Rappen das leichte Gefährt pfeilschnell über die glattgefrorene Straße. Die beiden Tiere waren jung und hatten Feuer. Doch Hedwig zügelte sie kräftig. Als sie an den kleinen Berg vor Podraschke kamen, liefen sie schon ganz von selbst langsamer.

„Hedwig!“, sagte der Vater und drückte ihr leise den Arm. „Thomas hat so was vom Weggehen gesagt. Diesmal war‘s ihm Ernst, glaub ich!“

„Lass ihn gehen!“, antwortete sie, ohne den Blick zu wenden. „Er taugt ja doch nicht viel. Kein Tag vergeht, wo du nicht auf ihn schimpfst!“

„Ich schimpf auch auf mich selber“, meinte August Knorreck ruhig. „So arg ist das nicht. Ich verliere ihn nicht gern. Viel ist ja nicht an ihm dran, das geb‘ ich zu. Doch das kann sich alles noch auswachsen. Denn er hat einen Vorzug, aus dem alle andern kommen. Er ist ein ehrlicher, ein grundehrlicher Kerl! Wenn er auch ein Luftikus ist und manchmal ein Hans Obenhinaus!“

„Meinst du das wirklich, Vater!“, rief sie erschreckt und ließ die Hände sinken.

„Gar nichts mein ich!“ antwortete er rasch. „Ich bin vielleicht mit meinem Geschimpfe schuld, dass du ihn nicht leiden magst. Aber er ist wirklich kein übler Mensch. Er nimmt alles auf die leichte Schulter, das ist auch ein Vorzug. Sollst mal sehen, solche Leute werden am schnellsten glücklich.“

„Du hast also dieselben Absichten wie Mutter?“, fragte sie sehr langsam und sah ihm forschend in die Augen.

„Nein!“, verwahrte er sich entschieden. „Aber ich rate dir, nimm dir Zeit. Nichts überstürzen! Lern ihn erst mal kennen. Interessiere dich doch ein bissel für ihn. Im Augenblick lässt er seinen Dummheiten freien Lauf. Sieh mal, Hede, jetzt gefällt er dir noch nicht. Aber nimm ihn erst mal ein paar Monate auf Kandare und Trense, dann wird er schon seine Kapriolen lassen. Deine Mutter hat das mit mir ganz genau so gemacht. Das gibt allemal die glücklichsten Ehen!“

„Ich will aber gar nicht heiraten!“, trumpfte sie auf und zuckte an der Leine.

„Heute nicht, und morgen auch nicht. Aber übermorgen vielleicht!“

„Niemals!“, schwur sie und ließ die Peitsche über dem Handpferd schnalzen, dass es erschreckt auf die Seite sprang.

„Das kennt man“, lächelte er. „Also wie steht‘s mit Thomas?“

„Willst du, dass ich ihn nehmen soll?“

„Du solltest deinen Vater besser kennen!“

„Du willst also, dass ich mit ihm rede. Dann werde ich zu ihm sagen: ,Herr Hauschild, mein Vater wünscht, dass Sie hier bleiben, und ich wünsche es auch.‘ Das ist nicht gelogen. Am Ende ist der nächste noch viel unausstehlicher. Bei Herrn Hauschild weiß man doch wenigstens, dass er keine silbernen Löffel stiehlt.“

„Vielleicht weißt du in sechs Wochen schon ein bissel mehr von ihm." Der Vater lachte und nahm ihr die Leine aus den Händen.

Hedwig steckte die steifen Finger in den Pelz und sprach bis Luschelau kein Wort mehr.

II.

Unterdessen fuhr Fritz von Winkelberg seiner Heimat entgegen. Das Wort aber gab ihm keinen tröstenden Klang. Der Zug lief langsam und hielt bei jeder Station. Bis Frauenwaldau blieb das Coupé leer. Hier dauerte der Aufenthalt etwas länger.

„Herr Friedländer!“, schrie draußen der Schaffner. „Nach Sulitsch? Hier ist noch Platz.“

„Zweiter Klasse“, hörte Fritz von Winkelberg draußen eine fette Stimme krähen.

Gleich darauf bekam er Gesellschaft. Die Tür wurde aufgerissen, und drei Männer mit schlechten Manieren und unsauberer Kleidung polterten herein. Sie begannen sofort ein lautes Gespräch.

„Vierzig Perzent!“, stöhnte der dicke Friedländer und drehte schmunzelnd die Daumen umeinander. „Sollst du sehen, Gottlieb!“

„Höchstens dreißig!“, erwiderte der Hagere, der ihm gegenübersaß.

„Vierzig Perzent!“ Der Dicke hob abwehrend die Hände. „Du bist nur ein Goi, Gottlieb!“ Willst du einen alten Jüdden rechnen lehren?“

So stritten sie eine Weile, und Fritz von Winkelberg, der den Kopf müde in die Ecke lehnte, hörte, dass sie von einem guten Pferdehandel kamen. Er kannte die beiden nicht. Als aber der dritte den Mund aufmachte, wurde Fritz von Winkelberg aufmerksamer. Langsam forschte er über das scharf geschnittene Gesicht, über die ärmliche Kleidung und die beweglichen Hände. War das nicht der alte Abraham? Der alte Abraham aus Sulitsch, der schon vor zwanzig Jahren mit dem Schachersack auf dem Rücken durch Britzkawe getrabt war. Und er war es tatsächlich! Die letzten dreizehn Jahre hatten ihn nicht älter gemacht. Er war übrigens noch gar nicht so sehr alt, der alte Abraham. Mit zwanzig Jahren hatte er von seinem Vater, dem wahren alten Abraham, das Geschäft übernommen. Und die Bauern, die er auf seinen Geschäftsreisen besuchte, die ihn durch alle Dörfer der Umgebung führten, hießen ihn bald, wie sie seinen Vater genannt hatten. Und dabei war es denn auch geblieben.

Der erste Gruß der Heimat! dachte Fritz von Winkelberg und schloss die Augen.

„Vierzig Perzent!“, seufzte der alte Abraham und streckte die mageren Finger von sich. „Ist ein Geschäft! Wenn hätt‘ ich mal vierzig Perzent gemacht? Bei den schlechten Zeiten!“

„Schlechte Zeiten!“, lachte ihn der Dicke aus. „Was sagst du zu neunzig Perzent! Haben wir gemacht vor zwei Wochen oben bei Zdurotschin. Hast du noch nichts gehört davon?“

„Ich komm erst nach Neujahr in die Gegend“, entschuldigte sich der alte Abraham.

Gottlieb, der christliche Kompagnon des dicken Friedländers, zeigte sich innerlich beunruhigt und schielte zu Fritz von Winkelberg hinüber. Doch der hielt die Augen fest geschlossen.

„Es war ein reelles Geschäft, Gottlieb!“, warf der Dicke ein. „Warum soll man nicht drüber reden dürfen. Bar gegen bar! Was willst du? Hätten wir‘s gemacht, wenn‘s nicht so streng reell gewesen wär? Der Bartenstein und der Levisohn hätten‘s doch auch gemacht, wenn wir sie nicht überboten hätten. Aber die sitzen drin und können sich nicht rühren. Was stecken sie alles in das faule Majorat!“

„Sagen sie!“, erwiderte der alte Abraham ungläubig.

„Wird schon wahr sein!“, meinte Gottlieb „Sonst hätten sie sich das schöne Geschäft nicht aus der Nase gehen lassen!“

„Was war denn das für ein Geschäft?“, wollte der alte Abraham wissen.

„Wozu?“, lachte der dicke Friedländer. „Sie werden dir‘s schon erzählen, wenn du nach Zdurotschin kommst. Ein feines Geschäft, ein nobles Geschäft mit dem alten Baron von Winkelberg.“

„Ist der doch schon vor drei Wochen gestorben!“, ergänzte der alte Abraham.

„Was heißt hier gestorben? Seine Frau lebt doch!“

Der alte Abraham schüttelte den Kopf. Neunzig Perzent! Der Bartenstein und der Levisohn hatten zurückstehen müssen vor dem dicken Friedländer! Das wollte ihm nicht in den Sinn. Doch er fasste sich in Geduld. Drei Tage nach Neujahr war er ja doch in Britzkawe! Aus dem dicken Friedländer war nichts herauszulocken.

„Was war das für ein Geschäft?“, fragte plötzlich Fritz von Winkelberg und beugte sich aus der Ecke vor. Sein Atem ging hörbar, seine Finger krampften sich unter der Reisedecke.

„Nu“, lächelte der dicke Friedländer freundlich, „wenn der Herr neugierig ist, dann kann er ja nach Britzkawe fahren!“

Da hielt der Zug in Kraschwitz. Der Schaffner erschien und fragte nach den Fahrkarten. Der alte Abraham hatte ein Billett vierter Klasse.

„Sie müssen nachzahlen!“, schnauzte der Schaffner ärgerlich.

„Die Herren werden es bezahlen!“, erwiderte der alte Abraham und wies auf Gottlieb und den dicken Friedländer.

Doch die schlugen ein lautes Hohngelächter an. Sie hatten es ihm zwar versprochen, wollten es aber nicht halten. Und der alte Abraham war viel zu genau und hatte viel zu viele Kinder zu Hause, um den reichen Eisenbahnfiskus auch nur einen Groschen schenken zu dürfen. Auch hatte er noch niemals neunzig Perzent gemacht. Eifrig zankte man miteinander.

„Wie viel macht es?“, fragte Fritz von Winkelberg und griff in die Tasche. „Eine Mark fünfzehn“, antwortete der Schaffner höflich.

Fritz von Winkelberg reichte dem Beamten ein Zweimarkstück, stieg aus, verlangte ein leeres Coupé und musste sich mit einem dritter Klasse begnügen. Der alte Abraham hingegen kroch beschämt in einen Wagen vierter Güte. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

Fritz von Winkelberg vermochte nicht seine Augen zu schließen. Was für ein Geschäft mochte seine liebe Stiefmutter mit diesem fetten Händler wohl gemacht haben? Seine Unruhe wuchs, je mehr er sich der Heimat näherte. Zuletzt streckte er sich auf die Sitzbank. Er war es gewohnt. Oft schon hatte er seine Nächte auf einem schlechteren Lager zubringen müssen. Und sein Herz beruhigte sich allmählich. Als die Räder über die Bartschbrücke rollten, erhob er sich und schaute durchs Fenster. Vor seinen Augen schob sich Sulitsch heran mit dem hohen Turm der Gnadenkirche, dem fürstlichen Park mit dem Triumphbogen und den zahlreichen Karpfenteichen. Gleich darauf kreischten die Zugbremsen. Auf dem Bahnsteig entwickelte sich ein reger Verkehr. Die Feiertage waren noch nicht fern genug, und das Neujahrsfest war nahe. In den Packwagen lud man dreißig mittelgroße Fässer Eilgut. Darin waren Karpfen. Durch das Gedränge bei der Sperre schoben sich eilig der dicke Friedländer und sein Geschäftsgenosse Gottlieb. Auch der alte Abraham drückte sich von hinten her am Zug entlang. Als er Fritz von Winkelberg am Fenster gewahrte, zog er demütig die Mütze. Das musste ein sehr reicher Herr sein! Der warf mit Zweimarkstücken herum, als wären es Pfennige!

Schon hielt der Zugführer die Pfeife an die Lippen, um das Zeichen zur Abfahrt zu geben, da stürzte noch jemand über den Bahnsteig, riss das nächste Abteil auf, das der Sperre genau gegenüberlag, und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung. Fritz von Winkelberg hatte wieder Gesellschaft bekommen. Langsam humpelte der Zug über die Weichen auf die freie Strecke hinaus. Fritz von Winkelberg lehnte sich in die Ecke zurück und betrachtete den neuen Fahrgast, der sofort seinen Überrock ablegte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Mit seinem breiten, blonden Bauernschädel und dem engen, kohlschwarzen Kandidatenrock sah er ein bisschen komisch aus. Er war jung, hatte ein frisches, gesundes Gesicht und gute, treuherzige Augen. Als er sich etwas erholt hatte, zog er eine Zigarre heraus und wollte sie anstecken.

„Ich bitte“, sagte Fritz von Winkelberg lächelnd, „dass Sie sich diesen Genuss bis zur nächsten Station versagen. Ich bin etwas leidend!“

„Wie Sie wünschen!“, entgegnete der junge Mann höflich und steckte das Kraut weg. „Es macht mir selbst wenig Spaß. Ich tu‘s nur aus Langeweile!“

„Die könnten wir uns ja anders vertreiben!“, schlug Fritz von Winkelberg vor. „Sie sind Lehrer?“

„Das walte Gott!“, sagte der andere und machte eine saure Miene. „Moritz Gassel ist mein Name!“

„Sie haben einen schönen Beruf!“

„Vielleicht“ meinte Moritz Gassel verbindlich. „Aber nur für den, der das nötige Talent hat.“

„Sie besitzen sicher welches!“

„Nicht die Bohne!“, seufzte Moritz Gassel. Und da er ein Schlesier war, hielt er mit seiner kurzen Lebensgeschichte nicht lange hinterm Berg.

„Ich bin in der Tat ein entgleister Landwirt. Komisch, aber wahr! Solange mein Vater lebte, ging ich auf die Landwirtschaftsschule in Brieg. Als er starb, langte es nicht mehr. Mein ältester Bruder bekam die Wirtschaft, drüben im Kreise Nimptsch. Und ich musste froh sein, dass man mich auf dem Schullehrerseminar annahm. Da kriegt man ja staatliche Unterstützung. Meine Abgangsprüfung bestand ich mit Ach und Krach. Wozu soll ich lügen? Es macht mir keinen Spaß. Und die verdammte Schulmeisterei erst recht nicht. Ich geb‘ mir die größte Mühe, aber ich komme mit dem kleinen Volk nicht zurecht. Sechs Monate war ich als Lehrerstellvertreter in Breslau, monatlich fünfzig Mark Gehalt. Dann schoben sie mich plötzlich aufs Dorf ab.“

„Sie werden natürlich versuchen, nach Breslau zurückzukommen?“

„Keine zehn Pferde kriegen mich dazu!“, wehrte Moritz Gassel ab. „Lieber auf dem elendigsten Dorfe hinter dem zehnten Walde als in der Großstadt! Da ist man nichts anderes als ein Pflasterstein Nummer soundso. Auf dem Lande aber ist man ein Mensch, ein wirklicher Mensch ohne Nummer. Je weiter weg, umso sicherer. Da kommen die Inspektoren und die Schulräte sehr selten. Man ist sein freier Herr, und man kann treiben, was man für richtig hält.“

„Sie halten also nicht alles für richtig, was die Behörde anordnet?“

„Ganz und gar nicht!“, rief Moritz Gassel mit dem Brustton der Überzeugung. „Gegen die Religion will ich nichts sagen. Die muss sein, solange man nichts Besseres hat. Aber Geografie und Geschichte und all das unnütze Zeug, was man den armen Dorfkindern einpfropfen soll. All die Leute, die die Schule beherrschen, sitzen in der Stadt. Sie haben keine Ahnung davon, dass das Land ganz andere Lebensbedingungen vorschreibt. So ein armer Bauernjunge hat keinen Schimmer davon, was eine Hypothek ist. Aber wie man einen Bruch durch einen Bruch dividiert, das muss er wissen. Er lernt niemals, wie man einen Obstbaum veredelt, wie man einen Bienenschwarm einfängt und wie man ein Spargelbeet anlegt, aber die Flüsse von Südamerika muss er am Schnürchen hersagen können. Und zu solch einem Wahnwitz muss man sich als ehrlicher Mensch hergeben. Jetzt fängt man mit ländlichen Fortbildungsschulen an. Warum wirft man nicht einfach die beiden Lehrpläne zusammen? Dann hätte man eine richtige Standesschule für das Dorf.“

„Sie haben jetzt Ferien?“

Moritz Gassel nickte und versank in finsteres Brüten. Doch Fritz von Winkelberg ließ nicht mehr locker.

„Sie waren in Ihrer Heimat?“

„Nein! Das kann ich mir nicht leisten. Ich war nur in Sulitsch, um mich dem Herrn Kreisschulinspektor Hupfer vorzustellen. Ich habe meine neue Stelle erst vor acht Tagen angetreten. Und das ist auch so ein alter Zopf. Kann der Mann nicht zu mir kommen? Er kriegt seine Reisespesen, ich aber nicht. Aber wir Lehrer haben keine Rechte. Doch es dauert nicht mehr lange, die Lehrernot haben wir schon. Es muss aber erst so weit kommen, dass kein Mensch mehr Lehrer werden will. Dann werden wieder bessere Zeiten für uns Lehrer anbrechen. Lieber Hofknecht sein als Volksschullehrer! Da bleibt man doch wenigstens ein Mensch. Und wenn‘s einem nicht passt, dann kann man die Arbeit hinwerfen und sich was anderes suchen.“

„Dieser letzte Weg ist doch auch Ihnen nicht verschlossen?“

„Ach!“, lächelte Moritz Gassel. „Ein weggelaufener Lehrer! Wer kann den gebrauchen? Er taugt zu keiner vernünftigen Arbeit!“

Fritz von Winkelberg senkte den Kopf und schwieg. Jetzt musste Moritz Gassel das Gespräch wieder in Gang bringen.

„Sie steigen in Luschelau aus?“, fragte er nach einer Weile.

Der Baron nickte.

„Ich nämlich auch!“, bekannte Moritz Gassel offen.

„So, so“, meinte Fritz von Winkelberg überrascht dazu.

„Das ist doch selbstverständlich!“, erläuterte Moritz Gassel. „Drei Schritte hinter Luschelau ist doch schon die schlesische Grenze. Und wenn mein Kreisschulinspektor in Sulitsch wohnt, kann ich doch nicht im Kreise Krotoschin angestellt sein!“

„Sehr richtig!“, lachte Fritz von Winkelberg belustigt. „Dann kennen Sie doch auch Britzkawe?“

„Britzkawe?“, rief Moritz Gassel und schlug sich auf den Schenkel. „Das sollte ich wohl kennen. Da bin ich doch angestellt. Kennen Sie es auch?“

„Ein wenig!“, lächelte der Baron in seinen straffen, dunkelblonden Bart hinein. „Allerdings ist es schon einige Jahre her. Ich war einmal da – „

„In Geschäften?“, fragte Moritz Gassel eifrig.

„Ungefähr!“, nickte Fritz von Winkelberg. „Und ich will wieder hin.“

„Famos!“ Moritz Gassel schien diese Nachricht geradezu zu beglücken. „Da haben wir ja einen Weg. Aber was wollen Sie dort? Auf dem Gut ist niemand.“

„Ich wollte mich nur nach dem großen Geschäft erkundigen, das vor vierzehn Tagen da gemacht worden ist. Wissen Sie etwas davon?“

„Ich bin erst acht Tage in Britzkawe“, entschuldigte sich Moritz Gassel vorsichtig. „Kaum, dass ich die Leute dem Gesicht nach kenne. Aber so viel hab ich schon heraus, dass kein Mensch recht weiß, was aus dem Gut wird. Haben Sie denn den alten Herrn von Winkelberg gekannt?“

„Erzählen Sie nur! Es liegt mir sehr viel daran, ein möglichst unbefangenes Urteil über diese Verhältnisse zu hören.“

„Ah, ich verstehe!“, lächelte Moritz Gassel geschmeichelt. „Aber ein Urteil kann ich nicht abgeben. Ich kann nur erzählen, was ich gehört habe. Es ist allerdings eine ziemlich unerfreuliche Familiengeschichte, und so etwas tischt man nicht gerne auf. Aber schließlich, jeder erzählt sie.“

„Ich bitte darum!“, drängte Fritz von Winkelberg. „Ich bin an diesen Dingen sehr stark beteiligt, und Sie erweisen mir einen großen Dienst, wenn Sie mir alles erzählen, was Sie darüber erfahren haben.“

„Ach so!“ Moritz Gassel nickte verständnisinnig. „Sie sind auch einer von denen, die sich da festgelegt haben?“

„Was erzählt man von den Winkelbergs?“, drängte ihn Fritz von Winkelberg und rückte näher. „Mein Wort darauf, dass ich es für mich behalte! In meinem eigenen Interesse, Sie verstehen!“

Und so legte Moritz Gassel los: „Also da war der alte Herr von Winkelberg, ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle, adelsstolz und in sämtlichen Vorurteilen der herrschenden Klasse verbohrt. Dessen einziger Sohn diente bei der Gardeartillerie, feudal bis aufs Knochenmark, Spiel, Weiber, Wein und all die guten Sachen, die sich unsereins nicht leisten kann. Ich würd‘ mich auch schön dafür bedanken, es kommt nichts dabei heraus. Der Alte und der Junge vertrugen sich soweit ganz gut, bis der Alte auf den Gedanken kam, sich wieder zu verheiraten. Der Sohn war dagegen. Er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Das Weib soll übrigens unausstehlich gewesen sein. Da ging die Freundschaft in die Brüche. Und eines schönen Tages kam der große Kladderadatsch. Man erzählte da von einem hohen Wechsel, den der alte Baron nicht einlösen wollte und konnte. Die zweite Frau soll ihn schrecklich viel Geld gekostet haben. Der Herr Gardeleutnant musste den Dienst quittieren und ging nach Amerika. Soll er übrigens gar nicht nötig gehabt haben. Da hat er sich herumgetrieben als Farmer und Trapper, wie man sagt. In Neu York soll er Kellner gewesen sein, in Chicago Straßenbahnkutscher, in San Franzisko hat er Zeitungen ausgetragen und Kalender verkauft. Was wahr ist, weiß natürlich keiner. Der alte Winkelberg hat ihm keinen Pfennig geschickt.“

Fritz von Winkelberg musste sich zurücklegen, schloss die Augen und stöhnte leicht.

„Was ist mit Ihnen?“, fragte Moritz Gassel besorgt.

„Nur weiter!“, lächelte der andere. „Es geht schon vorüber. Nur ein kleiner Herzklappenfehler. Man gewöhnt sich daran.“

„Daran soll der alte Herr auch gelitten haben. Aber er hat sich nicht daran gewöhnen können. Er wurde bald nach der Hochzeit schwerkrank, bekam es schließlich mit der Lunge zu tun und musste an die Riviera. Da hat er jahrelang gelebt. Das Gut hat der Inspektor Knorreck verwaltet.“

„So?“, entfuhr es Fritz von Winkelberg. „Der ist also auch noch da?“

„Über zwanzig Jahre schon“, bestätigte Moritz Gassel. „Kennen Sie ihn denn?“

„Ich erinnere mich seiner nur noch dunkel. Jedenfalls weiß ich, dass er ein außerordentlich tüchtiger Mensch ist!“

„Das sagen sie alle!“, bestätigte Moritz Gassel. „Ich kenne ihn noch zu wenig, um mir ein Urteil anzumaßen. Und den alten Winkelberg haben sie vor vierzehn Tagen in Britzkawe begraben. Ganz hinten im Park steht das Familiengrab.“

„Ich weiß!“, nickte der Baron und schwieg.

„Da liegt er nun“, philosophierte Moritz Gassel weise. „Was hat er von seinem Leben gehabt?“

„Und sein Sohn?“, fragte Fritz von Winkelberg langsam.

„Der kam in Amerika auf keinen grünen Zweig. Soll auch längere Zeit in einem Krankenhaus gelegen haben. Von da schrieb er einen Brief an einen Jugendfreund hier in der Nähe. Der gab ihm zwar keine Antwort, das ließ die feudale Standesehre nicht zu. Aber durch seine Vermittlung bekamen zwei Sulitscher Juden den Brief zwischen die Finger. Die boten sich ihm an. Das Majorat konnte ihm ja keiner wegtragen. So kam er aus dem Druck, ging nach England und soll sich sogar verheiratet haben. Was Gewisses weiß man eben nicht. Schulden hat er bis über den Kopf. Und der Bartenstein und der Levisohn sitzen bis an den Hals drin, können sich nicht rühren und jammern groß.“

„Und jetzt?“, forschte Fritz von Winkelberg weiter und atmete schwer.

„Niemand weiß, was wird. Britzkawe ist Majorat, unveräußerliches und unbelastetes Erbgut. Wenn der Sohn darauf verzichtet, kommt es an die Nebenlinie. Und es scheint so, sonst hätte er sich doch schon gemeldet. Schön wär's freilich nicht.“

„Weshalb nicht?“

„Nun, ich glaube, dass ein Mensch, der sich jahrelang in Amerika sein Brot mit seinen zwei Händen verdienen musste, davon nicht schlechter geworden sein kann. Im Gegenteil, er wird manches Vorurteil abgelegt haben, was man von der Seitenlinie derer von Winkelberg gerade nicht behaupten kann. Lieber stelle ich mich schon einem solchen Menschen vor, der weiß, was Arbeit ist, als einem, der sie nur für ein Ding ansieht, an dem man sich die Hände schmutzig macht.“

„Sie haben sich also dem Majoratsherrn vorzustellen?", fragte Fritz von Winkelberg und erhob sich, denn der Zug fuhr schon langsamer.

„Laut behördlicher Anweisung“, bestätigte Moritz Gassel, „als dem Patron meiner Schule.“

„Ich danke Ihnen, Herr Gassel!“ Fritz von Winkelberg streckte ihm die lange, schmale Hand entgegen. „Ich danke Ihnen für Ihre Vorstellung, denn ich bin Ihr Patron.“

Moritz Gassel sank vernichtet auf den Sitz zurück. Fritz von Winkelberg ließ die Hand nicht mehr los.

„Sie haben mir einen sehr großen Freundschaftsdienst erwiesen. Ich werde es Ihnen nicht vergessen. Denn ich habe da drüben nicht nur manche, sondern alle Vorurteile abgelegt.“

Moritz Gassel kam wieder hoch.

„Herr Baron!“, stammelte er, unglückselig vor Verlegenheit. „Verzeihen Sie meine Offenherzigkeit.“

„Ich danke Ihnen vielmehr dafür! Denn was Sie erzählt haben, ist wahr, bis auf die Kalender. Und den Herrn Baron schenke ich Ihnen. Ich habe auch dieses Vorurteil abgelegt. Was wissen Sie übrigens von dem großen Geschäft?“

Der Zug hielt an, und der Schaffner riss die Tür auf.

„Dort steht Herr Knorreck!“ Moritz Gassel, noch immer befangen, wies auf den Bahnsteig. „Der wird es Ihnen besser sagen können.“

Es stiegen eine Menge Leute aus, Urlauber, Feiertagsbesucher, Handelsleute und Geschäftsreisende. August Knorreck warf nur einen einzigen Blick auf die hohe, breitschultrige Figur des Barons, da wusste er, wen er vor sich hatte.

„Herr Baron!“, sagte er, zog tief die Mütze und machte einen devoten Bückling, der zu seinem grauen Bart so gar nicht passte. „Ich begrüße den Herrn Baron in der Heimat!“

„Knorreck!“, lachte Fritz von Winkelberg, schüttelte ihm herzlich die Hand und schlug ihm derb auf die Schulter. „Knorreck, alter Kerl! Wenn Sie mir noch einmal den Herrn Baron an den Kopf werfen und sich noch einmal meinetwegen das Rückgrat verdrehen, dann kündige ich Ihnen die Freundschaft!“

„Dort drüben steht der Schlitten!“, entgegnete August Knorreck kleinlaut und wollte die Handtasche nehmen. „Wenn der Herr Baron sich bemühen wollen.“

„Knorreck!“, drohte Fritz von Winkelberg ungehalten. „Machen Sie mir keine Witze! Die Tasche trag ich selbst. Ich bin sechzehn Jahre jünger als Sie. Und bis heut Abend gebe ich Ihnen Frist, sich den Herrn Baron abzugewöhnen. Sonst traktiere ich Sie damit. Mir ist dieses Wort einfach unerträglich. In Amerika lacht man darüber. Vorwärts! Kommen Sie mit uns, Herr Gassel!“

Der Zug keuchte davon, nach Zdurotschin zu, und die drei schritten durch das kleine Stationsgebäude.

III.

Hedwig war dabei, den Schlitten zurückzugeben und wartete. Verräterische Röte flog über ihre Wangen, als Fritz von Winkelberg höflich den Hut zog.

„Guten Tag, Fräulein Hedwig!“, grüßte er freundlich, warf seine Reisetasche ins Gefährt und streckte beide Hände aus. „Können Sie sich noch an mich erinnern?“

„O gewiss, Herr Baron!“ Sie hielt ihm die Hand hin. Mit der anderen fasste sie Peitsche und Zügel. „Sie haben sich kaum verändert.“

„Kleine Schmeichlerin!“, lachte er und drohte mit dem Finger. „Umso mehr haben Sie sich verändert. Vor dreizehn Jahren waren Sie noch ein kleines Schulmädel, und jetzt sind Sie eine vollendete Dame!“

August Knorreck kam Hedwig zu Hilfe, indem er die Schutzdecke zurückschlug und den Baron zum Einsteigen aufforderte.

„Noch nicht!“, wehrte dieser ab. „Erst muss ich noch ein wenig laufen. Ich bin auf der langen Fahrt ganz steif gefroren. Gehen wir durch den Wald, der Schnee liegt dünn.“

„Wie Herr Baron befehlen!“, erwiderte August Knorreck und warf die Decke zurück. „Hede, du wartest auf uns bei der Waldecke hinter Podraschke. Fahr langsam, damit du nicht zu lange warten musst!“

„Nein, nein!“, rief Fritz von Winkelberg. „Wir können Fräulein Hedwig nicht allein fahren lassen. Wo ist denn Herr Gassel?“

Moritz Gassel war längst um die nächste Ecke verschwunden. Er hatte, ohne dass es bemerkt worden war, den Hut gezogen und sich verdrückt. Mit langen Schritten strebte er durch Luschelau, um den kürzeren Kirchweg nach Podraschke zu gewinnen, schalt sich unterwegs eine Plaudertasche und war sehr unzufrieden mit sich.

„Herr Gassel!“, rief August Knorreck ins Stationsgebäude hinein. „Wo stecken Sie denn?“

„Lass nur, Vater!“ Hedwig grüßte mit der Peitsche und fügte hinzu: „Ich fürchte mich nicht!“

„Vielleicht triffst du Herrn Gassel unterwegs.“

Hedwig nickte, knallte herzhaft mit der Peitsche, und die beiden Rappen sausten mit dem Schlitten davon. Fritz von Winkelberg schaute Hedwig nach, bis sie um die Ecke bog.

„Ein Prachtmädel haben Sie da, Knorreck!“, entfuhr es ihm. „Haben Sie nicht auch einen Jungen?“

„Zu Befehl, Herr Baron! Hugo heißt er.“

„Auch so ein Prachtkerl, wie seine Schwester?“

„Wär‘ zu wünschen, Herr Baron!“, entgegnete der Inspektor und schwieg.

„Knorreck, reden Sie! Muss ich Ihnen denn jedes Wort aus der Nase ziehen?“

„Wenn der Herr Baron befehlen“, fuhr August Knorreck korrekt fort. „Hugo macht mir einige Sorgen. Er hat wohl einen guten Kopf, aber es scheint ihm nichts daran zu liegen. Zum Landwirt taugt er nicht.“

„Er studiert wohl?“

„Zu Befehl, Herr Baron. In Halle!“

„Was denn?“

„Das weiß er selbst nicht. Und ich weiß es auch nicht, ob es die Juristerei, die Theologie oder die höhere Schulmeisterei ist. Er schnüffelt überall herum, packt nichts ordentlich an und weiß alles besser. Ich habe einen rechten Ärger mit ihm.“

„Vater und Sohn!“ Fritz von Winkelberg lächelte. „Das alte Lied!“

Schweigend bogen sie in den winterlichen Wald. Der Inspektor blieb immer einen halben Schritt hinter dem Baron. Eine Meise flog voraus und pfiff.

„Knorreck!“, sagte plötzlich Fritz von Winkelberg und blieb stehen. „Heraus mit der Sprache! Wie denken Sie über mich? Wenn ich mit Ihnen arbeiten soll, muss ich das wissen!“

„Wie der Herr Baron befehlen!“, antwortete der Inspektor, stampfte den Stock in den Schnee und hob den Blick. „Es war nicht recht, dass der Herr Baron nach Amerika gegangen sind. Der alte Herr von Winkelberg hat sich sehr gegrämt darüber. Der Herr Baron hätten den Dienst nicht quittieren sollen!“

„Ich musste. Der Wechsel ist nicht gedeckt worden.“

„Er ist gedeckt worden“, erwiderte August Knorreck. „Drei Tage später.“

„Drei Tage zu spät!“, wiederholte Fritz von Winkelberg und schritt rüstig weiter. „Ich musste fort! Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als zu dieser Frau, die mich am liebsten vergiftet hätte, ‚Mutter‘ zu sagen. Nur deshalb bin ich in Neu York mit der Serviette herumgelaufen.“

August Knorreck bemühte sich, dicht hinter dem Baron zu bleiben, der jetzt schärfer ausschritt. Der Weg führte steil einen kleinen Hügel hinauf. Auf halber Höhe machte Fritz von Winkelberg plötzlich halt, stützte sich schwer atmend auf den Stock und legte die Hand auf die Brust.

„Herr Baron!“, rief August Knorreck erschreckt.

„Das Winkelbergsche Herz!“, lächelte der Baron. „Sie kennen es ja!“

„Der Herr Baron sind krank?“, fragte der Inspektor besorgt.

„Sozusagen!“ Fritz von Winkelberg lachte und ließ die Hand sinken. „Aber es ist eine Krankheit, mit der man hundert Jahre alt werden kann. Ja, ja, mein lieber Knorreck, Sie sollten es doch wissen, dass das Herz derer von Winkelberg immer schneller läuft, als es soll. Doch das hat auch sein Gutes. Die Winkelbergs haben immer einen schönen, leichten Tod gehabt. Bis auf meinen Vater. Der könnte heute noch leben, wenn er nicht an dieser Frau gestorben wäre. Ich habe es ihm prophezeit. Wo hält sie sich übrigens auf?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete August Knorreck und hob die Schultern. „Vielleicht bei ihren Verwandten hier in der Nähe.“

„Sind Kinder da?“, wollte der Baron wissen und schritt weiter.

August Knorreck schüttelte den Kopf.

Dann stiegen sie langsam den Hügel wieder hinunter. Der Wald lichtete sich urplötzlich. Links und rechts breiteten sich niedrige Schonungen aus, die kaum zehn Jahre alt waren. Über der einen schwebte ein großer Raubvogel. Unzählige Wildspuren säumten den Weg. Immer wieder schlug August Knorreck seinen Stock in den Schnee. Er traf auf einen Stein.

„Die Grenze!“, sagte er und blieb stehen. „Hier fängt Britzkawe an!“

Fritz von Winkelberg tat noch einen Schritt und schaute sich um. Hier und da ragten einige dünne Gruppen hochstämmiger Kiefern über die Schonungen.

„Das ist der Wald?“, fragte er enttäuscht.

„Im Südrevier ist es noch schlimmer“, meinte der Inspektor kleinlaut. „Die alten Bäume, die stehen geblieben sind, kann man an den Fingern abzählen. Der alte Herr von Winkelberg hat alles herunterschlagen lassen. Die zehn Jahre an der Riviera waren nicht billig!“

„Ich weiß es!“ Fritz von Winkelberg nickte nachdenklich. „Diese Frau hat ihn ruiniert. Was für ein Geschäft hat sie übrigens mit dem dicken Friedländer gemacht? Ich hörte unterwegs so etwas.“

August Knorreck stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn er an das Geschäft dachte, lief ihm die Galle über.

„Heraus damit, Knorreck!“, befahl der Baron. „Ich bin auf alles gefasst. Und wenn sie das ganze Schloss hat ausräumen lassen bis auf die Gardinenhaken.“

„Herr Baron!“, stöhnte der Inspektor. „Wenn‘s nur das wär! Aber sie hat außerdem das gesamte lebende und tote Inventar des Gutes zu einem wahren Spottpreis verschleudert. Von dem ganzen Majorat Britzkawe, einschließlich des Vorwerks Niederbritzkawe, sind nur noch die leeren Gebäude und der Grund und Boden übrig. Sogar die Dienstleute hat man abgelohnt und fortgeschickt.“

„Um mir die Übernahme des Majorats unmöglich zu machen“, sprach Fritz von Winkelberg langsam. „Ich hatte von der Frau nichts anderes erwartet.“

„Der Herr Baron dürfen mir glauben“, fuhr August Knorreck fort, „dass ich mir die größte Mühe gegeben habe, etwas zu retten. Der alte Herr von Winkelberg hatte sie nun einmal zur Universalerbin eingesetzt. Vielleicht gehen der Herr Baron gerichtlich vor.“

„Nein!“, entschied Fritz von Winkelberg, und seine Stimme klang plötzlich rau. „Mag sie den Raub behalten. Ich weiß überhaupt noch nicht, ob ich unter diesen Umständen das Majorat übernehmen kann.“

„Der Herr Baron müssen es tun!“ Die Erregung des Inspektors war seiner Stimme zu entnehmen. „Der Herr Baron brauchen nur Kapital zu schaffen!“

„Kapital?“ Fritz von Winkelberg lachte hell auf. „Woher? Bartenstein und Levisohn haben schon vor sechs Monaten versagt. Ich musste mir in London eine untergeordnete Stellung in einem Bankhause suchen, um überhaupt existieren zu können. Und Sie, mein bester Knorreck, sprechen mir von Kapital!“

„Bartenstein und Levisohn müssen es geben!“, stieß der Inspektor heraus.

„Sie sind an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt“, antwortete der Baron. „Ich selbst bin durch die langen Jahre, die ich draußen verbracht habe, dermaßen überlastet, dass ich keinem Menschen raten kann, mir auch nur einen Pfennig zu leihen. Britzkawe wird die Nebenlinie übernehmen müssen. Ich gehe nach London zurück, schreibe Briefe, führe Bücher und werde in dreißig Jahren meine Schulden getilgt haben, wenn ich das Kunststück fertig bringe, mit meiner Familie von der Hälfte meines Gehalts zu leben. Oder wissen Sie einen anderen Ausweg?“

„Jawohl, Herr Baron, ich weiß einen!“, antwortete August Knorreck schnell und sah seinem Herrn offen ins Gesicht. „Arbeit! Arbeit hier in Britzkawe! Es wirft im Durchschnitt zwanzig Prozent Brutto ab. Bartenstein und Levisohn müssen heran! Ich glaub‘s nicht, dass sie nicht können. Sie wollen nicht! Das ist die alte Ausrede, um die Prozente höher zu schrauben.“

„Was würde es helfen?“, fragte der Baron nachdenklich. „Ich reite mich nur noch tiefer hinein. Und wenn Missernten kommen? Britzkawe gehört mir ja gar nicht. Ich kann damit nicht tun, was ich will. Ja, wenn es kein Majorat wäre!“

„Herr Baron!“ August Knorreck zeigte sich mutig und warf die Schultern zurück. „Ich bitte, meine Offenheit nicht übel zu nehmen. Für Britzkawe ist es ein großes Glück, dass es Majorat ist. Sonst wäre es längst in kleine Stücke zerfetzt oder bis über die Giebel belastet. Die Herren von Winkelberg waren nie gute Haushalter.“

„Knorreck!“ Der Baron schlug ihm freudig auf die Schulter. „Knorreck, endlich reden Sie deutsch. Nun aber auch mit allem heraus, was Sie auf dem Herzen haben!“

„Wie der Herr Baron befehlen!“ August Knorreck räusperte sich und suchte nach dem alten korrekten Ton. „Wenn ich hier Gutsherr wäre, ich würde Britzkawe halten, und säße ich noch dreimal ärger in der Tinte.“

„Knorreck, Knorreck!“ lachte der Baron belustigt. „Sie wissen ja noch gar nicht, wie tief ich drin sitze.“

„Der Herr Baron haben hier einen Freund“, fuhr der Inspektor fort und trat mit dem Fuß auf. „Einen besseren finden der Herr Baron auf dieser Welt nicht wieder. Das ist der Boden, den die Herren von Winkelberg schon zweihundert Jahre lang bewirtschaften. Und einen solchen treuen Freund sollten der Herr Baron nicht im Stich lassen. Nur Mut müssen der Herr Baron haben!“

„Den hätte ich schon!“, antwortete Fritz von Winkelberg. „Nur lassen Sie endlich den ‚Herrn Baron‘ weg!“

„Herr Baron!“, erwiderte August Knorreck eigensinnig. „Das sind Dinge, an denen man nicht rütteln darf. Wir sind hier in Deutschland!“

„Ganz gleich!“, meinte der Baron und schritt rüstig weiter. „Ich werde es Ihnen schon abgewöhnen!“

Der Inspektor schüttelte den Kopf. Bei der Lärchenschonung bogen sie nach rechts ab, auf die Waldecke zu, wo Hedwig warten sollte. Doch die war noch nicht so weit.

Den glatten Chausseeweg von Luschelau bis Podraschke hatten sie im Schritt zurückgelegt, doch die beiden Rappen waren damit nicht einverstanden. Schaum troff ihnen von den Gebissen, und oft stiegen sie hoch. Aber Hedwig ließ nicht locker, so sehr sie auch schnauften und die Köpfe schüttelten.

Und doch war ihre Hand unruhiger als sonst. Sie musste immer wieder an den Baron denken. Er sah so ganz anders aus als vor dreizehn Jahren, wo er zum letzten Male auf Urlaub gekommen war und sie, die damals kaum sieben Jahre zählte, aufs Pferd gesetzt und durch den Hof geführt hatte. Das war ihr erster Ritt gewesen und auch ihr letzter, denn Vater war gegen das Reiten. Damals war der Baron ein langer, schmächtiger Leutnant gewesen. Heute war er ein großer, mächtiger Mann mit breiter Brust und einem dichten, blonden Vollbart. Nur seine Augen konnten noch genau so heiter blicken wie damals.

Hedwigs Unruhe übertrug sich bald auf das Gespann. Mitten in Podraschke entglitten ihr die Zügel. Aber sie konnte sie zum Glück im letzten Augenblick noch erhaschen. Das Sattelpferd schlug über den Strang. Ein Bauer, der gerade des Weges kam, beruhigte es wieder. Fester fasste sie die Zügel mit beiden Händen. Die Peitsche legte sie weg. Das Schellengeläut, das die Rappen auf dem Rücken trugen, klang unruhig und stoßweise.

Hinter dem Dorf lenkte sie in den Wald ein. Es kam eine schlechte, von tiefen Gleisen zerquälte Landstraße, die den leichten Schlitten von einem Kufen auf den andern warf. Hedwig musste die Tiere schärfer zügeln, dass das schwache Gefährt nicht kurz und klein geschlagen wurde. Alle Gedanken musste sie zusammennehmen. Und doch konnte sie es nicht verhindern, dass hin und wieder einer zum Baron flatterte. Auch an Moritz Gassel musste sie denken, den sie noch immer nicht eingeholt hatte. Er war wohl den Kirchweg über die Felder marschiert. Bei der nächsten Schneise bog dieser schmale Steg in den Fahrweg ein. Und als sie an die Stelle kam, wo sie dem Vater versprochen hatte, Thomas Hauschild zum Bleiben zu ermuntern, dachte sie auch an den. Der stand jetzt sicher bei Pelagia Dubin! Und hier scheute das Sattelpferd plötzlich von einem jungen Tannenbaum, den die Schneelast über die Straße beugte, ging durch und riss das Handpferd mit. Zum Unglück löste sich noch die Schnalle des Zügels, dass Hedwig nur noch das Handpferd regieren konnte. Aber es gehorchte ihr nicht mehr. Da stieß sie einen lauten Schrei aus, der durchaus nicht geeignet war, die Tiere zu beruhigen. Aufgeschreckt jagten sie in vollem Tempo die holprige Straße hinunter, dass der Schlitten alle Augenblicke nahe am Umschlagen war. Hedwig ließ die Zügel fallen, weil sie sich mit beiden Händen festhalten musste, um nicht aus dem Gefährt geschleudert zu werden. Da sah sie weit vor sich einen Menschen, schrie noch einmal und schloss die Augen. Der Mann, der etwa sechshundert Schritte voraus war, drehte sich auf den gellenden Schrei sofort herum und übersah mit einem Blick das Unheil, das da herangehetzt kam. Der leichte Schlitten sprang mit langen Sätzen von einem Kufen auf den andern. Nun hieß dieser Mensch, auf den die Pferde zupreschten, Moritz Gassel, und ein Held, der sein eigenes Leben so ohne Weiteres in die Schanze schlug, war er nicht. Deshalb warf er sich dem wildgewordenen Gespann nicht in den Weg. Es wäre ihm auch schlecht bekommen. Aber den Überrock warf er ab, griff, als der Schlitten an ihm vorbeisauste, glücklich den Kutschbock, der hinten auf den Kufen angebracht war, schwang sich hinein, über die Sitze, hinaus auf die Deichsel, die schon in allen Fasern knirschte, erwischte bald die Schnalle und brachte die Tiere zum Stehen. Schnell schlug er den Zügelriemen in die Schnalle, stieg in den Schlitten zurück und nahm die Peitsche.

Hedwig hatte sich unterdessen von ihrem Schrecken erholt.

„Sie sind es, Herr Gassel?“, rief sie verwundert.

„Jawohl!“, lachte er und wendete den Schlitten, um seinen Überrock zu holen. „Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Der Tausend, die Tasche vom Herrn Baron ist herausgesprungen! Brrr!“

Die beiden Rappen standen und stampften. Hedwig sprang heraus und hob die Tasche aus dem Schnee. Auch den Überrock, der etwas weiter lag, holte sie heran.

„Ich danke Ihnen!“, sagte sie schlicht und reichte ihm die Hand.

„Wofür?“, lachte er laut. „Jeder andere hätte dasselbe getan. Und so schlimm, wie es aussah, war es lange nicht!“

„Dass Sie etwas davon verstehen?“, rief sie überrascht, als er das feurige Gespann mit leichter Mühe auf dem holprigen Weg herumholte.

„Nicht wahr! Weil ich doch nur ein Schulmeister bin. Weiß Gott, ich wäre heilfroh, wenn ich dem ganzen Krempel die Peitsche geben könnte!“

Dabei schnalzte er mit der Peitsche, dass es wie ein Pistolenschuss klang, und ließ die Pferde laufen. Hedwig musste sich festhalten, denn es ging Hals über Kopf, und die Straße war noch immer uneben. An der Waldecke berührte sie sacht seinen Arm.

„Halt! Hier müssen wir warten!“

„Brrr!“, machte Moritz Gassel, und die Pferde standen mit fliegenden Flanken.

„Erzählen Sie meinem Vater nichts davon!“, bat sie leise.

„Keinem Menschen!“, schwor er. „Das bleibt unter uns.“

Da reichte sie ihm die Hand, und er drückte sie diesmal zärtlich.

„Da kommen sie schon!“, rief sie plötzlich und wies an der Lärchenschonung entlang. „Geben Sie mir die Zügel!“

„Was ich habe, das halte ich!“

„Aber, was wird Vater denken?“

„Übung macht den Meister!“

Gleich darauf stiegen Fritz von Winkelberg und August Knorreck in den Schlitten. Moritz Gassel ließ die Rappen laufen. Von der Waldecke ab war der Weg glatt wie ein Spiegel. Im Galopp ging‘s bei der Försterei vorbei. Kaum hatte Karl Ruppert, der alte, graubärtige Förster, Zeit, die Mütze herunterzuziehen.

Fritz von Winkelberg ließ halten und winkte den Waldmann heran.

„Guten Tag, Herr Baron!“, rief der schon von weitem und schwang ein paar Mal seine Mütze. „Wünsche dem gnädigen Herrn Baron einen guten Tag!“

„Schon gut, schon gut!“, begütigte ihn Fritz von Winkelberg und reichte ihm die Hand. „Alles wohl auf die alten Tage?“

„Hab nicht zu klagen, gnädiger Herr!“

„Und der Wald, Ruppert? Wie sieht der Wald aus?“

„Nicht meine Schuld, gnädiger Herr! Der selige Herr von Winkelberg hat es so befohlen. Hat mir selber weh getan. War nichts dagegen zu machen.“

„Wie ist der Wildstand?“

„Wild genug, nur kein Holz! Wächst aber schon lustig. In zwanzig Jahren wird sich der Wald schon sehen lassen. Werden der Herr Baron bald auf die Jagd gehen?“

„Nein!“, sprach Fritz von Winkelberg. „Vorläufig muss ich mich schonen. Bleibt alles Ihnen überlassen, Ruppert. Knallen Sie drauf los, dass mir das Zeug nicht auf die Felder kommt.“

Der Förster trat betroffen zurück. Moritz Gassel ließ die Peitsche krachen, und der Schlitten flog aus dem Wald heraus. Da sah Fritz von Winkelberg zum ersten Mal seit dreizehn Jahren sein Heimatdorf wieder. Auf dem Hügel in der Mitte stand noch immer die alte, wacklige Holzkirche. Nach vier verschiedenen Richtungen strebten die dünnen, von Gärten und Höfen durchsetzten Häuserzeilen den sanften Abhang hinunter. Auf dem Nachbarhügel schwang eine hölzerne Windmühle ihre Flügel. Nur sehr wenig hatte sich das Dörfchen verändert. Moritz Gassel, der neue Lehrer, fuhr den neuen Baron von Winkelberg mit heiterem Schellengeläut ins Dorf, setzte ihn vor dem großen, kastenförmigen Herrenhaus ab, brachte Hedwig vor das Inspektorhaus, wo sie von ihrer Mutter mit Sehnsucht und Neugier erwartet wurde, und lenkte das Gefährt endlich bis in den Hof Franz Wiegelts, dem er die Pferde absträngen half.

Dann schritt er zu seiner Schule hinunter, schloss auf, machte Feuer im Ofen, setzte sich auf das altersschwache Sofa, zündete sich eine Zigarre an, stütze den Kopf in beide Fäuste und dachte lange und regungslos über irgendetwas Wichtiges nach.

Fritz von Winkelberg stieg unterdessen hinter seinem Inspektor her durch die leeren Ställe und Scheunen, durch die Keller und Böden, durch die Schuppen, Remisen und die Dienstwohnungen des Gesindes und fand in dem ganzen übergroßen Gewese nichts, was wert gewesen wäre, es mitzunehmen. Nur Schutt, Müll und zerbrochene Geräte lagen in den Ecken herum.

„Nicht eine einzige Pflugschraube haben diese Schufte dagelassen!“, schalt August Knorreck und wies auf den großen Düngerberg. „Aber den hier konnten sie nicht mitnehmen. Die Kälte ist doch zu etwas gut.“

„Und das ist alles?“

„Nein, Herr Baron!“ Der Inspektor schrägte über den Hof und zog einen Schlüssel aus der Tasche. „Noch etwas hab‘ ich den Räubern abgejagt!“

Der Schlüssel knirschte, und das breite Tor des Herrenhauses tat sich auf. Dumpfe, modrige Luft schlug ihnen entgegen. Auch hier grinsten sie leere Wände an. Sogar die Ahnengalerie, die im Flur des ersten Stockwerks ihren Platz hatte, war verschwunden. Nur die rostigen Nägel staken noch im groben Kalkputz. Da stieß August Knorreck die Türen zu zwei Zimmern auf. Diese beiden Räume waren nicht leer. Es waren die Kammern, die Fritz von Winkelberg in seiner Jugend bewohnt hatte. Wortlos dankte er dem treuen Diener. Dann traten sie zusammen ans Fenster. Der Inspektor zog die Vorhänge zurück. Weit nach Süden hinein schweifte der Blick über die sanft gehügelte, schneeglänzende Landschaft.

„Da haben sie noch etwas vergessen!“, rief August Knorreck freudig. „Die beiden Karpfenteiche da unten an der Chaussee. Die sind vor vier Jahren besetzt worden. Können jetzt ungefähr dreißigtausend Pfund drin sein!“

„Das ist nicht viel“, meinte der Baron und starrte hinaus auf die weißen Fluren, auf den dunklen Wald, der sie besäumte, und auf die beiden scharf begrenzten, glatten Eisflächen im Süden.

„Herr Baron!“, rief August Knorreck begeistert. „Das alles gehört den Herren von Winkelberg!“

„Nein!“, entgegnete der Baron und stützte auf dem hohen Fensterbrett den Kopf müde in die Hand. „Der Boden gehört nicht mir, sondern ich gehöre dem Boden. Ich bin der Sklave meiner Heimat!“

August Knorreck zog sich zurück und trug lautlos die Reisetasche ins Schlafzimmer.

„Befehlen der Herr Baron noch etwas?“, fragte er.

„Knorreck!“, antwortete Fritz von Winkelberg, wandte sich um und streckte ihm beide Hände entgegen. „Knorreck, ich brauche einen Freund!“

„Der Herr Baron haben zu befehlen!“, sagte der Inspektor eigensinnig.

„Sie wollen mich nicht verstehen, Knorreck!“ Fritz von Winkelbergs Stimme zitterte. „Warum wollen Sie mein Freund nicht sein?“

„Jeder treue Diener ist der Freund seines Herrn!“, sagte August Knorreck mit fester Stimme und schaute dem Baron in die Augen. „Ein solcher Freund will ich dem Herrn Baron sein. Das andere darf ich nicht!“

„Wer verbietet Ihnen das?“

„Ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch“, entgegnete August Knorreck und senkte sein Haupt.

„Diese Vorurteile!“ Fritz von Winkelberg schlug ärgerlich die Hände zusammen. „Wie kann ein gebildeter Mensch wie Sie in solchen Vorurteilen stecken? Das, was Sie sagen, ist geradezu komisch. Ich bin auch nur ein gewöhnlicher Mensch. Und ich will nur ein Mensch sein. Der Geburtsadel ist ein verdammter Humbug!“

August Knorreck senkte den Nacken noch tiefer, aber es war kein Zeichen des Einverständnisses. Er glaubte, über diese Dinge anders denken zu müssen. Respekt musste sein! Baron blieb Baron, und wenn er‘s auch nicht sein wollte!

„Ich werde Sie Dickkopf noch herumkriegen!“ Fritz von Winkelberg klopfte ihm auf die Schulter. „Mit der Hartnäckigkeit nehm‘ ich‘s mit Ihnen auf, mein lieber Knorreck!“

„Wann darf ich dem Herrn Baron das Abendbrot bringen?“

„Das ist ein guter Gedanke! Ohne Ihre Fürsorge wäre ich hier ja verraten und verkauft. Grüßen Sie einstweilen Ihre Frau von mir.“

„Befehlen der Herr Baron das Abendbrot um sechs Uhr?“

„Ich befehle Ihnen gar nicht mehr, Knorreck!“, lachte Fritz von Winkelberg. „Auf Wiedersehen um sechs. Ich komme zu Ihnen hinüber!“

IV.

Hedwig deckte gerade den Tisch, als Thomas Hauschild eintrat. Er hatte den ganzen Tag über Ärger einstecken müssen. Auch Pelagia Dubin, die sonst gar nicht so spröde war, hatte ihn heute abblitzen lassen. Er setzte sich in die Ecke und ärgerte sich weiter. Hedwig nahm keine Notiz von ihm. Als sie aber mit dem silbernen Tafelaufsatz hereinkam, der nur bei feierlichen Anlässen aus dem Glasschrank genommen wurde, tat Thomas Hauschild den Mund auf.

„Nanu?“, fragte er verwundert. „Heut‘ noch Besuch?“

„Der Herr Baron kommt!“, erwiderte sie kurz.

„Ach so!“, sagte er gedehnt. „Ich hätt mir‘s eigentlich denken können. Na, mir kann‘s egal sein. Ich werd doch nicht lange mit ihm wirtschaften.“

„Wissen Sie, Herr Hauschild!“, sprach sie sichtlich erregt und tat einen Schritt auf ihn zu. „Jetzt die Flinte ins Korn zu werfen, das find ich einfach gemein!“

„So?“, antwortete er verblüfft. „Wenn Sie das meinen, Fräulein Hedwig, dann kann ich ja gern noch ein Jahr bleiben!“

„Nein!“, warf sie ihm entgegen und trat wieder einen Schritt zurück. „Ich meine gar nichts. Sie müssen selbst wissen, was sich gehört. Und jetzt machen Sie, dass Sie auf Ihr Zimmer kommen. Binden Sie sich eine bessere Krawatte um. Und Rasieren haben Sie auch ganz nötig!“

Thomas Hauschild gehorchte wie ein Schulbub, und Hedwig füllte den Tafelaufsatz mit Fuchsienblüten und Rosmarinzweigen, die sie von den Blumenstöcken schnitt, die auf dem Fensterbrett ihrer Kammer standen. Frau Knorreck richtete unterdessen in der Küche das Essen an. Sie war sehr aufgeregt. Als August Knorreck um halb sechs ins Zimmer trat, war der Tisch bereits fertig gedeckt. Hedwig half der Mutter in der Küche. Der Vater ging schnell zu Franz Wiegelt, um ihm die zwei Taler für die Fuhre zu bringen und ein paar Flaschen Wein zu holen.

Frau Knorreck überfiel ein großer Schreck, als Fritz von Winkelberg, den die Einsamkeit aus dem Herrenhause vertrieben hatte, eine Viertelstunde zu zeitig im Inspektorhaus eintraf. Hedwig musste den Gast empfangen, denn die Mutter hatte sich noch gar nicht zurecht gemacht.

„Ich komme zu früh“, lachte er und setzte sich in die warme Sofaecke.

„Bis sechs Uhr müssen Sie warten, Herr Baron!“, antwortete Hedwig und legte die Hände in den Schoß. „Der Braten ist noch nicht gar.“

„Ihre Frau Mama macht meinetwegen Umstände. Das ist mir nicht recht!“

„Wir sind machtlos. Der Tyrann befiehlt, wir Sklaven müssen gehorchen.“

„Tyrann!“, lachte der Baron hell auf. „Das ist er wirklich. Am schlimmsten gegen sich selbst. Er hat geradezu bedauernswerte Vorurteile. Was meinen Sie, er hat meine Freundschaft glatt zurückgewiesen!“

„Ja!“, sprach Hedwig ernst. „Er ist etwas eigen. Aber Sie dürfen ihm deshalb nicht böse sein, Herr Baron!“

„Ich brauche aber einen Freund, einen Menschen, mit dem ich sprechen kann, ohne dass mir alle Augenblicke der Herr Baron an den Kopf fliegt. Ich empfinde dieses Wort geradezu als eine Brandmarkung. Jeder, der sie trägt, ist in meinen Augen ein Ausgestoßener.“

„O, Herr Baron!“ Hedwig war entsetzt über diese Art Lästerung.

„Also auch Sie, Fräulein Hedwig!“, sprach er enttäuscht. „Auch Sie haben sich vorgenommen, mir jeden Tag ein paar schmerzhafte Beulen zu versetzen! Von Ihnen hätte ich es am wenigsten erwartet. Können Sie nicht verstehen, dass ich nur den einen Ehrgeiz besitze, ein Mensch zu sein?“

Sie nickte schweigend und schlug die Augen nieder.

„Und wenn ich Sie nun bitte“, fuhr er dringender fort, „herzlich bitte, von all diesen lächerlichen Vorurteilen abzusehen und mir zu helfen in dem Kampf, den ich hier auszufechten habe. Denn Ihr Vater respektiert in mir nicht den Menschen, sondern den Baron, ein blasses Prinzip, den Majoratsherrn. Im letzten Grund seines Herzens verachtet er mich.“

„O nein, nein!“, rief sie erschreckt und hob die Hände. „Sie kennen ihn nicht!“

„Doch!“, erwiderte Fritz von Winkelberg mit Entschiedenheit. „Kann ich aber mit einem Mann, der mich verachtet, auf die Dauer zusammen arbeiten? Und ohne Ihren Vater kann ich mich hier auf Britzkawe überhaupt nicht halten. Ich verstehe nichts von der Landwirtschaft. Ich sehe in diesen Dingen sehr klar. Es handelt sich um meine Existenz, obgleich es aussieht wie eine lächerliche Marotte.“

Hedwig schwirrte der Kopf, aber ihr gesundes Gefühl leitete sie sicher.

„Wollen Sie mich nun auch zurückweisen?“, fragte er vorsichtig.