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Sie zittern buchstäblich, die Tenöre des Gesangvereins Euterpe, denn die Sangesbrüder sind überaltert und haben Probleme mit dem sängerischen Nachwuchs. Aber seit sie wissen, daß auf Otto Fintzels Dachboden ein eingestaubter alter Koffer liegt, zittern sie auch im übertragenen Sinn: vor Angst. Fintzel, senil und selten nüchtern, hat keine Ahnung, was er anrichtet, als er bei der Chorprobe von dem Zufallsfund erzählt. Sein Gedächtnis ist nicht mehr das allerbeste – dumm, daß er sich noch ganz genau daran erinnert, wann er den Koffer auf dem Dachboden versteckt hat: 1945, beim Einmarsch der Alliierten, vollgestopft mit Papieren aus dem Rathausarchiv ... Sehr fatal für die Herren Tenöre, für Mühlmann, den Wirt, Hanebutt, den Apotheker, und Bundschuh, den Oberstudienrat. Sie hätten so gern für immer und ewig vergessen, was sie damals getan haben. Wenn es jetzt herauskommt, sind sie allesamt ruiniert. Jeder für sich kommt zu dem Schluß: der Koffer muß weg, ehe der Inhalt stadtbekannt wird. Und dann liegt eine Leiche in Fintzels Diele – und Kommissar Greve strapaziert auf der Suche nach einem Mörder und einem Dieb seine Stimmbänder ... Diese bitterböse, makabere Kriminalkomödie ist von Hans Dieter Schwarze für die Reihe «Tatort» verfilmt worden.
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Seitenzahl: 213
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Hansjörg Martin
Das Zittern der Tenöre
Ihr Verlagsname
Sie zittern buchstäblich, die Tenöre des Gesangvereins Euterpe, denn die Sangesbrüder sind überaltert und haben Probleme mit dem sängerischen Nachwuchs. Aber seit sie wissen, daß auf Otto Fintzels Dachboden ein eingestaubter alter Koffer liegt, zittern sie auch im übertragenen Sinn: vor Angst.
Fintzel, senil und selten nüchtern, hat keine Ahnung, was er anrichtet, als er bei der Chorprobe von dem Zufallsfund erzählt. Sein Gedächtnis ist nicht mehr das allerbeste – dumm, daß er sich noch ganz genau daran erinnert, wann er den Koffer auf dem Dachboden versteckt hat: 1945, beim Einmarsch der Alliierten, vollgestopft mit Papieren aus dem Rathausarchiv ...
Sehr fatal für die Herren Tenöre, für Mühlmann, den Wirt, Hanebutt, den Apotheker, und Bundschuh, den Oberstudienrat. Sie hätten so gern für immer und ewig vergessen, was sie damals getan haben. Wenn es jetzt herauskommt, sind sie allesamt ruiniert.
Jeder für sich kommt zu dem Schluß: der Koffer muß weg, ehe der Inhalt stadtbekannt wird.
Und dann liegt eine Leiche in Fintzels Diele – und Kommissar Greve strapaziert auf der Suche nach einem Mörder und einem Dieb seine Stimmbänder ...
Diese bitterböse, makabere Kriminalkomödie ist von Hans Dieter Schwarze für die Reihe «Tatort» verfilmt worden.
Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.
Otto Fintzel
singt und findet was … Ach ja: Er trinkt auch.
Rainer Bundschuh; Walter Hanebutt; Klaus Möhlmann
singen, trinken unterschiedlich viel und haben alten Dreck am Stecken.
Hermann Kroll jr.
hat keinen Dreck am Stecken, aber eine Idee.
Else Bundschuh; Edda Hanebutt
haben – unabhängig voneinander – die gleiche Idee.
Elfie
hat nur eine schwer zu bändigende Oberweite.
Uwe Nowak; Peter Reißig
sind – mit unterschiedlichen Konsequenzen – anderer Ansicht.
Herbert Knobloch
ist froh, wenn er auch mal was sagen darf.
Der Dürre
hat – als einziger Profi – wirklich Pech.
Kommissar Horst Greve
schwankt zwischen Sangesbruderschaft und Preußentum.
Wo man singet, laß dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder …
Johann Gottfried Seume
Die Treppe knarrte. Sie knarrte, seit Otto Fintzel denken konnte. Bei feuchtem Wetter – im Herbst oder Frühjahr – knarrte sie etwas leiser. Aber an trockenen Tagen, vor allem an mehreren nacheinander, in siedeheißen Sommern, die hier selten waren, oder während klarer, kalter Winterwochen – da knurrten die steilen Stufen wie Kettenhunde.
Otto Fintzel, der in den neunundsechzig Jahren seit seiner Geburt in diesem Hause – im Erdgeschoß neben dem Kaminzimmer war er zur Welt gekommen –, Otto Fintzel also, der bestimmt mehrere tausendmal die Treppe hinauf- und hinuntergestiegen war, hörte das Ächzen des Holzes nur noch, wenn es besonders laut war.
Heute zum Beispiel. Das mochte am Wetter liegen, denn draußen herrschte seit sieben Tagen klirrender Frost, vielleicht aber auch daran, daß Otto Fintzel so schwer beladen war.
Am Fuße der geräuschvollen Treppe stand Frau Vorrath und schimpfte: «… ich glaub ja langsam doch, Sie sind übergeschnappt, Herr Fintzel! Das ist unglaublich! Schleppt in seinem Alter so schwere Sachen! Und auch noch treppauf! Und nachher wieder die Bandscheibe und tagelang auf allen vieren und Stöhnen und Jammern … unverantwortlich! Das konnten doch die Männer raufschaffen, die es hergebracht haben! Aber nein – wir müssen ja so tun, als ob wir dreißig wären … So was! Ich könnte zuviel kriegen, wenn ich Sie so sehe und höre!»
Otto Fintzel hatte inzwischen den Treppenabsatz vor der Dachbodentür erreicht. Er ließ die dicke Rolle Glaswolle, die er auf dem Rücken getragen hatte, heruntergleiten, holte tief Luft, reckte sich vorsichtig und klinkte, ohne auf Frau Vorraths Gezeter einzugehen, die Bodentür auf. Die Tür schwang gegen die Wand und schreckte die Tauben auf, die im Verschlag auf der linken Seite ihre Behausung hatten. Eine flatterte um Fintzels Kopf.
«Hee …!» rief Fintzel und hob abwehrend die Arme. «Regt euch doch nicht auf, Kinder!»
Dann zerrte er die dicke Rolle Glaswolle durch die offene Bodentür und schob sie vor einen alten, windschiefen Schrank, knipste das Licht an – eine kahle Sechzigerbirne oben über dem Türrahmen – und sah sich um.
«Hm …» machte er, setzte sich auf die Rolle, angelte aus der Tasche seiner Strickjacke eine sehr hübsche silberne Schnupftabaksdose, auf deren Deckel in etwas brüchig gewordener Emaille-Intarsia ein Segelschiff zu sehen war, schüttete sich in die Kuhle, die sein gespreizter Daumen an der Handwurzel bildete, eine Prise Schmalzler und schnupfte genüßlich.
«Aah …» machte er dann, blies die Backen auf und schickte blinzelnd über den Brillenrand einen zweiten Blick in die rummelige Runde, wobei er mit einem hohlen Pfeifton aus gespitzten Lippen die Luft ausstieß. «Viel zu tun, ehe das Zeug an die Dachsparren kann …» murmelte er und runzelte die Stirn, so daß seine langen, weißen Augenbrauen über den oberen Brillenrand zipfelten.
Es wurde ihm jetzt, da er das ganze Ausmaß der Arbeit erkannte, die er sich vorgenommen hatte, ein wenig mulmig, und er mußte sich selbst gut zureden, um nicht zu verzagen.
«Doch, das kriegen wir schon …!» brummelte er. «Ich räum die ollen Klamotten alle auf die eine Seite und nagele auf der freigeräumten Seite die Glaswolle an – und dann schiebe ich den Kram rüber und nagle dort. Die anderen Rollen laß ich erst mal unten im Flur, die behindern mich bloß. ’türlich ist das ’ne Schietarbeit … aber es soll ja fast 30 Prozent Heizung sparen, sagt Bundschuh. Und Bundschuh weiß so was. Muß er ja als Studienrat. Oberstudienrat. Ich hätte es besser im Herbst gemacht, als es noch nicht so kalt war, verdammt! Doch das hilft nichts … Ja, also dann … Muß ja auch nicht in einem Tag fertig werden. Wenn ich nur schon mal den Anfang habe. Lohnt das heute noch? …»
Er zog die Sprungdeckeluhr aus der Uhrentasche am Hosenbund und ließ sie aufspringen. «Halb sechs … gut … mach ich noch ’ne Stunde, dann umziehen und was essen. Um acht zum Singen – und morgen früh weiter …» Er beendete seinen Monolog und stand auf.
Von unten, vom Flur herauf, rief Frau Vorrath: «Hallo, Herr Fintzel!»
Sie rief ein paar Phon lauter als nötig, weil sie sich über seine Dickköpfigkeit geärgert hatte. Immer, wenn sie sich über ihn ärgerte, sprach sie ein paar Phon lauter mit ihm, als notwendig war. Sie wußte, daß ihm das auf die Nerven ging, wenn er wie ein Schwerhöriger angesprochen wurde, obschon er für sein Alter noch ganz gut hören konnte. Aber er sagte in solchen Fällen nichts, weil er wußte, das war ihre Rache.
Oft mußte er zwar überlegen, womit er diese Rache nun wieder heraufbeschworen hatte, aber es war gut, wenn sie sich nur auf solche Weise revanchierte und ihm nicht das Essen versalzte oder anbrennen ließ.
Im großen ganzen war Fintzel sehr zufrieden mit Frau Vorraths Haushaltsführung. Sie kam von Montag bis Samstag früh um acht, kaufte ein, kochte für ihn und sich, putzte, wusch, bügelte, nähte und blieb bis fünf, sechs Uhr nachmittags. Dann ging sie in ihre Wohnung, die sie mit ihrer älteren Schwester teilte, mit der sie sich nur vertrug, wenn das Beisammensein nicht länger als sechs Stunden dauerte.
Frau Vorrath war etwa Mitte Fünfzig, verwitwet, besaß den Charme eines Zaunpfahls, aber die Zuverlässigkeit eines preußischen Postbeamten.
«Hallo, Herr Fintzel!» rief sie jetzt noch einmal, und Otto Fintzel ging zur Bodenkammertür und rief zurück: «Ja, was gibt’s, Frau Vorrath?»
«Ich gehe nun nach Hause!» rief sie. «Ihr Abendbrot steht in der Küche. Bloß Bier hab ich noch nicht hingestellt. Wegen der Wärme. Verkühlen Sie sich mal nicht da oben! Haben Sie vor, länger in der Eiseskälte rumzuwurschteln? Soll ich Ihnen den alten Mantel …?»
«Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!» rief Fintzel barsch zurück. «Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich mündig bin, zum Teufel!»
«Ist schon gut!» rief sie nach oben. «Holen Sie sich ’ne schöne Bronchitis, Herr Fintzel! Ich bringe morgen gleich Fencheltee mit!»
Und für sich, leise, sagte sie: «Mündig! Da muß ich aber lachen!» Sie lachte wirklich – rief noch: «Schönen kalten Abend auf dem Dachboden! Wiedersehen, Herr Fintzel!»… und ging.
«Fencheltee!» brummelte Fintzel und schnaufte verächtlich.
Die Tauben hatten sich beruhigt. Einige saßen auf den Stangen und Brettern vor ihren Kästen, gurrten vor sich hin und sahen dem alten Mann zu. Andere hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt und schliefen …
Otto Fintzel schob den wackeligen Schrank beiseite, wobei die eine Tür aufsprang und ihm gegen die Schulter schlug. Er fluchte, mehr aus Schreck als aus Schmerz.
Hinter dem Schrank, in dem Winkel, in den seit vielen Jahren keiner geschaut hatte, lag und stand kreuz und quer alles mögliche Gerümpel: Zwei zerbrochene Jalousien, ein lädierter Paravent mit bemaltem Stoff bespannt, der zerschlissen und mürbe war, ein Klaviersessel, dem ein Bein fehlte, Kisten und Kartons, leer oder mit irgendwelchem Krimskrams gefüllt. Alte Bücher, Schuhe, kleine und größere Bilderrahmen, verbeultes Küchengerät, abgestoßenes Steingut …
«Ich muß viel wegschmeißen», murmelte Fintzel vor sich hin, «aber aufpassen, daß nichts Wertvolles dabei ist …» – und er zog und zerrte die sperrigen Gegenstände zur Seite, mußte wieder und wieder niesen vom aufsteigenden Staub und klemmte sich die Finger und riß sich den rechten Handrücken an einem Nagel auf und schimpfte und war trotzdem guter Dinge, obwohl er nicht hätte erklären können, warum, wenn ihn einer gefragt hätte.
Ein paar uralte Skier mit morschen Lederriemen und verrosteten Bindungen förderte er zutage und hatte sofort seine einzige Winterreise vor Augen. Fünfzehn oder sechzehn war er da gewesen und mit diesen Skiern in den Harz gefahren. Er konnte nicht Ski laufen, er war überhaupt nie ein sportlicher Junge gewesen, dafür hatte ihm die Begabung gefehlt. Und nach vier oder fünf Tagen voll qualvoller Versuche, mit den idiotischen langen Brettern an den Füßen senkrecht stehen und dazu auch noch laufen zu lernen, hatte es Gott sei Dank Tauwetter gegeben, und er war hochfroh heimgefahren und hatte so eine wahnwitzige Fortbewegungsweise nie wieder gewagt …
Er stellte die Skier beiseite, schleifte einen schweren, staubigen Seesack aus dem Dunkel, öffnete das zugebundene obere Ende und fand stockfleckige Stoffvorhänge, vergilbte Gardinen und ähnliches darin. Er stopfte das Zeug zurück, schob den derbleinenen Sack vor die Skier und bückte sich abermals in die dunkle Dachschräge. Er konnte nicht gut erkennen, was da noch war, zumal sein eigener Schatten die Dämmerung noch vertiefte. Ein großer Karton voll leerer Einweckgläser kam zum Vorschein. In einem der großen Gläser lag eine mumifizierte Maus.
Fintzel fröstelte.
«Armes Luder …» murmelte er, schob den Karton mit der winzigen Leiche ins Licht und bückte sich noch einmal und entdeckte den Koffer.
Vierhundertfünfzig Schritte westlich von Fintzels altem Haus, in der Johannes-Pfeifer-Straße, die nach jenem Bürgermeister genannt worden ist, der 1945 die Zerstörung der Kleinstadt Endwarden durch rechtzeitige Übergabe an die heranrückenden Amerikaner verhindert hatte und dafür von einem fanatisierten neunzehnjährigen ‹Werwolf› erschossen worden war – in der Johannes-Pfeifer-Straße, im Hause Nr. 39, saß Oberstudienrat Rainer Bundschuh am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer und rechnete.
Er hatte bereits einige Zettel mit Zahlen bedeckt, die er mit farbigen Filzstiften geschrieben hatte – rot, grün, blau –, dazu, ebenfalls bunt, die Kringel und Kritzeleien, die Konzentration hervorbringt.
Außer den Zetteln lagen ein paar vielfarbige, auf Hochglanzpapier gedruckte Prospekte vor Bundschuh. Auf einigen Titelseiten waren wunderschöne Einfamilienhäuser zu sehen, schmucke Bungalows, die auf herrlichen Rasenflächen in parkähnlichen Gärten standen. Und zauberhafte Frauen schmiegten sich auf den rustikal gestalteten Terrassen an markige Männer, frisch gewaschene Kinder spielten – nein, tollten – wohlerzogen um die edlen Pflanzen … und nirgends ein Nachbarhaus, keine Fabrik, keine Straße, rundum nur Natur nebst Sonnenschein, blauem Himmel und deutlich sichtbarer, reiner Luft.
Auf einigen anderen Prospekt-Titelblättern gab es Schwimmbäder zu bewundern – ‹Swimmingpools›, wie das neudeutsch genannt wird –, darum herum lagerten sich männliche Menschen und weibliche Wesen aus dem First-class-Sortiment der Schöpfung: blond und blauäugig, schmalhüftig und breitschultrig, dynamisch und leise einfältig die Herren – rothaarig und grünäugig, vollbusig und langbeinig, anschmiegsam und ebenso einfältig die Damen.
Einige hielten Sektgläser, andere rauchten. Es war ihnen anzusehen, daß sie Tiefschürfendes und Weltbewegendes plauderten, leichthin und lässig bewältigten sie die sozialen und wirtschaftlichen und politischen Probleme unserer Zeit, sprangen zwischendurch immer mal kurz in das vollautomatisch entkalkte, gereinigte und erwärmte Wasser und erholten sich vom Denken oder von dem, was sie dafür hielten.
Oberstudienrat Rainer Bundschuh, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, neunundfünfzigeinhalb Jahre alt, sportlich wirkend und ein beliebter Lehrer bei den Schülerinnen und Schülern, die von seiner Jovialität und Kameraderie zu korrumpieren waren – Oberstudienrat Bundschuh ließ sich weder von den dynamischen Bungalow-Besitzern und Swimmingpool-Besitzern noch von deren junonischen Gefährtinnen beeindrucken.
Er interessierte sich vor allem für die Maße und Preise in den Prospekten. Bei den Zahlen auf seinen Zetteln handelte es sich um Quadrat- und Kubikmeterkosten, um Bauzeiten, Zinssätze etc.
Frau Else Bundschuh, geborene Helferich, steckte den Kopf durch die Tür. «Willst du nicht wenigstens noch ein Wurstbrot essen, ehe du gehst, Rainer?» fragte sie.
Bundschuh erwiderte abwesend: «Nein, danke … Ich hab wirklich keinen Hunger, Elschen!»
Die Art, in der er antwortete, irritierte seine Frau. Woran arbeitete er?
Sie kam ins Zimmer, blieb aber an den Türrahmen gelehnt stehen.
«Du kannst doch nicht ohne …» sagte sie mit der Fürsorglichkeit der guten Hausfrau und Gattin. «Ich meine, es wird ja vielleicht spät! Es ist jetzt erst zwanzig vor sieben. Du wolltest vorher noch zu deinen Jungs, ehe du zum Singen gehst. Ich meine, du kannst doch nicht noch vier, fünf Stunden, ohne was zu essen … wo du seit dem Toast zum Tee heute nachmittag nichts … Soll ich dir nicht doch fix eben was machen?»
Bundschuh schüttelte den Kopf. Er war so sehr in seine Notizen vertieft, daß seine Frau näher trat und ihm über die Schulter schaute.
«Was rechnest du denn da?» fragte sie erstaunt, denn sie hatte ein Aufsatzheft zu sehen erwartet oder einen Artikel in irgendeiner seiner Fachzeitschriften, so einen, über den er sich erbost, den er mit Randbemerkungen verzierte, den er beantworten wollte, um ‹dem Dummkopf mal zu zeigen, wo Barthel den Most holt› – den er dann aber nie beantwortete, weil er für die Erwiderung zu lange brauchte, zu keinem Ende damit kam, nicht zufrieden war … bis er sie in den Papierkorb warf oder in die dicke Mappe mit der roten Filzstiftaufschrift ‹zu erledigen› legte.
«Was rechnest du denn da?» fragte Frau Bundschuh ein zweites Mal.
Der Oberstudienrat legte den Stift aus der Hand, drehte seinen Schreibtischsessel zu ihr, faßte sie mit beiden Händen um die Hüfte und lehnte im Sitzen den Kopf an ihren Bauch.
«Bergsträßer hat mir heute vormittag im Vertrauen gesagt, daß meine Beförderung zum Studiendirektor bevorsteht, und da –»
«Das sagst du mir erst jetzt?» rief sie, nahm seinen Kopf in ihre Hände und bog ihn in den Nacken, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte.
Bundschuh tätschelte ihr die Kehrseite und lächelte sie von unten an.
«Ich wollte es dir am Sonntag sagen, Elschen! Beim Essen. Mit einem Schluck Wein. Ein bißchen feierlicher, sozusagen, gewissermaßen …»
«Ja – natürlich», sagte sie gerührt. Dann erst ging ihr die ganze Bedeutung der Nachricht auf.
«Studiendirektor!» flüsterte sie und schloß drei, vier, fünf Sekunden verzückt die Augen. «Aber das wird auch höchste Zeit!» fuhr sie fort. «Höchste Zeit, daß sie deine Verdienste endlich honorieren, Rainer!» Sie streichelte ihm jetzt das kurzgeschnittene weiße Haar.
Er lehnte seinen Kopf glücklich an ihre Brust, verlor dabei fast seine Lesebrille, konnte sie jedoch gerade noch auffangen, ehe sie zu Boden fiel.
«Es sind zweihundertdreiundsechzigkommaachtzig netto mehr im Monat!» sagte er.
«Schön», sagte sie, «zweihundertwieviel?»
«Zweihundertdreiundsechzigachtzig!» wiederholte er und fuhr fort: «Ich habe auch schon eine Idee, was wir damit machen, Elschen!»
«Ja? Und was?»
«Wir bauen uns ein Häuschen, Liebste!»
«Du bist verrückt, Rainer! Von zweihundertdreiundsechzig Mark kriegst du doch kein Haus gebaut!»
«Aber ja doch!» widersprach er, löste sich von ihr, drehte den Sessel zurück zum Schreibtisch und kramte einen der Zettel hervor. «Ich habe es genau ausgerechnet! Wir zahlen hier sechshundertfünfzig monatlich. Dazu die zwodreiundsechzig, macht neunhundertunddreizehn. Für neunhundertunddreizehn kriege ich als Beamter bei jeder Bank den Betrag geliehen, den wir für das Haus brauchen, jedenfalls für den Anfang. Wir plündern die Sparbücher – und wenn alles gutgeht, lassen wir uns auch noch kleines, aber nicht allzu kleines Schwimmbecken in den Garten –»
«Nun hör aber auf!» sagte Else Bundschuh und lachte. «Ein Schwimmbecken!»
«Ja, ein Schwimmbecken», nickte er beharrlich. «Da können wir jeden Tag schwimmen, wenigstens im Sommer jeden Tag, wenn wir nicht gleich eine Heizung mit einbauen wollen und …»
«Heizung! Und ein Dach drüber. Sauna gleich dabei! Oh, Rainer, du baust Luftschlösser! Ein Haus und dazu – ausgerechnet in Endwarden – ein Schwimmbad! Bundschuhs … wie heißt das? … Bundschuhs Fitnesszentrum! Was glaubst du, was da die Leute reden! Und deine lieben Kollegen! Aber schön wär das schon!»
«Ja! Und gesund! Hält jung. Also ich bin eigentlich fest entschlossen. Was soll denn das Geld auf einem Konto? ‹Man muß damit arbeiten›, hat gerade gestern im Lehrerzimmer der Kollege Brahm gesagt. Der versteht was davon, Elschen, glaub mir. Er hat schon sein zweites Mietshaus gebaut – alles mit einem kleinen Erbe und Bausparverträgen und mit günstigen Krediten, die wir als Beamte –»
«Hat er auch ein Schwimmbad im Garten?» unterbrach Else Bundschuh ihren begeisterten Mann.
«Das … das weiß ich nicht», erwiderte er indigniert. «Aber nun nimm mir doch nicht den Spaß, Else!»
Er sah auf die Uhr und stand schnell auf.
«Meine Güte!» rief er. «Gleich sieben! Ich hab den Jungs so fest versprochen, vor dem Singen noch in ihren Übungskeller zu kommen!»
«Da mußt du dich beeilen, Rainer!» sagte sie. «Aber so ohne Abendbrot …»
«Ich esse im ‹Deutschen Haus› eine Kleinigkeit. Portion Sülze oder so was.»
«Gut! Versprich es mir. Denn ich habe an dem Schwimmbad im Garten keine Freude, wenn mein Mann vorher an Hunger gestorben ist.»
«Hungers!» korrigierte er. «Hungers gestorben ist!»
Dann lachte er, schloß sie in die Arme: «Bist ja doch die Beste, Elschen! Guck dir mal die Prospekte an, während ich weg bin. Der von Krämer und Meißel, da links, der gefällt mir am besten. Da ist ein Swimming – ein Schwimmbad drin, drei mal acht. Hellblau gekachelt, Umwälzpumpe und alles … Aber ich muß los!»
Er lief aus der Tür, griff sich im Flur Hut und Mantel, zog sich schnell an und rief durch die offene Tür zurück:
«Ich komme so schnell wieder, wie ich irgendwie kann, Liebste! Dann reden wir noch drüber! Auf Wiedersehen!»
Sie sah ihm lächelnd nach, nahm einen der bunten Prospekte von der Schreibtischplatte und blätterte darin.
«Umwälzpumpe … so was!» sagte sie kopfschüttelnd.
Die Schwanenapotheke lag an der Hauptstraße Endwardens.
Die Hauptstraße hieß auch Hauptstraße und war ungefähr einen Kilometer lang.
Es gab drei Apotheken dort. Die Stadtapotheke am Südende der Hauptstraße, neben dem früheren Kino, das heute ein Supermarkt ist, weil die Endwardener, wie andere Leute anderswo auch, abends lieber fernsehen als ausgehen; die Bahnhofsapotheke am Nordende der Hauptstraße, gegenüber dem Bahnhofsplatz, auf dem die Omnibusse standen, die in die umliegenden Dörfer fuhren; und die Schwanenapotheke genau in der Mitte, neben der Buchhandlung Kienast, die eigentlich den Titel Buchhandlung nicht verdiente, weil es in dem Laden alles mögliche zu kaufen gab: Illustrierte, Schreibwaren, Spielzeug, Büroartikel, Kaugummis und Knallfrösche – aber kaum Bücher.
Auf der anderen Seite der Schwanenapotheke, also links neben ihr, stand ein hohes, altes, sehr schön renoviertes Haus, in dem sechs Ärzte ihre Praxen eingerichtet hatten, was ein Himmelsgeschenk für die Apotheke war.
Auch die Apotheke befand sich in einem sehr alten Haus, das ein Architekt mit einigem Fingerspitzengefühl renoviert hatte. Die klassizistische Fassade war bis auf das brüchige Steinmetzemblem am Giebel unverändert geblieben, und die zwei Schaufenster der Apotheke waren so geschickt in die Linien der alten Architektur eingefügt worden, daß sie nicht störten.
Das Innere der Apotheke war richtig schön. Große Teile des alten Inventars und Mobiliars hatte man in die moderne Ladengestaltung einbezogen – und das geschickt arrangierte Nebeneinander von neonbeleuchteten Stahlregalen und alten Schubladen mit verschnörkelt beschrifteten Emailleschildern, von modernen Kassen und Waagen und alten Mörsern, Gläsern und Pfannen wirkte bestechend harmonisch.
Walter Hanebutt, der kleine dicke, fast siebzigjährige Apotheker, der das Geschäft gemeinsam mit seiner Tochter Edda, einer klugen, emanzipierten Enddreißigerin führte, hatte sich die Renovierung einiges kosten lassen … genauer: kosten lassen müssen, weil die Apotheken am Süd- und Nordende der Hauptstraße, beide viel jünger und moderner als die Schwanenapotheke, doch eine spürbare Konkurrenz bedeuteten.
Die Renovierungskosten hatten Hanebutt zwar nicht in finanzielle Bedrängnis gebracht oder gar arm gemacht – und sie waren auch längst verwunden –, aber er wurde noch heute, vier Jahre danach, nervös bei dem Gedanken an die sechsstellige Zahl, die unter der Endabrechnung gestanden hatte.
Hanebutt war ohnehin ein ziemlich zaghafter, ängstlicher Mann. Schon kleine Mißgeschicke konnten ihn aus der Fassung bringen, ein verlegter Giftschrankschlüssel zum Beispiel oder eine Kundenbeschwerde warfen ihn um … Und wenn er nicht seine Tochter Edda gehabt hätte, wäre er bald reif für eine psychiatrische Behandlung gewesen.
An diesem Abend im Februar stand Walter Hanebutt im kleinen Laboratorium hinter dem Verkaufsraum seiner Apotheke und nörgelte vor sich hin: «… ist noch keine fünfzig, der Mensch, und redet von nichts anderem als von seinen Gebrechen! Immerzu und immerzu hat er was … mal sticht’s da, mal pikt’s dort – und immer nach Feierabend oder sonntags. Als ob unsereins nicht auch mal seine Ruhe haben will! Und dauernd solche ausgefallenen Sachen! ‹Opodeldok›!»
Hanebutt wog auf der alten Apothekerwaage irgendwelche Zutaten zu der Salbe Opodeldok ab, stark riechende Ingredienzien, ein Kampferöl und alles mögliche andere – und schüttete und löffelte die Sachen in einen kleinen Elektromixer. Die ganze Zeit, während er wog und mixte, quengelte er halblaut: «… Linimentum Saponato camphoratum … ich werde verrückt! Als ob es nicht ein einfaches Hexenschußpflaster sein dürfte … aber nein, da hat er was vom ollen Paracelsus gehört oder gelesen … prompt kommt er an, will es so und nicht anders gemacht haben und prahlt dabei noch mit seiner Bildung … Dieser Querulant, dieser … dieser … –»
Bei den letzten Worten war seine Tochter ins Labor getreten. Sie nahm ihre große, modisch geformte Brille ab, die ihrem hageren Gesicht mit der Hakennase einen eulenhaften Ausdruck gab, und steckte den Brillenbügel zwischen die schmalen Lippen. Mit fast unbewegtem Mund fragte sie: «Was meckerst du denn, Väterchen?»
Hanebutt sah seine Tochter an. Seine Blicke hatten wenig Väterliches. Das waren eher die Blicke eines kleinen Jungen, der seine große Schwester ebenso liebt wie fürchtet. Hanebutt hatte überhaupt mit zunehmendem Alter immer mehr von einem kleinen, verzogenen, störrischen, eigensinnigen Jungen.
Edda, die wegen ihrer kritischen Haltung und großen Intelligenz unverheiratet geblieben war – denn welche Männer mögen schon Frauen, die gescheit oder gar gescheiter als sie selbst sind –, Edda Hanebutt, genau: Frau Dr. Edda Hanebutt, – bemutterte den Vater mit der gleichen Intensität, mit der sie auch studiert und promoviert hatte (‹Über die Heil- und Giftwirkungen der roten Heleborus niger – Christrose – im Vergleich zu Digitalis purpurea – Roter Fingerhut – und Convallaria majalis – Maiglöckchen›) … und mit der sie die Apotheke führte.
Daneben war sie auch politisch aktiv, gehörte als Mitglied der liberalen Fraktion dem Stadtparlament von Endwarden an und leitete den ‹Arbeitskreis der Akademikerinnen›, kurz ADA genannt, auf Landesebene.[*] In der wenigen Freizeit, die ihr Ehrenämter, Vaterbetreuung und Apotheke ließen, las Edda Hanebutt und schrieb. Sie schrieb seltsamerweise keine intellektuellen oder politischen Essays oder psychologisierende Kurzgeschichten, sondern Märchen. Aber das durfte keiner wissen. Nicht mal der alte Hanebutt hatte eine Ahnung, was sich in der Schreibtischschublade seiner Tochter für ‹Es-war-einmal›-Sehnsüchte verbargen.
«Was hast du denn schon wieder zu räsonieren?» fragte Edda jetzt noch einmal.
«Ach, ich quäle mich mit dem Opodeldok für den dummen Eggers», sagte Hanebutt.
«Soll ich dir helfen?» fragte seine Tochter.
«Nein, danke», erwiderte der Apotheker, «ich bin gleich fertig. Gib mir eben den Ichthyoltopf rüber, ja … Danke!»
Sie gab ihm den weißen Steinguttopf, er nahm mit dem dunklen Holzlöffel einen doppelt walnußgroßen Klumpen der schwarzen, nach Teer und Moor, Gesundheit und Vergangenheit riechenden Salbe und gab sie noch in das Gefäß, in dem er den Elektroquirl laufen ließ.
«Bei jedem anderen hätte ich nein gesagt», fuhr er fort, «aber bei Eggers wäre das unter Umständen eine Katastrophe, Edda. Der sitzt als bürgerliches Mitglied im Sozial- und Gesundheitsausschuß und –»
«Ich weiß», unterbrach ihn seine Tochter, «ich bin ja im selben Ausschuß!»
«Ach so, ja – ’tschuldige, Mädchen! Na, dann brauche ich dir nicht zu sagen, wie starrköpfig der Kerl ist. Der könnte mir Schwierigkeiten machen, daß es nur so rappelt! Also mach ich ihm sein Opodeldok in Gottes Namen, verstehst du?»
«Ja – ich verstehe. Aber warum so eilig? Mußt du nicht zu deinem Gesangverein heute abend?»
Sie hatte sich an den Labortisch gelehnt, sah ihm zu, überlegte zum hundertstenmal, was man gegen seine Fahrigkeit und Hippeligkeit tun könnte, und suchte in den Taschen ihres weißen Arbeitskittels nach der Zigarettenschachtel.
«Eben drum», sagte Hanebutt, «ich hab ihm ja versprochen, das Pflaster mitzubringen.»
Er sah auf die Uhr.
«Meine Güte – schon sieben vorbei! Umziehen muß ich mich auch noch …»