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Die kritische Analyse von einem der großen international anerkannten Intellektuellen Bestsellerautor Pankaj Mishra liefert in seinem neuen Buch eine kritische, postkoloniale Analyse des Krieges in Nahost. Er beleuchtet die historischen Hintergründe und geopolitischen Folgen sowie die gespaltenen weltweiten Reaktionen und verdeutlicht, warum eine andere, multiperspektivische Erzählung des aktuellen Konflikts essenziell für das Verständnis unserer Zeit ist. In einer Epoche, in der die westliche Dominanz bröckelt und sich globale Machtverhältnisse neu ordnen, lädt Pankaj Mishra dazu ein, mit Blick auf die Zukunft weltweite Ungleichheiten anders zu betrachten und die Perspektive des globalen Südens einzubeziehen. Ein hochaktueller, kluger sowie kontroverser Beitrag zu einer der wichtigsten Debatten der Gegenwart.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2025
Pankaj Mishra
Bestsellerautor Pankaj Mishra liefert in seinem neuen Buch eine kritische, postkoloniale Analyse des Krieges in Nahost. Er beleuchtet die historischen Hintergründe und geopolitischen Folgen sowie die gespaltenen weltweiten Reaktionen und verdeutlicht, warum eine andere, multiperspektivische Erzählung des aktuellen Konflikts essenziell für das Verständnis unserer Zeit ist.
In einer Epoche, in der die westliche Dominanz bröckelt und sich globale Machtverhältnisse neu ordnen, lädt Pankaj Mishra dazu ein, mit Blick auf die Zukunft weltweite Ungleichheiten anders zu betrachten und die Perspektive des globalen Südens einzubeziehen. Ein hochaktueller, kluger sowie kontroverser Beitrag zu einer der wichtigsten Debatten der Gegenwart.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, schreibt seit vielen Jahren regelmäßig für die »New York Review of Books«, den »New Yorker« und den »Guardian« über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er gehört zu den großen Intellektuellen des modernen Asien und hat zahlreiche Essays in »Lettre International« und »Cicero« veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman »Goldschakal« und der Essayband »Lockruf des Westens. Modernes Indien« erschienen. Pankaj Mishra war u. a. Gastprofessor am Wellesley College und am University College London. Für sein Buch »Aus den Ruinen des Empires«, das 2013 bei S. Fischer erschien, erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei S. Fischer sind von ihm außerdem »Begegnungen mit China und seinen Nachbarn«, »Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart« und »Freundliche Fanatiker« erschienen. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rande des Himalaya.
[Widmung]
[Motto]
Prolog
Erster Teil Die Nachleben der Shoah
Israel und die »unheilbare Versündigung«
Zweiter Teil Erinnerung an die Erinnerung an die Shoah
Deutschland: vom Antisemitismus zum Philosemitismus
Die Amerikanisierung des Holocaust
Dritter Teil Jenseits der Farbenlinie
Die widerstreitenden Narrative der Shoah, der Sklaverei und des Kolonialismus
Vereinnahmung von Gräueln und Identitätspolitik
Epilog Hoffnung in finsteren Zeiten
Zur Literatur
Register
Für PalFest und JVP, zwei Leuchttürme
Auch wir [sind] von der Macht und vom Prestige so sehr geblendet, daß wir darüber unsere innerste Zerbrechlichkeit vergessen: Mit der Macht arrangieren wir uns, ob gerne oder nicht, wobei wir vergessen, daß wir alle im Ghetto eingeschlossen sind, daß das Ghetto umzäunt ist, daß außerhalb der Umzäunung die Herren des Todes stehen und ein wenig weiter der Zug auf uns wartet.
Primo Levi
Wenn die Solidarität der Menschheit sich auf etwas Zuverlässigeres stützen soll als auf die berechtigte Furcht vor des Menschen dämonischen Möglichkeiten, wenn die neue universale Nachbarschaft aller Länder ein Ergebnis haben soll, das mehr verspricht als einen gewaltigen Zuwachs an gegenseitigem Haß und ein gewissermaßen universales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-fallen, dann muß in gigantischem Ausmaß ein Prozeß gegenseitigen Verstehens und fortschreitender Selbsterklärung einsetzen.
Hannah Arendt
Denken Sie an das Unmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären?
Sigmund Freud
Am 19. April 1943 griffen ein paar Hundert junge Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto nach jeder Waffe, die sie finden konnten, und schlugen zurück gegen ihre Nazi-Verfolger. Die Kämpferinnen und Kämpfer versuchten, wie Marek Edelman, einer ihrer Anführer sich später erinnerte, ihre Würde zu retten: »Es ging darum, uns nicht abschlachten zu lassen, wenn wir an der Reihe waren. Eine Wahlmöglichkeit bestand allenfalls hinsichtlich der Art zu sterben.«
Nach einigen verzweifelten Wochen wurden die Widerstandskämpfenden überwältigt. Die meisten von ihnen starben. Einige derer, die am letzten Tag des Aufstands noch lebten, begingen in ihrem Befehlsbunker Selbstmord, während die Nazis Gas hineinpumpten. Nur einigen wenigen gelang eine Flucht durch die Kanalisation. Dann brannten deutsche Soldaten das Ghetto Block für Block nieder, wobei sie Flammenwerfer einsetzten, um die Überlebenden »auszuräuchern«.
Der polnische Dichter Czesław Miłosz erinnerte sich später, dass er »an einem wunderbar ruhigen Abend in ländlicher Umgebung am Stadtrand von Warschau« aus dem Ghetto Schreie gehört habe.
Diese Schreie bereiteten uns eine Gänsehaut. Es waren die Schreie Tausender Menschen, die ermordet wurden. Ich fuhr durch die stillen Räume der Stadt, ein roter Feuerschein unter gleichgültigen Sternen, hinaus in die wohltuende Stille von Gärten, in denen Pflanzen eifrig Sauerstoff ausstießen, die Luft duftete und ein Mensch spürte, dass es gut war, am Leben zu sein. Es lag etwas besonders Grausames in diesem friedvollen Abend, dessen Schönheit zugleich mit menschlichem Verbrechen das Herz berührte. Wir sahen einander nicht in die Augen.
In einem Gedicht, das Miłosz im besetzten Warschau schrieb, »Il Campo dei Fiori«, evoziert er das Kettenkarussell ganz in der Nähe der Ghettomauer, auf dem Jahrmarktsbesuchende hinauf in den Himmel fliegen, durch den Rauch brennender Leichen hindurch, während fröhliche Musik die Todesschreie und die Verzweiflung überdeckt. Als er später im kalifornischen Berkeley lebte, während das US-Militär Hunderttausende von Vietnamesen und Vietnamesinnen bombardierte und tötete, eine Gräueltat, die er mit den Verbrechen Hitlers und Stalins verglich, empfand er erneut eine beschämende Komplizenschaft mit extremer Barbarei – »Wenn wir zum Mitgefühl fähig und zugleich machtlos sind, leben wir in einer verzweifelten Gereiztheit.«
Es ist der von den westlichen Demokratien geförderten Vernichtung Gazas durch Israel zu verdanken, dass diese körperlichen Qualen über Monate hinweg Millionen von Menschen zugefügt wurden – unfreiwillige Zeuginnen und Zeugen eines Akts politisch Bösen, die es sich erlaubt hatten, gelegentlich der Ansicht zu sein, dass es gut sei, am Leben zu sein, und die dann die Schreie einer Mutter hörten, die zusehen musste, wie ihre Tochter in einer weiteren von Israel bombardierten Schule verbrannte.
Die Shoah hinterließ ihre Narben bei mehreren jüdischen Generationen. Jüdische Israelis erlebten 1948 die Geburt ihres Nationalstaats als eine Frage von Leben und Tod, und das Gleiche geschah nochmals 1967 und 1973 inmitten einer Vernichtungsrhetorik seitens ihrer arabischen Feinde. Vielen Jüdinnen und Juden, die mit dem Wissen aufgewachsen sind, dass die jüdische Bevölkerung Europas nahezu vollständig ausgelöscht wurde, und zwar nur deshalb, weil sie Juden waren, kann die Welt nur zerbrechlich erscheinen. Bei ihnen entfachten die am 7. Oktober 2023 von der Hamas und anderen palästinensischen Gruppen in Israel begangenen Massaker und Geiselnahmen erneut die Angst vor einem weiteren Holocaust.
Von Anfang an war jedoch klar, dass die fanatischste israelische Führung der Geschichte nicht davor zurückscheuen würde, einen allgegenwärtigen Eindruck der Verletzung, des Verlusts und des Schreckens für sich auszunutzen. Die israelische Führung beanspruchte das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber der Hamas, doch Omer Bartov, ein wichtiger Historiker des Holocaust, erkannte im August 2024, dass sie von Anfang an die Absicht hatte, »den ganzen Gazastreifen unbewohnbar zu machen und dessen Bevölkerung derart zu entkräften, dass sie entweder ausstarb oder mit allen Mitteln versuchte, aus dem Gebiet zu fliehen«. So wurden denn Milliarden von Menschen in den Monaten nach dem 7. Oktober Zeuginnen und Zeugen eines außergewöhnlichen Angriffs auf Gaza, dessen Opfer, wie Blinne Ní Ghrálaigh, eine irische Anwältin und Vertreterin Südafrikas beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, es ausdrückte, »ihre eigene Vernichtung über die Medien in Echtzeit übertrugen, in der bislang vergeblichen Hoffnung, die Welt werde etwas tun«.
Die Welt oder genauer: der Westen, tat nichts. Hinter den Mauern des Warschauer Ghettos hatte Marek Edelman »fürchterliche Angst […], dass niemand in der Welt Notiz davon nahm« und »nichts, keine Nachricht über uns, jemals hinausdrang«. In Gaza war das nicht der Fall. Dort sagten Opfer über die sozialen Medien ihren Tod Stunden vor ihrer Hinrichtung voraus und ihre Mörder verbreiteten die Bilder ihrer Taten fröhlich auf TikTok. Doch die Liquidierung Gazas wurde mit Hilfe der Instrumente der militärischen und kulturellen Hegemonie des Westens Tag für Tag vernebelt oder sogar geleugnet – von den Führenden der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, die den Internationalen Strafgerichtshof und den Internationalen Gerichtshof angriffen, bis hin zu den Herausgebern der New York Times, die ihre Redaktion in einem internen Memo anwiesen, die Ausdrücke »Flüchtlingslager«, »besetzte Gebiete« und »ethnische Säuberung« zu vermeiden.
Jeder Tag wurde vergiftet von dem Wissen, dass Hunderte ganz gewöhnlicher Menschen ermordet wurden oder die Ermordung ihrer Kinder mitansehen mussten, während wir weiterhin unser Leben führten. Flehentliche Bitten von Leuten in Gaza, oft von bekannten Schriftstellern und Journalisten, die warnten, dass ihnen oder ihren Angehörigen der Tod drohte, gefolgt von der Nachricht über ihren Tod, verbanden sich zu einem demütigenden Gefühl physischer und politischer Ohnmacht. Wer sich aufgrund der Schuld hilfloser Verstrickung getrieben fühlte, in Joe Bidens Gesicht nach irgendeinem Zeichen von Erbarmen, irgendeinem Anzeichen für eine Beendigung des Blutvergießens suchte, fand dort nur eine gespenstisch glatte Härte, gebrochen allenfalls von einem nervösen Grinsen, wenn er die israelische Lüge nachplapperte, Palästinenser hätten israelische Säuglinge geköpft. Berechtigte Hoffnungen aufgrund der einen oder anderen Resolution der Vereinten Nationen, verzweifelter Appelle von Hilfsorganisationen, der Kritik von Richtern und Gutachtern in Den Haag und Bidens in letzter Minute erklärtem Verzicht auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur wurden brutal zunichtegemacht.
Ende 2024 hatten viele Menschen, die weit entfernt von den Schlachtfeldern Gazas lebten, zumindest entfernt das Gefühl, sie wären durch eine epische Landschaft des Elends und des Scheiterns, der Angst und der Erschöpfung gezogen worden. Das mag bloßen Zuschauerinnen und Zuschauern wie ein übertriebener emotionaler Zoll erscheinen. Doch der Schock und die Empörung, die Picasso hervorrief, als er sein Gemälde Guernica mit all seinen schreienden Personen und Pferden angesichts der Bombardierung aus der Luft vorstellte, werden heute von einer Momentaufnahme aus Gaza ausgelöst, auf der ein Mann zu sehen ist, der die kopflose Leiche seines Kindes hält.
Der Krieg wird eines Tages Teil der Vergangenheit sein, und die Zeit wird möglichweise dessen haushohen Berg an Schrecken etwas einebnen. Doch Zeichen der Katastrophe werden für Jahrzehnte in Gaza erhalten bleiben: in den verstümmelten Körpern, den zu Waisen gemachten Kindern, dem Schutt der Städte, den heimatlos gewordenen Menschen und in der tiefgreifenden Präsenz und dem allgegenwärtigen Bewusstsein massenhaften Verlusts. Und wer dem Töten und Verstümmeln Zehntausender in einem kleinen Küstenstreifen hilflos aus der Ferne zuschaute und auch den Beifall oder die Gleichgültigkeit der Mächtigen sah, wird mit einer inneren Wunde und einem Trauma weiterleben, die viele Jahre nicht heilen und vergehen werden.
Der Streit über die Frage, wie man die von Israel ausgeübte Gewalt bezeichnen soll – als legitime Selbstverteidigung, als gerechten Krieg in schwieriger städtischer Umgebung, als ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit –, wird niemals beigelegt werden. In der Konstellation moralischer und rechtlicher Verstöße Israels lassen sich jedoch einfach Anzeichen für eine überaus schwere Gräueltat erkennen: etwa die von führenden israelischen Politikern offen und routinemäßig geäußerte Entschlossenheit, Gaza auszuradieren; deren implizite Billigung durch eine öffentliche Meinung, die sich über eine unzureichende Vergeltung durch die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) in Gaza beklagt; ihre Gleichsetzung der Opfer mit dem unversöhnlich Bösen; die Tatsache, dass die meisten Opfer vollkommen unschuldig waren, in ihrer Mehrzahl Frauen und Kinder; das Ausmaß der Verwüstung, um ein Vielfaches größer als die durch die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg angerichtete; die rasante Geschwindigkeit des Tötens, das in ganz Gaza Massengräber füllte, und die Vorgehensweise dabei: finster unpersönlich (auf KI-Algorithmen gestützt) und sehr persönlich (Scharfschützen schießen Kinder in den Kopf, oft zweimal); die Verweigerung des Zugangs zu Lebensmitteln und Medikamenten; die heißen, in den Anus nackter Gefangener eingeführten Metallstäbe; die Zerstörung von Schulen, Universitäten, Museen, Kirchen, Moscheen und sogar Friedhöfen; die kindische Verkörperung des Bösen durch IDF-Soldaten, die in der Unterwäsche getöteter oder fliehender palästinensischer Frauen gekleidet einen Tanz aufführten; die Beliebtheit eines solchen TikTok-Infotainments in Israel; und die gezielte Exekution von Journalisten in Gaza, die die Vernichtung ihres Volkes dokumentieren.
Natürlich steht die Herzlosigkeit, von der ein Gemetzel industriellen Ausmaßes begleitet wird, geschichtlich nicht ohne Beispiel da. Seit Jahrzehnten setzt die Shoah den Maßstab für das menschliche Böse. Das Ausmaß, in dem die Menschen anerkennen und versprechen, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um den Antisemitismus zu bekämpfen, dient dem Westen als Messlatte für seine Zivilisation. Doch das Gewissen vieler Menschen wurde in den Jahren der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden pervertiert oder betäubt. Große Teile des nichtjüdischen Europas beteiligten sich oft eifrig am Angriff der Nazis auf die Juden, und Nachrichten über diesen Massenmord wurden im Westen, vor allem in den Vereinigten Staaten, mit Skepsis und Gleichgültigkeit aufgenommen. Berichte über Gräueltaten gegen Jüdinnen und Juden, so verzeichnete George Orwell noch im Februar 1944, »prallen vom Gewissen ab wie Erbsen von einem Stahlhelm«. Noch Jahre nach der Enthüllung der Naziverbrechen weigerten sich westliche Anführende, größere Zahlen jüdischer Geflüchtete in ihr Land zu lassen. Später dann wurde das Leid der Jüdinnen und Juden ignoriert und unterdrückt. Unterdessen erlangte Westdeutschland, wenngleich weit von einer Entnazifizierung entfernt, eine billige Absolution seitens der Westmächte und wurde für den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion in den Dienst genommen.
Diese Ereignisse, an die viele sich noch persönlich erinnern können, unterminierten die Grundannahme der religiösen Traditionen wie auch der säkularen Aufklärung, dass der Mensch ein zutiefst »moralisches« Wesen sei. Der zersetzende Verdacht, dass diese Annahme nicht stimmt, ist heute weit verbreitet. Viele sind Zeuginnen und Zeugen von Tod und Verstümmelung durch Regime geworden, die von Gefühllosigkeit, Einschüchterung und Zensur geprägt sind. Schockiert erkennen sie, dass alles möglich ist, die Erinnerung an vergangene Gräueltaten keine Garantie gegen deren Wiederholung in der Gegenwart darstellt und die Grundlagen des Völkerrechts und der Moral keineswegs als gesichert gelten können.
In den letzten Jahrzehnten ist viel passiert: Naturkatastrophen, Finanzkrisen, politische Erdbeben, eine weltweite Pandemie, Eroberungskriege und Rachefeldzüge. Doch keine dieser Katastrophen reicht an Gaza heran – nichts beschert uns ein derart unerträgliches Maß an Trauer, Ratlosigkeit und schlechtem Gewissen. Nichts beweist uns derart beschämend unseren Gefühlsmangel, unsere Engstirnigkeit und die Schwäche unseres Denkens. Im Westen wurde eine ganze Generation junger Menschen durch die Worte und Taten (oder die Tatenlosigkeit) der Älteren in Politik und Journalismus ins moralische Erwachsenenalter getrieben und ist gezwungen, fast allein auf sich selbst gestellt mit Gräueltaten umzugehen, die von den reichsten und mächtigsten Demokratien der Welt unterstützt werden.
Bidens hartnäckige Bosheit und Grausamkeit gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern war nur eines der zahlreichen grauenvollen Rätsel, die westliche Politikerinnen und Politiker sowie Journalistinnen und Journalisten aufgaben. Es wäre für westliche Anführende leicht gewesen, ihre bedingungslose Unterstützung für ein extremistisches Regime in Israel zurückzuhalten und zugleich die Notwendigkeit anzuerkennen, die für die Kriegsverbrechen vom 7. Oktober Verantwortlichen zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen. Warum behauptete Biden dann wiederholt, Videoaufnahmen von Gräueltaten gesehen zu haben, obwohl es diese Aufnahmen gar nicht gibt? Warum behauptete Keir Starmer, ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt, Israel habe das Recht, den Palästinenserinnen und Palästinensern »Strom und Wasser vorzuenthalten«, und warum bestrafte er all jene in der Labour Party, die nach einem Waffenstillstand riefen? Warum verteidigte Jürgen Habermas, der eloquente Vorkämpfer der westlichen Aufklärung, Personen, die sich zu ethnischen Säuberungen bekennen? Was veranlasste den Atlantic, eine der ältesten Zeitschriften in den Vereinigten Staaten, nach der Ermordung von nahezu 8000 Kindern in Gaza zu behaupten, es sei »möglich, Kinder legal zu töten«? Wie lässt sich erklären, dass die westlichen Mainstream-Medien ins Passiv wechselten, wenn sie über israelische Gräueltaten berichteten, wodurch es schwerer wurde, zu sehen, wer hier wem unter welchen Umständen etwas antut? (»Der einsame Tod eines Mannes mit Down-Syndrom in Gaza« lautete die Überschrift eines BBC-Berichts über israelische Soldaten, die einen Kampfhund auf einen behinderten Palästinenser hetzten.) Warum starteten amerikanische Milliardäre Schmutzkampagnen gegen Demonstranten an Universitäten und halfen, mit brutalen Maßnahmen gegen sie vorzugehen? Warum wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Journalistinnen und Journalisten entlassen, Künstlerinnen und Künstler und Denkerinnen und Denker ihrer Plattformen beraubt und junge Menschen an der Aufnahme von Jobs gehindert, weil sie einen proisraelischen Konsens in Frage zu stellen schienen? Warum schloss der Westen, der doch die Ukrainerinnen und Ukrainer gegen einen bösartigen Angriff verteidigte und ihnen Schutz gewährte, die Palästinenserinnen und Palästinenser derart entschieden von der Gemeinschaft menschlicher Pflicht und Verantwortung aus?
Für viele Menschen in der ganzen Welt sind die Antworten auf diese Fragen unausweichlich von einer seit Langem schwelenden Verbitterung über den Rassismus geprägt. Palästina sei eine »Frage der Hautfarbe«, schrieb Orwell 1945. Und so sah es ganz unvermeidlich auch Gandhi, der zwar Sympathie für die Forderung nach einem jüdischen Heimatland empfand, aber zionistische Führer eindringlich bat, nicht zum Mittel des Terrorismus gegen Araberinnen und Araber zu greifen. Fast alle postkolonialen Staaten weigerten sich, den Staat Israel anzuerkennen. Indien, China und Indonesien gehörten zu den Ländern, die 1975 in der Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedeten, die den Zionismus zu einer »Form von Rassismus und Rassendiskriminierung« erklärte. Ungelöste Probleme der Ungleichheit zwischen den »Rassen« lasteten auf Nelson Mandela, als er sagte, die Befreiung Südafrikas von der Apartheid sei »ohne Freiheit für die Palästinenser unvollständig«. Die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die große und stark im Mainstream verankerte amerikanische Bürgerrechtsorganisation, ließ sich von solchen Erwägungen zu einer ihrer seltenen Interventionen in die US-Außenpolitik bewegen. Gemeinsam mit den Köpfen größerer afroamerikanischer Kirchen bat sie Biden, die Militärhilfe für Israel einzustellen.
Seit Jahrzehnten zeigt sich die rassenbedingte Spaltung hinsichtlich Palästina am deutlichsten in den Beziehungen zwischen der schwarzen und der jüdischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Bei den Vorwahlen zu den Wahlen für den US-Kongress 2024 gaben Interessengruppen, die dem American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) angegliedert waren, mehr als 25 Millionen US-Dollar aus, um die Wiederwahl der demokratischen Kongressabgeordneten Jamaal Bowman und Cori Bush zu verhindern. Das Hauptvergehen dieser afroamerikanischen Progressiven bestand in den Augen ihrer Gegner darin, dass sie entweiht hätten, was James Baldwin einst als »pietätvolles Schweigen« zum Verhalten Israels bezeichnet hatte. Baldwin selbst hatte die Kühnheit besessen, zu behaupten, dass Israel, das Waffen an das Apartheidregime in Südafrika verkaufte, nicht für Demokratie, sondern für weiße Überlegenheit stehe. 1967 erklärte er, das Leid des jüdischen Volkes werde »als Teil der moralischen Geschichte der Welt anerkannt«, doch »für die Schwarzen gilt das nicht«. »Die Geschichte der Schwarzen wird heruntergeputzt, schlechtgemacht und verachtet«, schrieb er. »Der Jude ist ein Weißer, und wenn Weiße sich gegen Unterdrückung erheben, sind sie Helden: Wenn Schwarze sich erheben, kehren sie zu ihrer angeborenen Wildheit zurück. Der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde nicht als Krawall bezeichnet, und die Teilnehmer wurden nicht als Gangster beschimpft.«
Baldwin verkürzte hier eine lange historische Erfahrung: Der Jude ist in keinem einfachen Sinne ein Weißer und wurde von anderen Weißen auch kaum so gesehen. Ein Großteil der israelischen Bevölkerung besteht aus Jüdinnen und Juden, deren Vorfahren im Nahen und Mittleren Osten lebten. Doch 2024 verwechseln noch weit mehr Leute das Land mit mehrheitlich weißen westlichen Nationen. Milliarden von Menschen außerhalb des Westens wurden in den letzten Jahren durch den unheilvollen westlichen Kampf gegen den Terror heftig politisiert, der durch die Verwüstung weiter Teile Südasiens, des Nahen und Mittleren Ostens sowie Afrikas, durch Tötungen mittels Drohnen und durch einen Gulag in der Karibik bewies, wie einfach es war, schwarze und braune Körper jenseits aller Normen und des Kriegsrechts gefangen zu nehmen, zu brechen und zu vernichten. Sie erkannten in der Weigerung des Westens, den armen Ländern die Technologie zur Herstellung eines eigenen Covid-19-Impfstoffs zur Verfügung zu stellen, und im Horten von Impfstoffen über deren Verfallsdatum hinaus – einer »Impfstoff-Apartheid«, wie man sagte – eine weitere Bestätigung dafür, dass der Westen unter dem Deckmantel einer universalistischen Rhetorik von Demokratie und Menschenrechten doch immer nur seine eigenen Interessen schützt. Sie sehen die auffällige Diskrepanz zwischen der großzügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtender im Westen und den Barrieren, die man dort errichtet, um die mit einer dunkleren Hautfarbe ausgestatteten Opfer ihrer eigenen gescheiterten Kriege fernzuhalten.
Sie können auch sehen, dass im Vergleich zu den jüdischen Opfern des Naziregimes im Westen nur selten der zahlreichen spätviktorianischen Holocausts in Asien und Afrika und der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedacht wird. Nur schwer vermag ihnen eine kriegerische Version der »Holocaustleugnung« bei den Eliten ehemals imperialistischer Staaten zu entgehen, die sich weigern, sich mit ihrer völkermörderischen Brutalität und ihren Plünderungen in der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und sich alle Mühe geben, jede Diskussion darüber als haltlose »Wokeness« zu diffamieren. Populäre, den Westen verherrlichende Chroniken der modernen Welt ignorieren auch weiterhin die scharfsinnige Charakterisierung des Nazismus (durch Jawaharlal Nehru, George Padmore, Aimé Césaire und andere koloniale Untertanen) als »Zwilling« des westlichen Imperialismus. Sie scheuen sich, den offenkundigen Zusammenhang zwischen der imperialistischen Abschlachtung von Einheimischen in den Kolonien und dem fürchterlichen Völkermord an den Jüdinnen und Juden in Europa zu erforschen.
Der iranische Denker Ali Shariati brachte 1967 ein Argument der »dunkleren Völker« vor, an dem sich seit Jahrzehnten nichts geändert hat:
Weshalb gaben der Westen und die Christen das islamische Palästina als Ausgleichzahlung her? Warum geben sie keinen Teil Polens her, in dem die Juden der schrecklichsten Folter ausgesetzt waren? Warum geben sie kein Bundesland der Bundesrepublik Deutschland als Entschädigung für den Holocaust her? Warum bezahlen die Christen ihre Folterung der Juden während der letzten zweitausend Jahre aus der Tasche des Islam? Warum zahlt der Westen für seine Verbrechen aus den leeren Taschen der Nationen im Nahen und Mittleren Osten?
In dieser und vielerlei anderer Hinsicht gleicht der Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht den vielen anderen Konflikten um Unabhängigkeit, Territorien und Souveränität von der Art, wie wir sie in Kaschmir, Zypern, Osttimor und auf dem Balkan erleben. Unterstützende Israels behaupten, die weltweite Kritik an der »einzigen Demokratie im Nahen und Mittleren Osten« sei heuchlerisch und auf finstere Weise besessen von der Behandlung der Palästinenserinnen und Palästinenser durch Israel, während sie den Gräueltaten Russlands in der Ukraine, der Verfolgung der uigurischen Muslime in China, der massenhaften Tötung und Vertreibung in Syrien, im Sudan und im Kongo mit Gleichgültigkeit begegne. Israel steht jedoch nicht nur deshalb im Brennpunkt des Weltgeschehens, weil sich dort die heiligen Stätten dreier großer Religionen befinden, weil es an einem der sensibelsten Punkte im globalen Netzwerk geopolitischer und finanzieller Macht liegt und weil es im Unterschied zu Russland, China, Syrien, dem Sudan und dem Kongo eine scheinbar grenzenlose moralische und materielle Unterstützung aus Europa und den USA erhält. Der Grund liegt auch darin, dass die Aktionen eines Staates im Nahen Osten, der ursprünglich geschaffen wurde, um ein Problem des Westens – die jüdische Frage – zu lösen, einen Großteil der Menschheit betreffen und spalten.
Die Gründung Israels im Nahen Osten durch europäische Jüdinnen und Juden zu einer Zeit, als Europa sich aus Asien und Afrika zurückzuziehen begann, besaß immer schon größere Bedeutung als die Gründung irgendeines anderen neuen Staates. Die Dekolonisierung ist für eine überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts. Die Verwirklichung eines jahrtausendealten Traums in Palästina zur selben Zeit, als Asiatinnen und Asiaten sowie Afrikanerinnen und Afrikaner sich vom europäischen Kolonialismus befreiten, war beinahe ein Garant dafür, dass man die von den Zionisten inbrünstig erhoffte Normalisierung nicht erreichte; dass das dramatischste Jahrhundert in der jüdischen Geschichte seine Fortsetzung fand; und dass Jüdinnen und Juden in Israel wie auch in der Diaspora weiterhin Objekte und Akteure im Kern der gewaltigen und schicksalhaften Konfrontationen der modernen Welt blieben – wenn nicht länger zwischen religiöser Tradition und säkularer Moderne, Kapitalismus und Sozialismus, Demokratie und Totalitarismus, dann zwischen Arabern und Juden, Globalem Norden und Globalem Süden, weißen und nichtweißen Bevölkerungen.
Heute liegt der scheinbar unlösbare Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf einer der heimtückischsten Bruchlinien der modernen Geschichte: der »Farbenlinie«, die W.E.B. Du Bois als das zentrale Problem der internationalen Politik bezeichnete. Er definierte sie durch das Ausmaß, in dem der Rassenunterschied »die Grundlage bildet, auf der mehr als der Hälfte der Welt das Recht verweigert wird, nach ihren besten Kräften Anteil an den Chancen und Privilegien der modernen Zivilisation zu haben«. Die Gefahr, dass im Nahen und Mittleren Osten ein Brand entfacht wird, der einen Großteil der Welt verzehrt, kann gar nicht überbewertet werden. Bereits heute zerreißen die ideologischen Feindschaften das soziale Gewebe mehrerer Gesellschaften. Angesichts der nach Gaza und dem Libanon verschärften internationalen Parteinahmen sehen sich viele Jüdinnen und Juden weltweit mit einer anderen, weitaus größeren Gruppe von Menschen konfrontiert, die gleichfalls behaupten, Opfer des völkermörderischen Rassismus westlicher Länder zu sein. Früher einmal schien eine globale Zivilgesellschaft möglich, die auf der Wertung der Shoah als der ultimativen Gräueltat und des Antisemitismus als der schlimmsten Form von Fanatismus basierte. Inzwischen erheben andere Gruppen rivalisierende Ansprüche, verweisen auf historische völkermörderische Massenverbrechen, Sklaverei sowie rassistischen Imperialismus und fordern Anerkennung wie auch Entschädigung.
Sie fragen: Hat der Westen durch die Fokussierung auf die Verbrechen der Nazis und des kommunistischen Totalitarismus bewusst eine genauere Erforschung der Ursünde des Westens erschwert, nämlich der Idee einer Überlegenheit der Weißen? Allenthalben sind neue Formen von Antisemitismus entstanden, aber wie erklären sich die kämpferischen neuen Formen von Philosemitismus in jenen westlichen Ländern, die einst ihre jüdische Bevölkerung für fremd und nicht assimilierbar hielten und den größten Teil ausrotteten? Die Erforschung dieser Transformation ist keineswegs nur eine akademische Frage angesichts des Aufschwungs der extremen Rechten im gesamten Westen, dessen Selbstbild als Vorbild einer liberalen Demokratie verschwimmt, während weiße Nationalisten, von Viktor Orbán in Ungarn bis hin zu den Evangelikalen in den USA, leidenschaftlich zur Verteidigung Israels aufrufen.
Es gibt viele weitere beunruhigend unerforschte Fragen. Hat die Amerikanisierung der Shoah deren Geschichte verzerrt und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten korrumpiert? Die jüdische Forderung, die Shoah in Erinnerung zu behalten, hat in westlichen Gesellschaften mehrere Ableger hervorgebracht, die sämtlich auf dasselbe moralische Prestige und die Vorteile eines Opferseins zielen. Sind die aus Shoah, Sklaverei und Kolonialismus abgeleiteten Leidenserzählungen dazu bestimmt, miteinander zu kollidieren, oder lassen sie sich miteinander versöhnen? »Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen«, schrieb Milan Kundera einmal. Doch wann wird organisiertes Gedenken zu einem Handlanger brutaler Macht, der Gewalt und Ungerechtigkeit legitimieren soll?
Auf den folgenden Seiten versuche ich, diesen Fragen nachzugehen. Vor allem aber möchte ich sie zumindest so präzise formulieren, dass wir das aktuelle Geschehen klar in den Blick nehmen können: eine von westlichen Demokratien gemeinschaftlich herbeigeführte Katastrophe, die die notwendige, nach dem Sieg über den Faschismus 1945 aufgekommene Illusion einer gemeinsamen, von Respekt vor den Menschenrechten und einem Minimum an rechtlichen und politischen Normen getragenen Menschheit zerstört hat.
Die Tötungsorgie, die am 7. Oktober 2023 ihren Anfang genommen hat und seit vielen Monaten in mehreren Ländern fortgeführt wird, sorgt für einen Bruch in der Zeit, der die Welt vor Gaza in ein anderes Zeitalter verweist. Dabei bin ich mir bewusst, dass ich mich beim Schreiben in einer seltsamen Kluft zwischen einer unzureichend verstandenen Vergangenheit und einer bedrohlichen Zukunft bewege, deren düsterste Vorzeichen wir rasch erkennen müssen. Dieses Buch ist keine abgeklärte Darstellung der Ursprünge und Auswirkungen der prägenden Ereignisse des 21. Jahrhunderts und kann es auch nicht sein. Selbst wenn es sich der besseren Klärung wegen auf wissenschaftliche Arbeit stützt, beschreiben seine selbstgewählten Wege doch eine persönliche intellektuelle Reise.
Ich bin in Indien aufgewachsen und habe dort den ehrfürchtigen Zionismus meiner Familie mit ihrem brahmanisch geprägten Hindu-Nationalismus aufgesogen. Dass wir keine Jüdinnen oder Juden persönlich kannten und kaum etwas über Israel wussten, hinderte uns nicht an unserer Bewunderung für den Zionismus. Der erste Jude, den ich kennenlernte, war ein indischer Schriftsteller in Bombay: Nissim Ezekiel, ein Vorreiter der Moderne, dessen Gedicht »The Night of the Scorpion« zur Pflichtlektüre der Schulkinder in ganz Indien gehörte. Der zweite war eine historische Gestalt, David Sassoon, der herausragende arabischsprachige Geschäftsmann im Bombay des 19. Jahrhunderts, der dieser Stadt ein reichhaltiges kulturelles und architektonisches Erbe hinterließ. Ezekiels Anwesenheit in Bombay, das eine der ältesten jüdischen Gemeinschaften in Asien beherbergte, sowie die Statuen, die Bücherei, die Schulen und die Docks, die im Zusammenhang mit den aus Bagdad stammenden Sassoons standen, vermittelten mir anfangs den Eindruck, dass die Juden eine verwestlichte, aber zutiefst asiatische Minderheit bildeten, ähnlich den aus Persien stammenden Parsen.[*] Auf Bildern, die wir besaßen und auf denen Albert Einstein und Rabindranath Tagore Seite an Seite saßen, wirkten die beiden Freunde wie zwei orientalische Weise.
Später zerstreute meine Lektüre auf den Gebieten der Geschichte und Literatur diese kindlichen Vorstellungen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das von den Palästinenserinnen und Palästinensern erlittene Unrecht. Ein Besuch in der Westbank rüttelte mich vollends wach gegenüber einer trägen Sicht des Zionismus als Schutz und Schild der ewig verfolgten Juden und führte mich zu einem tieferen Verständnis des langen Martyriums der palästinensischen Bevölkerung. Zugleich empfand ich es als zunehmend schwierig, dieses Verständnis zu kommunizieren.
Die Erinnerung an das Leid, das die Nazis über die Jüdinnen und Juden gebracht hatten, war, wie ich damals erkannte, die Grundlage gewesen, auf der viele Darstellungen extremer Ideologien und Gräueltaten nach 1945 und die meisten Forderungen nach Anerkennung und Entschädigung sich gestützt hatten. Mir wurde klar, dass die Shoah zu einem universellen Maßstab für die Beurteilung der politischen und moralischen Gesundheit von Gesellschaften geworden war. Ich selbst verbreitete diesen einflussreichen Maßstab in meinen in westlichen Zeitschriften erscheinenden Artikeln über die Hitler-Bewunderer unter den Hindu-Nationalisten und ihren unheilvollen Einfluss auf Indien. Oft verwies ich auf die Erfahrung der Jüdinnen und Juden mit Vorurteilen, um vor der Barbarei zu warnen, die drohen kann, wenn bestimmte Tabus gebrochen werden.
Meine indische Herkunft und meine Auseinandersetzung mit außerwestlichen Gesellschaften sorgten jedoch auch für eine andere Schwerpunktsetzung. Sie veranlassten mich, die rassistische Apokalypse Europas Mitte des 20. Jahrhunderts neben statt getrennt von anderen Gräueln zu betrachten, unter denen Minderheiten und kolonisierte Bevölkerungen in der Moderne gelitten hatten. Auch der Zionismus erschien mir in einem anderen Licht: als in seinen ursprünglichen Motiven wie auch seinen späteren Mutationen untrennbar verbunden mit den Befreiungsprojekten erniedrigter Völker in Asien und Afrika. Eine wachsende Erfahrung des Hindu-Nationalismus in den 1990er und 2000er Jahren ließ mich besser verstehen, auf welche Weise das kollektive Gedächtnis von ideologischen Bewegungen manipuliert wurde und warum ihre gewalttätige Expansion und ihre Wagenburgmentalität sich gegenseitig verstärkten.
Aufgrund sporadischer Versuche, die Palästinafrage aus einer nicht im Westen und im Nahen Osten gründenden Perspektive zu betrachten, entwickelte ich ein deutlicheres Bewusstsein für ein heimtückisches westliches Regime aus Repressionen und Verboten. Palästinenserinnen und Palästinenser sowie Araberinnen und Araber kennen seit Jahrzehnten die vielen verborgenen roten Linien, die eine Diskussion über den Weg Israels einschränken. Die von ihnen gelieferten Belege für den Missbrauch der Erinnerung an die Shoah durch die israelische Führung, antisemitische Politiker und islamophobe Agitatoren galten schon lange als unerwünscht. Doch nicht nur ihre Perspektive wurde unterdrückt und missachtet. Wie erst spät klar wurde, schienen die herrschenden Klassen im Westen bei ihrem Versuch, Israel gegen Kritik abzuschotten, ein breiteres Spektrum an Verboten zu dekretieren.
Dieser intellektuelle Despotismus gegenüber einer Reihe von Institutionen – von Museen, Universitäten und Verlagen bis hin zu Unternehmenszentralen, Banken und gemeinnützigen Organisationen – gewann an Schärfe, als das unbekümmerte Abschlachten von Unschuldigen in Gaza sich beschleunigte.[*] Ich fühlte mich fast gezwungen, dieses Buch zu schreiben, um meine demoralisierende Verblüffung angesichts eines umfangreichen moralischen Zusammenbruchs zu erleichtern und ein allgemeines Lesepublikum zu einer Suche nach Klärung einzuladen, die in einer dunklen Zeit noch dringlicher erscheint.
Auch ein tieferes persönliches Motiv drängte mich zu diesem Vorhaben. Im Blick auf verschiedene Formen moralischer Verantwortung nach dem Krieg sprach der Philosoph Karl Jaspers von einer »metaphysischen Schuld«, die jene trifft, die ohnmächtig Zeugen einer unvorstellbaren Barbarei in ihrer Mitte werden. »Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen«, schrieb Jaspers, »welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig.«
Ich schreibe wegen dieser Schuld – die nach den in Livestreams zu verfolgenden Massenmorden Israels im Nahen Osten weite Teile der Menschheit betrifft – und wegen der Pflichten der Lebenden gegenüber den unschuldigen Toten. Ich schreibe auch in dem Glauben, dass es so etwas wie Solidarität zwischen Menschen als Menschen gibt und dass sie nicht an der Farbenlinie endet.
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Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die Tatsache, dass Zubin Mehta, der bekannteste Parse der Welt, damals musikalischer Leiter des Israel Philharmonic Orchestra war.
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Der Vortrag, auf dem dieses Buch in Teilen basiert, wurde von dessen Londoner Gastgeber, dem Barbican Centre, vorsorglich abgesagt. Auch musste ich meine seit gut einem Jahrzehnt bestehende Kolumne zu außenpolitischen Fragen bei Bloomberg aufgeben.
Im Überleben ist jeder des anderen Feind, an diesem elementaren Triumph gemessen, ist aller Schmerz gering. Es ist aber wichtig, daß der Überlebende allein einem oder mehreren Toten gegenübertritt.
Elias Canetti
1977, ein Jahr bevor er sich selbst das Leben nahm, stieß der österreichische Schriftsteller Jean Améry auf Presseberichte über die systematische Folter arabischer Gefangener in israelischen Gefängnissen. Améry war 1943 bei der Verteilung antifaschistischer Flugblätter in Belgien verhaftet und selbst brutal von der Gestapo gefoltert worden, bevor man ihn nach Auschwitz deportierte. Es gelang ihm, zu überleben, und obwohl er sich zwei Jahrzehnte lang scheute, über diese Qualen zu schreiben, betrachtete er sie doch nie als etwas Vergangenes. Er betonte: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. […] Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.« Und er bekannte: »Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden.«
Zutiefst beunruhigt von Berichten über Folter in Israel und »volltönende, aber nicht unbedingt überzeugende Dementis von israelischer Seite«, schrieb er sogleich einen Artikel mit dem Titel »Grenzen der Solidarität«. Améry, Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, war in Österreich ohne Verbindung zum Judentum aufgewachsen. Auch empfand er keine Sympathien für eine der Hauptströmungen des Zionismus. Der Glaube, dass die Jüdinnen und Juden eine Nation mit dem Recht auf Selbstbestimmung bildeten, hatte ursprünglich bei säkularen deutschsprachigen Juden wie Theodor Herzl und Max Nordau floriert und wurde in Palästina von jüdischen Immigranten und Immigrantinnen aus Europa in die Tat umgesetzt. Die Utopie einer »jüdischen Heimstätte« stellte man sich schließlich in unterschiedlicher Weise vor: als Zuflucht vor dem Antisemitismus und willkürlichen Despoten in Uganda wie in Polen oder als einen Ort, an dem die jüdische Kultur und Religion gedeihen konnten. Dem politischen Zionismus gelang es 1917 von den Briten eine Erklärung – die später sogenannte Balfour-Deklaration – zu erhalten, in der die Schaffung einer jüdischen »nationalen Heimstätte« in Palästina unterstützt wurde. Bis in die 1930er Jahre hinein verfolgte nur eine winzige Minderheit der europäischen Jüdinnen und Juden die Idee einer Rückkehr in das Zion der biblischen Vorstellungswelt.
Erst der unerbittlich brutale und in Rassengesetzen verkörperte Antisemitismus der 1930er Jahre zwang Améry und viele andere assimilierte deutsche Jüdinnen und Juden, sich erstmals mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. »Für sie, für mich«, so schrieb Améry später, »heißt Jude sein, die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer.« Wie viele Überlebende der von den Nazis geschaffenen Todeslager, mit Erinnerungen an Stacheldraht, zu Skeletten abgemagerte Gestalten, an Schläge, an Deutsche mit bösartigen Hunden, die erniedrigende Befehle schrien, an Leichengruben und endlos aus Schornsteinen aufsteigenden Rauch, empfand Améry schließlich eine »existentielle Bindung« an Israel.
Nach 1945, als sich zeigte, dass nur drei der ursprünglich neuneinhalb Millionen Jüdinnen und Juden Europas Hitlers »Endlösung« überlebt hatten, verengten sich die vielfältigen, seit dem 19. Jahrhundert entstandenen Visionen zu der dringlichen Notwendigkeit, Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt in Palästina zu versammeln und für ihre Sicherheit zu sorgen. Da weite Teile des Westens sich gegen eine Aufnahme jüdischer Überlebender sperrten, zeigte auch die europäische Feindseligkeit gegenüber den Juden kaum Anzeichen einer Abschwächung.
Zudem verziehen westliche Länder schuldigen Deutschen nach 1945 schon bald oder begrüßten sie sogar mit offenen Armen. Wenn Améry in Österreich oder Deutschland war, »wo die Nazikriegsverbrecher nicht oder zu lächerlich geringen Freiheitsstrafen verurteilt werden, von denen sie meist kaum ein Drittel absitzen«, vertiefte sich noch die »absolute Einsamkeit«, die er vor seinen deutschen Folterern empfunden hatte. Er schrieb: »Ich habe die Mörder von einst und die potentiellen Aggressoren von morgen nicht hineinzureißen vermocht in die moralische Wahrheit ihrer Untaten, weil mir die Welt in ihrer Totalität dabei nicht half. So bin ich allein wie einstens unter der Folter.«
Israel erschien als die einzige Zufluchtsstätte für, wie Améry es ausdrückte, »alle erniedrigten und beleidigten Juden der Welt«. Wie sich zeigte, war jedoch Israel – durch Krieg und ethnische Säuberung entstanden und umgeben von enteigneten Völkern und auf Rache sinnenden Nationen – kein sicherer Ort, an dem die jüdische Existenz »normal« zu werden vermochte, wie die Zionisten ursprünglich gehofft hatten. Améry schrieb 1966: »Daß irgendein arabischer Staatsmann die Auslöschung Israels von der Landkarte fordert, trifft mich ins Mark.« Er wurde extrem sensibel für Ereignisse, die die hart errungene Sicherheit eines brutal verfolgten Volkes zu bedrohen schienen – die Ermordung israelischer Sportler durch Palästinenser bei den Olympischen Spielen 1972 in München; der Jom-Kippur-Krieg von 1973, in dem eine Koalition arabischer Staaten Israel angriff. Ganz besonders empörte und entfremdete ihn die Verurteilung Israels als einer rassistischen Kolonialmacht durch junge Linke im Westen, in denen er eigentlich Verbündete sah.
In der internationalistischen Linken im Westen, die nach der Russischen Revolution entstand und sich durch einen heldenhaften, wenn auch vergeblichen Kampf gegen den Faschismus in Spanien auszeichnete, waren Jüdinnen und Juden herausragende Gestalten gewesen. Der Sozialismus bot ihnen nicht nur Integration und Anerkennung innerhalb ihrer Gesellschaft, sondern auch die Möglichkeit, an der Gestaltung ihrer Zukunft mitzuwirken. So kam es denn, dass die Jüdinnen und Juden in linken Parteien, insbesondere auch in Russland, überrepräsentiert waren – und zwar so stark, dass der Eindruck entstand, das Judentum wäre ein kosmopolitisches Bollwerk gegen die ethnisch definierte Gemeinschaft, und das nach Ansicht der Nazis und ukrainischer wie auch polnischer Nationalisten mit tödlichen Folgen. Frühe zionistische Siedler und Siedlerinnen aus Europa nahmen sozialistische Ideen wie die gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Bodens, Gewerkschaften und Wirtschaftsplanung mit nach Palästina. Als Erbe ihrer tugendhaften Aura ließ der erste jüdische Staat eine Reihe verschwommener erster Eindrücke entstehen.
Stalin unterstützte 1947 gemeinsam mit Satellitenstaaten der Sowjetunion – Weißrussland, Ukraine, Polen und Tschechoslowakei – und kommunistischen Parteien in Großbritannien und Italien den Plan der Vereinten Nationen zur Aufteilung Palästinas und zur Schaffung eines jüdischen Staates. Die Sowjetunion lieferte über tschechische Mittelsleute Waffen an die Zionisten, die in der Folge die Vertreibung von 750000 Palästinenserinnen und Palästinensern anführten oder ermöglichten – die ethnische Säuberung Palästinas 1948, die zur Gründung des Staates Israel führte und bei Palästinensern als Nakba in Erinnerung bleibt. Der radikale amerikanische Journalist I.F. Stone verglich israelische Juden in der Phase der Staatsgründung mit den »Männern von Concord oder Lexington«. Obwohl der italienische Schriftsteller Primo Levi 1967 einräumte, dass »Israel ein Verbündeter der Vereinigten Staaten« und eine »Schachfigur des Imperialismus« sei, und dies als »beschämend« empfand, behauptete er dennoch: »Israel entstand gerade zu dem Zweck, eine antiimperialistische Funktion zu erfüllen und den Zusammenbruch des britischen Kolonialismus zu nutzen und zu beschleunigen«. Und er erklärte: »Die israelische Verfassung scheint mir auf einem soliden sozialistischen und demokratischen Fundament errichtet worden zu sein.«
Eine Reihe prominenter westlicher Intellektueller und Aktivisten, von Jean-Paul Sartre, Amérys eigenem Helden, bis hin zu den einflussreichen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr und Martin Luther King, sahen in Israel ähnlich wohlwollend eine egalitäre Zufluchtsstätte für ein gnadenlos verfolgtes Volk. Zumindest zum Teil wurde die Sympathie für Israel innerhalb der westlichen Intelligenz durch eine reflexhafte Verachtung für die Araber unterstützt. In einem Brief, den Mary McCarthy im November 1959 aus Libyen an Hannah Arendt schrieb, benutzte sie die Klischees der zerlumpten, des Lesens unkundigen und gestikulierenden Einheimischen: »Außer in Gemälden italienischer Meister erscheinen mir die Araber langweilig und unattraktiv.« Die gefeierte Auslandskorrespondentin Martha Gellhorn schrieb 1961 in einem Artikel über palästinensische Geflüchtete: »Araber stopfen sich mit Hass voll, sie wälzen sich darin, sie atmen ihn ein.«
Als die Dekolonisierung in Asien und Afrika sich beschleunigte und westliche Mächte in Afrika und Indochina neokolonialistische Kriege vom Zaun brachen, begannen jedoch viele in einer jüngeren Generation von Linken, sich an die Seite ehemals kolonisierter Völker in der Dritten Welt zu stellen. Vor allem Mitglieder der sogenannten Neuen Linken in Deutschland waren angewidert von der nicht aufgearbeiteten Nazivergangenheit ihrer Eltern und Großeltern und – während das US-Militär Vietnam verwüstete – erzürnt über die Vorherrschaft reueloser Verfechter weißer Überlegenheit in Westeuropa und den USA. Angehörige der Neuen Linken suchten Hoffnung und Inspiration in den quasisozialistischen nationalen Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und der Karibik. Und nach dem Sechstagekrieg 1967, in dem Israel mit größter Schnelligkeit die Golanhöhen, die Westbank, Ostjerusalem und den Gazastreifen sowie die Halbinsel Sinai eroberte, begannen sie das Land als ein rassistisch-kolonialistisches Unternehmen zu brandmarken.
Für viele Menschen mit Amérys sozialistischen Sympathien war die Ächtung Israels durch einstige und zukünftige Genossen ein Schock. Améry attackierte junge linke Kritiker des jüdischen Staates und erklärte, sie seien »ebenso gedanken- wie skrupellos«. Möglicherweise war er einer der ersten, die die heute von führenden Politikern und Unterstützern Israels regelmäßig betonte Behauptung aufstellten, böswillige Antisemiten verkleideten sich als tugendhafte Antiimperialisten und Antizionisten. Als Israel nach dem Jom-Kippur-Krieg schwächer und isolierter denn je dazustehen schien, nahm Amérys Bedrückung über die Linke weiter zu. Voller Verzweiflung beobachtete er das Bündnis zwischen deutschen Linksextremen und militanten Palästinensern, als sie 1976 gemeinsam ein Flugzeug der Air France mit 248 Passagieren an Bord entführten und es nach Entebbe in Uganda umleiteten, wo die Kidnapper Israelis von Nichtisraelis trennten.[*] Doch »unklare und, zugegeben, unzureichende Berichte« über Folterungen in israelischen Gefängnissen veranlassten Améry, über die Grenzen seiner Solidarität mit Israel nachzudenken.
Einen seiner, wie sich zeigen sollte, letzten Artikel, der in der ZEIT, einer der führenden Wochenzeitungen Deutschlands, veröffentlicht wurde, begann er mit einer Warnung vor einem weiteren Krieg zwischen Israel und arabischen Staaten und vor der Gefahr, dass die »wirtschaftliche, militärische und, wer weiß, technologische Suprematie« der Araber am Ende zu einer »Katastrophe von Auschwitz-Ausmaßen« führen werde. Er sprach erneut von einem »schwelenden Antisemitismus«, kritisierte den Trend zum Ultrazionismus in Israel und äußerte die Befürchtung, das Land könne die Unterstützung der Jüdinnen und Juden in der Diaspora verlieren. Er ermahnte Israel, sich »mit einer bis an die Grenzen gehenden […] Humanität gegenüber euren längst jenseits sittlicher Grenzen stehenden Terroristen« zu verhalten. Er betonte, dass er »in der Haut eines jeden Gefolterten, und sei es ein blutbefleckter arabischer Terrorist, stecke«. »Und ich fordere jeden Juden, wenn er Mensch sein will, dringlich auf, mit mir in der radikalen Aburteilung der Tortur übereinzustimmen. Wo die Barbarei beginnt, dort muß selbst die Existenz endigen.«