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Dieser Titel gehört zu einer Romanreihe, auf der die bekannte Krimifernsehserie ›Der Wolf‹ um den Privatdetektiv Varg Veum basiert. Die Erstausstrahlung der beiden Staffeln erfolgte in Deutschland 2008 bei Das Erste und 2013/2014 beim ZDF. Sieben Fälle mit dem Helden Varg Veum, einem reichlich desillusionierten, allerdings nicht zynischen Detektiv, der immer ein wenig besser ist als die Welt, in der er arbeitet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 332
Gunnar Staalesen
Der Hexenring
Kriminalgeschichten
Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann
FISCHER E-Books
Bearbeitende Dienststelle: Militärischer Abschirmdienst
Kontrollnr.: V-02/StbSjt AT
Abschlussdatum der Überprüfung:19.04.78
Nachname der Zielperson: Veum
Sämtliche Vornamen: Varg
Geburtsdatum:15.10.42 in Bergen
Büroadresse: Strandkaien 2
Familiärer Hintergrund: Vater: Anders Veum, geb. 1906, gest. 1956. Straßenbahnschaffner
Mutter: Ingrid Veum, geb. 1908, gest. 1975. Hausfrau
1969 Eheschließung mit Beate Larsen, geb. 1942. Trennung 1973, Scheidung 1974. Kinder: Thomas, geb. 1971.
Militärische Laufbahn: Mil.Reg.Nr. : 36188/61. Standort: Jørstadmoen/Sessvollmoen 1961–62. Als Geheimnisträger: unbedenklich
Beruflicher Werdegang: Abitur, Bergens Kathedralskole, 1961. Handelsmarine, M/S Bolero 1962–64. Trampfahrt, hauptsächlich USA–Europa, keine Ostblockländer. Vorbereitungssemester, Prüfung, Universität Bergen 1964. Jura 1964–65, Universität Oslo. Sprachstudium 1965–66, Universität Bergen. Kein Abschluss. Staatliche Fachschule für Sozialwesen, Stavanger 1966–69. Sozialarbeiter. Angestellt bei der Kommune Bergen, Abteilung Jugendamt, Einzelfallbetreuung 1970–75. Angezeigt wegen Körperverletzung Mai 1975, Fall zu den Akten gelegt im Juni desselben Jahres (Polizeibehörde Bergen, Kriminalabteilung A). Gründet ein privates Ermittlungsbüro im August 1974.
Politische Aktivitäten: Kein Mitgl. einer norwegischen Partei. War während des Studiums in Kontakt mit Kreisen innerhalb der Sozialistischen Volkspartei. Vermutliche Position: sozialdemokratisch/liberal
Individuelle Vermerke: (Verschiedene Hinweisgeber). V. hat nach seiner Scheidung soweit bekannt keine lang andauernde Beziehungen zu anderen Frauen/Männern gehabt. Tendenz zum Alkoholmissbrauch, kontrolliert. Etwas empfindliches Verhältnis zum Polizeipräsidium in Bergen – widersprüchl. Berichte. Bei der Durchsuchung von Büro und Wohnung (vergl. Aktenzeichen V–3337–1–78) wurde kein schriftliches Material gefunden, abgesehen von einem unvollendeten Romanmanuskript mit dem Titel «Casablanca, meine Geliebte», sowie ein Auftragsarchiv (überprüft)
Bearbeitungsvermerk: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass V. zu irgendeinem Zeitpunkt mit Repräsentanten fremder Mächte in Verbindung stand oder im Besitz von Kopien geheimer Dokumente war oder ist, die nach Aussage von Kap. Ljosne, Richard, nach einem Besuch von Veum im März dieses Jahres aus Ljosnes Büro verschwunden sein sollen. Es wird angeregt, die Überprüfung einzustellen.
Bergen, 19. 4. 78
A.T. (Unterschrift)
Geheimhaltungsstufe: streng vertraulich
Blondinen kommen, Blondinen gehen. Diese war offensichtlich auf dem Weg nach drinnen.
Es war ein sonniger, heißer Sommertag Anfang September, und ich war sowieso schon kurzatmig genug.
Die Tür zum Wartezimmer stand offen, um die Luftzirkulation anzuregen. Sie kam in mein Büro geschlendert, mit leicht geröteten Wangen, in einer einfachen blau-weiß-karierten Bluse, dunkelblauen Cordhosen, leichten Schuhen, mit einem kleinen Einkaufsnetz in der Hand und in eine Aura von Sonne und Sommer und süßen Versprechungen gehüllt.
Aber ich bin ein nüchterner Mensch. Ich weiß aus Erfahrung, dass die meisten zu viel versprechen. Nichts desto weniger nahm ich die Füße brav vom Schreibtisch, stand auf, streckte mich ein wenig, setzte mein allerliebenswürdigstes Kundenlächeln auf und sagte: «Die Freude ist ganz meinerseits.»
Sie sah nicht ganz so aus, als würde sie mir glauben. Sie ging vorsichtig, mit einer Hand auf der Rückenlehne, um den Kundensessel herum, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie es wagen sollte, sich zu setzen.
Ich kam um den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. «Varg Veum. Beiße nicht.»
Sie gab mir eine schmale Hand mit einer dünnen Schweißschicht an der Innenfläche. «B-Bente Laubfall.»
«Schöner Name im September», sagte ich.
Sie antwortete nicht, senkte aber den Blick.
«Ein schöner Name zu jeder Jahreszeit», fuhr ich fort und zog mich wieder hinter den Schreibtisch zurück.
Sie beschloss, den Sprung zu wagen, und wir setzten uns ungefähr gleichzeitig hin. Sie biss sich auf die Lippen. Ich legte die Hände auf den Schreibtisch, um zu signalisieren, dass ich nichts zu verbergen hatte, und sah sie abwartend an.
Ihr helles Haar war noch immer voller Sonnenschein. Es hing in langen, anscheinend natürlichen Locken um ihr längliches, regelmäßig geschnittenes Gesicht. Ihre Augenbrauen waren diskret und blond gebogen, ihre Augen blau mit einem Unterton von Lila, ihre Nase war lang und schmal und weitete sich in hellwachen, witternden Nasenlöchern, und ihr Mund strahlte eine starke und überraschende Sinnlichkeit aus. Ihre Lippen hatten einen natürlichen dunklen Ton, und ihre Zähne waren groß und weiß. Ihr Kopf balancierte auf einem langen, schmalen Hals, und ich hatte noch immer Schwierigkeiten, ruhig zu atmen.
«Was kann ich für Sie tun?», fragte ich vorsichtig.
Sie sah mich mit ihren großen blaulila Augen direkt an: ein forschender, offener Blick, wie der eines Kindes. «Kann ich Ihnen vertrauen?»
Ich sagte mit weicher Stimme: «Wenn ich es mir leisten könnte, mir Visitenkarten drucken zu lassen, dann würde draufstehen: ‹Auf ewig dein› oder eventuell ‹Der Ihre. Diskretion ist Ehrensache. Verschwiegenheit ist unsere Profession›, oder etwas entsprechend Geistreiches. Das Wichtige dabei ist, dass man manchen vertrauen kann, und anderen nicht. Da Sie sich immerhin entschlossen haben herzukommen, gehe ich davon aus, dass Sie das Wagnis schon eingegangen sind.»
«Ich wollte gern erst ganz sicher sein. Könnten Sie – mir etwas über sich erzählen? Ich meine – über Ihren Hintergrund und so?»
«Hintergrund und so?» Ich warf einen diskreten Blick auf ihre rechte Hand. Kein Ehering. Mein Blick streifte ihr Gesicht auf dem Weg nach oben und blieb direkt über ihrem Kopf hängen, wohin ich immer gern sehe, wenn jemand mir schwierige Fragen stellt. «Ich bin ungefähr vierzig Jahre alt. Ich war einmal verheiratet, aber das ist mittlerweile ein paar Jahre her, und ich habe einen kleinen Sohn, der gar nicht mehr so ganz klein ist. Von Beruf bin ich Sozialarbeiter, und ich war ein paar Jahre beim Jugendamt, bevor ich mich in diesem Büro niederließ. Das ist jetzt etliche Jahre her. Seither habe ich mich, ob Sie es glauben oder nicht, als privater Ermittler über Wasser gehalten. Wie Sie beim Reinkommen gesehen haben, lag auf dem Boden meines Wartezimmers kein besonderer Teppich, aber wenn Sie mal irgendwann abends in meinen Kühlschrank schauen – und dazu sind Sie herzlich eingeladen – finden Sie dort sowohl Schafswurst als auch ein nicht ganz kleines Stück geräucherten Schinken.» Ich rang nach Luft.
Sie sagte: «Reden Sie immer so schnell?»
«Nur zu schönen Frauen.»
Sie sah mich ernst an. Wenn das für sie ein Kompliment war, bedankte sie sich dennoch nicht dafür. Wenn sie es als Witz auffasste, so unterließ sie es zu lächeln. «Ich bin nicht zum Flirten hergekommen.»
«Ach», sagte ich geistvoll, und um meine große Schlagfertigkeit zu demonstrieren, fügte ich hinzu: «Ach, natürlich.»
Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte ich: «Und jetzt frage ich Sie: Weshalb sind Sie denn gekommen?»
«Ich weiß noch nicht recht …»
Sie wusste noch immer nicht, ob sie mir vertrauen konnte. Aber ich bin ein geduldiger Mensch, und gegenüber einer so schönen Frau ist meine Geduld grenzenlos. Ich sagte: «Sie kommen nicht aus Bergen, wie ich an Ihrer Aussprache höre?»
«Nein.»
«Wo genau aus Hardanger kommen Sie denn her?»
«Rosendal.»
Von der Sonnenseite des Fjords. Ihr Tonfall hatte sie verraten, und ihr Aussehen passte dazu. In einer Tracht hätte sie auf jedem Prospekt für jeden Ort im Hardanger werben können.
«Vegard Vadheim kommt aus Rosendal», sagte ich.
«Vegard Vadheim?»
«Aber Sie sind vielleicht zu jung, um sich an ihn zu erinnern?»
«Mag sein.»
«Er war Anfang der Fünfzigerjahre Langstreckenläufer. Jetzt ist er bei der Kripo in Bergen. Sie wissen sicher, es kann gut sein, dass die Polizei …»
«Wenn ich zur Polizei hätte gehen können, dann hätte ich das getan!»
«Genau …», sagte ich und gab ihr die Möglichkeit fortzufahren. Aber sie sah mich weiterhin forschend an, stumm wie ein Gletscher über dem Fjord, woher sie kam.
Ich fragte: «Wie alt sind Sie eigentlich?»
Die blaulila Augen weiteten sich, und es flackerte plötzlich darin auf. Dann antwortete sie trocken: «Ich bin 1956 geboren.»
Ich nickte kurz und eine leichte Röte kroch wieder ihre Wangen hinauf. «Ich – arbeite in einer Bank.»
«Dafür braucht man sich doch nicht zu schämen, oder …?»
Es zuckte um ihre Mundwinkel, und sie hielt den Blick noch immer gesenkt.
Ich fuhr mit einem Finger an der Schreibtischkante entlang. «Erzählen Sie mir etwas mehr von sich. Wie lange wohnen Sie schon in Bergen?»
«Seit … seit fünf Jahren.»
«Und Sie haben die ganze Zeit bei dieser Bank gearbeitet?»
«Ja.»
«Und was haben Sie vorher gemacht?»
Sie sah auf. «Ich war Aushilfslehrerin an einer Grundschule, zu Hause. Dann habe ich im Hotel gearbeitet. Und dann kam ich – hierher.»
Ich sah sie an. Mein Mund war trocken, aber das konnte auch von der verspäteten Sommerwärme kommen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren Lippen abwenden, musste daran denken, wie es wohl war, sie zu küssen, dachte daran, wie lange es her war, dass ich zuletzt jemanden geküsst hatte. So ist das mit uns geduldigen Menschen. Wir sitzen in unseren Büros und warten, und nur allzu selten stolpern wir über ein Dornröschen, nur allzu selten kommen hinreißende Sonnenscheinmädchen aus dem Hardanger zur Tür herein und unterhalten uns mit ihrem Zögern. Wir könnten unser Spiel noch stundenlang fortsetzen. Ich würde ihr keinen Stein in den Weg legen, solange sie nur dort sitzen und schön aussehen würde.
«Bente Laubfall aus Rosendal …», sagte ich langsam. «Das klingt wie ein kleines Gedicht. Wie ist das, als kleines Gedicht durch die Welt zu laufen?»
Sie sah mich direkt an und sagte: «Ich werde erpresst.»
«Ach ja?»
«Bis jetzt habe ich zahlen können. Ich – mein Vater arbeitet zu Hause bei einer Bank, und er hat mir etwas geliehen, aber jetzt fängt er an, sich zu weigern, und mein eigenes Erspartes habe ich auch schon aufgebraucht. Wenn es so weitergeht, dann muss ich …» Sie sprach den Satz nicht zuende.
Nun war die Katze aus dem Sack. Ich pfiff leise und lange. «Aber – warum?»
Sie setzte sich gerade hin. «Das ist ja wohl meine Sache, oder?»
Ich zuckte mit den Schultern und hob die Arme. «Wenn es Ihnen lieber ist. Aber wobei soll ich Ihnen denn helfen?»
Plötzlich waren ihre Augen glasig. Ihre Lippen zitterten. «Ich möchte – ich möchte, dass Sie – dass Sie machen, dass es aufhört!» Sie öffnete ihr Einkaufsnetz und holte ein Taschentuch heraus, verbarg ihren Mund hinter dem Tuch und schluchzte gepresst.
Ich ließ sie weinen. Auf meinem Rücken sammelte sich der Schweiß. Frauen, die weinen, verunsichern mich. Sie erinnern mich immer an meine Ehe.
Sie trocknete sich die Tränen, wischte mit dem Tuch leicht über ihre Wangen, tupfte sich Augenwinkel und Nase ab. Als ihr Blick wieder meinen suchte, war er leicht rot umrandet. Sonst war sie nicht sonderlich verändert. Trotzdem war sie in ein neues Licht gehüllt. Sie war eine Frau mit einem Geheimnis, vielleicht einer heimlichen Schuld, die für irgendjemanden Geld wert war. Und noch eines war wichtig: Sie war Bankangestellte. Man konnte sie vielleicht dazu zwingen, etwas preiszugeben, das im Laufe der Zeit wertvoller sein könnte, als die kläglichen Kronen, die sie bis jetzt zusammengekratzt hatte. Sie war möglicherweise im Besitz nützlicher Informationen über dieses oder jenes.
Vorsichtig fragte ich: «Was dachten Sie, was ich für Sie tun könnte?»
Sie schluckte. «Ich – ich soll heute Abend – Geld abliefern. An einem vereinbarten Ort. Ich – wenn Sie mir folgen könnten, irgendwie, und versuchen herauszufinden, wer es ist. Sie aufhalten.»
Ich nickte. «Das wird möglicherweise nicht so leicht sein.»
Sie holte eine Brieftasche aus ihrem Netz und zog fünf Hunderter heraus. «Ich weiß nicht, wie viel Sie nehmen, aber … Ich werde bezahlen, was Sie wollen, wenn Sie der Sache nur ein Ende machen. Es wird mich trotz allem nicht mehr kosten als …»
Sie legte die fünf Scheine auf den Schreibtisch. Nüchtern betrachtet konnte sie damit nicht viel von meiner Zeit erkaufen. Aber andererseits … Für sie hätte ich es auch umsonst getan. «Wo und wie soll das Geld übergeben werden?»
«Oben auf dem Weg nach Munkebotn. Heute Abend zwischen neun und zehn.»
«Und wie soll die Übergabe aussehen?»
«Jemand kommt mir entgegen, auf dem Fahrrad. In einem Trainingsanzug und mit einem Halstuch vor dem Gesicht. Ich gebe ihm den Umschlag und er fährt weiter. Ohne ein einziges Wort.»
«Und Sie haben keine Ahnung wer es ist?»
Sie antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: «Finden Sie es heraus.»
«Hören Sie … Ist es immer da draußen?»
Sie nickte.
«Aber müsste es für die Polizei nicht ein …»
«Ich kann nicht zur Polizei gehen.»
«Und das wissen diese Leute?»
«Ja.»
«Und Sie wollen mir immer noch nicht sagen …»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht. Glauben Sie mir einfach eines: Ich habe nichts Schlimmes getan – nichts Illegales, meine ich.»
«Dann geht es hier tatsächlich um gegenseitiges Vertrauen.»
«Man kann auch auf andere Weise schuldig werden, oder nicht … Veum? Fragen Sie mich nicht weiter, ich kann wirklich nichts sagen. Nur, bitte helfen Sie mir.»
Ich glaubte ihr alles, wenn sie mich mit diesen Augen ansah. Ich würde ihr helfen, wie ihr noch nie jemand geholfen hatte. Ich sagte: «Ich werde Ihnen helfen, Bente. Wenn ich kann.»
Das Lächeln, das sie mir schenkte, hing noch lange nachdem sie gegangen war in der Luft über meinem Kundensessel.
Wir hatten es bis ins Detail geplant. Ich parkte meinen Wagen bei der alten Straßenbahnschleife im Helleveien und wartete dort, bis sie auftauchte. Sie kam mit dem Bus aus der Stadt, stieg an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite aus, sah sich wie zufällig um und begann, den Munkedalsveien hinaufzuwandern, als wollte sie nur einen kleinen Spaziergang machen. Die einzige, die mit ihr zusammen ausstieg, war eine ältere, schwarz gekleidete Frau, die in die entgegengesetzte Richtung in den Amalie Skrams Vei hinein ging.
Nachdem ich ihr einen angemessenen Vorsprung gegeben hatte, stieg ich aus, schloss den Wagen ab und ging ruhig hinter ihr her.
Es war ein schöner Abend für einen Spaziergang. Der September hat Tage, die nach Sommer schmecken, aber die Sonne sinkt schnell gegen Abend. Schon vor acht Uhr versank sie wie eine Zeitbombe hinter dem flachen Rücken des Askøyfjells, und jetzt, anderthalb Stunden später, war die Sprengladung längst detoniert. Der Sommertag war in einen Herbstabend übergegangen. Der Sternenhimmel zeichnete sein Termitenmuster über uns, und über dem Fløyenfjell stieg ein frisch gewaschener Mond gerade hinter dem dunklen Nadelwald auf. Für die kräftigsten Herbstfarben war es noch zu früh, nur ein mattes Grün mit einem dünnen, braunen Schleier kündete von Tod und Verwesung.
Bente Laubfall ging mit steifen Bewegungen vor mir her, so wie Menschen oft gehen, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Sie hatte einen dunkelblauen Poncho mit lila Borte übergeworfen und trug darunter blaue Kordhosen und flache Schuhe. Über ihrem Handgelenk hing eine unkleidsame Plastiktüte. Ihr blondes Haar hatte die Sonnenwärme verloren. Jetzt schimmerte es kühl im Mondschein.
Ich versuchte, den Abstand zwischen uns so groß wie möglich zu halten, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Die Fenster der Häuser am Munkedalsveien waren erleuchtet, aber es waren wenig Menschen unterwegs. Zwei Jogger mit dem Abzeichen der Handelshochschule auf dem Pullover liefen an uns vorbei bergauf. Der eine sah sich um, als er an Bente Laubfall vorbei war, blieb aber nicht stehen. Seine Laufzeit war ihm wohl wichtiger. Von Munkebotn kam ein einsamer Hundebesitzer mit einem englischen Setter herauf. Der Setter schnüffelte an ihr. Der Besitzer schaute in eine andere Richtung, als er an ihr vorbeikam.
Dann hatten wir das bewohnte Gebiet hinter uns gelassen, und die Dunkelheit wurde dichter. Eine sanfte Brise spielte mit den herbsttrockenen Blättern. Oben am Hang schrie eine Eule leise und klagend. Weit über uns kam ein Flugzeug von Norden herein, als hätte sich ein Stern vom Firmament losgerissen.
Bente Laubfall bog um eine Kurve und war plötzlich nicht mehr zu sehen. Ich beschleunigte meine Schritte, aber als ich um die Kurve kam, war sie noch immer allein. Sie ging mitten auf dem Weg, als fürchtete sie sich vor den Schatten hinter den Bäumen. Ich konnte sie verstehen. Auch unter normalen Bedingungen konnte ein Spaziergang durch Munkebotn abends im Dunkeln beängstigend sein, jedenfalls, wenn man allein war.
Aber wir waren nicht allein. Wir waren Zwillinge in der Dunkelheit.
Jetzt führte der Weg in Serpentinen nach oben. Ich schnitt in den Kurven den Weg ab, hielt mich zwischen den Bäumen und wartete, bis sie wieder weit genug vor mir ging, bevor ich die nächste Abkürzung nahm. Auf diese Weise war ich ihr immer so nah, wie ich es verantworten konnte, und hatte die besten Chancen, im Zweifelsfall so schnell wie möglich auf der Bildfläche zu erscheinen. Ich konnte ihr ansehen, dass sie immer unruhiger wurde, je weiter wir kamen, ohne dass etwas passierte. Ihr Kopf drehte sich ständig in alle Richtungen, und immer wenn ich ihr nah genug kam, konnte ich die Unsicherheit in ihren Augen lesen.
Dort, wo der Weg nach Sandsvikbatteriet abbiegt, war ich besonders aufmerksam. Aber es wartete niemand dort oben, um zu prüfen, ob sie allein kam. Niemand folgte ihr den Berg hinauf, außer mir.
In der letzten Kurve vor dem Staudamm am Munkebottsvann setzte sie sich auf eine Bank mit Aussicht über ganz Munkebotn. Ich wanderte weiter und tat, als wollte ich vorbeigehen, aber sie räusperte sich und nickte mir zu, dass ich herüberkommen sollte.
«Ich glaube nicht, dass noch jemand kommt», sagte sie leise.
«Hm», antwortete ich geistreich und setzte mich neben sie.
Wir saßen stumm und sahen in die Landschaft. Der Byfjord lag wie ein schwarzer Spiegel vor uns. Die Lichter auf Askoy funkelten. Draußen in Karven blinkte ein Leuchtturm. Ganz oben auf dem Lyderhorn brannte ein rotes Auge in der Dunkelheit: die Spitze des höchsten Fernsehmastes.
Mein Arm lag direkt hinter ihrer Schulter, so nah, dass ich ihre Körperwärme spüren konnte. Ich schielte zu ihr hinüber. Ihr reines, klassisches Profil zeichnete sich hell gegen den Abendhimmel ab. Ihr Haar bewegte sich leicht in der Abendbrise. Ihre Lippen waren rund und sinnlich gebogen. Ihr Kinn war kräftig und darunter war nicht einmal die Andeutung einer Falte zu erkennen. Ihr Puls pochte deutlich sichtbar in ihrer Schlüsselbeingrube. Unter dem Poncho trug sie ein weiches Flanellhemd mit roten und blauen Karos. Sie hatte etwas unschuldig Reines und Kindliches an sich, das nicht zum Grund unserer Aktion passte.
Ich sagte leise: «Was ist Ihrer Meinung nach passiert?»
Sie antwortete erst nach einer Weile: «Sie haben Sie gesehen.»
Wieder die kleine Pause. «Vielleicht.»
«Haben sie … haben sie Ihnen etwas angedroht, falls das hier passieren sollte?»
«Was meinen Sie mit angedroht?»
Ich sagte vorsichtig: «Ich muss davon ausgehen, dass sie Sie mit irgendetwas unter Druck setzen. Ihnen mit etwas drohen … Solange Sie mir nicht erzählen …»
«Sie haben nur gesagt, ich soll nicht zur Polizei gehen», unterbrach sie mich. «Und Sie sind ja nicht von der Polizei, oder?» Sie wandte mir ihr Gesicht zu und schaute mich mit großen, fragenden Augen an.
Auch die hellsten Augen werden am Abend dunkel. Ihre Pupillen hoben sich scharf gegen das Weiße in ihren Augen und die helle Haut darum herum ab.
«Es könnte schon sein, dass sie mich auf jeden Fall als nahen Verwandten bezeichnen – auch wenn die Polizei sich bedanken würde», fügte ich leise hinzu.
Sie schaute mich immer noch an. Ich erwiderte ihren Blick, versuchte, in ihrem Gesicht und in ihren Augen zu lesen. Dann wendete sie sich langsam ab, ohne das Geringste verraten zu haben.
Nach einer kleinen Weile stand sie auf und ging wieder bergab. Ich folgte ihr, etwas seitlich und mit einem halben Meter Abstand. Keiner von uns sagte noch etwas. Bevor wir uns bei den ersten Häusern trennten, sagte sie nur: «Ich rufe Sie an, wenn sie sich wieder melden. Dann machen wir telefonisch etwas aus. Ist das in Ordnung?»
Ich nickte und sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, bevor sie in Richtung Helleveien hinunter zur Bushaltestelle vor dem Krankenhaus Sandviken ging. Ich blieb stehen und folgte ihr mit dem Blick, aber nach wie vor näherte sich ihr niemand. Und dann kam der Bus.
Acht Tage vergingen, bevor ich wieder von ihr hörte. Ein leicht schmutziger Nachmittagshimmel hing tief über der Stadt, während rußiger Regen vom Meer hereinzog und sich über Dächer und Straßen legte. Aber es war immer noch warm und eine giftige Schwüle kündigte ein Gewitter an. Im Laub waren die braunen Töne hervorgetreten, konnten sich aber nicht im Sonnenschein entfalten.
Sie rief gegen drei Uhr an. «Hier ist Bente», sagte sie. «Laubfall.»
«Hallo!», erwiderte ich. «Haben Sie etwas von ihnen gehört?»
«Ja. Sie haben sich heute gemeldet. Heute Abend soll ich wieder dort sein. Allein.»
«Haben Sie etwas zum letzten Mal gesagt?»
«Nein, sie haben nur betont, dass ich allein kommen soll.»
«Wie haben sie sich gemeldet?»
«Über Telefon. Sie haben hier angerufen, bei der Bank.»
«Und wer ist es?»
«Wer? Ich kenne sie doch nicht.»
«Nein, ich meine – Mann oder Frau?»
«Mann.»
«Und Sie erkennen die Stimme nicht wieder?»
«Nein.»
«Auch nicht von früheren Anrufen?»
«Doch …»
«Ja oder nein?»
«Ja.»
«Irgendwelche besonderen Kennzeichen der Stimme? Dialekt?»
«Er ist … Ich glaube, er ist Bergenser.»
«Aha. Gut … Gleicher Treffpunkt?»
«Ja.»
«Was soll ich tun?»
Sie zögerte. «Ich weiß nicht, aber …»
«Ja? Aber …»
«Ich fahr nicht allein da raus!»
Ich starrte aus dem Fenster. Acht Tage. Die Sonne würde gegen halb acht untergehen. Eine Stunde später als normal, weil immer noch Sommerzeit war. Ich sagte: «Wann sollen Sie sie treffen? Genauso spät wie letztes Mal?»
«Eine halbe Stunde früher.»
«Also gegen neun?»
«Ja.»
«Waren Sie bei den früheren Übergaben weit oben in Munkebotn?»
«Ganz unterschiedlich. Ich glaube – ich hatte das Gefühl, dass sie ziemlich weit oben standen, mit dem Fernglas, und mich in der Kurve vor dem Krankenhaus Sandviken gesehen haben. Wenn ich da vorbei war, kam er auf dem Fahrrad ziemlich schnell, und es dauert ja nicht lange, das Tal runter zu fahren.»
«Aha. Gut. Wenn wir irgendwas erreichen wollen, dann müssen Sie mich, glaube ich, einfach vergessen.»
«Vergessen? Wie meinen Sie das?»
«Sagen wir mal so: Sie können ganz beruhigt sein. Ich bin da – irgendwo. Aber Sie wissen nicht, wo. Ich bin einfach da. Und ich werde aufpassen. Wenn sie auftauchen, dann bin ich in Ihrer Nähe.»
«Aber …»
«Ich glaube, das ist der richtige Weg, äh, Bente. Vertrauen Sie mir einfach. Haben Sie keine Angst!»
«Na gut. Ich habe wohl keine Wahl. Aber werden Sie eine Chance haben, sie zu erwischen?»
«Das ist durchaus möglich. Vielleicht kriegt es irgendein unschuldiger Fahrradfahrer ab, aber wir werden sehen. Bis nachher?»
«Bis nachher.»
Vom Fjellveien zu Sandviksbatteriet hinauf verläuft ein steiler Pfad. Ich joggte in einem dunklen Trainingsanzug den Fjellveien entlang, trug eine braune Strickmütze. Noch immer trieb von Westen etwas Regen herein. Auf dem Weg den steilen Hang hinauf strichen dunkle Fichtenzweige wie zaghafte Wolfskrallen über meine Haut, aber sie ließen mich passieren.
Ich kam bei der Sandviksbatteriet an. Die alten Kanonenscharten wirkten wie riesige Betonfußspuren im Gelände, als hätte ein schwerer Gigant einmal gerade hier die Landschaft durchquert. Der ganze Byfjord lag offen und verletzlich vor mir. Eine schwerfällige Fähre war unterwegs nach Askøy, während von Norden her ein Schnellboot hereinkam. Ich sah auf die Uhr. Acht. Hätte man die Sonne sehen können, dann wäre sie jetzt hinter Sotra untergegangen. Aber ich sah nur einen schwachen roten Schimmer in der grauen Wolkendecke.
Ich folgte dem steilen Weg, der in engen Kurven in Richtung Munkebotn führte. Jetzt joggte ich nicht mehr, sondern ging, so leise ich konnte, auf den großen Kantsteinen am Wegrand. Ich achtete sehr auf meine Schritte, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Dann kam ich unten an der steilen Lichtung direkt oberhalb des Munkebottsveien an. Ich blieb stehen und sah auf die Uhr. Viertel nach acht.
Wenn jemand Bente Laubfall den ganzen Weg durch das Tal beobachtete und wenn er ein Fahrrad benutzte, dann musste er auf dem Weg bergab an mir vorbeikommen. Und mit dem Fahrrad musste er alle Kurven fahren, während ich die steilen Abkürzungen nehmen konnte. Ich sollte gute Chancen haben, den Mann auf dem Fahrrad zu stellen. Was dann geschehen würde, konnte ich jetzt noch nicht voraussehen. Jede Sorge zu ihrer Zeit, und ich spielte oft am besten nach Gehör.
Dann begann ich wachsam wie ein Eichhörnchen und unbeweglich wie eine Eule zu warten. Ich stand zwischen den hohen, glitschigen Baumstämmen auf der Schattenseite des Tals, und in dem dunklen Jogginganzug würde es nicht leicht sein, mich zu erkennen. Von meinem Platz aus konnte ich die kurze gerade Strecke direkt oberhalb des alten Forellenteichs beobachten. Auch ich würde Bente Laubfall sehen, wenn sie kam.
Ich schaute auf die Uhr. Es war jetzt zehn nach halb neun.
Dort unten …
Da war sie. Sie trug eine blaue Regenjacke, hatte die Kapuze aber abgenommen und ihr Haar verriet sie bis hier oben.
Also gut. Jetzt galt es, wachsam zu sein.
Ich bewegte mich vorsichtig ein Stück die Böschung hinunter, um eine bessere Ausgangsposition zu haben.
Da! Hatte ich da nicht etwas gehört?
Doch …
Es war ein Hase. Einen Sommer schwer hüpfte er plattfüßig über den Weg, mit plumpen Bewegungen und ohne sich darum zu kümmern, dass er etwas Lärm machte. Dann war er verschwunden.
Es raschelte zwischen den Bäumen … Ein anderes Tier, vielleicht ein Vogel …
Unten auf dem Weg bewegte sich dagegen gar nichts.
Langsam machte ich mir Sorgen. Ich konnte sie nicht mehr sehen, und es war durchaus möglich, dass der Erpresser eine oder zwei Kurven weiter unten gewartet hatte. Ich bewegte mich noch ein Stück weiter nach unten, so gut wie möglich hinter den Baumstämmen versteckt.
Jetzt war ich fast auf dem Weg. Ich konnte direkt zu der Bank hinauf sehen, auf der wir an dem Abend vor acht Tagen gesessen hatten. Kein Mensch zu sehen.
Ich entschied mich schnell dafür, den Weg zu überqueren, und kletterte ein paar Meter der ersten Abkürzung hinunter. Es war jetzt dunkler geworden und schwieriger, etwas zu erkennen. Waren sie auch an diesem Abend nicht gekommen? Es war schon nach neun Uhr. Oder … waren sie schon da gewesen?
Ich wurde immer besorgter und stieg weiter den Hang hinunter. Nein – da war sie!
Sie kam langsam bergauf, die Hände in den Taschen der Regenjacke, mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten, als trüge sie an einer großen Trauer – oder an einer unglücklichen Liebe.
Ich zog mich zwischen die Bäume zurück und blieb stehen. Sie hatte mich nicht gesehen, als sie unterhalb von mir vorbeiging, und sie musste nun um eine weitere Kurve gehen, um wieder auf die obere Seite zu kommen, wo ich stand. Ich sah erneut den Hang hinauf. Nichts. Es war so still, dass es fast verdächtig wirkte. Nicht einmal ein einsamer Jogger? Gab es heute Abend etwa Fußball im Fernsehen?
Jetzt war sie auf dem Weg oberhalb von mir. Ich ging die letzten Schritte zum Weg unter mir, dann machte ich ein paar Dehnübungen und lief langsam bergauf hinter ihr her.
Ich kam an die Stelle, wo ich eine Viertelstunde zuvor den Weg überquert hatte. Jetzt konnte ich wieder die Kurve über mir einsehen. Sie hatte die Bank erreicht, ging aber weiter bergauf. Ich lief ihr nach. Sie hörte mich und schaute sich abrupt um. Ihr blondes Haar flog. Sie sah verängstigt aus, bis ich einen Moment die Kapuze herunterzog und sie mich erkannte.
Sie drehte mir den Rücken zu und ging weiter. Ich lief an ihr vorbei, ohne ein Wort. Vor mir lag jetzt der Staudamm, und ich lief die kleine Böschung rechts davon hinauf. Dann blieb ich stehen und fing an, verschiedene Dehnübungen zu machen, während ich mich umsah. Immer noch alles wie ausgestorben. Ich sah nach oben. Mondloser Himmel und nicht ein Stern zu sehen.
Bente Laubfall folgte dem Weg bis zum Schlagbaum am Nordende des Staudamms und kam mir entgegen. Als sie mich erreicht hatte, nickte sie steif – als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie mich kannte – und sagte: «Er kommt offensichtlich auch heute Abend nicht.»
Ich sagte: «Woran kann das liegen? Sie können mich heute unmöglich gesehen haben. Kann es sein, dass Ihr Telefon abgehört wird?»
«In der Bank?» Sie schüttelte den Kopf.
Ich betrachtete sie prüfend. An diesem Abend trug sie Jeans und kurze blaue Gummistiefel mit weißen Rändern. Der leichte Regen hatte sich wie eine Perlenschicht aus winzigen Tautropfen auf ihr Haar gelegt, dass sich im Nacken und vor den Ohren kräuselte. Jemand hatte vorsichtig rußige Halbmonde unter ihre Augen gemalt. Ihr Mund hatte einen betrübten Ausdruck, den man als Schmollen auffassen konnte: Dasselbe sinnliche Schmollen, das früher Brigitte Bardots Markenzeichen gewesen war.
Ich sagte: «Und Sie sind sicher, dass es da jemanden gibt?»
Sie riss die Augen auf. «Was meinen Sie damit?»
«Sie wollen nicht vielleicht etwas anderes?»
«Etwas anderes?»
«Sie rufen nicht ‹Wolf! Wolf›, weil Sie …» Ich hob in einer fragenden Geste die Hände.
Wir starrten einander an. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte leise: «Nein.»
Sie stand steif und unbeweglich, als hätte sie plötzlich etwas entdeckt. Ich drehte schnell den Kopf. Hinter mir war niemand. Ich sah wieder sie an. War ich es etwa, vor dem sie Angst hatte?
Ich trat einen kleinen Schritt nach vorn, fasste sie am Oberarm und beugte mich in einer impulsiven Bewegung zu ihr hinunter, so wie man ein kleines Kind tröstet, indem man es in den Arm nimmt.
Ihr Schlag traf mich quer über den Mund und ihr Schrei zerriss die Stille um uns herum. «Fassen Sie mich nicht an! Bleiben Sie mir vom Leib!» Sie ging rückwärts.
Vor meinen Augen tanzten rote Flecken, und ich ging ihr automatisch hinterher. «Bente, ich …»
«Nein! Kommen Sie nicht näher! Bleiben Sie stehen!» Ihre Stimme war schrill, ihre Halsmuskeln waren gespannt, und sogar im Dunkeln konnte ich die roten Flecken in ihrem Gesicht erkennen. Dann drehte sie sich abrupt um und lief davon, zuerst zum Schlagbaum und dann den Weg zurück bergab.
Einen Augenblick stand ich wie gelähmt. Dann lief ich hinter ihr her. Aber ich versuchte nicht, sie aufzuhalten oder einzuholen. Sie sah sich immer wieder verschreckt über die Schulter nach mir um, und ich wollte den Abstand halten, um ihr zu zeigen, dass ich ihr nichts tun wollte, dass ich immer noch ganz einfach auf sie aufpasste.
Ich folgte ihr den ganzen Munkebottsveien hinunter. Unten im Helleveien versuchte ich, mich ihr zu nähern. Es waren Menschen um uns herum, und sie hatte keinen Grund mehr, Angst zu haben. Aber ich erreichte sie nicht rechtzeitig. Sie hielt ein leeres Taxi an, sagte dem Fahrer ein paar Worte, um dann im Abendverkehr in Richtung Zentrum zu verschwinden.
Ich sah sie erst eine Woche später wieder, auf einem Zeitungsfoto mit der Überschrift: JUNGE FRAU VERMISST.
Der Artikel gab nicht viel her. Sie wurde seit Montagnachmittag vermisst. Ihre Eltern in Rosendal hatten seit über einer Woche nichts mehr von ihr gehört, und sie war am Dienstagmorgen nicht zur Arbeit erschienen. Ihre Hauswirtin hatte angeblich seit Sonntagabend nichts mehr von ihr bemerkt. Bente Laubfall war bei ihren Arbeitskollegen beliebt, und niemand hatte bemerkt, dass sie in der letzten Zeit besonders deprimiert oder unruhig gewesen war. Es gab nicht den geringsten Verdacht, dass sie irgendeine Gesetzwidrigkeit begangen haben könnte. Wer irgendwelche Informationen über Bente Laubfalls Verbleib hatte, wurde gebeten, sich an das Bergenser Polizeipräsidium oder die nächste Polizeidienststelle zu wenden.
Ich folgte der Aufforderung und rief im Polizeipräsidium an. Ich fragte nach Vadheim, der sich prompt mit leiser Stimme meldete: «Veum?»
«Ja. Es geht um diese Frau, die heute als vermisst in der Zeitung steht. Bente Laubfall.»
Er klang sofort viel interessierter. «Ja? Weißt du etwas darüber?»
«Vielleicht.» Ich erzählte ihm kurz von meinen beiden Exkursionen mit Bente Laubfall nach Munkebotn.
Am anderen Ende der Leitung stieß Vadheim einen langen und anerkennenden Pfiff aus. «Erpressung? Das ist ja interessant, Veum. Sehr interessant. Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?»
«Nein. Aber ich würde euch schon raten, Munkebotn ganz besonders gründlich abzusuchen.»
«Natürlich. – Hast du noch was zu erzählen? Wie hat sie auf dich gewirkt?»
Ich dachte nach. «Vielleicht ein bisschen nervös, was kein Wunder war. Aber sonst nichts Besonderes – überhaupt nichts. Sie kam ja aus dem gleichen Ort wie du. Aber sie hatte noch nie von dir gehört.»
Ich hörte ihn milde schmunzeln. «Tja, dann … Danke für deinen Anruf. Sollte dir noch etwas einfallen, oder solltest du von ihr hören, dann vergiss unsere Telefonnummer nicht.»
«Wie könnte ich die vergessen?»
Wir lachten beide leise in den Hörer. Dann legten wir auf und ich blieb mit der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Schoß sitzen. Bente Laubfall starrte mich von dem eierschalfarbenen Papier an. Fast vorwurfsvoll. Weil ich nicht da gewesen war, als sie mich wirklich brauchte. «Aber du hast mich nicht gefragt, Bente», sagte ich leise zu dem stummen Foto. «Du hast mir nicht Bescheid gesagt.»
Ich blieb sitzen und sah eine Weile aus dem Fenster. Der September ist einer der wichtigsten Wendepunkte im Jahr. Im September stirbt der Sommer endgültig und wird zum Herbst. Alles ist unwiederbringlich vorbei und der Winter steht vor der Tür. Vielleicht galt das auch für Bente Laubfall? Tod und Unwiederbringlichkeit.
Der September war mit Sommerwärme angetreten, hatte dann eine Periode mit Regen durchlaufen, und jetzt war der Himmel wieder klar. Aber das klare Wetter trug keine sterbende Sommerseele mehr in sich. Es hatte ein dünnes, kaltes Herz aus Kristall. Der Himmel war von einem klareren Blau. Das Laub an den Fjellhängen hatte offene Wunden. Bald würde der Oktober an die Türen klopfen und seinen Tribut einfordern. So geht das Leben an uns vorbei. Zwei Dinge kann man niemals aufhalten: die Jahreszeiten und den Lauf des Lebens.
Ich fragte mich, wo Bente Laubfall sein mochte. Lag sie tot irgendwo unter dem Herbstlaub? Als letzte Rose des Sommers? Hatte jemand beobachtet, dass ich sie an den beiden Abenden begleitet hatte und beschlossen, einen abrupten und endgültigen Schlussstrich zu ziehen? Oder war sie irgendwo in Deckung gegangen, vor uns allen? Lag sie irgendwo im Dunkeln, mit klopfendem Herzen und stockendem Atem, zurückgezogen und verschlossen, voller Angst vor der geringsten Berührung …
Ich dachte an Rosendal, den kleinen Ort am Hardangerfjord, im Schatten des mächtigen Melderskin. Es war ein enges Tal. Na und? Man hatte schon Schlimmeres überlebt als eine Kindheit und Jugend in Rosendal. Vegard Vadheim war mit den gleichen Voraussetzungen gut zurecht gekommen. Vielleicht gab es auch keine einfach Erklärung dafür, dass sie die wurde, die sie wurde. Es gab nur eine junge Frau, die vermisst wurde, 27 Jahre alt, blond und schön, aber satt von Küssen. Verschwunden.
Die Frau, die mich zwei Tage später anrief, hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, als hätte sie eine leichte Stimmbandinfektion. «Spreche ich mit Varg Veum?»
«Sie sprechen, er hört zu.»
«Es geht um Bente.»
Ich verstummte.
«Bente Laubfall», wiederholte sie nachdrücklich.
«Aha», sagte ich. «Und um was genau geht es?»
«Ich muss mit Ihnen reden. Ich habe etwas für Sie.»
«Ach ja?» Ich zögerte. «Hören Sie, das hier ist ein Fall für die Polizei, und wenn Sie irgendetwas über ihr Verschwinden wissen, dann sollten Sie sich an …»
«Ich geh nicht zu den Bullen!», zischte sie durch die Leitung. «Außerdem ist das hier eine – äh – Privatangelegenheit.»
«Na gut. Wann können wir uns treffen – und wo?»
«Ich komme jedenfalls nicht in Ihr Büro und Sie können nicht hierher kommen.» Sie klang ausgesprochen kontaktfreudig.
Ich sagte kühl: «Es gibt eine respektable Cafeteria im ersten Stock dieses Gebäudes, also wenn es Ihnen genehm wäre …»
«Es gibt keinen Grund unhöflich zu werden. Woran erkenne ich Sie?»
«An meinem dämlichen Gesichtsausdruck.»
«Im Ernst!»
«Wann können Sie dort sein?»
«Gegen drei Uhr.»
«Okay. Ich komme genau um fünf Minuten nach drei zur Tür herein. Geben Sie mir einen diskreten Wink. Ich werde versuchen, nicht über Sie herzufallen. Jedenfalls nicht dort.»
«Wenn Sie glauben, ich tu das hier zu meinem Vergnügen, dann …»
«Vergnügen ist genau das richtige Stichwort. Wir denken offensichtlich in dieselbe Richtung.»
«Mit sowas macht man keine Witze. Kommen Sie einfach. Und zwar pünktlich!» Sie knallte den Hörer auf.
Hinterher tat es mir Leid. Sie hatte Recht. Über sowas macht man keine Witze. Aber es gibt Stimmen, die den Teufel in mir heraufbeschwören. Und Bogart und Belmondo waren immer sehr erfolgreich, wenn sie die Frauen so behandelten. Aber Frauen waren verschieden. Und wenn ich es mir recht überlegte, dann gab es wohl auch einen klitzekleinen Unterschied zwischen mir und Bogart und Belmondo.
Als sie mir genau um fünf nach drei einen diskreten Wink ab, war ich froh, dass ich sie nicht gebeten hatte, mich irgendwo in der Öffentlichkeit zu einer Tasse Kaffee zu treffen. Wenn jemand gesehen hätte, wie sie mein Büro verließ, hätte er geglaubt, ich hätte die Branche gewechselt.
Sie gehört zu dem Typ Frau, der chronisch herausfordernd wirkt. Ihr Aussehen passte zu ihrer Stimme. Ich setzte mich vorsichtig auf einen Stuhl ihr gegenüber, klammerte mich an eine weiße Tasse mit schwarzem Kaffee und versuchte, nicht allzu verängstigt auszusehen.
Ihre Augen waren rotbraun. Ihr Haar hatte dieselbe Farbe, allerdings unecht, und ihre Lippen waren dunkelrot. Sie hatte schmale, feste Lippen von der besonderen Art.
Sie war so ungefähr das absolute Gegenteil von Bente Laubfall. Stark geschminkt, aber nicht ohne Talent. Die Augen schwarz umrahmt, die Konturen des Mundes erweitert, die blassfahle Haut blassbraun getönt. Sie trug eine zottelige graubraune Kaninchenfelljacke, die ihr nur bis zur Taille reichte. Darunter trug sie einen weißen Pullover, der genau eine Nummer zu klein war, und was die Tischkante verbarg, war ich froh, nicht sehen zu können. Viel weniger hätte gereicht, damit einem die Karten aus der Hand fielen.
Vor ihr stand eine Tasse Kaffee. Auf dem Stuhl neben ihr lag eine dunkelrote Handtasche, und daraus hervor ragte ein großer, hellbrauner Umschlag.
Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch sehr rücksichtsvoll in mein Gesicht. Dann ließ sie ihre Zunge behäbig an der Innenseite ihrer Lippen entlang wandern, als würde sie sich den Mund reinigen, bevor sie meinen ekligen Namen aussprach: «Veum?»
Ich hob zum Gruß meine Kaffeetasse. «Und mit wem habe ich das Vergnügen?»
Sie sog den Rauch so tief es nur ging in ihre Lungen. «Nennen Sie mich Lise. Das reicht.»
«Aso, was wollen Sie von mir … Lise?»
Sie starrte mich forschend an, als wollte sie herausfinden, wie verlässlich ich war. Ich konnte sie noch immer nicht mit Bente Laubfall in Zusammenhang bringen. Sie arbeitete sicherlich nicht bei der Bank – mit der Kriegsbemalung.
«Ich kannte Bente. Vor ein paar Wochen gab sie mir einen Umschlag mit … Ich musste ihr versprechen, wenn ihr etwas passieren sollte, Ihnen den Umschlag zu geben, mit der dringenden Bitte, ihn an niemanden anders weiterzugeben. Und auf keinen Fall an die Polizei.»
Ich betrachtete ihre Nägel. Sie waren sehr lang und ebenso rot wie ihr Mund. Ich sagte: «Hat sie es genau so ausgedrückt? Wenn ihr etwas passieren sollte, und auf keinen Fall an die Polizei?»
Sie nickte. «Genau so hat sie es gesagt, Buster.»
«Buster?»
«Buster.»
Ich beugte mich über den Tisch und schaltete wieder den Bogart-Belmondo-Ton ein. «Hören Sie mal, Sie Dame, wenn Sie hergekommen sind, um …»
«He, Tarzan, bevor du dich aufregst. Bist du wirklich so ein – Privatdetektiv?»
Ich beschloss, mit einer Frage zu antworten, auf die ich die Antwort schon wusste. «Wo haben Sie den Umschlag?»
Sie antwortete nicht sofort, sondern warf erst einen Blick auf die Tasche. «Hier.»
«Ich gebe Ihnen einen Rat. Gehen Sie zur Polizei damit.»
«Zu den Bullen? Nie im Leben! Ich hab Ihnen erzählt, was sie gesagt hat: Gib ihn Veum, unter der Bedingung, dass er den Inhalt nicht der Polizei zeigt, oder verbrenn ihn!»
«Oder verbrenn ihn?»