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Wie können wir den Ursprung des Hasses erklären, der unsere Welt überzieht – von Amokläufern über den IS bis hin zu Donald Trump, von rachsüchtigem Nationalismus bis zu Rassismus und Frauenfeindlichkeit in den Sozialen Medien? Der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra gibt in seinem neuen Buch eine überraschende Erklärung. Indem er zunächst den Blick bis hin zurück ins 18. Jahrhundert richtet, zeigt er, wie schon im Prozess der Modernisierung diejenigen, die nicht davon profitiert haben, anfällig für Demagogen waren. Und alle anderen, die zu spät kamen, zurückgelassen oder ausgegrenzt wurden sind, immer auf erschreckend gleiche Weise reagiert haben: mit Hass auf erfundene Feinde, dem Heraufbeschwören eines imaginären Goldenen Zeitalters und der Selbstermächtigung durch spektakuläre Gewalt. Heute wie damals treiben Massenpolitik, Technologie und das Streben nach Reichtum und Individualismus Millionen von Menschen ziellos in eine demoralisierte Welt: Entwurzelte, die von der Moderne nicht profitieren – mit denselben schrecklichen Folgen. Eine brillante und höchst aktuelle Deutung der Gegenwart, wie sie nur ein wahrhaft »globaler Intellektueller« (SZ) vorlegen kann. »Mit tiefem Verständnis sowohl der westlichen wie der nichtwestlichen Geschichte bekommt Pankaj Mishra, wie niemand vor ihm, das Elend im Herzen dieser gefährlichen Zeiten in den Griff. Das ist das erstaunlichste, überzeugendste und verstörendste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.« Joe Sacco »Zwingend, tiefgründig und genau zur richtigen Zeit.« John Banville
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Seitenzahl: 540
Pankaj Mishra
Das Zeitalter des Zorns
Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
FISCHER E-Books
Für meine Schwestern Ritu und Poonam und deren Kinder Aniruddh, Siddhartha und Sudhanshu
Über dieses Buch dachte ich erstmals nach, als 2014 die indischen Wähler, darunter auch eigene Freunde und Verwandte, Verfechter einer angeblichen Überlegenheit der Hindus an die Macht wählten und der Islamische Staat zum Magneten für junge Männer und Frauen in westlichen Demokratien wurde. Ich beendete 2016 meine Arbeit an diesem Buch in der Woche, als die Briten sich dafür entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Und es ging in Druck in der Woche, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Diese beiden Erdbeben enthüllten Verwerfungen, die meines Erachtens über die Jahre kaum bemerkt worden waren und quer durch das Innenleben von Individuen wie auch von Nationen, Gemeinschaften und Familien liefen. Auf den folgenden Seiten versuche ich, verwirrende und oft schmerzhafte Erfahrungen zu verstehen, indem ich eine gespaltene Welt erneut in den Blick nehme, diesmal aus der Sicht derer, die erst spät in diese Welt eintraten und – wie so viele heute – das Gefühl hatten, zurückgelassen oder zurückgestoßen zu werden.
Vergessene Konstellationen
Überall gibt es das Warten auf Propheten, die Luft ist voll von kleinen und großen Propheten …; für jeden von uns ist das sein Schicksal, daß wir den Dingen mehr Liebe und hauptsächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als die heutige Welt erfüllen könnte. Wir sind zu etwas reif geworden, und niemand ist da, die Früchte einzubringen …
Karl Mannheim (1922)
Im September 1919 besetzte der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio, begleitet von zweitausend italienischen Meuterern, die an der Adria gelegene Stadt Fiume. Der Schriftsteller und Kriegsheld, einer der berühmtesten Europäer seiner Zeit, hatte bereits seit langem alle Gebiete einnehmen wollen, die in seinen Augen immer schon Teil von »Mutter Italien« waren. 1911 hatte er voll Eifer die italienische Invasion in Libyen unterstützt, eine Expedition, deren brutale Grausamkeit in der gesamten muslimischen Welt Empörung auslöste. Angesichts der chaotischen Zustände am Ende des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der früheren Herrscher dieser Region witterte D’Annunzio eine Chance, seinen Traum von der Erneuerung italienischer Männlichkeit durch Gewalt zu verwirklichen.
Als »Duce« des »Freistaats Fiume« entfaltete D’Annunzio eine von reißerischen Reden und großspurigen Gesten geprägte Politik. Er erfand den Gruß mit dem ausgestreckten rechten Arm, den später die Nazis übernahmen, und entwarf unter anderem schwarze Uniformen mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Wie besessen sprach er über Märtyrertum, Opfer und Tod. Benito Mussolini und Adolf Hitler, damals noch unbekannte Leute, studierten eifrig die pseudoreligiösen Reden, die dieser kahlgeschorene Mann tagtäglich auf seinem Balkon vor seinen in schwarze Hemden gekleideten »Legionären« hielt (bevor er sich zu seinen jeweiligen Sexualpartnern zurückzog).
Eifrige Anhänger – testosterongesteuerte Teenager ebenso wie dogmatische Sozialisten – strömten aus so fernen Ländern wie Irland, Indien und Ägypten herbei, um sich dem erotisch-militaristischen Karneval in Fiume anzuschließen. In ihren Augen schien das Leben, von seinen alten Regeln befreit, ganz neu zu beginnen: ein reineres, schöneres und echteres Dasein.
Mit der Zeit, wachsenden sexuellen Begierden und zunehmendem Größenwahn begann D’Annunzio, sich als Führer einer internationalen Erhebung aller Unterdrückten zu fühlen. Doch in der Realität war dieser aus einfachen provinziellen Verhältnissen stammende Mann – ein Parvenü von kleiner Statur, der sich den Anstrich eines Aristokraten gab – nicht mehr als der opportunistische Prophet einiger zorniger Außenseiter in Europa. Diese nahmen sich als bedeutungslos wahr in einer Gesellschaft, in der das Wirtschaftswachstum nur einer Minderheit zugutekam und die Demokratie lediglich ein Spiel war, das die Mächtigen manipulierten.
Schon seit der Französischen Revolution hatten frustrierte Männer gänzlich neue Formen der Politik entwickelt – vom Nationalismus bis hin zum Terrorismus. In Frankreich selbst fühlten viele sich abgestoßen von dem widerwärtigen Kontrast zwischen den glanzvollen Zeiten der Revolution oder Napoleons und jenen armseligen Kompromissen, die aus wirtschaftlichem Liberalismus und politischem Konservatismus resultierten. Alexis de Tocqueville hatte wiederholt zu einem großen Abenteuer aufgerufen: der »Beherrschung und Unterwerfung« des algerischen Volkes und der Errichtung eines französischen Kolonialreichs in Nordafrika. Als das Jahrhundert endete, stieg ein großmäuliger Demagoge namens General Georges Boulanger auf einer Welle massenhafter Empörung über moralische Skandale, wirtschaftliche Rückschläge und militärische Niederlagen rasch empor und kam einer Machtergreifung gefährlich nahe.
Als die erste Phase wirtschaftlicher Globalisierung sich in den 1890er Jahren beschleunigte, forderten fremdenfeindliche Politiker in Frankreich protektionistische Maßnahmen und attackierten ausländische Arbeitskräfte – 1893 massakrierten wütende Franzosen Dutzende italienische Arbeitsimmigranten. In den Vereinigten Staaten hatten Verfechter der weißen Vorherrschaft bereits chinesische Arbeiter durch explizit rassistische Gesetze und Reden stigmatisiert. Diese sollten zusammen mit der Rassentrennungspolitik gegenüber den Afroamerikanern die Würde einer wachsenden Zahl weißer »Lohnsklaven« wiederherstellen. In Österreich-Ungarn machten Demagogen die Juden zu Sündenböcken für das durch die anonymen Kräfte des globalen Kapitalismus massenhaft zugefügte Leid und versuchten, die in Amerika gegen die Einwanderung erlassenen Gesetze zu kopieren. Der Wettlauf des Westens nach Asien und Afrika im späten 19. Jahrhundert machte deutlich, dass die von Cecil Rhodes empfohlene politische Therapie – »Wer den Bürgerkrieg vermeiden will, muss Imperialist werden« – immer mehr Anhänger fand, vor allem in Deutschland, das durch eine erfolgreiche Industrialisierung zwar wohlhabend geworden war, doch hatte sie auch zahlreiche zornige Unzufriedene und Protoimperialisten hervorgebracht. Als das 20. Jahrhundert heraufdämmerte und die Welt die ersten großen Krisen des globalen Kapitalismus, zugleich aber auch die größte internationale Wanderungsbewegung der Geschichte erlebte, entfesselten Anarchisten und Nihilisten, die den Willen des Individuums von alten und neuen Fesseln befreien wollten, eine Welle terroristischer Gewalt. Sie ermordeten zahlreiche Staatsoberhäupter einschließlich eines amerikanischen Präsidenten (William McKinley) und unzählige Zivilisten auf belebten öffentlichen Plätzen.
D’Annunzio war nur einer von vielen Manipulatoren innerhalb einer politischen Kultur, die durch den Übergang des Westens zum Industriekapitalismus und zur Massenpolitik bestimmt war – der indische Dichter Rabindranath Tagore sprach auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1916 von einer »dichten, vergifteten Atmosphäre weltweiten Misstrauens, des Neides und der Angst«. In Italien machten die alles durchdringende Bürokratie des neuen Staates und seine schamlose Nachgiebigkeit gegenüber einer reichen Minderheit vor allem die Jüngeren anfällig für gewalttätige Rachephantasien. Der Dichter Filippo Marinetti, ein Bewunderer D’Annunzios, proklamierte 1909 in seinem Manifest des Futurismus:
»Wir wollen den Krieg preisen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten, und die Verachtung des Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken zerstören …«
Fünfzehn Monate erging D’Annunzio sich in seinem aufrührerischen Experiment der »schönen Ideen« und der geringschätzigen Missachtung aller großen Militärmächte der Welt. Seine Besetzung Fiumes nahm ein harmloses Ende, als die italienische Kriegsmarine die Stadt im Dezember 1920 unter Beschuss nahm und D’Annunzio zur Aufgabe zwang. Doch eine ganze Massenbewegung – Mussolinis Faschismus – setzte dort an, wo er aufgehört hatte. Der Imperialist und Dichter starb 1938, drei Jahre nachdem Italien in Äthiopien eingedrungen war – ein brutaler Angriff, den er wie zu erwarten beifällig begrüßte. Heute, da entwurzelte Radikale aus aller Welt sich gewalttätigen, frauenfeindlichen und sexuell übergriffigen Bewegungen anschließen, während die politische Kultur den Attacken von Demagogen ausgesetzt ist, erscheint D’Annunzios – moralische, intellektuelle, ästhetische wie auch militärische – Abkehr von einer offenbar unverbesserlichen Gesellschaft als eine Wende in der Geschichte unserer Gegenwart: als eine von vielen aufschlussreichen Situationen, die wir vergessen haben.
In den letzten Jahren kam es an vielen Orten zu Ausbrüchen roher Gewalt: Kriege in der Ukraine wie auch im Nahen und Mittleren Osten, Selbstmordanschläge in Belgien, in Xinjiang, in Nigeria und der Türkei, Aufstände vom Jemen bis nach Thailand, Blutbäder in Paris, Tunesien, Florida, Dhaka und Nizza. Konventionelle Kriege zwischen Staaten werden inzwischen in den Schatten gestellt von Kriegen zwischen Terroristen und Terrorbekämpfern, zwischen Aufständischen und denen, die sie bekämpfen; außerdem gibt es Finanzkriege und Cyberwars, Kriege um und durch Information, Kriege um die Kontrolle des Drogenhandels und der Migration wie auch Kriege zwischen städtischen Milizen und Mafiagruppen. Zukünftige Historiker werden dereinst vielleicht in diesem unkoordinierten Durcheinander den Beginn des dritten – längsten und seltsamsten – aller Weltkriege erblicken: eines Krieges, der wegen seiner Allgegenwart einem globalen Bürgerkrieg nahekommt.
Zweifellos sind hier komplexere Kräfte am Werk als in den beiden früheren Weltkriegen. Die Gewalt, die sich nun nicht mehr auf Schlachtfelder oder Frontlinien beschränkt, erscheint endemisch und unkontrollierbar. Noch ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass die auffälligsten Kombattanten dieses Krieges – die Terroristen – sich nur schwer identifizieren lassen.
Anschläge in Städten des Westens werfen seit dem 11. September 2001 immer wieder die Frage auf: »Warum hassen sie uns?« Oder auch: »Wer sind sie?« Bevor Donald Trump sein Amt antrat, hatte der Islamische Staat (IS) – mit seinen schnellen militärischen Siegen, seiner zur Schau gestellten Brutalität und seiner erfolgreichen Verführung junger Menschen aus Städten Europas und Amerikas – im Westen das Gefühl einer außergewöhnlichen Krise noch vertieft.
Der IS scheint für viele noch verwirrendere Fragen aufzuwerfen als Al-Qaida. Warum zum Beispiel stammt das größte Kontingent unter den aus neunzig Ländern kommenden ausländischen Dschihadisten im Irak und in Syrien ausgerechnet aus Tunesien, dem Ursprungsland des »Arabischen Frühlings« und der am stärksten verwestlichten muslimischen Gesellschaft? Warum haben sich Dutzende britische Frauen, darunter Schülerinnen mit ausgezeichneten Leistungen, dem IS angeschlossen, obwohl Männer des IS bereits zehnjährige Mädchen versklaven und vergewaltigen und zudem bestimmt haben, dass muslimische Mädchen im Alter zwischen neun und siebzehn Jahren heiraten und in völliger Abschließung leben sollen?
In The New York Review of Books, einer der wichtigen intellektuellen Zeitschriften des angloamerikanischen Raums, schreibt ein anonymer Autor, wir sollten »zugeben, dass wir nicht nur entsetzt, sondern auch ratlos sind« und dass »seit dem Sieg der Vandalen im römischen Nordafrika nichts so plötzlich, so unverständlich und so schwer zu revidieren« erscheine.
Einige den Islam in den Mittelpunkt stellende Erklärungen für den Terrorismus haben zu dem endlosen »Krieg gegen den Terror« geführt, während eine nicht weniger energische – und weltfremde – Politik die »gemäßigten« Muslime auffordert, »extremistische Ideologien« zu »verhindern« und den Islam zu »reformieren«. Dabei hat sich immer deutlicher gezeigt, dass politische Eliten im Westen sich nicht von ihrer Sucht befreien können, Linien in den Sand zu zeichnen, Regimewechsel anzustreben und die Sitten der einheimischen Bevölkerung umzubauen. Sie wissen offenbar nicht, was sie da tun und welche Folgen ihr Tun haben wird.
Angesichts der politischen Herausforderung durch den Terrorismus verlieren sie die Nerven und lassen sich zu Überreaktionen verleiten. Sie intervenieren mit militärischen Mitteln, meist ohne sich um die Zustimmung einer verängstigten Bevölkerung zu kümmern, und während sie Despoten unterstützen, reden sie unablässig von ihren überlegenen »Werten« – eine Rhetorik, die sich inzwischen, von Trump gewinnbringend ausgeschlachtet, mit einem von weißen Überlegenheitsphantasien geprägten Hass auf Immigranten, Flüchtlinge und Muslime mischt (oder auf Menschen, die wie Muslime »aussehen«). Zugleich verblüffen auf Selfies erpichte junge Mörder allerorten die schwerfälligen Verfolger »extremistischer Ideologien«, indem sie die Bomben aus der Luft mit genau choreographierten Blutbädern am Boden vergelten.
Wie sind wir in die Falle dieses Totentanzes geraten? Viele Leser dürften sich noch an die hoffnungsvolle Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 erinnern. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus schien der weltweite Sieg des liberalen Kapitalismus und der Demokratie gesichert. Es schien, als wären freie Märkte und Menschenrechte die passende Formel für Milliarden von Menschen, die versuchten, entwürdigende Armut und politische Unterdrückung zu überwinden. Die Worte »Globalisierung« und »Internet« lösten in dieser Zeit der Unschuld mehr Hoffnung als Ängste aus, während sie Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fanden.
Amerikanische Berater eilten nach Moskau, um den Übergang Russlands zu einer liberalen Demokratie zu erleichtern. China und Indien begannen, ihre Wirtschaft für Handel und Investitionen zu öffnen. Neue Nationalstaaten und Demokratien erblühten in weiten Teilen Europas, Asiens und Afrikas. Die Europäische Union erweiterte sich nach Osten, in Nordirland wurde Frieden geschlossen, Nelson Mandela beendete erfolgreich seinen langen Marsch zur Freiheit, der Dalai Lama trat in der »Think-Different«-Werbung von Apple auf, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, dass auch Tibet seine Freiheit erlangte.
In den letzten zwei Jahrzehnten propagierten Eliten selbst in vielen ehemals sozialistischen Ländern das Ideal eines kosmopolitischen Liberalismus – die universelle kommerzielle Gesellschaft aus eigennützigen rationalen Individuen, für die sich erstmals im 18. Jahrhundert Aufklärungsdenker wie Montesquieu, Adam Smith, Voltaire und Kant einsetzten. Tatsächlich leben wir heute in einem riesigen homogenen Weltmarkt, in dem die Menschen darauf programmiert sind, ihre eigenen Interessen über alles zu stellen, und in dem alle dieselben Dinge haben wollen, unabhängig von Unterschieden im kulturellen Hintergrund und individuellen Temperament. Die Welt scheint besser gebildet, stärker vernetzt und wohlhabender zu sein als jemals zuvor in der Geschichte. Der durchschnittliche Wohlstand ist gestiegen – wenn auch nicht gleichmäßig und gerecht –, und in Indien und China ist die wirtschaftliche Not zurückgegangen. Eine neue wissenschaftliche Revolution hat stattgefunden, ihre Kennzeichen sind: »künstliche« Intelligenz, Robotik, Drohnen, die Kartierung des menschlichen Genoms, Gentechnik und Klonen, eine tiefere Erkundung des Weltraums und durch Fracking gewonnene fossile Brennstoffe. Aber die versprochene universelle Zivilisation – die für Harmonie sorgt durch eine Kombination aus universellem Wahlrecht, breiten Bildungschancen, stetigem Wirtschaftswachstum, individueller Initiative und persönlichem Fortkommen – ist nicht Wirklichkeit geworden.
Die Globalisierung – mit ihren Merkmalen des hochmobilen Kapitals, der beschleunigten Kommunikation und der raschen Mobilisierung – hat überall zu einer Schwächung älterer Regierungsformen geführt, in den sozialen Demokratien Europas ebenso wie in arabischen Despotien. Eine ganze Reihe unberechenbarer neuer internationaler Akteure sind hervorgetreten, von englischen und chinesischen Nationalisten über somalische Piraten, Menschenhändler und anonyme Cyberhacker bis hin zu Boko Haram. Die von der ersten Finanzkrise 2008 ausgegangenen Schockwellen und der Brexit wie auch die Wahl des amerikanischen Präsidenten 2016 bestätigen, was Hannah Arendt 1968 schrieb: dass nun »zum ersten Mal in der Geschichte alle Völker der Erde eine gemeinsame Gegenwart« hätten. Im Zeitalter der Globalisierung sei jedes Volk »der unmittelbare Nachbar jedes anderen geworden, und Erschütterungen auf der einen Seite des Erdballs teilen sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit der gesamten Erdoberfläche mit«.
Die bösartigen Köpfe des IS nutzen die wechselseitige Abhängigkeit in der Welt besonders entschlossen für ihre Zwecke. In ihren Händen verwandelt sich das Internet in ein verheerend effektives Propagandainstrument im Dienste des globalen Dschihad. Aber auch Demagogen jeglicher Couleur, von Recep Tayyip Erdogan in der Türkei über Narendra Modi in Indien bis hin zu Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump in den USA, nutzen die aufgestaute Mischung aus Zynismus, Langeweile und Unzufriedenheit.
China, obwohl marktfreundlich, scheint weiter von demokratischen Zuständen entfernt zu sein als zuvor, aber näher an einem expansionistischen Nationalismus. Das Experiment mit dem Marktkapitalismus in Russland hat ein kleptokratisches und messianisches Regime entstehen lassen. In Polen und Ungarn hat es offen antisemitische Regime an die Macht gebracht. Eine Revolte gegen die Globalisierung und deren Nutznießer hat zur Abkehr Großbritanniens von der Europäischen Union geführt, was diese in noch größere Probleme gestürzt hat, vielleicht sogar ihren Tod bedeutet. Autoritäre Führer, antidemokratische Bewegungen und Rechtsextremismus bestimmen die Politik in Österreich, Frankreich und den Vereinigten Staaten wie auch in Indien, Israel, Thailand und der Türkei.
Das Schüren von Hass gegen Immigranten, Minderheiten und diverse als »Andere« definierte Menschen hat Eingang in den Mainstream gefunden – und das selbst in Deutschland, dessen Politik und Kultur nach dem Ende des Nationalsozialismus in der Forderung »Niemals wieder!« gründeten. Leute, die mit Schaum vor dem Mund ihren Hass und ihre Boshaftigkeit versprühen – wie der neugewählte amerikanische Präsident, der im Vorwahlkampf der Republikanischen Partei mexikanische Einwanderer als »Vergewaltiger« beschimpfte und syrische Flüchtlinge mit »tollwütigen Hunden« verglich –, sind zu einem alltäglichen Anblick in den alten wie den neuen Medien geworden. In der immer länger werdenden Spirale der ethnischen und subethnischen Massaker und Meutereien finden sich so absonderliche Anachronismen wie maoistische Guerillas in Indien, sich selbst verbrennende Mönche in Tibet und buddhistische Kämpfer für ethnische Säuberungen in Sri Lanka und Myanmar.
In diesem Zeitalter des Zorns bedrängen uns ständig grausige Bilder und Töne. Die Schwelle der Grausamkeit ist immer niedriger geworden seit der ersten auf Video aufgenommenen Enthauptung einer in den aus Guantanamo bekannten orangefarbenen Overall gekleideten westlichen Geisel im Irak (das war 2004, als das Breitbandinternet gerade die Wohnzimmer der Mittelschicht zu erobern begann). Doch der Rassismus und die Frauenfeindlichkeit, die in den sozialen Medien so weit verbreitet sind, und die Demagogie im politischen Diskurs zeigen heute, was Nietzsche im Blick auf die »Menschen des Ressentiments« einst »ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache« nannte, »unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen«.
Es findet sich eine weitverbreitete Angst, die nicht mit der zentralisierten Furcht vergleichbar ist, wie sie von despotischer Macht ausgeht. Es handelt sich vielmehr um das von den Nachrichtenmedien erzeugte und von den sozialen Medien verstärkte Gefühl, dass jedem überall und jederzeit alles passieren kann. Der Eindruck einer aus den Fugen geratenen Welt wird noch verschärft durch den Klimawandel, der das Gefühl aufkommen lässt, der ganze Planet stünde unter Belagerung, und zwar durch uns selbst.
In diesem Buch wird die universelle Krise aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet und dabei die schwere, aber fälschlich aufgebürdete Last der Erklärung verschoben, weg vom Islam und dem religiösen Extremismus. Ich vertrete hier die These, dass die beispiellose politische, ökonomische und soziale Unordnung, die den Aufstieg der industriekapitalistischen Wirtschaft im Europa des 19. Jahrhunderts begleitete und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Weltkriegen, totalitären Regimen und Völkermorden führte, heute weitaus größere Regionen und Bevölkerungen befallen hat; dass weite Teile Asiens und Afrikas, die durch den europäischen Imperialismus einst erstmals der Moderne ausgesetzt wurden, heute tiefer in die schicksalhafte westliche Erfahrung dieser Moderne eintauchen.
Diese universelle Krise reicht sehr viel weiter als die Probleme des Terrorismus oder der Gewalt. Diejenigen, die reflexhaft behaupten, es handle sich um einen »clash of civilisations«, einen Konflikt oder gar Kampf der Kulturen, in dem der Islam und der Westen, Religion und Vernunft einander gegenüberstehen, vermögen zahlreiche politische, soziale und ökologische Übel nicht zu erklären. Selbst die überzeugtesten Vertreter dieser These finden es womöglich erhellend, wenn sie unter der Schicht quasireligiöser Rhetorik die tieferen geistigen und psychologischen Affinitäten erkennen, welche die bunte Schar der islamischen Anhänger des IS-Kalifats mit D’Annunzio und vielen anderen, ebenso extravaganten, aber weltlich ausgerichteten Radikalen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts teilen: mit den Ästheten, die Krieg, Frauenverachtung und Pyromanie verherrlichten; mit den Nationalisten, die Juden und Liberale als entwurzelte Kosmopoliten beschimpften und irrationale Gewalt feierten; mit den Nihilisten, Anarchisten und Terroristen, die vor dem Hintergrund enger Allianzen zwischen Geld und Politik, verheerender Wirtschaftskrisen und obszöner Ungleichheit auf fast allen Kontinenten gediehen.
Wir müssen auf die Erschütterungen dieser Zeit zurückblicken, um unser eigenes Zeitalter des Zorns zu verstehen. Im späten 19. Jahrhundert verübten Franzosen Bombenattentate auf Varietétheater, Cafés und die Pariser Börse, und ein französisches Anarchistenblatt rief dazu auf, das »Bellecour« zu zerstören, ein Varietétheater in Lyon, in dem »die Crème der Bourgeoisie und des Kommerzes« nach Mitternacht zusammenkam. Diese Attentäter und Schreiberlinge haben mehr gemeinsam mit den vom IS inspirierten jungen EU-Bürgern, die im November 2015 auf einem Rockkonzert, in Bars und Restaurants in Paris nahezu zweihundert Menschen massakrierten, als wir glauben.
Viel von unserer heutigen Erfahrung erinnert an das 19. Jahrhundert. Deutsche und dann auch italienische Nationalisten riefen gut ein Jahrhundert, bevor der Ausdruck »Dschihad« Eingang in die Alltagssprache fand, zu einem »heiligen Krieg« auf, und während des gesamten 19. Jahrhunderts schlossen sich junge Europäer in fernen Ländern politischen Kreuzzügen an, die unter der Losung »Freiheit oder Tod« standen. Der revolutionäre Messianismus – der Drang nach einer endgültigen globalen Lösung samt der Vorstellung, dass die eigene Partei aus den wahren Gläubigen bestehe und der revolutionäre Führer ein Held von nahezu göttlicher Statur sei – blühte unter russischen Studenten, die sich von der Grausamkeit und Heuchelei ihrer Herrscher, der Romanows, abgestoßen fühlten. Damals wie heute war das Gefühl, von arroganten und betrügerischen Eliten gedemütigt zu werden, weit verbreitet, und zwar quer über nationale, religiöse und rassische Trennlinien hinweg.
Die Geschichte aber wiederholt sich nicht, trotz zahlreicher Kontinuitäten mit der Vergangenheit. Unser Dilemma in diesem globalen Zeitalter eines übersteigerten Individualismus ist einzigartig und reicht tiefer, seine Gefahren sind diffuser und weniger vorhersehbar.
Massenbewegungen wie Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus, die behaupteten, sie würden in bahnbrechender Weise kollektive Kräfte mobilisieren, führten zu den Kriegen, Völkermorden und Tyranneien des frühen 20. Jahrhunderts. Der Drang jedoch, durch gemeinsame Anstrengungen und staatliche Macht eine perfekte Gesellschaft zu erschaffen, hat sich im Westen und in Russland offensichtlich verbraucht. Wichtiger noch, dieses Ideal ist äußerst schwach ausgeprägt in »aufstrebenden« Mächten wie China und Indien und wird selbst bei den fanatischen Schöpfern eines Kalifats im Nahen und Mittleren Osten durch den Selfie-Individualismus unterminiert.
Aufgrund eines massiven und allgemein unterschätzten weltweiten Wandels verstehen die Menschen sich im öffentlichen Leben vornehmlich als Individuen mit Rechten, Wünschen und Interessen, auch wenn sie nicht so weit gehen wie Margaret Thatcher, die meinte, dass es »so etwas wie die Gesellschaft« gar nicht gebe. Im größten Teil der Welt war seit 1945 ein innerhalb der Grenzen souveräner Nationalstaaten geplantes und beschütztes Wirtschaftswachstum das Mittel der Wahl, um breiten Wohlstand und spezifischere Ziele wie die Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu verwirklichen. Im Zeitalter der Globalisierung, das nach dem Fall der Berliner Mauer heraufzog, wurden Forderungen nach unbegrenzter individueller Freiheit und Befriedigung immer lauter.
Zu Beginn der 1990er Jahre fegte eine demokratische Revolution der Ansprüche – deren zahlreiche Vorboten Tocqueville im frühen 19. Jahrhundert in Amerika beobachtete – durch die ganze Welt und weckte noch unter den aussichtslosesten Umständen neben dem einfachen Wunsch nach Stabilität und Zufriedenheit auch die Sehnsucht nach Wohlstand, gesellschaftlichem Status und Macht. Egalitäre Ambitionen führten zum Losreißen von alten sozialen Hierarchien, der Kaste in Indien ebenso wie der Klasse in Großbritannien. Die Kultur des Individualismus fand eine universelle Verbreitung, wie Tocqueville sie kaum vorhersah, und auch nicht Adam Smith, der erstmals theoretisch über eine »kommerzielle Gesellschaft« selbstsüchtiger Individuen nachdachte.
Die Betonung individueller Rechte hat das Bewusstsein für soziale Diskriminierung und die Ungleichheit der Geschlechter geschärft. Heute findet sich in vielen Ländern eine beachtlich höhere Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Die weiterreichenden politischen Implikationen dieses revolutionären Individualismus sind allerdings weitaus zwiespältiger. Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Ideale endlosen Wirtschaftswachstums und privaten Vermögenszuwachses auf ebenso breiter Front gescheitert sind. Die meisten neuen »Individuen« rackern sich ab in schwach konzipierten sozialen und politischen Gemeinschaften und/oder in Staaten mit ständig schwindender Souveränität. Sie leiden nicht nur unter der Tatsache, dass alte Gewissheiten über ihren Platz in der Welt und damit zugleich alle Bindungen an traditionelle Gemeinschaften und andere Zusammenhänge, die Hilfe und Unterstützung zu leisten vermögen, verloren gegangen sind. Ihre Isolation wird noch verschärft durch den Nieder- oder Untergang postkolonialer Nation-building-Ideologien und den Abbau des demokratischen Sozialstaats durch globalisierte technokratische Eliten.
So finden sich denn Individuen mit höchst unterschiedlicher Vergangenheit durch Kapitalismus und Technologie in eine gemeinsame Gegenwart versetzt, in der eine äußerst ungleiche Verteilung von Reichtum und Macht demütigende neue Hierarchien geschaffen hat. Die Nähe oder die »negative Solidarität«, wie Hannah Arendt dies nannte, wird noch beengender durch die digitale Kommunikation, die erhöhte Fähigkeit zu neidischem und missgünstigem Vergleich und das generelle, dadurch aber auch erschwert umzusetzende Streben nach Besonderheit und Einzigartigkeit.
Zugleich treten weltweit die verheerenden Widersprüche eines dynamischen Wirtschaftssystems zutage, die sich erstmals im Europa des 19. Jahrhunderts zeigten – Schübe technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums, verbunden mit systematischer Ausbeutung und verbreiteter Verelendung. Viele dieser Schocks der Moderne wurden einst von überkommenen Sozialstrukturen der Familie und der Gemeinschaft und dem Sicherheitsnetz des Sozialstaats aufgefangen. Heute ist das Individuum ihnen ganz unmittelbar ausgesetzt – in einer Zeit beschleunigten Wettbewerbs auf ungleichen Spielfeldern, in der man leicht das Gefühl hat, dass es so etwas wie Gesellschaft und Staat gar nicht mehr gibt, sondern nur noch einen Krieg aller gegen alle.
Das offenkundige, aber durch tiefverwurzelte Ungleichheit bereits in Frage gestellte Naturrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit wird zusätzlich bedroht durch politisches Versagen und wirtschaftliche Stagnation. In bereits vom Klimawandel betroffenen Gebieten kommen Knappheit und Not hinzu, wie sie für das vormoderne Wirtschaftsleben typisch waren. Die Folge ist möglicherweise, wie Hannah Arendt befürchtete, ein »gewaltiger Zuwachs an gegenseitigem Haß und ein gewissermaßen universales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-fallen«, also Ressentiment. Ein existentielles Ressentiment hinsichtlich des Seins anderer Menschen, ausgelöst durch ein intensives Gemisch aus Neid und dem Gefühl der Erniedrigung und der Ohnmacht; ein Ressentiment, das immer da ist und immer stärker wird, das die Zivilgesellschaft vergiftet und die politische Freiheit untergräbt und das gegenwärtig weltweit eine Wende hin zu Autoritarismus und gefährlichen Formen von Chauvinismus herbeiführt.
Unsere Ratlosigkeit als zugleich globalisierte und übersozialisierte Individuen ist umso größer, als das Versprechen einer besseren Welt in der hoffnungsfrohen Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer ganz ohne die obligatorischen Warnhinweise daherkam. So erleben wir, dass Gesellschaften, deren Organisation auf das Zusammenspiel individueller Interessen ausgerichtet war, in einen manischen Tribalismus verfallen oder gar in nihilistischer Gewalt versinken. Wenn der Sozialismus erst tot und begraben sei, so hatten die Mächtigen und Einflussreichen unter uns angenommen, würden einfallsreiche Unternehmer auf freien Märkten für rasches Wirtschaftswachstum und weltweiten Wohlstand sorgen, und mit beschleunigtem wirtschaftlichen Wachstum würden auch asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Gesellschaften säkularer und rationaler werden.
Gemäß einer weitverbreiteten Ideologie, die sich nach der endgültigen Diskreditierung der kommunistischen Regime 1989 verfestigte, brauche der Staat nur den individuellen Unternehmern freie Hand zu lassen und aufzuhören, Arme und Faule zu subventionieren. Die langen und vielschichtigen Erfahrungen der starken europäischen und amerikanischen sowie teils auch ostasiatischen Volkswirtschaften – aktive staatliche Eingriffe in Märkte und Unterstützung strategischer Industriezweige, lange Phasen eines ökonomischen Nationalismus, Investitionen in Gesundheitssystem und Bildungswesen – fanden in der neuen, triumphalen Geschichte freien Unternehmertums keinen Platz. Nichtstaatliche Organisationen und die Weltbank gingen davon aus, dass die große sich abmühende Mehrheit der Weltbevölkerung sich dem Lebensstandard Westeuropas und Amerikas annähern werde, wenn ihre Volkswirtschaften mehr Freiheit zuließen und ihr Weltbild weniger ablehnend gegenüber dem individuellen Streben nach Glück wäre. V.S. Naipaul fasste seinen Glauben an eine Verwestlichung der ganzen Welt zusammen, als er 1990 in einer Rede vor Mitgliedern und Gästen eines New Yorker Thinktanks das »Streben nach Glück« durch individuelles Unternehmertum als letzte und größte Aufgabe der Menschheit pries. »Ich finde es wunderbar«, sagte er, »nach zwei Jahrhunderten und der schrecklichen Geschichte der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu erleben, dass die Idee – eine bloße Wendung in der Präambel der amerikanischen Verfassung – weltweit Früchte trägt.« Die leidenschaftliche Liebe der Amerikaner zum Glück »kann keinen Faschismus hervorbringen«, versicherte er seinem America-First-Publikum, und »andere, rigidere Systeme, selbst solche religiöser Art, gehen letztlich zugrunde«.
Während des »langen Kampfes« gegen die Sowjetunion bildete die Vorstellung einer Konvergenz der außerwestlichen Welt hin zum freiheitlich-demokratischen Westen einen nützlichen Gegenentwurf zum kommunistischen Programm einer gewaltsamen Revolution. Wie Naipauls Zuversicht verrät, schien dies selbst ein paar Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs noch realisierbar. Doch die Projekte einer weltweiten Konvergenz hin zum westlichen Modell ließen unberücksichtigt, was der außerordentlich brutale Eintritt in die politische und ökonomische Moderne einst für den Westen selbst bedeutet hatte.
Ausufernde Gewalt, Entwurzelung und Zerstörung begleiteten die erste Phase eines beispiellosen menschlichen Experiments in Europa und Amerika. Marx und Engels charakterisierten die durch einen entfesselten Weltmarkt revolutionierte Moderne 1848 im Kommunistischen Manifest eher begeistert als besorgt mit den Worten: »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht.« Die empfindsamsten Geister des 19. Jahrhunderts, von Kierkegaard bis Ruskin, schreckten vor solch einer Modernisierung zurück, auch wenn sie nicht immer deren dunklere Seiten zur Kenntnis nahmen: raubgierigen Kolonialismus und schmutzige Kriege in Asien und Afrika, die Institutionalisierung von Vorurteilen, wie sie etwa im Antisemitismus zum Ausdruck kamen, und die weitverbreitete, von Pseudowissenschaften verstärkte Angst vor einem »Rassenselbstmord«, wie Theodore Roosevelt dies nannte.
Im späten 19. Jahrhundert begannen die herrschenden Klassen Europas und Japans auf die Schädigungen und Störungen durch den Weltmarkt zu reagieren, indem sie angesichts innerer und äußerer Bedrohungen zur Einheit mahnten, neue Märchen von ethnischer und religiöser Solidarität erfanden und in ihrem, wie sie behaupteten, Kampf ums Dasein einen militaristischen Nationalismus entwickelten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernahmen nicht nur Nazis und Faschisten in ihrem Modernisierungsrausch die Theorien des Sozialdarwinismus. Diese Theorien fanden in ganz Europa und Amerika Zuspruch wie auch bei den gebildeten und aufsteigenden Klassen in der Türkei, in Indien und in China.
In den 1940er Jahren dann verwickelten sich die konkurrierenden Nationalismen Europas in die barbarischsten Kriege und Verbrechen gegen religiöse und ethnische Minderheiten in der Geschichte der Menschheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die europäischen Staaten – weitgehend durch die wirtschaftliche und militärische Macht Amerikas – gezwungen, weniger antagonistische politische Beziehungen zu entwickeln, was letztlich zur Dekolonisierung und zur Europäischen Gemeinschaft führte.
Doch nur sehr selten in den letzten Jahrzehnten findet sich das Eingeständnis, dass die Geschichte der Modernisierung in weiten Teilen eher eine Geschichte der Blutbäder und Turbulenzen als der friedlichen Konvergenz war und die Politik der Gewalt, Hysterie und Verzweiflung sich keineswegs auf das nationalsozialistische Deutschland, das faschistische Italien oder das kommunistische Russland beschränkte. Die außergewöhnliche Erfahrung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums im Rahmen eines demokratischen Sozialstaats, die Europa nach 1945 machte, verdeckt tiefere Verwerfungen und länger andauernde Traumata. Die bereinigten Geschichtsdarstellungen, die priesen, wie die Aufklärung oder Großbritannien oder der Westen die moderne Welt hervorbrachten, platzierten die beiden Weltkriege in einem gesonderten Quarantänebereich und isolierten Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus als monströse Verirrungen innerhalb des Hauptstroms der europäischen Geschichte.
Der »Totalitarismus« mit seinen vielen Millionen Opfern wurde als bösartige Reaktion auf die segensreiche Tradition aus Rationalismus, Humanismus, Universalismus und liberaler Demokratie interpretiert – eine Tradition, die als eine unproblematische Norm galt. Es war offensichtlich allzu irritierend, einzugestehen, dass in der totalitären Politik jene ideologischen Strömungen ihren Ausdruck fanden, die im späten 19. Jahrhundert ganz Europa erfassten (wissenschaftlicher Rassismus, hurrapatriotischer Nationalismus, Technikbegeisterung, ästhetisierte Politik, utopisches Denken, Sozialtechnologie und gewalttätiger Kampf ums Dasein).
Die sonderbare Gleichgültigkeit gegenüber einer facettenreichen Vergangenheit, die Kalte-Kriegs-Fixierung auf den Totalitarismus und ein seit dem 11. September noch öfter beschworenes »Der Westen gegen den Rest der Welt«-Denken erklären, warum unser Zeitalter des Zorns eine derart absurde und extreme Angst und Verunsicherung ausgelöst hat. Dies fasst ein anonymer Beitrag in der New York Review of Books zusammen, in dem es heißt, der Westen könne »niemals genug Wissen, Präzision, Phantasie und Demut entwickeln, um das Phänomen Islamischer Staat zu begreifen«.
Das Versagen demokratischer Institutionen, Wirtschaftskrisen und der Zulauf benachteiligter und verängstigter Bürger zu einer rassistischen Politik in Westeuropa und Amerika zeigen heute, wie unsicher und außergewöhnlich das Gleichgewicht nach 1945 in Wirklichkeit war. Auch zeigt sich nun deutlicher, dass die von Liberalen der Linken, der Rechten oder der Mitte und von Technokraten angebotenen Programme menschlicher Entwicklung und Vervollkommnung nur selten einschränkende Faktoren berücksichtigten: etwa den begrenzten geographischen Raum, die abnehmenden natürlichen Ressourcen und fragile Ökosysteme. Bis vor kurzem nahmen Politiker diese Beschränkungen nicht im Geringsten ernst, sie gingen darüber hinweg, und erst recht sahen sie Folgen des industriellen Wachstums und ständig wachsenden Konsums wie die globale Erwärmung nicht voraus.
So kann es denn kaum verwundern, dass die modernen Religionen eines weltlichen Heils ihre eigene Hauptannahme untergraben haben, wonach es den Menschen in der Zukunft materiell bessergehen werde als in der Gegenwart. Gerade diese für das moderne politische und ökonomische Denken zentrale Erwartung ist verlorengegangen, vor allem bei jenen, die es selbst niemals so gut hatten.
Plötzlich scheint die Geschichte schwindelerregend offen zu sein, geradeso, wie Henry James es empfand, als 1914 der Krieg ausbrach und er sich mit der Möglichkeit konfrontiert sah, dass der vielgelobte Fortschritt des 19. Jahrhunderts nur eine unheilvolle Illusion war und »die Flutwelle, die uns trug, sich die ganze Zeit diesem Punkt als ihren großen Niagarafällen näherte«.
Es wird indessen nicht leicht sein, ideologische Überzeugungen – den modernen Ersatz für religiösen Glauben – oder das Freund-Feind-Denken aufzugeben. Die Islamexperten, die nach dem 11. September ihr Geschäft eröffneten, bieten ihre Waren nach jedem Anschlag noch lautstärker an. Unterstützt werden sie dabei von den Theoretikern eines »clash of civilizations« und anderen intellektuellen Robotern des Kalten Kriegs, die darauf programmiert waren, in binären Gegensätzen zu denken (freie gegen unfreie Welt, Westen gegen Islam) und ihren Wortschatz auf Ausdrücke wie »Ideologie«, »Bedrohung« und »langwieriger Kampf« zu beschränken. Die Flut an Pseudoerklärungen – islamischer Faschismus, islamischer Extremismus, islamischer Fundamentalismus, islamische Theologie, islamischer Irrationalismus – wird ohne Zweifel dazu führen, dass der »Islam« mehr denn je als ein Begriff auf der Suche nach einem Inhalt erscheint und eine spektakulär vielgestaltige Gruppe von 1,6 Milliarden Menschen in den Augen der Übrigen als verdächtig gilt.
In den letzten Jahren drehen die Mühlen der Islamfeindlichkeit immer schneller, weil Demagogen die diffuse Wut und Frustration von Bürgern, die sich in von extremer Ungleichheit geprägten Gesellschaften abgehängt oder zurückgestoßen fühlen, auf die Muslime lenken. Viele Menschen sind von beständiger Angst gequält in einer Welt, in der alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die ihr Leben bestimmen, undurchsichtig erscheinen. Während globalisierte und volatile Märkte die Handlungsautonomie der Nationalstaaten einschränken und Flüchtlinge wie auch Immigranten die herrschenden Vorstellungen von Staatsbürgerschaft, nationaler Kultur und nationaler Tradition in Frage stellen, breitet sich der Sumpf der Angst und Unsicherheit aus. In einen fieberhaften Konkurrenzkampf verstrickt und von der Angst gequält, möglicherweise demnächst zu den Verlierern zu gehören, neigen selbst relativ Wohlhabende dazu, Feinde zu erfinden – Sozialisten, Liberale, einen dunkelhäutigen Alien im Weißen Haus, Muslime – und ihnen dann die Schuld an der eigenen inneren Pein zu geben.
Nur unter solchen Umständen kann die Islamfeindlichkeit gedeihen und Wasser auf die Mühlen von Demagogen leiten, wie es der verbreitete Antisemitismus in den Modernisierungskrisen Europas tat. Voltaire, der gerne als Apostel der Meinungsfreiheit und der Toleranz zitiert wird, offenbarte einen ganz gewöhnlichen Hang, Angst und Schuld auf andere zu projizieren, als man ihn in Berlin bei illegalen Finanzspekulationen erwischte. Ein Jude, schrieb er – und nahm damit die deutschen und französischen Protofaschisten des 19. Jahrhunderts vorweg – »gehört keinem Land an außer dem, in dem er Geld verdient«. Die Suche nach einem glaubwürdigen Sündenbock wurde noch intensiver nach der Emanzipation der Juden, während der politischen und ökonomischen Traumata der mittleren und unteren Mittelschicht in Frankreich und Deutschland (der Ausdruck »Antisemitismus« wurde erstmals in den 1870er Jahren verwendet). Theodor Herzl, der erlebt hatte, wie eine »gewaltige Mehrheit« in Frankreich den Tod von Alfred Dreyfus forderte, einem jüdischen Offizier, der fälschlich des Landesverrats bezichtigt wurde, war Ende des 19. Jahrhunderts überzeugt, dass die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte keinerlei Bedeutung besitze und die europäischen Juden sich ein eigenes neues Heimatland schaffen müssten, das frei von den Pathologien des in Modernisierung begriffenen Europa sei.
Doch den fanatischen Ethnonationalisten im heutigen Israel, die ihren kosmopolitisch und liberal gesinnten Mitbürgern vorwerfen, Einheit und Ziel der Gemeinschaft zu untergraben, gelingt es, fast genauso zu klingen wie deutsche und französische Antisemiten in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Solche traurigen historischen Ironien und Paradoxien machen deutlich, dass die dem Westen gemeinhin zugeschriebene Identität (fortschrittlich und modern im Gegensatz zum statischen und barbarischen Islam) weder stabil noch widerspruchsfrei ist.
Radikale Islamisten werden heute gewöhnlich als antimoderne und antiwestliche Fanatiker dargestellt. Doch ihre geistigen Vorväter gingen aus dem modernen Westen hervor, ebenso wie die zahlreicher gegenwärtiger westlicher Nationalisten, die – von Ungarn bis zu den Vereinigten Staaten – heute von den Eliten der Metropolen wirkliche Freiheit fordern. Jean-Jacques Rousseau, ein zorniger Außenseiter in den Pariser Salons, brandmarkte die moderne Kommerzgesellschaft wegen ihrer Verderbtheit und Ungleichheit, lange bevor Adam Smith die klassisch-liberale und moderne kosmopolitische Vision eigennütziger und konkurrierender Individuen und Nationen formulierte.
Rousseau, nach Isaiah Berlins denkwürdiger Charakterisierung der »größte und streitbarste Hinterwäldler in der Geschichte und ein genialer Gassenjunge«, war der Erste, der die frühen Gemeinschaften wegen ihrer bewahrenden Traditionen, ihrer militaristischen Ethik und ihrer strengen Regeln idealisierte und ein anderes, sinnvolleres Dach für den Menschen skizzierte, nämlich eine aggressiv tugendhafte Gesellschaft – wenn auch eine fremdenfeindliche. Dieser reizbare und linkische Genfer bestritt rundheraus die von der Aufklärung vertretene Grundthese eines steten Fortschritts der Menschheit und warnte, eine auf endloser Konkurrenz, Begierde und Eitelkeit basierende Gesellschaft deformiere eine wertvolle Eigenschaft des natürlichen Menschen: seine schlichte Zufriedenheit und unbefangene Selbstliebe (amour de soi).
Rousseaus kraftvolle und äußerst erfolgreiche, von Unzufriedenheit und Missmut geprägten Bekenntnisse fanden überall in Europa eifrige Leser – junge deutsche Provinzler etwa wie Herder und Fichte, die erfüllt waren von Groll gegen eine weitgehend großstädtische Kultur von umtriebigen und aufstrebenden Karrieristen, die ihnen eine sichere und authentische Existenz zu verwehren schien. Auch wenn Rousseau selbst sich schließlich vollständig aus der Gesellschaft zurückzog, bereitete er doch den Weg für neotraditionalistische Reaktionen auf die selbstgefällige Bourgeoisie.
Eine Gegentradition entwickelte sich in Deutschland, in symbiotischer Opposition zum liberal-universalistischen Ideal der Verfolgung individueller Interessen. Sie betonte die Suche nach emotionaler Befriedigung durch Selbstbildung, Gemeinschaft, Rituale und Gedenken. Getrieben von sozioökonomischer Unzufriedenheit und kultureller Desorientierung, restaurierten militanter Nationalismus und Sozialismus das religiöse Ideal der Transzendenz, wobei sie den Eindruck erweckten, es lasse sich auf Erden verwirklichen. Das Streben nach individueller Freiheit nahm Ende des Jahrhunderts immer extremere Formen an: in Philosophien des Willens zu Macht und Zerstörung.
Als Reaktion auf den internationalen Terrorismus führten Staaten die Folter wieder ein, griffen auf Militärgerichte zurück und schufen internationale Spionagenetze. Der Erste Weltkrieg zertrümmerte schließlich die im 19. Jahrhundert errichtete Fassade der Entwicklung und des Fortschritts.
Als der Krieg 1914 ausbrach, herrschte in Europa große Begeisterung. Gewalt und Hass versprachen vielen eine Befreiung von der seelenlosen Käuflichkeit und Langeweile der bürgerlichen Gesellschaft. Doch schon der Kult um Napoleon und ein kriegerischer Chauvinismus waren während des ganzen 19. Jahrhunderts Ausdruck eines Unwohlseins gewesen, das aus dem Verlust religiösen Glaubens und einer tiefen Krise der Männlichkeit erwachsen war.
Die ruhelosen jungen Männer auf den Britischen Inseln, die auf Heldentaten beziehungsweise Plünderungen aus waren, beteiligten sich an Befreiungskriegen und Eroberungen und bauten rund um den Erdball Handelsimperien auf – in Indien, Java und Australien ebenso wie in Nord- und Südamerika. Doch es war der Mann aus Korsika, der mit seinem Versuch, die Welt zu erobern, noch am dramatischsten den von überkommenen Beschränkungen befreiten und ganz auf Herrschaft ausgerichteten menschlichen Willen verkörperte. Nicht nur französische Schriftsteller wie Stendhal vermissten die Schönheit und Größe, die das Leben während der Napoleonischen Kriege geprägt hatten, und verachteten die habgierige Bourgeoisie und das ermüdende Theater der Gesetzgebung. Wie die französisch-schweizerische Schriftstellerin Madame de Staël scharfsinnig bemerkte: Napoleons quasiautistischer Machismus verführte »die Geister seiner Feinde wie auch seiner Anhänger«.
Nietzsche gehörte zu denen, die den eroberungsfreudigen Korsen verehrten, dem es zu verdanken sei, dass »der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist«. In ganz Europa machten sich junge Männer, getrieben von einem »Seelendrang, der … zum Höchsten zielt in seinem hehren Gang«, wie Byron schrieb, auf den Weg, um für die Unabhängigkeit Griechenlands oder im Spanischen Bürgerkrieg ihrer Zeit zu kämpfen (und oft ebenso rasch zu sterben wie Byron selbst). Tausende junge europäische Männer gingen auch nach Südamerika, um dort für herzerwärmende, aber kaum verstandene Anliegen zu kämpfen.
Eugen Onegin aus Puschkins gleichnamigem Versroman, der erste von vielen »überflüssigen Menschen« in der russischen Literatur, trägt einen modischen »Bolivar-Hut« und besitzt eine Napoleonstatuette wie auch ein Porträt Lord Byrons (Puschkin, der in Byrons Todesjahr nach einem Vorbild für einen Freiheitskämpfer im Exil suchte, landete in seinem Gedichtzyklus Nachahmungen des Koran schließlich bei dem Propheten Mohammed). Russland, das den Westen einzuholen versuchte, produzierte massenhaft spirituell entwurzelte junge Leute mit einer byronhaften und dazu noch von der deutschen Romantik aufgeladenen Vorstellung von Freiheit, deren Verwirklichung angesichts ihrer Lebensbedingungen allerdings völlig aussichtslos erschien. Rudin in Turgenjews gleichnamigem Roman ist solch ein junger Mann, »der floh aus seiner Seele Irrgewind’«. Er möchte sich »voll Eifer« und »vollständig … irgendeinem Unsinn« hingeben und findet schließlich 1848 den Tod auf einer Pariser Barrikade.
Selbst der verwöhnte englische Dichter Arthur Hugh Clough fühlte sich gedrängt, die neue Bürde der Sehnsucht und Unentschlossenheit anzusprechen, und zwar in seinem Versroman Reiseliebschaft, der auf der aufwühlenden Reise des Autors durch Europa in den Jahren 1848 und 1849 basierte und in dem der Protagonist beschließt, sich nicht in den italienischen Freiheitskampf zu stürzen:
»Ich bin nicht gerne bewegt: Denn der Wille ist erregt; und Handeln ist eine äußerst gefährliche Sache; ich sehne mich nach etwas Unnatürlichem, einer Untat des Herzens und etwas Unerlaubtem.«
Andere, wie Rimbaud, waren da nicht so pingelig. »Gegenwärtig lasse ich mich so sehr wie möglich verlumpen«, schrieb er im Alter von sechzehn Jahren: »Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne im Unbekannten anzukommen.« Man müsse »absolut modern« sein, erklärte der französische Dichter und zog als langhaariger Vagabund durch Europa, desertierte auf Java und wurde in Äthiopien zum Waffenschmuggler. Oscar Wilde pries die »Sünde«, eine »gesteigerte Bejahung des Individualismus«, als notwendige Erlösung von Langeweile, Stagnation und Mittelmäßigkeit. Émile Durkheim setzte sich in Der Selbstmord (1897) mit einem großen Mysterium seiner Zeit auseinander: Warum begingen in einer Periode rapiden Wirtschaftswachstums, wachsender Bildung, beschleunigter Kommunikation und zunehmenden Selbstbewusstseins so erstaunlich viele Europäer Selbstmord?
Dostojewski hatte bereits sehr genau beobachtet, wie Menschen, die gelernt hatten, an eine luftige Vorstellung von persönlicher Freiheit und Souveränität zu glauben, und dann mit einer Realität konfrontiert wurden, die diese Vorstellung grausam widerlegte, aus lähmender Zwiespältigkeit ausbrachen und ihr Heil in willkürlichem Morden und paranoidem Aufruhr suchten – in der podvig, jener spektakulären spirituellen Großtat, nach der die Figuren in Dostojewskis Romanen streben. Russische Schriftsteller etablierten das willkürliche Verbrechen als beispielhaften Fall eines Individuums, das seine Identität auskostet und seinen Willen durchsetzt. Der einflussreichste Theoretiker solch einer reductio ad absurdum der Idee von individueller Freiheit war indessen Michail Bakunin. »Der Revolutionär«, so beschrieb er 1869 hämisch diese Figur, »weiß, daß er in der Tiefe seines Wesens, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, alle Bande zerrissen hat, die ihn an die gesellschaftliche Ordnung und die zivilisierte Welt mit allen ihren Gesetzen, ihren moralischen Auffassungen und Gewohnheiten und mit allen ihren allgemein anerkannten Konventionen fesseln. Er ist ihr unversöhnlicher Feind, und wenn er weiterhin mit ihnen zusammenlebt, so nur deshalb, um sie schneller zu vernichten.« Auch in der Wirklichkeit revoltierten bunt zusammengewürfelte Gruppen von Anarchisten und Nihilisten gegen, wie Nikolai Berdjajew dies ausdrückte, »die Ungerechtigkeiten der Geschichte, gegen falsche Zivilisation«. Sie hofften, »die Geschichte gelangt an ihr Ende, und es beginnt ein neues Leben außerhalb und jenseits der Geschichte«.
Die Versuche, die Last der Geschichte – verstanden als unerträgliches Klischee oder als Weg in das stahlharte Gehäuse der Moderne – abzuwerfen und eine Revolution im menschlichen Bewusstsein herbeizuführen, nahmen im Fin de siècle diverse politische, spirituelle und ästhetische Formen an: vom Sozialismus über Nationalismus, anarchistischen Nihilismus und die Arts-and-Crafts-Bewegung bis hin zum italienischen Futurismus, zur Theosophie und zur symbolistischen Dichtung. Die liberale Demokratie wankte unter der Last einer Politik für die Massen, und der globale Kapitalismus erlebte seine erste Rezession. Nun traten Verführer der Massen auf, die deutlich machten, dass Hugo von Hofmannsthal recht hatte, als er schrieb: »Politik ist Magie. Wer die Mächte aufzurufen weiß, dem gehorchen sie.«
Diese militante Abkehr von einer Zivilisation, die auf einen allmählichen Fortschritt unter liberal-demokratischer Führung baut – einer Zivilisation, die als empörend falsch und schwächend empfunden wurde –, wütet heute weit über Europa hinaus. Sie ist geprägt von einem breiteren, tieferen und flüchtigeren Verlangen nach schöpferischer Zerstörung, während der heftige Gegenwind der Globalisierung viele Wahrzeichen von Politik und Gesellschaft hinwegfegt.
Rückblickend kristallisierten in D’Annunzios Fiume-Revolte zahlreiche Themen, die unsere eigene weltweite Unruhe ebenso kennzeichnen wie seine spirituell erregte Zeit: die zwiespältige Emanzipation des menschlichen Willens, die Herausforderungen und Gefahren der Individualität, die Sehnsucht nach einer erneuten Verzauberung, die Flucht vor der Langeweile, irrwitziges utopisches Denken, die Politik der direkten Aktion, die Selbsthingabe an Bewegungen mit strengen Regeln und charismatischen Führern und der Kult erlösender Gewalt.
Mit ihrer »Verachtung für die Frauen« formulierten er und seine futuristischen Bewunderer eine frauenfeindliche Herrschaftsphantasie, die rassische und kulturelle Chauvinisten heute schamlos verbreiten. In einer fröhlichen Ästhetisierung der Politik skizzierte dieser Vorläufer der heutigen Live-Stream-Aktivisten ein wahrscheinliches Endspiel für eine Welt, in der die Selbstentfremdung der Menschheit, wie Walter Benjamin schrieb, »jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt«.
Es ist eine ernüchternde Erkenntnis, dass zu der Zeit, als D’Annunzio seinen Ausblick auf die Wagner’sche Politik als großes Spektakel gab, nur etwa 20 Prozent der Menschheit in Ländern lebten, die auch nur den Anspruch erheben konnten, unabhängig zu sein. In Asien und Afrika boten traditionelle Religionen und Philosophien immer noch den meisten Menschen eine grundlegende und entscheidende Weltdeutung, mit der sie dem Leben Sinn zu verleihen, soziale Bande herzustellen und gemeinsame Überzeugungen zu begründen vermochten. Außerdem gab es noch eine starke Familienstruktur und vermittelnde berufliche und religiöse Institutionen, die das Gemeinwohl wie auch die individuelle Identität definierten. Diese überkommenen – feudalen, patriarchalischen, sozialen – Bande konnten sehr repressiv sein. Aber sie ermöglichten es den Menschen, in den Gesellschaften, in die sie hineingeboren wurden, zusammenzuleben, wenn auch höchst unvollkommen.
Anders ausgedrückt, 1919 waren nur relativ wenige Menschen von der liberalen Moderne enttäuscht, weil nur eine winzige Minderheit sie überhaupt erlebt hatte. Seither sind Milliarden weiterer Menschen den Versprechungen individueller Freiheit ausgesetzt worden, und zwar in einer globalen neoliberalen Ökonomie, die ständige Improvisationen und Anpassungen erfordert – welche wiederum im Moment ihrer Umsetzung bereits obsolet sind. Doch wie Tocqueville warnte: »Wer in Freiheit leben will, muss sich an ein Leben voller Ungewissheit, Veränderung und Gefahr gewöhnen.« Sonst werde aus grenzenloser Freiheit leicht eine Sehnsucht nach unbeschränkter Despotie:
»Bleibt weder im Religiösen noch im Politischen eine Autorität bestehen, so erschrecken die Menschen bald ob der unbegrenzten Unabhängigkeit. Die ständige Unrast aller Dinge beunruhigt und ermüdet sie. Da im Bereich des Geistes alles in Bewegung ist, wollen sie, daß zumindest in den materiellen Dingen jegliches gefestigt und dauerhaft sei, und da sie sich ihrem früheren Glauben nicht wieder zuwenden können, schaffen sie sich einen Herrn an.«
Diese spezielle Erfahrung individueller Freiheit innerhalb einer großen Leere ist heute endemisch in der Bevölkerung sowohl der »entwickelten« als auch der »in Entwicklung befindlichen« und der »unterentwickelten« Welt. Und so erleben denn viele »in Modernisierung begriffene« Gesellschaften politische und emotionale Konstellationen, die uns aus der Geschichte der »modernisierten« Welt bereits vertraut sind. In den Ländern mit dem schnellsten Wirtschaftswachstum schießen die Selbstmordraten und die Zahlen der an Depressionen Leidenden in die Höhe – um hier nur zwei der aufschlussreichsten Statistiken zu zitieren. Und dasselbe gilt für die Zahlen junger Selbstmordattentäter, die ihre eigene Form von podvig erproben.
Ein moralisches und spirituelles Vakuum wird wieder einmal gefüllt mit anarchistischen Formen, Individualität auszudrücken, und mit wahnwitzigen Suchen nach Ersatzreligionen und Transzendenz. Letzteres – meist irgendein Unsinn – zeigte sich einst sowohl in Wagners Mythisierung des Kaiserreichs nach der Vereinigung Deutschlands 1870/71 als auch in Dostojewskis millenaristischer Phantasie über Moskau als das »Dritte Rom«. Das Streben nach Solidarität und Freiheit findet heute seinen Ausdruck in verschiedenen Bemühungen: In Indien versucht man, den verlorenen Glanz des Hinduismus wiederherzustellen, im Nahen und Mittleren Osten wie auch in Nordafrika will man das Kalifat wiedererrichten.
Der Islamische Staat mag als die spektakulärste Negierung der geheiligten Überzeugungen einer liberalen Moderne erscheinen, die prosperierende Gesellschaften mit freien und gleichen Bürgern hervorzubringen verspricht. Doch er ist nur einer der vielen Nutznießer eines weltweiten Ausbruchs individueller und kollektiver Meutereien. Er dürfte nicht von großer Dauer sein. Nachahmer freilich finden sich von San Bernardino in Kalifornien bis nach Dhaka in Bangladesch. Dies sollte uns wie auch der Erfolg rassistischer Nationalisten und kultureller Überlegenheitsfanatiker in aller Welt veranlassen, unsere Grundvorstellungen von Ordnung und Kontinuität zu überdenken – insbesondere den Glauben, die bislang von einer glücklichen Minderheit gewonnenen humanen Errungenschaften ließen sich auch von der ständig wachsenden Mehrheit erreichen, die sie ebenfalls begehrt.
Die beiden Wege, auf denen die Menschheit sich selbst vernichten könnte – ein Bürgerkrieg globalen Ausmaßes oder die Zerstörung der natürlichen Umwelt –, nähern sich rapide an. Heute manifestiert die globale Erwärmung sich nicht nur in einem Anstieg des Meeresspiegels, einer Zunahme extremer Wetterereignisse, einem gewaltigen Rückgang der Fischbestände in Flüssen und Seen oder in der Desertifikation ganzer Regionen der Erde. Sie zeigt sich ebenso in gewalttätigen Konflikten in Ägypten, Libyen, Mali und Syrien wie auch in vielen anderen Gebieten mit steigenden Nahrungsmittelpreisen, langen Dürreperioden und zurückgehenden Wasserressourcen. Die Flucht und Auswanderung zahlreicher Menschen aus solcherart geschädigten Regionen, die in Asien und Afrika bereits zu Kriegen geführt hat, sorgt nun im Herzen Europas für politischen Aufruhr.
Wir müssen uns fragen, ob die Millionen junger Menschen, die überall auf der Erde ihr Erbe antreten – wozu selbst für die reichsten von ihnen auch die globale Erwärmung gehört –, das Freiheits- und Wohlstandsversprechen der Moderne verwirklichen können. Gelten die triumphalen Axiome der individuellen Autonomie und des Eigennutzes, die einst von einer privilegierten Minderheit formuliert, gebilligt und gefördert wurden, auch für die Mehrheit in einer übervölkerten und interdependenten Welt? Oder sind die jungen Leute von heute dazu verdammt, wie viele Europäer und Russen in der Vergangenheit zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Rachephantasien hin und her zu schwanken?
Dieses Buch bietet keine Geistesgeschichte und allein schon wegen seiner Kürze auch keine durchgängige Darstellung des Ursprungs und der Ausbreitung von Ideen und Ideologien, in der die vielen kulturellen und politischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte zusammengefasst sind. Vielmehr untersucht es ein gewisses Klima und gewisse Muster des Fühlens und Denkens vom Zeitalter Rousseaus bis in unser Zeitalter des Zorns.
Es soll in der ganzen Welt historisch wiederkehrende Phänomene und deren gemeinsamen Ursprung aufzeigen, der eines der außergewöhnlichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte ist: die Entstehung einer kommerziell-industriellen Zivilisation im Westen und deren Replikation in anderen Regionen. Es versucht zu zeigen, wie eine Ethik der individuellen und kollektiven Selbstermächtigung sich in der ganzen Welt ausbreitete, durch grimmige Nachahmung ebenso wie durch Zwang, und dabei ernsthafte Verwerfungen, soziale Störungen und politischen Aufruhr auslöste.
So möchte ich hier denn nicht (ein weiteres Mal) Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags oder dessen gewaltiges politisches Erbe darlegen, sondern eher über die Entfremdung dieses kratzbürstigen Genfers von den kosmopolitischen Salons der Aufklärungsphilosophen nachdenken – über die tiefe Isolation von der Welt des Reichtums, der Privilegien, der Konkurrenz und der Eitelkeit, die Rousseaus oft widersprüchliche Ideen und Lösungen prägte. Auch diskutiere ich weniger die Ideen der deutschen Romantiker als deren intellektuell, kulturell und politisch folgenreiches Ressentiment gegen Frankreich. Und ich interessiere mich dafür, wie ein gebildeter junger Russe, der zwischen der artifiziellen Welt des frankophonen Sankt Petersburg und den verachteten Massen im vormodernen Russland hin und her wechselte, das emotionale und ideologische Spektrum aufzeigte, in dem sich heute auch viele junge Asiaten und Afrikaner bewegen.
Dieser entwurzelte junge Mensch, der dennoch im Leben vieles zu erreichen verspricht, lässt sich in allen in Modernisierung begriffenen Ländern finden und steht für die ungebildete Mehrheit ein, für die gebildete Minderheit oder für sich selbst – ein Selbst, das sich als schmerzlich gespalten erweist. In jedem Fall artikuliert er das tiefe Gefühl, nicht zu genügen, und entwickelt einen ehrgeizigen Plan, um dies zu überwinden. Doch solch ein improvisiertes Programm, das aus Glauben und Handeln besteht, lässt sich kaum in die üblichen Einteilungen von Ideen und Bewegungen (Faschismus, Imperialismus, Liberalismus, Bolschewismus, Islamismus, Zionismus, Hindu-Nationalismus) einordnen, und ebenso wenig in die weiter gefassten Kategorien »links« und »rechts«, »liberal« und »konservativ«, mit denen wir gemeinhin die Geschichte und die aktuelle Politik zu verstehen versuchen.
Ein genauerer Blick auf Glaubensüberzeugungen, Denkweisen und Anschauungen kann vor ideologischen und oftmals moralisierenden Einordnungen bewahren. Denn er enthüllt, dass es bezüglich der Ziele und Hoffnungen, der Verbitterung und der Furcht einige Gemeinsamkeiten zwischen Links und Rechts, Westen und Osten und scheinbar widerstreitenden »Ismen« gibt. Maxim Gorki, der Bolschewik, Muhammad Iqbal, der Dichter und Fürsprecher eines »reinen« Islam, Martin Buber, der Exponent des »neuen Juden«, und Lu Xun, der Verfechter eines »Neuen Lebens« in China, wie auch D’Annunzio waren sämtlich Anhänger Nietzsches. Asiatische Antiimperialisten und amerikanische Raubkapitalisten nahmen gleichermaßen eifrig Anleihen bei Herbert Spencer, dem Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts und ersten wahrhaft globalen Denker – der nach der Lektüre Darwins den Ausdruck survival of the fittest prägte. Hitler verehrte Atatürk, Lenin und Gramsci schätzten den Taylorismus und den »Amerikanismus«, und Anhänger des New Deal adaptierten später Mussolinis »Korporatismus«.
Junge Muslime in Kairo und Alexandria feierten 1909 die Anschläge von Hindu-Aktivisten auf britische Beamte, was Gandhi so befremdlich fand, dass er eine Schrift gegen die der modernen industriellen Zivilisation innewohnende Gewalt verfasste. Herzl schrieb 1895 sein bahnbrechendes Manifest des Zionismus, Der Judenstaat, unter dem Einfluss Wagners, der zu den schlimmsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts gehörte. Und drei Jahre später mahnte der Vater des modernen islamischen Fundamentalismus Rashid Rida seine muslimischen Glaubensbrüder, von der wiedererstandenen jüdischen umma zu lernen, während er die Dreyfus-Gegner in Frankreich brandmarkte.
Ein angstvoller Kampf ums Dasein, eine tiefe Furcht vor »Dekadenz« und Verweichlichung und eine messianische Sehnsucht nach einer strengen Ethik, einem Neuen Menschen und einer Neuen Ordnung wurden im späten 19. Jahrhundert zu weltweiten Phänomenen. Sie befeuerten Ideologien, die miteinander unvereinbar oder sogar gegensätzlich zueinander erschienen und dennoch in wechselseitiger Symbiose wuchsen: Zionismus, islamischer Fundamentalismus, Hindu-Nationalismus, buddhistischer Ethnozentrismus wie auch Neuer Imperialismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus.
Gewiss, es war kein spezieller »Ismus« und keine kohärente Doktrin, die im späten 19. Jahrhundert zunächst die Deutschen und dann Russen, Italiener, Japaner, Inder, Chinesen, Türken, Juden, Araber und viele andere aufstrebende ummas veranlassten, einen »Sonderweg« in die Moderne einzuschlagen. Vielmehr steckte hinter ihren parallelen und einander kreuzenden Wegen ein Missverhältnis zwischen der Energie und dem Idealismus gebildeter junger Leute (fast ausnahmslos männlichen Geschlechts) auf der einen und politischer Schwäche sowie Politikversagen auf der anderen Seite. Deshalb schenke ich hier den Ideologen und Demagogen des 20. Jahrhunderts samt ihren Exzessen, über die schon so viel geschrieben worden ist, weniger Aufmerksamkeit und konzentriere mich stattdessen auf vergleichsweise vernachlässigte deutsche, russische und italienische Denker des 18. und 19. Jahrhunderts. Denn deren eklektische Ideen flößten anderen frustrierten Spätankömmlingen in der Moderne ein messianisches Gefühl der Schicksalhaftigkeit ein, das Träume von kollektiver Einheit mit einer intensiven Verteidigung des Individualismus vermischte.
Dieses Buch nimmt manches einfach als gegeben – geschäftig vorangetriebene Nationenbildung (nation-building), die uneinheitliche Transformation von regionalen und landwirtschaftlichen zu industriellen und globalen Ökonomien sowie den Aufstieg der Massenpolitik und der Massenmedien. Denn es beschreibt in erster Linie ein Muster mentalen und emotionalen Verhaltens zu jener Zeit, als die Landschaft der Moderne sich vom atlantischen Westen über die Mitte Europas bis nach Russland und darüber hinaus ausdehnte. Es erklärt, wie das drohende Ende der alten Ordnung – mit all ihren ökonomischen, sozialen, religiösen, politischen, ethnischen und geschlechtsspezifischen Traditionen – und das Versprechen der neuen Ordnung oft nahezu zeitgleich globale Strukturen des Fühlens und Denkens hervorbrachte. Und es sieht im Ressentiment das Definitionsmerkmal einer Welt, in der das mimetische Begehren, der Wunsch, andere nachzuahmen und sich anzupassen, von Herzl durchaus zustimmend »Darwinsche Mimikry« genannt, sich grenzenlos ausbreitet und in der das moderne Gleichheitsversprechen mit massiven Unterschieden hinsichtlich Macht, Bildung, Status und Privatbesitz kollidiert.
Eine unkonventionelle Verschmelzung der Genres und die Überschreitung der Grenzen zwischen den Fachgebieten kennzeichnet also dieses Buch. Und ich hoffe, dass dies so weit gerechtfertigt ist, wie es die außergewöhnlichen weltweiten Umbrüche zu klären vermag, die mich veranlasst haben, es zu schreiben. An dieser Stelle sollte ich wohl das üblicherweise geforderte Bekenntnis zur Bemühung um Objektivität übergehen und stattdessen meine Vorurteile und Einflüsse benennen – soweit sie mir selbst bewusst sind. Ich bin in einer halb ländlichen Region Indiens aufgewachsen, mit Eltern, deren eigenes Empfinden entscheidend von ihrer Erziehung in einer vormodernen Welt der Mythen, der Religion und überkommener Bräuche geprägt war. Aus meiner eigenen Kenntnis dieser Lebenswelt kann ich die Brüche im Erleben und in der historischen Kontinuität, den emotionalen und psychologischen Orientierungsverlust und die für Nerven und Empfinden aufreibenden Erfahrungen bezeugen, die den Übergang in die Moderne für die meisten Menschen so mühsam gestalten. Ich weiß auch, dass ihre Identitäten, obgleich sich darin spezifische soziale Bedingungen und das kulturelle Erbe deutlich widerspiegeln, oft darüber hinausreichen und alles andere als widerspruchsfrei sind.
Obwohl meine früheste Lektüre der klassischen Literatur und Philosophie Indiens galt und ich niemals aufgehört habe, die subtile buddhistische Analyse menschlicher Erfahrung zu bewundern, ist meine intellektuelle Bildung doch weitgehend europäisch und amerikanisch geprägt. Ich empfinde rückhaltlose Hochachtung vor einer Gestalt wie Montaigne, der die Vielfalt menschlicher Kulturen und die scharfe Selbstabgrenzung des einzelnen Ichs erkannte und Demut, Zurückhaltung und Mitgefühl empfahl angesichts der schwer zu bewältigenden Tatsachen der menschlichen Existenz. Doch am stärksten fühle ich mich zu deutschen, italienischen, osteuropäischen und russischen Schriftstellern und Denkern hingezogen.
Das hat viel damit zu tun, dass ich in einem Land aufgewachsen bin, das wie einst Deutschland, Russland und weite Teile der gegenwärtigen Welt erst spät in die Moderne eintrat und dessen Nationalisten, denen lange vorgeworfen wurde, Nachzügler und Schwächlinge zu sein, heute danach streben, ein stolzes Neues Hindutum zu erschaffen. Mir scheint, es kann kein Zufall sein, dass die scharfsinnigsten Beobachter der Moderne Deutsche waren, die – aufgerüttelt von den mühsamen Versuchen ihres Landes, mit Frankreich und Großbritannien gleichzuziehen – dem modernen Denken seine herrschenden Idiome und Themen gaben.
Johann Gottlieb Fichte nahm Sozialisten und Autarkisten in aller Welt vorweg, als er schon um 1800 auf einer geplanten und sich selbst genügenden Ökonomie bestand; und in der Folge stellte er Überlegungen zu einem ausschließenden »Wir-gegen-sie«-Nationalismus an. Marx formulierte sein ehrgeiziges metaphysisches System und sein Revolutionsprogramm erstmals, als er versuchte, die »Scham« zu überwinden, die er angesichts der »mittelalterlichen« Rückständigkeit Deutschlands empfand. Nietzsche nutzte seine Abneigung gegen die deutsche Selbsterhöhung in Politik und Kultur, um sein Verständnis des Ressentiments zu entwickeln. Max Weber, ein Nationalist, der das Vorrücken einer unpersönlichen Bürokratie in seinem auf Modernisierung drängenden Land beobachtete, gelangte zu seiner verzweifelten Diagnose der modernen Welt als »stahlhartes Gehäuse«, aus dem nur ein charismatischer Führer herauszuführen vermag.
Deutschsprachige Spätankömmlinge, die für ihre gerade erst entstehende Nation eine brauchbare Vergangenheit zu erschaffen versuchten und ihrem Verständnis der Moderne als einer allumfassenden Krise Ausdruck verliehen, erfanden nicht nur die modernen akademischen Berufe des Historikers und des Soziologen. Deutsche Schriftsteller – von Hölderlin bis Arendt – schufen auch die Vorlage für eine Erforschung der spirituellen und psychologischen Faktoren in der Geschichte. Ihre Erkenntnisse, die in Zeiten erschütternder historischer und emotionaler Krisen gewonnen wurden, waren weit entfernt von den stoisch empirischen Traditionen des angloamerikanischen Raums oder der kühlen Objektivität der politisch und ökonomisch »saturierten« Nationen, wie Weber sie nannte.