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Dieser Titel gehört zu einer Romanreihe, auf der die bekannte Krimifernsehserie ›Der Wolf‹ um den Privatdetektiv Varg Veum basiert. Die Erstausstrahlung der beiden Staffeln erfolgte in Deutschland 2008 bei Das Erste und 2013/2014 beim ZDF. Varg Veum bekommt Besuch: Sein bisher jüngster Kunde, ein achtjähriger Junge, bittet den Privatdetektiv, sein Fahrrad wiederzufinden. Eine Clique von Jugendlichen hat es ihm gestohlen. Veum beschließt, dem Jungen zu helfen. Doch kurz darauf ist das Kind verschwunden ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 487
Gunnar Staalesen
Dein bis in den Tod
Krimi
Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann
FISCHER E-Books
Vielleicht tat ich es, weil er der jüngste Klient war, der je zu mir gekommen war. Vielleicht, weil er mich an einen anderen Jungen an einem anderen Ende der Stadt erinnerte. Oder vielleicht nur, weil ich nichts anderes zu tun hatte. Auf jeden Fall hörte ich mir an, was er zu sagen hatte.
Es war einer der letzten Tage im Februar. Ein warmer Föhn hatte das Thermometer um zwanzig Grad hoch schnellen lassen (von minus acht auf plus zwölf), und der Regen eines Tags und einer Nacht hatte den Schnee fortgespült, der seit drei, vier Wochen die Berge im Stadtgebiet zu einem Paradies und das Zentrum zu einer unpassierbaren Hölle gemacht hatte. Jetzt war es vorbei. Der Frühling blies seinen Atem über die Stadt, und die Menschen trieben mit neuer Energie die Straßen entlang, Zielen entgegen, von denen sie noch nichts wussten, die sie nur ahnten.
An einem Tag wie diesem machte mein Büro einen besonders verwaisten Eindruck. Der viereckige Raum mit dem großen Schreibtisch, auf dem nichts war außer einem Telefon und den Aktenschränken, in denen vor allem Luft war, wirkte wie ein abgeteilter kleiner Winkel des Universums. Ein Ort, an dem man vergessene Seelen ablegt, Menschen mit Namen, an die sich niemand mehr erinnert. Den ganzen Tag über hatte ich nur einen Anruf entgegengenommen. Eine ältere Dame wollte, dass ich ihren Pudel wieder finde. Ich antwortete ihr, ich sei allergisch gegen Hunde, vor allem Pudel. Sie schnaubte verärgert und knallte den Hörer auf. So bin ich: Ich verkaufe mich teuer.
Es war fast drei, als plötzlich draußen die Wartezimmertür ging. Ich saß da und döste vor mich hin und schrak bei dem Geräusch zusammen. Ich schwang die Beine vom Tisch, stand auf, trat zur Zwischentür und öffnete sie.
Mitten im Raum stand ein Junge von etwa acht oder neun Jahren und blickte fragend um sich. Er trug eine verschlissene blaue Daunenjacke und Jeans mit Flicken auf den Knien. Als ich auftauchte, riss er sich seine graue Strickmütze vom Kopf. Das Haar darunter war lang und glatt und fast weiß. Er hatte große, blaue Augen und einen halb offenen, ängstlichen Mund, um den die ganze Zeit ein Weinen auf der Lauer lag.
Ich sagte: »Hallo.«
Er schluckte schwer und sah mich an.
Ich sagte: »Wenn du zum Zahnarzt willst, das ist die Tür nebenan.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will zu …«, begann er und nickte zur Tür hin. Auf der geriffelten Glasscheibe stand, seitenverkehrt, dass hier der Privatdetektiv V. Veum sein Büro hatte.
Er blickte mich verlegen an. »Bist du wirklich ein richtiger … Detektiv?«
Ich lächelte. »Was heißt schon richtig. Komm herein und setz dich.«
Wir gingen ins Büro. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und er sich auf den einzigen, abgewetzten Kundenstuhl. Er sah sich um. Ich weiß nicht, was er erwartet hatte, auf jeden Fall wirkte er enttäuscht. Damit war er nicht der Erste. Wenn ich eins wirklich gut hinbekomme, dann das: Menschen zu enttäuschen.
Er sagte: »Ich habe dich im Telefonbuch gefunden. Unter Detekteien.«
Das letzte Wort sprach er langsam und umständlich aus, als habe er es selbst erfunden.
Ich sah ihn an. In ein paar Jahren würde Thomas in seinem Alter sein. Dann würde er mich am gleichen Ort finden können: im Telefonbuch. Wenn er wollte.
»Und wozu brauchst du meine Hilfe?«, fragte ich.
»Mein Fahrrad«, sagte er.
Ich nickte und wiederholte: »Dein Fahrrad.« Ich sah aus dem Fenster und blickte über die Bucht. Da drüben stand die Autoschlange und hustete sich einem fernen Land entgegen, das sie Åsane nennen und das am Ende der Welt liegt und in dem du – wenn du Glück hast – gerade rechtzeitig ankommst, um den Wagen zu wenden und dich in die Schlange einzureihen, die am frühen Morgen wieder zurück in die Stadt fährt. Ich hatte auch einmal ein Fahrrad gehabt. Doch das war vor der Zeit gewesen, als sie die Stadt den Autos preisgaben und sie mit Abgasen tauften. Die Dunstglocke lag wie eine Haube über der Stadt, und das Hochfjell glich einer vergifteten Ratte, die auf dem Bauch lag und ein wenig Meeresluft einzuatmen versuchte. »Ist es gestohlen worden?«
Er nickte.
»Aber glaubst du nicht, dass die Polizei …?«
»Doch, aber – dann gibt es nur Ärger.«
»Ärger?«
»Ja.« Er nickte heftig, und es sah aus, als habe sein ganzes Gesicht sich mit etwas gefüllt, das er mir erzählen wollte, wozu ihm aber die Worte fehlten.
Dann wurde er plötzlich Realist. »Kostet es viel? Bist du … teuer?«
»Ich bin der teuerste, den du kaufen kannst, und der billigste, den du nachgeworfen bekommst.«
Er blickte mich fragend an, und ich beeilte mich, hinzuzufügen: »Das kommt ganz auf die Art des Auftrags und den Auftraggeber an. Also darauf, was du von mir willst, und wer du bist. Nun erzähl mal alles. Also … dein Fahrrad ist gestohlen worden. Und du willst wissen, wer es war, und wo es ist?«
»Nein. Wer es hat, weiß ich.«
»Aha. Und wer?«
»Joker und seine Bande. Sie haben es auf Mama abgesehen.«
»Auf deine Mutter?« Ich verstand nicht.
Er sah mich vollkommen ernst an. Ich fragte: »Sag mal, wie heißt du eigentlich?«
»Roar.«
»Und weiter?«
»Roar … Andresen.«
»Und wie alt bist du?«
»Achteinhalb.«
»Und wo wohnst du?«
Er nannte eine der Trabantenstädte im Südwesten der Stadt, eine Gegend, in der ich mich nicht besonders gut auskenne. Im Großen und Ganzen hatte ich sie immer nur aus der Entfernung gesehen. Sie erinnert mich an eine Mondlandschaft, wenn sie auf dem Mond solche Wohnblocks haben.
»Und deine Mutter – weiß sie, wo du bist?«
»Nein. Sie war noch nicht zu Hause, als ich gefahren bin. Ich habe deine Adresse im Telefonbuch gesehen und ganz allein den Bus in die Stadt genommen, und ich habe hergefunden, ohne jemanden zu fragen.«
»Dann rufen wir am besten deine Mutter an, damit sie sich keine Sorgen macht. Habt ihr Telefon?«
»Ja. Aber sie ist bestimmt noch nicht zu Hause.«
»Aber sie arbeitet doch irgendwo. Können wir sie bei der Arbeit anrufen?«
»Nein, weil sie nämlich jetzt auf dem Weg nach Hause ist, glaube ich. Und außerdem möchte ich nicht, dass sie von dem hier was erfährt.«
Er wirkte auf einmal so erwachsen. Er wirkte so erwachsen, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte ihm die Frage stellen, die mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag. Kinder wissen heutzutage so viel mehr. »Und dein Vater, wo ist der?«
Der einzige Unterschied, den ich sehen konnte, war, dass seine Augen noch ein Stück größer wurden. »Der … der wohnt nicht mehr bei uns. Er ist ausgezogen. Mama sagt, dass er – dass er eine andere Freundin hat, obwohl die Freundin selbst zwei Kinder hat. Mama sagt, dass Papa nicht lieb ist, und ich soll ihn einfach vergessen.«
Ich sah Thomas und Beate vor mir und musste ganz schnell sagen: »Hör mal zu. Ich glaube, jetzt fahre ich dich nach Hause, und dann sehen wir mal nach, ob wir dein Fahrrad nicht finden können. Den Rest kannst du mir ja unterwegs im Auto erzählen, okay?«
Ich zog eine Jacke an und warf noch einen letzten Blick ins Zimmer. Wieder war ein Tag im Begriff, sich aus dem Staub zu machen, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen.
Er sagte: »Nimmst du deinen Revolver nicht mit?«
Ich sah ihn an: »Meinen Revolver?«
»Ja.«
»Ich habe gar keinen, Roar.«
»Du hast gar keinen? Aber ich dachte …«
»Das ist nur im Kino so. Und im Fernsehen. Nicht in Wirklichkeit.«
»Ach so.« Jetzt sah er wirklich enttäuscht aus.
Wir gingen. In dem Moment, als ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, hörte ich das Telefon klingeln. Eine Sekunde schwankte ich, ob ich wieder aufschließen sollte, aber wahrscheinlich war es nur irgendjemand, der wollte, dass ich seine Katze suchte, und ebenso wahrscheinlich würde es genau in dem Augenblick aufhören zu läuten, in dem ich den Schreibtisch wieder erreichte. Außerdem war ich auch gegen Katzen allergisch. Also ließ ich es bleiben.
Es war gerade die Woche im Monat, in der der Aufzug funktionierte, und auf dem Weg nach unten fragte ich: »Dieser Joker, wie du ihn genannt hast, wer ist das?«
Er schaute mich ernst an und sagte mit zitternder Stimme: »Er ist … böse.«
Ich fragte nicht weiter, bevor wir im Wagen saßen.
Draußen war es wieder kälter geworden. Der Frost kratzte mit ersterbenden Klauen über den fahlen Himmel, und der laue Champagnerrausch des Vormittags war vergangen. In den Augen der Menschen, die uns entgegenkamen, stand kein Frühling zu lesen: nur Abendessen, Probleme am Arbeitsplatz, Beziehungsstress. Der Winter gab ein da capo, am Himmel wie in den Gesichtern der Menschen.
Mein Auto war vor einer Parkuhr oben am Tårnplass abgestellt. Da stand es und sah unschuldig aus, obwohl es genau wusste, dass die Parkzeit längst abgelaufen war.
Mein kleiner Klient war die ganze Zeit neben mir gegangen und hatte zu mir aufgeschaut – wie eben ein Achtjähriger zu seinem Vater aufschaut, wenn sie zusammen in der Stadt sind. Nur dass ich nicht sein Vater war und dass ich nicht gerade viel darstellte, wozu man aufschauen konnte. Ich war ein Privatdetektiv, Mitte Dreißig, ohne Ehefrau, ohne Sohn, ohne gute Freunde, ohne festen Partner. Ich wäre ein Erfolg in der Partei der Einsamen gewesen, doch nicht einmal die hatten mich gefragt.
Immerhin hatte ich ein Auto. Es hatte wieder einmal einen Winter überlebt und ging seinem achten Frühling entgegen. Und es lief, immer noch, auch wenn es Startprobleme hatte, besonders bei plötzlichen Wetterumschwüngen. Wir stiegen ein, und nach ein paar Minuten handfester Diplomatie waren wir in Gang. Roar schaute mit großen Augen zu, wie mein Mund die schrecklichsten Flüche formte, ohne einen Ton von sich zu geben. Darin bin ich immer gut gewesen: Ich fluche selten in Gegenwart von Frauen und Kindern. Vielleicht mag mich deswegen niemand. Mitten auf der Puddefjordbrücke standen wir plötzlich im Stau. Es war, als wären wir auf dem Scheitelpunkt eines verblassten Regenbogens angehalten worden. Draußen zu unserer Rechten lag Askoy wie eine Haut zwischen dem blassgrauen Himmel und dem schwarzgrauen Wasser. Die Lichter begannen an den Berghängen dort draußen wie kleine Notleuchten aufzuflammen. Zu unserer Linken, im Innersten von Viken, lag das Skelett von etwas, das – wenn Gott und die Schifffahrtskonjunktur es wollten – ein Schiff werden sollte. Ein riesiger Kran schwenkte seinen Arm drohend über dem Skelett, wie eine Vorzeitechse, die einen gefallenen Dinosaurier verspeist. Es war einer dieser Spätwinternachmittage, an denen Tod in der Luft liegt, egal wohin du dich wendest.
Ich sagte: »Jetzt erzähl mir mal von deinem Fahrrad und von deiner Mutter und von Joker und seiner Gang. Und sag mir, was ich eigentlich für dich tun soll.«
Ich lächelte ihn von der Seite aufmunternd an. Er versuchte zurückzulächeln, und ich kenne nichts Rührenderes als kleine Kinder, die zu lächeln versuchen und es nicht hinbekommen. Die Geschichte war offenbar gar nicht so einfach zu erzählen.
Er sagte: »Letzte Woche haben sie das Fahrrad von Petter genommen. Er hat auch keinen Vater.«
»Ja?«
Die Schlange setzte sich langsam wieder in Bewegung. Ich folgte automatisch den roten Bremslichtern vor mir. Er fuhr fort: »Joker und seine Gang … sie sind … sie haben eine Hütte oben im Wald hinter den Hochhausblocks.«
»Eine Hütte?«
»Ja, und sie haben sie nicht einmal selbst gebaut. Das haben andere gemacht. Aber dann sind Joker und seine Gang gekommen und haben die anderen weggejagt. Und jetzt wagt sich keiner mehr dahin. Aber dann …«
Hinter Laksevåg folgten wir der Hauptstraße. Zu unserer Rechten, jenseits des Puddefjords, lag Nordnes wie eine Hundepfote im Fjord.
»Ja, dann …«, sagte ich.«
»Wir hatten schon vorher gehört, dass sie so was machten. Dass sie eins von den großen Mädchen nahmen … also gefangen und in die Hütte gebracht haben … und Sachen mit ihr machten. Aber das war ja mit Mädchen – nicht mit Müttern! Und dann haben sie dem Petter sein Fahrrad gestohlen, und da ist Petters Mutter raufgegangen, um sein Fahrrad zu holen, und dann … dann ist sie nicht wieder runtergekommen.«
»Ist sie nicht wiedergekommen?«
»Nein. Wir haben da gestanden und über zwei Stunden gewartet. Petter und Hans und ich. Und Petter hat geweint und gesagt, jetzt hätten sie sicher seine Mutter umgebracht, und sein Vater wäre zur See gegangen und nie wieder nach Hause gekommen und …«
»Aber seid ihr nicht … konntet ihr nicht andere Erwachsene rufen?«
»Wen denn? Petter und Hans und ich haben keinen Vater, und der Hausmeister jagt uns nur immer weg, und der Polizist Hauge genauso, und der doofe Jugendbetreuer sagt immer nur, wir sollen reinkommen und Mensch ärgere dich nicht oder so spielen. Und dann ist seine Mutter wieder runtergekommen. Aus dem Wald. Und das Fahrrad hatte sie mit. Aber ihre Kleider waren zerrissen und schmutzig und sie … sie hat geweint, dass alle es gesehen haben. Und hinter ihr kamen Joker und seine Gang und schrien und lachten. Und als sie uns sahen, kamen sie angelaufen, und dann sagten sie – sodass die Mutter und alle es hören konnten –, wenn sie zu irgendjemand etwas sagte, würden sie Petter was abschneiden … dann würden sie was ganz Schreckliches mit Petter machen!«
»Aber … ist denn weiter nichts mehr passiert?«
»Nein. Keiner wagt es, etwas gegen Joker und seine Gang zu machen. Einmal hat der Vater von einem Mädchen sich Joker geschnappt, als er allein war, vor dem Supermarkt, und ihn an die Wand gedrückt und gesagt, er würde ihn so verprügeln, dass er nicht mehr auf den Beinen stehen könnte, wenn Joker nicht aufhörte.«
»Und?«
»Und einen Abend, als er spät nach Hause kam, standen sie vor dem Haus, die ganze Gang, und haben auf ihn gewartet. Sie haben ihn so geschlagen, dass er zwei Wochen krank war, und danach ist er weggezogen. Und deshalb wagt keiner, etwas zu machen.«
»Aber ich soll es also wagen?« Ich blickte zu ihm hinunter.
Er sah mich voller Hoffnung an. »Ja. Weil du doch Detektiv bist.«
Ich ließ das eine Weile sacken. Großer, starker Detektiv mit kleinen, kleinen Muskeln und großem, großem Mund. Wir hatten gerade das Stadtgebiet hinter uns gelassen, und die Geschwindigkeitsbegrenzung war aufgehoben, aber ich fuhr trotzdem nicht viel schneller. Ich hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. »Und jetzt«, sagte ich.
»Jetzt haben sie also dein Fahrrad genommen, und du hast Angst, dass deine Mutter … Hast du ihr davon erzählt, was mit Petters Mutter …?«
»Nein. Ich hab mich nicht getraut.
»Und du bist sicher, dass es wirklich Joker und seine Gang ist, die …«
»Ja! Sie haben nämlich einen kleinen Dicken in der Gang, den sie Tasse nennen, und er ist zu mir gekommen, als ich auf dem Heimweg von der Schule war, und hat gesagt, dass Joker mein Fahrrad geliehen hätte, und dass ich es wiederhaben könnte, wenn ich zur Hütte käme. Und wenn ich Angst hätte, selbst zu kommen, könnte ich ja meine Mutter schicken, hat er gesagt. Und dann hat er gelacht.«
»Und wie viele sind in der Gang?«, wollte ich wissen.
»Acht oder neun, manchmal zehn. Es wechselt.«
»Nur Jungen?«
»Nein, sie haben auch ein paar Mädchen dabei, … aber nicht immer, nicht wenn sie …«
»Und wie alt sind sie?«
»Oh, die sind groß. Sechzehn, siebzehn bestimmt. Und Joker ist noch ein bisschen älter. Manche sagen, er ist über zwanzig. Aber er ist bestimmt erst neunzehn.«
Neunzehn: die beste Blütezeit für Psychopathen. Zu alt, um noch Kind zu sein, und zu jung, um schon erwachsen zu sein. Solche kannte ich von früher. Sie konnten die rauesten Burschen sein, mit denen man zu tun haben konnte, und man konnte sie mit einem harten Wort zum Weinen bringen. Sie waren genauso unberechenbar wie ein Frühlingstag Ende Februar. Man konnte nie sicher sein, wo man sie hatte. Ich durfte mich offenbar auf einiges gefasst machen.
Wir fuhren an dem großen Einkaufszentrum vorbei, dem sie sarkastischerweise den Namen Marktplatz gegeben hatten. Auf dem Felshügel dahinter lagen zwei Schulen, eine große, errötende Realschule und eine Grundschule, die sich wie vollgefressene Raupen an den Berghang klammerten. Dahinter erhoben sich die vier Hochhäuser zum Himmel.
»In dem da wohnen wir«, erzählte Roar mit einer Miene, als zeige er auf einen der Sterne im Großen Wagen.
Der ganze Stadtteil lag im Schatten des Lyderhorns. Von dieser Seite sah der Berg steil, dunkel und bedrohlich aus. Auf dem Gipfel ragten die Fernsehmasten auf. Sie schlitzten den Wolken den Bauch auf, so dass Gedärm aus stahlblauem Himmel herausquoll.
Ich parkte, und wir stiegen aus.
»Da wohnen wir«, sagte er und zeigte in die Höhe.
Ich folgte seinem Zeigefinger mit dem Blick. »Wo?«, sagte ich.
»Im neunten Stock. Das Fenster mit den grünen und weißen Gardinen, das ist mein Zimmer.«
»Aha.« Ein Fenster mit grünen und weißen Gardinen irgendwo im neunten Stock; er hörte sich an wie Robinson Crusoe.
»Dann gehen wir am besten hinauf und sagen deiner Mutter Bescheid.«
Er schüttelte energisch den Kopf: »Nicht ohne das Fahrrad«, sagte er.
»Na gut.« Ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen. Mit Banden von Siebzehn-, Achtzehnjährigen ist nicht immer gut Kirschen essen, besonders dann, wenn sie sich für harte Burschen halten und du selbst deine Fäuste seit ein paar Jahren hauptsächlich zum Heben der Aquavitflasche benutzt hast. »Wo ist denn die Hütte?«
»Da.« Er zeigte nach oben. »Ich geh ein Stück mit.«
Wir gingen um den nächsten Hochhausblock herum. Zur Rechten, den Hang aufwärts lag eine Anzahl niedriger Blocks zwischen den Bäumen verteilt, als seien sie aus großer Höhe heruntergefallen und niemand habe sich darum gekümmert, wo sie gelandet waren. Hinter dem ersten dieser Blocks stieg das Gelände an, es war mit Wacholderbüschen und Kiefern bewachsen, und auf halber Höhe des Abhangs sollte die Hütte von Joker und seiner Gang liegen.
Roar blieb an der Ecke des letzten Blocks stehen und erklärte mir, wie ich gehen sollte.
»Du hast keine Lust, selbst mitzukommen?«, fragte ich.
Er schüttelte verzagt den Kopf.
»Nein. Ich kann dich verstehen«, lächelte ich ihm zu. Da, wo ich aufgewachsen war, hatten wir auch so eine Gang. Vielleicht nicht ganz so raffiniert wie diese. Aber wir wohnten auch nicht in so hohen Häusern. »Dann wartest du hier auf mich. Also den Pfad zwischen den Bäumen dort rauf?«
Er nickte zweimal und sah mich mit seinen großen Augen an. Er sah wirklich besorgt aus, nicht seinetwegen, sondern meinetwegen. Das baute mich nicht gerade auf.
Ich ging los, in wiegendem Seemannsgang. Das half mir, mich ein wenig mutiger zu fühlen, so als sei dies gar nichts für einen großen, starken Mann, der sich jetzt schon seit vielen Jahren die Zähne selber putzte.
Eine Frau kam mir entgegen. Sie war Ende dreißig, ihr Gesicht war mager und zerfurcht, wie die Überreste einer Fischmahlzeit bei armen Leuten. Um ihre besondere Note zu betonen, hatte sie die Haare zurückgekämmt und im Nacken straff zusammengebunden, sodass sie aussahen, als seien sie auf die Kopfhaut geklebt. Das gab ihr trotz ihrer blonden Haare ein nahezu indianisches Aussehen. Doch sie zog kein demontiertes Tipi hinter sich her, sondern einen Einkaufstrolley. Sie war sehr blass und sah mich aus ängstlichen Augen an. Doch sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Ich versuchte nicht einmal, sie anzulächeln.
Ich trat zwischen die Bäume.
Ich habe Kiefern immer gemocht. Sie lassen mich an heidnische Phallussymbole denken, wie sie üppig und rund und wollüstig gen Himmel streben – im krassen Gegensatz zu den pietistischen Fichten mit ihren hängenden Ästen und ihrem tristen Leichenbitteraussehen. Der Duft von Kiefern lässt mich immer an Sommer denken – Spätsommer, und du steigst aufwärts, durch ein Tal oder eine Schlucht oder sonst wo, hinauf ins heidekrautbedeckte Hochland, zu den weiten, offenen Flächen und dem gewölbten, klaren Spätsommerhimmel mit seiner ganzen dunkelblauen Kraft, die eine lange Sonnensaison hindurch ihre Vitamine für den Winter abgelagert hat.
Aber jetzt war kein Spätsommer. Es war Februar, und es gab keinen Grund, an die Weiten des Hochlandfjells zu denken, oder an Kiefern, oder an überhaupt irgendetwas.
Plötzlich lag die Hütte da, zwanzig Meter über mir am Hang. Es war nicht gerade viel Staat mit ihr zu machen. Schalbretter, die jemand mit grüner Farbe überpinselt hatte, ein bisschen Teerpappe und Sackleinen als Isolierung und hoch oben an der mir zugewandten Wand eine mit Hühnerdraht bespannte Öffnung. Daran lehnte ein blaues, glänzendes Fahrrad, und hinter dem Hühnerdraht erkannte ich ein weißes Gesicht.
Ich ging näher heran und hörte Stimmen aus dem Hütteninneren. Dann quollen sie durch die eine Seitenwand heraus, liefen zur Vorderseite der Hütte und stellten sich vor dem Fahrrad auf, wie eine Mauer.
Das Empfangskomitee war zur Stelle.
Eigentlich sahen sie eher furchtsam als furchteinflößend aus. Sechs gewöhnliche, noch nicht ausgewachsene Teenager mit den altbekannten Pickeln und den altbekannten flaumbewachsenen Kinnpartien und dem altbekannten dämlichen Grinsen. Ein langer, schlaksiger Bursche ganz außen versuchte, sich eine Zigarette zu drehen, aber die Hälfte des Tabaks landete auf der Erde, und als er die Zigarette schließlich in den Mund stecken wollte, fehlte nicht viel, und er hätte sie sich ins Auge gepikt. In der Mitte stand ein anderer, der auffiel, weil er klein und dick war. Er hatte ein rotes Gesicht und rötlich blonde Haare. Der Ausdruck seiner Augen erinnerte an einen getreten Hund, woraus ich schloss, dass er der Narr der Bande war. Denn alle Banden haben ihren Narren, doch wehe dem armen Schwein aus einer anderen Gang, der ihm etwas tut. Bewusst oder unbewusst ist der Narr derjenige, der die Gang im Grunde zusammenhält, denn es ist ihre Aufgabe, ihn zu verteidigen und zu beschützen. Das musste der sein, den Roar Tasse genannt hatte. Die vier übrigen unterschieden sich in Haarfarbe, Größe und Gesichtsausdruck, ansonsten waren sie ziemlich austauschbar. Alle trugen Jeans, ein paar Daunenjacken, die anderen Lederjacken.
Dann trat der letzte Mann aus der Hütte, und das ganze Bild änderte sich. Die anderen waren wie eine Schafherde aus der Hütte getrappelt, dieser hier erschien, schlendernd, als gehe er nur zufällig vorbei.
Er hatte etwas Einstudiertes und Künstliches, das augenblicklich den Psychopathen verriet, und ich bemerkte sofort die Angst und den Respekt, die ihn umgaben. Was vor einer halben Minute noch eine Ansammlung von Konfirmanden gewesen war, die ich dazu hätte bringen könne, mir das Vaterunser vorzubeten, war auf einen Schlag zu einer Gang geworden. Das unsichere Lächeln wich zusammengepressten, willensstarken Lippen. Die ängstlichen Augen wurden hart wie Kiesel. Die Zigarette des langen Labans zur Linken fand plötzlich Ruhe in seinem einen Mundwinkel und Tasse streckte den Bauch heraus und stemmte seine kleinen plumpen Hände in die Hüften.
Er stellte sich nicht vor. Das war nicht nötig. Er wirkte irgendwie uninteressiert an der Situation und strahlte fast etwas Einschläferndes aus. Aber seine schmalen, blinzelnden Augen waren nicht schläfrig. Sie waren schwarz und wach wie bei einem Raubtier auf der Jagd.
Er war dunkel, und sein Haar war aus der Stirn und glatt nach hinten gekämmt. Das gab ihm das Aussehen eines Pastors. Die Stirn war hoch und weiß. Seine Nase war ungewöhnlich schmal und dünn, fast wie ein Messer, als könnte er sie als Waffe benutzen, wenn er wollte. Sein Mund erinnerte an den von Elvis Presley. Die Oberlippe war in einem höhnischen Grinsen nach hinten gezogen, doch die Zähne darunter würde er nie auf einem Plattencover zeigen können, sie waren verfaulte Karikaturen ihrer selbst.
Er trug enge, fast weiße Jeans und eine schwarze Lederjacke mit einer Menge glitzernder Reißverschlüsse. Sein Körper war von der angespannten, mageren Sorte. Besonders groß war er nicht, aber ich ging davon aus, dass er ziemlich fix mit dem Messer sein konnte, wie die meisten Leute seines Kalibers.
Seine Stimme klang genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, gespannt wie ein Stahldraht und so gefühlvoll wie eine gebrauchte Rasierklinge. Genau in dem Moment, als er anfing zu sprechen, verirrte sich ein nachmittagsgoldener Sonnenstrahl durch das Dach der Kiefernzweige und fiel ihm direkt ins Gesicht. Seine papierbleiche Haut färbte sich golden wie die eines Engels, und seine fülligen Lippen erschienen blutvoll und raffaelmäßig. Es war eine Illusion wie das meiste, auf das die Sonne ihre Strahlen wirft. Er sagte: »Was willst du hier, Opa?«
Er brauchte sich nicht nach Applaus umzuschauen, er bekam ihn auf der Stelle. Ein dröhnendes Unisonogelächter brach die Stille des Waldes. Es war ein unschönes Gelächter, wie Teenager eben lachen.
»Ich suche den Kindergarten. Aber jetzt habe ich ihn ja gefunden.« Ich konnte nicht den gleichen Charme entwickeln, denn ich hatte keine Lacher auf meiner Seite.
Seine Zunge spielte zwischen seinen vergammelten Zahnstummeln. »Das Altenheim liegt aber da unten. Sollen wir dir vielleicht einen Rollstuhl besorgen?«
Eine neue dröhnende Lachsalve. So etwas Witziges hatten sie noch nie gehört. Sie lachten sich fast tot.
»Brauchst du denn einen?«, fragte ich und fügte, solange ich das Wort hatte, rasch hinzu: »Im übrigen wollte ich nach meinem Fahrrad sehen.«
»Deinem Fahrrad?« Er blickte sich um, als entdecke er erst jetzt, dass er nicht allein dort stand. »Habt ihr ein Fahrrad gesehen, Leute?«
Alle Clowns blickten sich um und grinsten. Alle schüttelten den Kopf, Der, den sie Tasse nannten, sah aus, als platze er gleich vor unterdrücktem Lachen. Joker sagte: »Schick lieber deine Tante, Opa, oder eine der Pflegerinnen aus dem Altenheim, dann sehen wir mal, was wir tun können in der … Angelegenheit.«
Diesmal glaubte ich wirklich, sie würden sterben. Sie lachten so, als wollten ihnen die Eingeweide platzen, als feierten sie schon drei Tage lang mit Lachgas und hätten noch ein paar Behälter übrig. Ich spürte, wie dicht ich davor war, eine Rede zu halten.
So bin ich. Wenn ich Angst habe, muss ich immer eine Rede halten. An der Schwelle des Todes werde ich stehen und eine Rede halten mit der Verzweiflung eines Schwulen, dem sie die Lobrede auf die Frauen aufs Auge gedrückt haben. An der Himmelspforte werde ich Petrus beschwatzen, bis ihm die Ohren abfallen und er mich an die Reklamationsabteilung im ersten Stock verweist.
Ich fing an, machte zwei Schritte und nahm vor dem langen Lulatsch Aufstellung. Ich starrte ihm in die Augen und hoffte, dass mein Blick bei ihm Erinnerungen an die Steinbeißererlebnisse seiner Kindheit weckte. Und zu meiner Befriedigung sah ich, dass die Zigarette in seinem Mundwinkel zu zittern begann.
»Ich sehe vielleicht auf den ersten Blick nicht so gefährlich aus«, sagte ich, »wenn ihr sieben Paar Augen und fünfzehn, zwanzig Jahre jünger seid als ich. Ein Löwe, der ein paar Jahre im Zoo ausgestellt gewesen ist, sieht auch nicht besonders gefährlich aus, bis sich jemand in seinen Käfig wagt.«
Ich ging einen Schritt weiter zum Nächsten. Der war ungefähr gleich groß wie ich, hatte einen großen Pickel am linken Nasenflügel und Schweiß auf der Oberlippe.
»Ihr macht mir keine Angst, nur weil ihr hier steht und im Gesicht ausseht wie das norwegische Hochgebirge. Sogar noch im Sonnenuntergang.« Er wurde sichtlich rot und ich ging weiter zum Nächsten.
Der Junge hatte bereits einen prächtigen grauschwarzen Stoppelbart. Er hatte dichte, dunkle Augenbrauen, aber die Augen darunter waren verräterisch kurzsichtig. Er sollte eigentlich eine Brille tragen. Ich wedelte mit der Hand vor seinen Augen herum. Er wusste nicht, worauf er den Blick fixieren sollte.
»Hallooo? Jemand zu Hause? Hier bin ich. Nein, hier. Geh nach Hause und hol deine Brille, Kumpel. Du siehst ja aus wie ein Abgesandter der dritten Dimension. Ja, das verstehst du, wenn du ein bisschen älter geworden bist. Wirf bei Gelegenheit mal einen Blick in ein Lexikon, falls du weißt, was das ist.«
Der nächste Mann war Joker, und ich ging einfach an ihm vorbei. Im Augenwinkel sah ich, dass er daran schwer zu schlucken hatte. Rechts von ihm stand Tasse, der Narr.
Ein Narr ist eine leichte Beute, wenn er nicht bereits immun geworden ist. »Hallo, Schweinchen Schlau. Du siehst aus, als hättest du selbst dann und wann ein Fahrrad nötig.« Ich wartete einen Moment. »Kondition, Fitness, Gewichtsreduzierung. Steht alles im Fremdwörterbuch.«
Die beiden letzten erledigte ich in einem Aufwasch. »Und wer ist das hier? Dick und Doof im Kindergarten?« Ich ging zurück in die zentrale Position und ließ den Blick über sie alle gleiten. »Wisst ihr, wer ich bin? Veum, der Redewütige, schon mal von mir gehört? Ihr findet mich im Telefonbuch, unter M für Monster. Manchmal auch in der Zeitung, jedes Mal, wenn ich einen zum Krüppel geschlagen habe. Also ich kann euch nicht empfehlen, zu mir in den Käfig zu kommen. Das müsst ihr so sehen: Ich spiele in der Nationalelf, und ihr seid die F-Jugend eines Vereins der fünften Liga von Møre og Romsdal. Ihr habt nur einen Vorteil: Ich darf eigentlich keinen schlagen, der kleiner ist als ich. Aber so ganz genau habe ich es damit bisher nie genommen. Ihr könnt es ja versuchen.« Und solange ich noch einen kleinen Vorsprung hatte, fügte ich noch schnell hinzu: »Ich bin hergekommen, um mein Fahrrad zu holen, und das werde ich jetzt tun. Habt ihr was dagegen?«
Ich fixierte Joker. Psychopathen und Bären gleichen sich in einem: Die beste Methode, sie zu zähmen, ist, ihnen direkt in die Augen zu starren. Ich sagte: »Wenn Männer pokern, ist nie ein Joker im Spiel.«
Damit schritt ich direkt an ihm vorbei, griff den Lenker des Fahrrads und schwang es herum. Sechs Augenpaare gafften mich an. Joker stand da wie vorher, mit dem Rücken zu mir.
Einem Psychopathen den Rücken zuzuwenden ist das Dümmste, was du tun kannst, aber ich hatte ein fasziniertes Publikum und nicht viele Alternativen. Während ich auf dem Weg aus dem Bannkreis heraus an Joker vorbeiging, drehte ich den Kopf und behielt ihn im Blick. »Geht rein und holt eurem Chef eine frische Windel, Jungs.« Ich hielt den Kopf in dieser Stellung, als hätte ich einen Hexenschuss bekommen, und ließ seinen Blick nicht los, bis ich so weit entfernt war, dass er mir kein Springmesser mehr zwischen die Schulterblätter stoßen konnte, ohne eine große Nummer daraus zu machen.
Hinter mir war kein Laut zu hören. Keiner wagte zu lachen. Niemand lacht, wenn er Zeuge einer Majestätsbeleidigung wird, jedenfalls nicht, bevor der König gegangen ist. Doch ich war unbescheiden genug zu vermuten, dass mein Auftritt mythische Dimensionen annehmen würde, wenn an einem blauschimmernden Lagerfeuer irgendwo in der unfruchtbaren leeren Wüste der Fernsehzukunft einst die Chronik der Gang erzählt werden würde. Unten auf dem Weg sprang ich aufs Fahrrad und stand in den Pedalen: Der einsame Reiter kehrt zurück, dem Sonnenuntergang entgegen. Nur, dass es der einsame Reiter verflixt eilig hatte. Denn der einsame Reiter war … ich.
Roar wartete an der Ecke, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Er blickte mich mit unverhohlener Bewunderung an. Ich sprang vom Fahrrad, und wir gingen gemeinsam zu dem Hochhausblock, in dem er wohnte, das Fahrrad zwischen uns.
»Wie … wie hast du das gemacht?«, fragte er.
»Ich habe es einfach geholt«, entgegnete ich, als handele es sich dabei um die leichteste Sache der Welt.
Sie brauchte nicht einmal den Mund aufzumachen, da wusste ich schon, wer sie war. Sie kam uns entgegengeflattert wie ein erschrockenes Waldhuhn, das dunkle Haar wie eine Wolke um den Kopf, das Gesicht so angespannt und ängstlich, dass es aussah, als habe sie drei Augen, doch das dritte war ihr Mund. Sie trug blaue Samthosen, einen eng anliegenden, weißen Rollkragenpulli und eine rote und blaue Daunenjacke, die sie in der Eile offen gelassen hatte.
»Roar«, rief sie schon aus fünfzig Meter Entfernung. »Wo bist du gewesen?«
Sie packte ihren Sohn an den Schultern und starrte ihm ins Gesicht, als sei es eine Landkarte, auf der eingezeichnet war, wo er sich aufgehalten hatte. Ihr Kopf war voller wilder Locken, und das Haar war im Nacken ganz kurz geschnitten. Sie hatte einen dieser weißen, schmalen Nacken, die dich innerlich zum Weinen bringen, die dir all die tausend Schwäne deiner Kindheit im Nygårdsparken in Erinnerung rufen, die dich tief und aufrichtig bedauern lassen, dass du selbst nie einen solchen Nacken gefunden hast, um dich daran auszuweinen, oder dass du den, den du einmal hattest, im Stich gelassen hast. Es war kurz gesagt einer dieser Nacken, die dich ins Schwafeln geraten lassen, innerlich.
»Mama«, sagte Roar. »Das ist … weil nämlich Joker und die … die haben mir mein Fahrrad weggenommen, und da bin ich …«
Sie warf mir einen frostigen Blick zu und sagte mit einer Stimme, die einem im Hochsommer am Strand bei dreißig Grad im Schatten sicher gut getan hätte: »Wer sind Sie?« Und wieder Roar zugewandt: »Hat dieser Mann dir etwas getan?«
»Mir was getan …?« Er blickte sie verwundert an.
Sie schüttelte ihn. »Nun antworte schon, Junge. Los, antworte!« Sie sah wieder mich an, und Tränen kullerten aus ihren Augen. »Wer sind Sie? Wenn Sie ihn auch nur angerührt haben … Dann bringe ich Sie um.«
Ihr Gesicht hatte rote Flecken bekommen, und ihre kleine Nase glänzte von Schweiß. Ihre Augen waren dunkelblau und sprühten Funken wie Gasflammen. »Ich heiße Veum«, sagte ich, »und ich habe nicht …«
Roar unterbrach mich. Jetzt hatte er Tränen in den Augen. »Er hat nicht … er hat mir doch geholfen … er hat mir mein Fahrrad wieder gebracht. Er hat oben in der Hütte bei Joker und denen mein Fahrrad geholt, damit du nicht …«
Die Tränen kullerten, und sie sah ihn hilflos an. Dann nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ich blickte mich um. Es war jetzt nahezu dunkel, und in den meisten Fenstern war das Licht angegangen. Autos fuhren vorbei, und müde Männer gingen mit gesenkten Köpfen von ihren Wagen zu den Türen und Aufzügen, hinauf zu ihren Frauen und den Abendbrottischen, zwanzig Meter über der Erdkruste, zwanzig Meter näher am Weltraum und einen Arbeitstag näher an der Ewigkeit. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in dem sie wohnten, spielte sich ein kleines Familiendrama ab, doch keiner von ihnen schaute auf, keiner von ihnen registrierte, dass dort eine junge Frau, ein kleiner Junge, ein nicht mehr ganz so junger Mann und ein ziemlich neues Fahrrad standen. Wir hätten uns ebenso gut allein an einem entlegenen Ort in der Sahara befinden können.
Sie sah mich über die Schulter ihres Sohnes an – mit einem Gesicht, das mindestens zwanzig Jahre zu jung war. Der Mund zeigte diesen mürrischen Ausdruck eines gekränkten kleinen Mädchens, das seinen Lolli nicht bekommen hat, aber es war ein fülliger Mund, mit runden, sinnlichen Lippen, und das Mienenspiel um diesen Mund herum verriet, dass sie am Ende schon ihren Willen bekommen würde. Die dunkelblauen Augen waren jetzt ruhig geworden.
Sie sagte: »Entschuldigung. Ich war so erschrocken. Er – er ist noch nie so lange weg gewesen. Ich, ja …«
»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte ich.
Sie richtete sich ganz auf und gab mir die Hand, während sie sich mit der linken das Haar aus der Stirn strich. »Ich bin … ich heiße … Wenche Andresen.«
Ich behielt ihre Hand ein paar Sekunden in meiner. »Veum. Varg Veum.«
Sie wirkte verwundert, und ich merkte, dass sie den Vornamen nicht verstanden hatte, oder dass sie glaubte, sich verhört zu haben.
»Mein Vater hatte Sinn für Humor«, sagte ich. »Er hat ihn mir gegeben.«
»Wen gegeben …«
»Den Namen, Varg.«
»Also du heißt wirklich …« Und dann lachte sie ein lang gezogenes befreiendes Lachen. Der mürrische Mund entspannte sich zu einem strahlenden Lächeln, ihr ganzes Gesicht wurde schön und glücklich und jung – bis sie aufhörte zu lachen und zehn Jahre älter und gleichzeitig zwanzig Jahre jünger wurde. Sie hatte den Mund eines kleinen Mädchens und die Augen einer Frau in mittleren Jahren. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam.
»Aber was sind Sie eigentlich … wie ist Roar auf Sie gekommen?«
»Ich führe private Ermittlungen durch, bin eine Art Detektiv. Er hat mich im Telefonbuch gefunden.«
»Detektiv?« Sie schien mir nicht ganz zu glauben.
»Es stimmt, Mama«, sagte Roar. »Er hat ein Büro in der Stadt, aber er hat … er hat keinen Revolver.«
Sie lächelte schwach. »Na, dann ist es ja gut.« Sie schaute sich um. »Ich weiß nicht … kann ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« Sie nickte zu dem Wohnblock hinüber.
Ich sah auf die Uhr. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam. »Ja, danke. Warum nicht«, sagte ich.
Also ging ich mit Roar und seiner Mutter an meinem Wagen vorbei zu einem der beiden Treppenhäuser des zwölfgeschossigen Blocks. Wir schlossen das Fahrrad in den Keller und betraten einen der beiden Aufzüge. Sie drückte auf die 9. Die Kabine hatte graue Stahlwände, von denen die Farbe bereits abblätterte. Sie glich eher einer Gaskammer als einem Beförderungsmittel.
Wenche Andresen blickte mich mit ihren großen Augen an und sagte: »Wenn wir Glück haben, kommen wir bis nach oben.«
»Wieso?«
»Ach, da sind ein paar Jugendliche, die ständig Unfug damit treiben. Sie stehen in jeder Etage und drücken gleichzeitig auf den Knopf, und dann gibt es einen Kurzschluss oder so etwas. Auf jeden Fall bleibt der Aufzug zwischen zwei Etagen stecken, und dann kann man warten, bis der Hausmeister kommt und ihn wieder in Gang bringt.«
»Scheint ja ein ideales Milieu für Jugendliche zu sein. Gibt es denn außer Fahrraddiebstahl und Fahrstuhlrandale keine anderen Freizeitbeschäftigungen?«
»Die Kommune hat einen Mann für die Jugendarbeit angestellt, aber ich glaube nicht, dass das viel bringt. Er hat einen Jugendclub gegründet. Våge heißt er.«
Der Fahrstuhl stoppte, und wir waren oben. Zwei Türen führten aus dem Treppenhaus, und wir gingen durch die eine und kamen auf einen offenen Gang, der an der ganzen Front des Hauses entlanglief und nur vom Treppenhaus- und Fahrstuhlschacht unterbrochen wurde. An diesem Gang lagen die Wohnungstüren. Auf dem Weg zu Wenche Andresens Tür passierten wir zwei andere Türen und eine Reihe von Fenstern, die meisten mit Gardinen verhängt. Die Türen waren blau gestrichen. Wir waren im neunten Stock, und der Asphalt vor dem Haus schien unglaublich tief unter uns zu liegen. Ein Sprung von hier oben würde den sicheren Tod bedeuten.
An Wenche Andresens Tür hing ein handgemaltes Schild: Hier wohnen Wenche, Roar und Jonas Andresen. Sie kommentierte dies nicht, sondern schloss uns schweigend auf und ließ uns ein.
Im Flur hängte sie ihre Daunenjacke auf und nahm mir meine Jacke ab. Ich blieb etwas unbeholfen mitten auf dem grünen Nadelfilz stehen und fühlte mich so, wie man sich in einem fremden Flur fühlt, wenn man nicht weiß, wohin man sich wenden soll.
Roar nahm meine Hand. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«
»Dann setze ich in der Zwischenzeit Kaffee auf«, sagte seine Mutter.
Roar zog mich zu seinem Zimmer. Aus der Nähe erwiesen sich die grünweißen Gardinen als weiße Lastwagen auf grünem Grund. In einer Ecke stand ein Bett aus unbehandeltem Holz, offenbar die untere Hälfte eines ehemaligen Etagenbetts. An den Wänden hingen Plakate mit Comicfiguren und Tieren, ein großes Bild von einem Clown in der Manege und ein kleines Kalenderbild von einem Pfadfindertrupp auf dem Weg durch eine enge, von weiß gemalten Holzhäusern gesäumte Straße. Auf dem Fußboden war ziemlich wahllos Spielzeug verstreut: hölzerne Eisenbahnschienen, kleine, abgestoßene Modellautos, Stofftiere, aus deren kaputten Bäuchen Gedärm aus Wolle und Stoffresten hervorquoll, und kleine Cowboy- und Indianerfiguren mit gebrochenen Armen und starrem Gesichtsausdruck. Auf einem kleinen grünen Tisch lag ein Haufen von Zeichenblöcken, losen Bögen mit Zeichnungen und Stapeln alter Comichefte.
In diesem Zimmer wohnte ein Kind, und es war ein Zimmer, in dem ein Kind sich wohl fühlte. Roar blickte mich ernst an und sagte: »Du? Wie soll ich zu dir sagen? Veum?«
Ich zauste ihm das Haar. »Sag du nur Varg zu mir.«
Er nickte eifrig und strahlte mich an. Seine Schneidezähne – es waren schon die neuen – wirkten viel zu groß in seinem kleinen Mund. »Willst du mal sehen, was ich gemalt habe?«
Ich nickte und betrachtete seine Bilder. Blaue Sonnen und gelbe Bäume, rote Berge und Schiffe mit Rädern. Pferde mit Kaninchen auf dem Rücken und kleine windschiefe Häuser mit unsymmetrischen Fenstern und Blumengärten.
Ich trat ans Fenster und schaute hinaus – und hinunter. Es war, als säße ich in einem Flugzeug. Menschen, Autos, alles wurde so klein. Die viergeschossigen Blocks sahen wie plattgedrückte Streichholzschachteln aus, und die Straße zwischen den Blocks glich einer Gokart-Bahn.
Dann hob ich den Blick zum steilen Berghang des Lyderhorns, dessen grauschwarze Silhouette sich gerade noch gegen den Abendhimmel hob, als sei das Lyderhorn der Himmel, als sei der dunkle Berg in die Wolkendecke hoch gewachsen und liege jetzt wie eine bedrohliche Schneewehe über dem ganzen Stadtteil – wie ein Vorzeichen des Jüngsten Tages, oder ein Vorzeichen von Tod.
Wir saßen in der Küche und tranken Kaffee.
Aus dem Wohnzimmer hörten wir das Schnattern aus dem Fernseher, Roar guckte das Kinderprogramm.
Die Küche war in einem kräftigen Gelb gestrichen, das nicht zur ursprünglichen Ausstattung der Wohnung gehörte. Die Schranktüren waren orange und die Gardinen weiß mit aufgedruckten Apfelsinen. Der Küchentisch hatte eine grauweiße Kunststoffoberfläche, aber sie hatte eine runde, gelb und orange gesprenkelte Tischdecke darauf gelegt. Den Kaffee servierte sie in grünen Bechern mit roten Punkten, und in einem Bastkorb lagen ein paar Stücke Gebäck. »Ich kann Ihnen gar nichts Besonderes anbieten, aber …« Sie zuckte mit den Schultern.
Ich sagte: »Aber der Kaffee schmeckt prima.«
»Trinken Sie nur. Es ist noch mehr in der Kanne.«
Ich betrachtete die halb volle Glaskanne, die auf der eingeschalteten Wärmeplatte der Kaffeemaschine stand und nickte.
»Waren das dieser Joker, wie sie ihn nennen, und seine Bande, die das Fahrrad genommen hatten?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich habe von einer Geschichte gehört, die hier kürzlich passiert ist – mit der Mutter eines Spielkameraden von Roar.«
»Ja. Ich weiß. Ich habe mit ihr darüber gesprochen. Sie …«, sie biss sich auf die Lippen. »Es ist beinah unglaublich. Sie … sie hatten das Fahrrad ihres Sohns weggenommen, und sie ging hinauf, um es zu holen. Und sie haben sie regelrecht gefangen genommen, als sei sie ein Mädchen und nicht … und keine erwachsene Frau!«
»Wurde sie …«
Sie stellte den Kaffeebecher hart ab. »Diese Burschen sollten sich schämen! Wenn so etwas vorgekommen wäre … ich meine, hätten wir … als ich jung war. Nicht auszudenken. Aber so ist es …« Sie blickte mir starr in die Augen. »So ist es, wenn man allein erziehende Mutter ist. Wir sind Freiwild für alle Männer, angefangen bei Rotzjungen und bis zu alternden Don Juans. Es ist zum Kotzen!«
»Aber wurde sie regelrecht …?«
»Nein. Sie wurde nicht vergewaltigt, obwohl das vielleicht als Nächstes kommt. Sie haben sie belästigt, sie festgehalten, angefasst – Sie wissen schon, was ich meine. Der … dieser Joker hat ihr die Hose ausgezogen und sie gezwungen … sie gezeigt, dass alle sie sahen. Aber weiter sind sie nicht gegangen.«
»Aber warum ist sie nicht zur Polizei gegangen?«
»Zur Polizei? Und was kann die tun? Es gab ja keine Zeugen. Nein, keine außer ihnen selbst, der Bande … und die wagen kein Wort zu sagen, die haben genau solche Angst wie wir anderen … vor diesem Joker. Hier war einer, der hat versucht, etwas zu tun. Den haben sie beinahe zum Krüppel geschlagen, ich glaube kaum, dass der noch einmal richtig auf die Beine kommt. Wenn sie zur Polizei ginge … Als Erstes würde sie nie wieder Post kriegen. Es hat ein paar andere Eltern gegeben, die sind zu Joker nach Hause gegangen, zu seiner Mutter. Danach ist immer ihre Post verbrannt. Sie steckten brennende Putzwolle in ihre Briefkästen. Schließlich mussten sie sich unten auf der Post ein Postfach nehmen. Und wir anderen, die wir allein sind, mit kleinen Kindern, du ahnst ja nicht, was die sich einfallen lassen … selbst mit kleinen Kindern! Ein kleines Mädchen von sechs Jahren ist nach Hause gekommen und hatte Spuren von brennenden Zigaretten am ganzen Körper, überall!«
Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich sah sie vor mir, einen nach dem anderen, die anonymen, den langen schlaksigen, den dicken Tasse – und Joker selbst, mit dem Aussehen eines Pastors, mit Augen wie ein Tiger und Zähnen wie eine verfaulte Leiche. Und ich dachte daran, was sie mit Wenche Andresen angestellt haben könnten, wenn sie auch hinaufgegangen wäre, um das Fahrrad zu holen. »Wärst du selbst hingegangen«, fragte ich, »um das Fahrrad zu holen?«
»Nach dem, was passiert ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Lieber hätte ich das Fahrrad geopfert, auch wenn wir uns das eigentlich nicht leisten können. Nein. Nie im Leben wäre ich da raufgegangen, jedenfalls nicht allein!«
»Hätte euch … Ihnen keiner helfen können? Kennen Sie niemanden?«
Sie sah mich an. »Haben Sie mal in einem Haus wie diesem hier gewohnt? Wie viele Wohnungen sind es, fünfzig, sechzig? Fast zweihundert Menschen. Ich grüße gerade mal ein paar von denen, die in unserer Etage wohnen. Ein paar andere sehe ich ab und zu im Fahrstuhl. Es ist wie in einem Ameisenhaufen. Glauben Sie, Ameisen grüßen sich?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Nicht ein Mensch. Wir sind genauso isoliert, wie wir es immer waren, auch als Jonas noch hier gewohnt hat.«
»Sind Sie geschieden?«
Sie zündete sich eine Zigarette an, ohne mir zuerst eine anzubieten. »Getrennt. Seit acht Monaten.« Ihre Kiefermuskeln arbeiteten, und ihr Blick irrte in der gelben Küche umher. »Acht Monate …« Dann fiel ihr Blick auf die Zigarettenschachtel, und sie schob sie zu mir hinüber.
»Nein, danke. Ich rauche nicht«, sagte ich und nahm stattdessen, um meinen guten Willen zu zeigen, ein Stück Gebäck.
»Noch Kaffee?«
Ich nickte, und sie stand auf. Sie war schlank. Ihr Rücken war gerade, die Brüste ziemlich klein, ihr Po in der Samthose zierlich und rund. Mitten im Nacken hatte sie eine Mulde.
»Arbeiten Sie?«, fragte ich.
»Ja. Ich hatte schon vorher einen Halbtagsjob … und von Jonas bekomme ich auch nicht gerade viel Geld. Er schuldet mir schon mehrere Tausend. Ich glaube … ich glaube, er wartet ab … ganz bewusst. Er hat mich verlassen, aber er versucht, mir die Schuld zu geben. Dabei war er derjenige, der nicht … also der Seitensprünge machte und eine andere hatte, diese … diese Schlampe!«
»Wo arbeiten Sie denn?«, fragte ich.
»Beim Haakonsvern, in einem der Büros. Da brauche ich nicht ganz in die Stadt zu fahren. Aber das ist ganz okay. Das Schlimmste ist, plötzlich allein zu sein, wenn du daran gewöhnt bist, dass ihr zu zweit wart.«
Sie hatte die Schultern hochgezogen und starrte mit gesenktem Kopf in ihren Becher. Ihre Lippen bebten leicht, und ihre Augen waren sehr dunkel geworden. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam.
»Ich weiß, wie das ist«, sagte ich. »Ich habe das auch hinter mir.«
Sie blickte mich verständnislos an. »Wieso?«
»Ich meine … ich habe das gleiche … ich bin geschieden. Es ist vier Jahre her. Jetzt geht es besser. Man gewöhnt sich an alles. Es ist genau, als wenn man Krebs hat, zum Schluss gewöhnt man sich auch daran.«
»Weiß Gott«, sagte sie.
Eine Weile saßen wir schweigend da. Ich starrte aus dem Fenster, in die leere, schwarze Nacht. Ich merkte, dass sie mich prüfend ansah. Dann fragte sie: »Hat Ihre Frau … hat Ihre Frau Sie verlassen?«
»Ja. Oder sagen wir, sie hat mich weggeschickt. Wie Sie wollen. Mich gebeten auszuziehen.«
»Wegen eines anderen? Hatte sie einen anderen?«
Ich sah sie an. »Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nicht, ob sie ihn damals schon kannte. Aber ich glaube wohl. Ich war nicht viel zu Hause. Ich habe beim Jugendamt gearbeitet und war abends viel unterwegs. War draußen und suchte die lieben Kleinen. Einige von ihnen habe ich auch gefunden. Dann brachte ich sie nach Hause und saß bis tief in die Nacht mit ihren Eltern zusammen und redete mit ihnen. Und wenn ich nach Hause kam, lag sie im Bett und schlief, und morgens beim Frühstück hatte sie mir nie etwas zu sagen. Sie sah mich nur an. Sie hatte so eine besondere Art, mich anzusehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Hatten Sie Kinder?«
»Hm. Einen Jungen, ein bisschen jünger als Roar. Er kommt im Herbst in die Schule. Thomas.«
Jetzt spiegelte ich mich zur Abwechslung im Kaffeebecher und suchte dort nach einem Bild, das nicht mehr da war, und nach einer Stimme, die längst verstummt war.
Da kam Roar aus dem Wohnzimmer. »Varg? Bleibst du hier und guckst dir die Krimistunde an?«
Wenche Andresen öffnete den Mund. Ich lächelte schief und sagte: »Nein, danke. Ich bringe meine Albträume lieber im Schlaf hinter mich. Ich muss wohl zusehen, dass ich mal wieder nach Hause komme.«
Er sah enttäuscht aus, sagte aber nichts.
Ich räusperte mich und stand auf. »Danke für den Kaffee. Es war nett, mit Ihnen zu reden«, sagte ich zu der Frau auf der anderen Seite des Tisches. »War prima, dich zu treffen«, sagte ich zu Roar und zauste ihm das Haar.
Wir gingen alle drei in den Flur. Ich zog meine Jacke an und fühlte nach, ob der Wagenschlüssel in der Tasche war. Ich fuhr Roar noch einmal mit der Hand über den Kopf und reichte sie dann seiner Mutter.
Ihre Hand lag in meiner. Sie sagte: »Vielen Dank für die Hilfe. Sind wir Ihnen etwas schuldig?«
»Das war ein Freundschaftsdienst«, entgegnete ich. »Und pass du auf dein Fahrrad auf, Roar. Mach’s gut.«
»Tschüs dann«, sagte seine Mutter. »Und danke noch mal.«
Ich ging rasch den Balkongang entlang und war allein im Fahrstuhl. Ich kam mir vor wie auf einer Reise hinab ins Totenreich, durch den Hintereingang.
Ich trat auf die Straße und ging zu meinem Auto. Als ich aufschloss, blickte ich nach oben. An dem Fenster mit der grünweißen Gardine stand ein Junge und presste das Gesicht an die Glasscheibe. Er winkte mir zu.
Ich winkte zurück und stieg ein. Oben an der Ecke des Blocks sah ich ein paar lang gestreckte Schatten, sieben, acht Stück. Es konnte eine Gang von Teenagern sein, aber vielleicht war es auch nur das Licht, das so fiel.
Samstag und Sonntag vergingen wie solche Tage am Übergang von Februar und März es eben tun, wie schweres Stapfen durch knietiefen Schnee. Es wurde überhaupt nicht richtig hell. Eine graue Wolkendecke hing tief über der Stadt, und ein Ausflug auf den Fløien kam einem Aufstieg durch triefend nasse, schmuddelige Baumwolle gleich. Ich fühlte mich, als ging ich in alten Gummistiefeln, die bis über die Haarwurzeln reichten. Kein Vogel sang, und kein Goldfisch schwamm in meiner Aquavitflasche, wenn ich nach Hause kam. Ich leerte sie zur Sicherheit bis auf den Grund, aber es stimmte. Es schwamm kein Goldfisch darin.
Am Sonntag machte ich einen Rundgang durch Nordnes. Wo sich einst kleine Holzhäuser müde aneinander gelehnt hatten, lagen jetzt massige Betonkolosse, in denen erstaunlicherweise Menschen wohnten. Wo einst ein Kinderspielplatz und ein scheinbar endloser Park gelegen hatten, standen jetzt ein Aquarium, in dem große Fische in viel zu kleinen Bassins schwammen, und ein Institut für Meeresforschung in einem Hochhaus, das sich eher für das Studium Fliegender Fische geeignet hätte. Wo man früher einmal verlegen an der Seite eines Mädchens gegangen war und mit der Schuhspitze die Erde angehäufelt hatte, war jetzt keine Erde mehr, sondern Asphalt. Und auch in meiner zweiten Aquavitflasche schamm kein einziger Goldfisch.
Am Montagmorgen war ich wieder im Büro. Die graue und triefend nasse Baumwolle hatte sich in meinen Kopf verlagert, und das stumme Telefon glich einer versteinerten Kröte. Die Stunden vergingen, wie fremde Fußspuren im Sand. Das Leben fand in der Stadt außerhalb meiner Fenster statt, ohne mich. Auf dem Marktplatz klatschten die Fischhändler in ihre großen roten Hände und schnitten für Hausfrauen in blauen Mänteln und mit braunen Einkaufstüten aus Nylon ordentliche Portionen von grünlich weißem Fisch zurecht. Die Blumenhändler standen da und sahen ebenso trostlos aus wie ihre braun geränderten Blumen, und auf dem Gemüsemarkt verkaufte ein einsamer Händler Möhren aus Italien, Chinakohl aus Israel und Kohlköpfe aus dem vorigen Jahrhundert.
Regen und Schneeregen standen schräg über der Stadt, und das Wasser von Vågen erhob sich und kläffte. Es war einer dieser Tage, an denen die Menschen mit Gesichtern wie geballte Fäuste herumlaufen und sich nicht lange bitten lassen, bevor sie zuschlagen. Der Nachmittag kam spät und langsam, als habe er im Grunde keine Lust, und mein Telefon war noch immer stumm.
Ich saß da und starrte es an. Vielleicht könnte ich ja bei … Ja, ich hätte meine alte Mutter anrufen können, wenn sie nicht schon seit zweieinhalb Jahren tot gewesen wäre und da, wo sie jetzt war, wohl kaum ans Telefon gehen würde. Und ihre Nummer hatte ich auch nicht.
Oder ich hätte eine Bekannte beim Einwohnermeldeamt anrufen können, wenn sie nicht bei meinem letzten Anruf einen so blöden Witz gemacht hätte. Hier ist Veum, hatte ich gesagt. Welcher Veum?, hatte sie geantwortet. Der mit dem Telefon? – Erst ein paar Tage später war mir die Pointe aufgegangen, und danach hatte ich nicht mehr bei ihr angerufen.
Oder ich hätte es bei meinem Freund Paul Finckel, dem Journalisten, versuchen können. Wir hätten ein Bier zusammen trinken und zu Abend essen können. Aber dann würde er mir von nichts anderem als von all den Mädchen erzählen, die er seit dem letzten Mal rumgekriegt hatte, und nichts ist schlimmer als sich Geschichten von all den Mädchen anhören zu müssen, die andere rumgekriegt haben – besonders dann, wenn du kein Wort von dem Ganzen glaubst. Er war auch geschieden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle geschieden sind, auf die eine oder andere Weise.
Schließlich wählte ich einfach irgendeine Nummer. Eine Männerstimme meldete sich: »Hier ist Jebsen.«
»Äh. Kann ich … Frau Andresen sprechen?«
»Wen?«
»Frau Andresen.«
»Da müssen Sie sich verwählt haben.«
»Oh, Entschuldigung.«
»Bitte«, sagte er und legte auf.
Ich blieb mit dem Hörer am Ohr sitzen und lauschte dem Summton. Ein Summton ist schon ein komisches Geräusch. Wenn du lange da sitzt und ihm zuhörst, klingt es, als riefe jemand nach dir oder viele, im Chor, aber ohne richtig zu dir durchzukommen. Bleibst du aber zu lange sitzen, schaltet sich eine Dame vom Telewerk ein und sagt: »Würden Sie bitte den Hörer auflegen.«
Also legte ich den Hörer auf und verließ mein Büro, bevor er in meinen Armen verschied.
Montag ist ein putziger Tag. Die Wochenenddepression hat dich noch nicht ganz losgelassen, und die neue Woche findet noch nicht richtig statt. Genau genommen kämen wir auch gut ohne Montage zurecht. In meiner Branche waren überhaupt die meisten Wochentage überflüssig.
Ich hätte ebenso gut zu Hause bleiben können.
In der Cafeteria im ersten Stock aß ich zu Abend. Es gab eine Art Fleischgericht, das schmeckte, als hätten die Müllmänner vergessen es mitzunehmen. Doch ich war selbst schuld. Ich wusste, worauf ich mich einließ. Ich hatte schon früher hier gegessen.
Zu Hause brühte ich mir eine Tasse Kräutertee auf, um nach der ganzen Goldfischsuche am Wochenende die Nieren zu reinigen. Ich machte es mir mit einem großen weißen Becher und einer Humphrey-Bogart-Biografie bequem, die ich schon einmal gelesen hatte. Die Bilder hatten diesen Grauschleier, der verriet, dass sie vor vielen, vielen Jahren in einem längst versunkenen Märchenland aufgenommen worden waren. Leute wie Bogie gibt es nicht mehr. Und wenn er wider alle Wahrscheinlichkeit quicklebendig auf der Torgalmenning aufgetaucht wäre, hätten wir ihn aus seinem Trenchcoat herausgelacht. Die wehmütigen Augen, die auf Grund seiner Magenbeschwerden (und später vom Krebs) hart und kalt wurden, die flüsternde Stimme, die daher kam, dass sein Gebiss nicht ordentlich saß: heutzutage gab es für Typen wie Bogie nur noch im Raritätenkabinett Platz.
Da klingelte das Telefon. Es war halb sechs, und das Telefon klingelte. Jemand musste sich verwählt haben. Ich nahm den Hörer ab und sagte: »Falsche Nummer. Hier ist Veum.«
»Veum! Sie müssen mir helfen! Sie müssen sofort kommen. Sie haben Roar!« Ihre Stimme war schrill. Ich sah ihre blauen Augen vor mir, den schmalen, weißen Nacken.
»Nun mal ruhig. Und der Reihe nach. Wer hat Roar? Doch nicht …«
»Doch! Joker, der … und seine Bande!« Sie schluchzte. »Als ich nach Hause kam, war er nicht da. Aber im Briefkasten lag ein Zettel: Wir haben Roar. Du weißt, wo du ihn findest. Wenn du die Bullen rufst, bringen wir ihn um.«
»Und haben Sie die Polizei angerufen?«
»Nein! Sie haben doch gehört …«
»Aber wäre es nicht trotz allem das Beste? Schließlich … Sie dürfen nicht glauben, was da steht. Die bluffen doch nur. Sie sind trotz allem noch halbe Kinder. Verstehen Sie … sie wollen Ihnen nur Angst machen.«
»Sie machen mir Angst, Veum! Ich will die Polizei nicht anrufen. Deshalb rufe ich doch … ich habe sonst niemand, der mir helfen kann. Jetzt. Können Sie nicht … ich bezahle auch, selbstverständlich, wenn das …«
»Darum geht es gar nicht.« Mein Bankkonto war schon so lange leer. Wenn es jetzt Nahrung bekäme, würde es nur Verdauungsprobleme bekommen und sich übergeben. »Natürlich komme ich, wenn Sie …«
»Ja. Gut. Danke! Aber so schnell Sie können. Sofort, ja?«
»Ich bin schon unterwegs. Aber beruhigen Sie sich erst mal. Wir regeln das schon. Garantiert. Bis gleich.«
»Bis gleich.«
Ich legte auf, trank noch einen Schluck Kräutertee, ließ Bogie in Frieden in seinem Paperback-Grab für Filmliebhaber ruhen und verließ die Wohnung.
Unten in der Gasse gingen die Abendlichter an. Hinter blau karierten Gardinen saß eine Familie mit zwei Kindern beim Abendessen. Eine blonde Mutter mit hochroten Wangen stellte dampfende Schüsseln auf den Tisch, an dem ein Mann mit Pony und farblosem Bart mit zerfurchter Stirn bedrückt seine Kinder anstarrte, als seien sie seine Spiegelbilder in einem zersprungenen Spiegel. Durch ein offenes Fenster im ersten Stock eines anderen Hauses ertönte die heisere Stimme eines Mannes, der sang, er habe sein ganzes Leben an der Landstraße verbracht, doch das einzige, was er mit dem Sänger Edvard Persson gemeinsam hatte, waren die kehligen r-Laute. Ein ganz normaler Abend in der Gasse, und Veum machte sich auf den Weg. Der willige Veum nennen sie ihn. Kommt prompt, wenn Sie ihn anrufen, nur nicht in der Bürozeit, nein, in der Bürozeit wirklich nicht.
Mein Mini geriet ins Hüsteln vor Überraschung darüber, mitten in seinem Nachmittagsschlaf gestört zu werden, und ging mir auf dem Weg durchs Zentrum zweimal aus. Ich sagte laut zu ihm, dass ich ihn beim nächsten Mal stehen lassen und mir einen Volkswagen kaufen würde. Von da an brummte er wie eine satte Hummel, bis wir draußen vor dem Wohnblock angekommen waren.
Ich parkte und ging ins Haus. Der Fahrstuhl wartete. Er war leer und blieb auch nicht stecken. Ich trat an Wenche Andresens Tür und klingelte.