Wie in einem Spiegel - Gunnar Staalesen - E-Book

Wie in einem Spiegel E-Book

Gunnar Staalesen

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Beschreibung

Dieser Titel gehört zu einer Romanreihe, auf der die bekannte Krimifernsehserie ›Der Wolf‹ um den Privatdetektiv Varg Veum basiert. Die Erstausstrahlung der beiden Staffeln erfolgte in Deutschland 2008 bei Das Erste und 2013/2014 beim ZDF. Der Privatdetektiv Varg Veum erhält von einer bekannten Anwältin den Auftrag, nach ihrer verschollenen Schwester und deren Mann zu suchen. Rasch findet Veum heraus, dass der Mann bei einer Firma angestellt war, die Giftmüll in die Dritte Welt exportiert und afrikanische Flüchtlinge nach Norwegen schmuggelt. Mit Unterstützung einer Starreporterin ist der Fall schnell an die Öffentlichkeit gebracht, doch das Rätsel der Verschwundenen bleibt lange ungelöst ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gunnar Staalesen

Wie in einem Spiegel

Krimi

Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Ich hatte sie schon lange kommen sehen.

Wir gingen in entgegengesetzter Richtung über den Bergpass, den die Bergenser «Die Hochebene» nennen, als sei sie die einzige der Welt. Sie kam von Ulriken und ging in Richtung Fløien. Ich selbst hatte soeben das Trappefjell erklommen und folgte der Reihe kleiner Steinpyramiden über den Berg, der seit alters her Alfjellet hieß. Es war ein Donnerstag Mitte April, und das Thermometer schwankte immer noch zwischen ein- und zweistelligen Zahlen. Unten auf dem Midtfjell hatte ich die charakteristischen, spitzen Lockrufe der Alpenstrandläufer gehört. Oben zog unter den treibenden Wolken der erste Keil von Graugänsen gen Norden, von einer unerklärlichen Sehnsucht in Richtung Møre getrieben. Der Frühling war in Anmarsch. Aber auf der Höhe lagen immer noch Flecken von Schnee. In den Mooren oberhalb von Hyttelien sank man tief in den Matsch ein, wenn man neben den Pfad trat.

Plötzlich war sie verschwunden, wie eine Waldfee. Das letzte Stück vor der Borga-Felskluft, wo die Bergriesen wohnen und ein über die Hochebene weisender Zeigefinger in den Himmel ragte, verlor ich sie aus den Augen. Einen Augenblick lang stand ich verdattert da, dann tauchte sie auf meiner Seite der Felskluft wieder auf, mit federnden Bewegungen den Berg hinauf stapfend. Ich trat neben den Pfad, um sie vorbeizulassen.

Sie war sportlich gekleidet, trug einen leichten Wanderrucksack, braune Kniebundhosen, eine grüne Windjacke und eine weiße Strickmütze. Als sie an mir vorbeiging, schickte sie mir ein schnelles Lächeln und ein munteres «Hei!», wie Bergwanderer es eben tun.

«Aber–» hörte ich sie plötzlich kurz hinter mir sagen, «ist das nicht …»

Ich drehte mich um und begegnete ihrem Blick.

«Veum?»

«Genau.»

Ich filterte schnell meinen Eindruck. Ihre Augen waren blaugrün und ihr Blick war klar. Sie war größer als ich, an die 1,85. Trotzdem hatten ihre reinen Züge, die breiten Lippen und die glatte Haut ihrer von der scharfen Bergluft geröteten Wangen etwas entschieden Feminines. Ein paar Schweißtropfen hatten sich in dem hellen Flaum auf ihrer Oberlippe gesammelt; ansonsten wirkte sie überraschend unangestrengt und atmete leicht wie ein Marathonläufer, der bergab läuft.

Sie kam ein zwei Schritte zurück, wie um die Größe auszugleichen, zog einen grauen Wollhandschuh aus und streckte mir die Hand entgegen. «Berit Breheim.»

«Hei.» Wir schüttelten uns die Hand.

«Ich bin Anwältin, in einer Gemeinschaftspraxis, unter anderem mit Vidar Waagenes.»

«Genau. Aber wir haben uns wohl noch nicht …»

«Nein, aber ich weiß, wer Sie sind.»

«Schade, dass ich nicht dasselbe sagen kann.»

«Ich hatte sogar vor, Sie anzurufen.»

«Putziges Zusammentreffen, was? Dass wir uns hier oben begegnen, meine ich.»

Sie lächelte schief. «Ich gehe oft über die Hochebene, wenn ich gründlich über etwas nachdenken muss.»

«Und das müssen Sie gerade?»

«Ich weiß wohl, dass Sie ein paar Mal Kontakt zu Vidar hatten.»

«Wir haben gegenseitig ein wenig voneinander profitiert, sozusagen.»

«Ich könnte mir vorstellen, Ihnen einen Auftrag zu erteilen.»

«In Verbindung mit einem Fall, an dem Sie arbeiten?»

«Nein, es ist – privat.»

«Solange es nicht … Ich meine, Ehegeschichten übernehme ich nicht.»

«Ich bin nicht verheiratet», sagte sie und es klang wie eine Einladung.

«Ich auch nicht.»

«Dann sind wir zwei.»

«Na ja, nicht aus Prinzip …»

«Nein, ich auch nicht.» Sie lächelte tiefgründig. «Könnten Sie morgen früh in mein Büro kommen, um acht?»

«Sie sind offenbar eine Frühaufsteherin.»

«Den Rest des Tages bin ich beschäftigt, und ich möchte gern, dass Sie schnell beginnen. Ich hoffe, Sie haben im Moment nicht zu viel anderes?»

Ich machte eine vage Handbewegung, um nicht zu viel zu versprechen. Aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Ich hatte im Moment überhaupt nichts anderes.

«Tja, dann – ist das abgemacht?»

«Vorausgesetzt, ich höre den Wecker.»

Sie lächelte höflich. «Dann noch eine schöne Wanderung.»

«Danke, gleichfalls.»

Ich hätte natürlich mit zurückgehen können. Dadurch wäre der Weg nicht kürzer geworden. Aber andererseits – sie hatte gesagt, sie hätte über etwas nachzudenken, die morgige Gerichtsverhandlung vielleicht – also war es sicher besser, nicht zu stören. Sobald ich oben auf der anderen Seite der Borgakluft war, drehte ich mich trotzdem um. Ich wollte sehen, wie weit sie gekommen war. Sie sah sich auch um. Über die Kluft hinweg winkten wir einander zu, dann ging jeder in seine Richtung weiter.

Es war schon okay. Ich hatte auch einiges zu klären. Es war nur gut für mich, allein zu sein.

2

Einen Menschen umzubringen macht etwas mit uns.

Es waren fast zwei Monate vergangen seit jenem Abend Ende Februar, als ich einen Mann namens Harry Hopsland dorthin zurückgeschickt hatte, woher er gekommen war, und doch schmerzte sein letzter Blick wie eine Entzündung in meinem Gedächtnis. Ve –!, hatte er mich verflucht, als er über den Rand des halbfertigen Betongebäudes verschwand. Ve –!, hallte das Echo wieder, in jeder Stunde der schlaflosen Nächte, die ich danach durchlebt hatte.

Die Frau in meinem Leben während der letzten acht Jahre – meine alte Freundin vom Einwohnermeldeamt, Karin Bjorge – hatte so gut sie konnte versucht, mich zu trösten: Es war nicht deine Schuld, Varg! Es war Notwehr. Wenn nicht er, dann hättest du da gelegen! – Aber ich hätte ihn retten können, hatte ich argumentiert. Ich hätte ihn stattdessen verhaften lassen können. Und was dann? Er wäre wohl wieder rausgekommen, mit genauso dunklen Vorsätzen wie damals …

Sie hatte Recht. Ich wusste es. Nichtsdestotrotz war es eine qualvolle Zeit gewesen. Ich schlief schlecht. Harry Hopsland suchte mich in meinen Träumen heim, und als ich im Vorzimmer der Anwaltspraxis von Breheim, Lygre, Pedersen & Waagenes vorsprach, anderthalb Minuten vor acht am nächsten Morgen, hatte ich ein Gefühl, als hätte ich Putzwolle und Benzin im Kopf, irgendetwas unbestimmbar Graues, das jederzeit Feuer fangen konnte.

Ich wurde von einem klassischen Sekretärinnenpaar empfangen: Die ältere trug ein gepflegtes Netz von Fältchen um die Augen, das dunkle Haar war elegant drapiert, sie war diskret, aber delikat gekleidet und unten auf der schmalen Nase saß eine leichte Lesebrille. Ihre Kollegin war in den Zwanzigern, blond, mit morgenmuffeligem Blick und deutlich jugendlicher gekleidet, in engen schwarzen Hosen und einer Bluse, die so tiefrot war, dass sogar ein ausgestopftes Tier darauf reagiert hätte. Die Schilder auf dem Tresen verrieten mir ihre Namen: Hermine Seterdal und Bente Borge.

Ich wandte mich höflich an die Ältere. «Ich habe einen Termin mit Berit Breheim. Veum ist mein Name.»

Es glitzerte in den dunklen Augen. «Ja, Sie sind ja schon mal hier gewesen, bei Herrn Waagenes.»

Einen Augenblick sah ich sie erstaunt an: Hatte ich etwa Eindruck auf sie gemacht, oder hatte sie nur ein gutes Gedächtnis?

«Frau Breheim erwartet Sie. Es ist die zweite Tür rechts. Sie sehen Sie durch die Glastür.»

«Danke Ihnen.»

Ich folgte der angewiesenen Marschroute, klopfte leicht an die Tür, begegnete Berit Breheims Blick von innen und trat ein. «Guten Morgen.»

Sie lächelte. «Guten Morgen.»

Das Büro war auf eine raffinierte Weise einfach eingerichtet: Ein Schreibtisch am Fenster mit Blickrichtung zur Tür, ein kleiner Beistelltisch und zwei Stühle in der einen Ecke, ein Bücherregal voller schwerer Gesetzestexte in der anderen.

Sie erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. «Eine Tasse Kaffee?»

«Ja, bitte.»

Sie ging zur Tür. «Bente! Könntest du uns etwas Kaffee besorgen?»

Die jüngere Sekretärin antwortete bestätigend von draußen und Berit Breheim kam wieder zurück.

Sie war dezent gekleidet, trug eine cremefarbene Seidenbluse, einen schwarzen Rock und silbern schimmernde Strümpfe. Ihr Körper war wohlgeformt und athletisch, aber sie war vom Typ her eher Diskuswerferin als Hochspringerin. «Ich muss um zehn Uhr ins Gericht.»

«Sie werden gewinnen.»

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber gerade da kam Bente Borge mit zwei eleganten, schmalen, weißen Kaffeetassen herein, einer kleinen Schale mit Zucker, einem Sahnekännchen und einer Thermoskanne in italienischem Design, alles auf einem rostroten Tablett, dass perfekt zum schwarzen Holz des Beistelltisches zwischen den beiden Stühlen mit dem roten Lederbezug passte.

Berit Breheim schenkte Kaffee ein und tat dann, was ich erwartet hatte. Sie kam direkt zur Sache. «Wie ich schon gesagt habe, als wir uns gestern trafen: Es geht um einen Auftrag, für mich privat.»

Ich nickte abwartend.

«Ich habe eine Schwester, die Bodil heißt. Ein paar Jahre jünger als ich. Achtunddreißig, um genau zu sein. Sie lebt in einer – wie soll ich sagen – schwierigen Ehe.»

«Ich hoffe, Sie erinnern sich …»

«Ja, ja, Veum. Aber um so etwas geht es nicht.»

«Okay.» Ich hob die Hände, als Zeichen, dass sie fortfahren sollte.

«Fernando, ihr Mann, ist Spanier. Fernando Garrido, Schiffbauingenieur von Beruf und als Inspekteur bei einer hiesigen Reederei angestellt, TWO – eine Abkürzung für Trans World Ocean. Früher hießen sie Reederei Helle.»

Ich beugte mich vor. «Hat das etwas mit Hagbart Helle zu tun?»

«Sie sind gut informiert, Veum. Das gefällt mir. Ja. Aber Hagbart Helle ist gestorben, 1989 war das wohl, und die Firma wurde verkauft. Die Besitzer sitzen in London, aber die Firma ist – surprise, surprise! – in Jersey registriert. Die Filiale in Bergen leitet ein gewisser Herr Halvorsen, Bernt Halvorsen, wenn ich mich nicht irre. Nicht dass das etwas mit der Sache zu tun hätte, aber wo Sie nun fragten …»

«Ich bin nun mal einer, der fragt.»

«Das Problem ist, dass sie verschwunden sind. Beide, Bodil und Fernando.»

«Aha! Und Sie meinen, daran sei etwas Verdächtiges?»

«Tja, verdächtig … Eigentlich nicht. Sonst würde ich zur Polizei gehen. Aber es gibt – besondere Umstände, die mich etwas beunruhigen.»

«Und was für Umstände sind das?»

«Vor anderthalb Wochen, am Palmsonntag, wurde ich aufs Polizeipräsidium in Bergen gerufen, um Fernando zu vertreten. Er hatte die Nacht in Haft verbracht wegen Randaliererei und brauchte einen Anwalt. Ich rief sofort Bodil an, um zu hören, was sie dazu zu sagen hatte.»

«Und?»

«Tja… Eigentlich war es nicht so dramatisch. Ursprünglich wollten sie ihren Hochzeitstag feiern. Zehn Jahre, wenn ich mich nicht irre.»

«Dann sollten sie das verflixte siebte Jahr hinter sich haben.»

«Tja. Jedenfalls haben sie angefangen zu streiten. Das eine Wort gab das andere, und zum Schluss waren sie so laut geworden, dass der Mann im Haus direkt gegenüber die Polizei anrief.»

«Aufmerksamer Nachbar, offenbar.»

«Verdammt aufmerksam, wenn Sie mich fragen. Was ging ihn das alles an? Solche Dinge lassen sich normalerweise gütlich regeln. Mit einem vernünftigen Dritten, der ihnen ins Gewissen redet.»

«Aber die Polizei meinte also, es gäbe Grund, ihn mitzunehmen?»

«Sie meinten, er sei ziemlich aggressiv geworden. Sie wissen schon – südländisches Temperament und alles. Aber ich kann Ihnen versichern … Er war ganz verzweifelt, als ich ihn dort traf, in der Ausnüchterungszelle.»

«Aber Sie haben ihn rausbekommen?»

«Ja, ja. Kein Problem. Ich habe ihn selbst nach Hause gefahren. Aber ich bin nicht mit reingegangen.»

«Nein?»

«Ich dachte, es sei das Beste, wenn sie sich aussprechen können. Die beiden. Ich bin auch mal verheiratet gewesen. Ich weiß, wie das in solchen Situationen ist.»

«Eine Erfahrung, mit der Sie nicht allein dastehen.»

«Sie auch?»

Ich nickte. Dann sagte ich: «Sagen Sie … Sie und Ihre Schwester … Wie nah stehen Sie einander?»

Sie wippte leicht mit dem Kopf hin und her. «So nah, wie man es erwarten kann, wenn jede ihr eigenes Leben lebt und dabei sehr beschäftigt ist.»

«Haben sie Kinder?»

«Bodil und Fernando? Nein.» Sie lächelte schief. «Wir gehören nicht zu den Fruchtbaren dieser Gesellschaft, weder sie noch ich, wie es scheint.»

«Das kann auch ganz egal sein, so wie die Welt aussieht. Wo arbeitet sie denn?»

«Bei einer Versicherung.»

«Schiffsversicherung vielleicht?»

Sie hob ironisch die Augenbrauen. «Wie konnten Sie das erraten. Aber soviel ich weiß, hatte sie gerade aufgehört.»

«Aha.»

«Sie wollte es auf eigene Faust versuchen, als freischaffende Finanzberaterin.»

«Und wie läuft das?»

«Tja, um das zu beurteilen, ist es wohl noch zu früh.»

«Na gut. Sie haben ihn also nach Hause gefahren, am Morgen des Palmsonntags. Aber die Geschichte endet dort noch nicht, oder?»

«Nein. Ich gab ihnen ein paar Tage. Aber als ich am Mittwoch in der Osterwoche anrief, ging niemand ans Telefon. Es war ja kurz vor Ostern, deshalb war es wohl auch nicht so merkwürdig.»

Die Familie besaß zwei Ferienhäuschen: eine Hütte in Hjellestad und eine in Ustaoset. Um sicherzugehen, hatte sie auch dort angerufen, aber nirgends jemanden erreicht. Sie selbst war Ostern in der Stadt geblieben. «Eigentlich sollte ich mich auf den Fall, an dem ich gerade arbeite, vorbereiten, aber das Wetter war dann ja so strahlend, dass ich doch die meiste Zeit draußen verbracht habe. Ich bin mehrmals über die Hochebene gelaufen, und am Karfreitag war ich auf dem Gulfjell, um noch mal die Skier auszuprobieren.»

«Klingt vernünftig.»

Am Dienstag hatte sie begonnen, sich ernsthaft Sorgen zu machen, und mehrmals bei ihnen zu Hause angerufen, ohne Erfolg.

«Wo wohnen sie?»

«In Morvik in Åsane. Wir hatten da schon ewig eine kleine Hütte, die sie abreißen ließen, nachdem Vater 1983 gestorben war.»

«Sie hatten offenbar eine ganze Reihe von Feriendomizilen.»

«Die Hütte in Morvik haben wir fast nie genutzt. Sie war so karg und klein. Die Hütte in Hjellestad kam aus Mutters Familie, und die in Ustaoset … Die haben sie sich selbst angeschafft, so um 1950 herum. Aber wie gesagt … Können wir wieder zur Sache kommen?»

«Selbstverständlich.»

«Ich bin rausgefahren und habe geklingelt. Mehrmals. Niemand hat aufgemacht. Am Ende bin ich zum Bootshaus runtergegangen. Ich wusste, dass sie dort einen Reserveschlüssel hängen hatten. Ich fand ihn und schloss auf, nicht ohne bange Ahnungen, das kann ich Ihnen versichern. Aber sie waren, so weit, grundlos. Oder eben doch nicht. Das Haus war leer. Es war keine lebende Seele da.»

«Und offenbar auch keine tote.»

«Nein.»

«Sie haben sicher auch bei TWO angerufen und dort nach Garrido gefragt?»

Sie sah mich herablassend an. «Natürlich. Aber alles, was sie mir dort sagen konnten, war, dass er verreist sei.»

Ich nickte. «Und Sie haben sich noch nicht an die Polizei gewandt?»

«Würde ich dann hier sitzen und mit Ihnen reden?»

«Kaum.»

«Eben.»

«Was ist mit Spanien?»

Sie zuckte mit den Achseln. «Das ist natürlich eine Möglichkeit.»

«Von wo genau kam er, Ihr Schwager?»

«Aus der Gegend von Barcelona. Sein Vater hatte eine kleine Schiffsbaufirma. Aber er ist gestorben. Ein älterer Bruder von Fernando hat sie übernommen.»

«Haben Sie versucht, dort anzurufen?»

«Nein… Und ich möchte sie auch nicht beunruhigen, ohne Grund.»

«Tja…» Ich blätterte in meinen Notizen. «Also… Was glauben Sie, könnte dahinter stecken?»

«Tja… Vielleicht ist es nur eine Art Versöhnungsreise, um unter diese Episode einen Schlussstrich zu ziehen. In dem Fall wäre es nur peinlich, wenn ich die Polizei einschalten würde, während sie weg sind.»

«Aber so ganz sicher fühlen Sie sich auch nicht?»

«Nein.» Sie öffnete einen kleinen braunen Umschlag, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte. «Hier ist der Schlüssel. Fahren Sie raus und schauen Sie, ob Ihnen etwas auffällt.»

«Ihnen ist selbst nichts Außergewöhnliches aufgefallen, da draußen?»

«Nein. Wenn nicht, dann muss ich Sie fast auch bitten, nach Hjellestad rauszufahren und eventuell sogar nach Ustaoset, um ganz sicherzugehen.»

«Das klingt fast, als würden Sie das Schlimmste befürchten?»

Sie zögerte. Dann schien sie Anlauf zu nehmen. «Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand in unserer Familie einen Todespakt einginge.»

«Ach, nein?»

«Da gibt es ein schweres Erbe …»

«Dann verstehe ich fast …»

«Was?»

«Nichts. Erzählen Sie mir lieber – auch davon.»

3

Der schwarze Wagen, ein Opel Olympia Vorkriegsmodell, fuhr viel zu schnell die gewundene Straße nach Hjellestad entlang. Der Asphalt war nass und schwarz, und das regenschwere Septemberdunkel hatte die Konturen der Landschaft um sie herum ausgewischt. Das Licht der Scheinwerfer ließ die Straßendecke wie einen Spiegel erscheinen, eine gigantische Rutschbahn, auf der sie dahinsausten, ohne zu wissen, wohin die Reise sie führen würde.

Johan! Vorsichtig!

Der Mann hinter dem Steuer antwortete nicht. Seine Wangenmuskeln arbeiteten und sein Blick war starr auf die Fahrbahn gerichtet. Er trug einen Smoking. Auf dem Rücksitz lag sein Instrument, ein Tenorsaxophon, das er noch nicht in den Koffer gepackt hatte. Die Frau mit dem dunkelroten, flammenden Haar hatte Streifen von Wimperntusche auf den Wangen, und ihre Stimme klang verweint. Glaubst du, er verfolgt uns?, schluchzte sie und drehte den Kopf halb nach hinten.

Warum sollte er? Glaubst du, er hat nicht genug bekommen?

Du hättest nicht so hart zuschlagen sollen! Was, wenn du ihn …

Er oder ich! Wen von uns hättest du vorgezogen mit aufgesprungener Unterlippe?»

Das Blut ist richtig gespritzt!

Wer hat denn angefangen?

Angefangen…

Ihr Blick ging ins Leere. Er streckte eine Hand aus und strich ihr beruhigend über den Oberschenkel. Sie schauerte. Sie schossen wie ein Bobschlitten in die Zielgerade, durch die letzte Kurve. Er parkte unter den dunklen Baumkronen, zog die Handbremse an, wandte sich ihr zu und sagte: – Endstation, Frau Breheim …

«Es gab nie einen Zweifel, dass sie da oben gewesen waren», sagte Berit Breheim und sah mich mit einem merkwürdig Widerschein im Blick an.

«Da oben?»

«Im Sommerhaus in Hjellestad. Es liegt abgeschieden in einem Wäldchen. Sie haben … Das Mundstück seines Saxophons lag noch da.»

«Vielleicht hat er für sie gespielt?»

«The one I love belongs to somebody else?», sagte sie mit einem deutlichen, sarkastischen Fragezeichen.

«Was war geschehen?»

«Tja, was war geschehen? Die Details werden wir wohl niemals erfahren, aber der Ausgang war schicksalhaft. Irgendwann in der Nacht haben sie sich wieder ins Auto gesetzt. Wer gefahren ist, muss sehr betrunken gewesen sein, denn als das Auto gefunden wurde, ein paar Tage später, hatte es Schrammen an beiden hinteren Kotflügeln und einen langen, hässlichen Riss an einer Seite.»

«Wo wurde es gefunden?»

«Im Meer vor Hjellestad. Ein Bootsbesitzer entdeckte Ölspuren und sah Reflexe unter Wasser. Deshalb rief er die Polizei. Das Auto wurde an Land gehievt, und dort fand man sie, meine Mutter und – ihren Freund, die Arme umeinander geschlungen, bis zuletzt, in einer tödlichen Umarmung, als hätte keiner von beiden einen Versuch unternommen, aus dem Wagen und an die Wasseroberfläche zu kommen. So ist diese Idee von einem Todespakt entstanden.»

«Und die Polizei hat sich damit zufrieden gegeben?»

«Ich habe nie etwas anderes gehört, aber … Ich war damals auch erst sechs Jahre alt. Bodil war zwei. Das meiste wurde von uns fern gehalten, und später – tja … Papa hat nie davon gesprochen.»

«Von welchem Jahr ist die Rede?»

«1957.»

«Wo waren Sie und Ihre Schwester, als es passierte?»

«Bei einer Tante, im Nye Sandviksvei. Papa kam uns erst am Sonntagabend abholen, und da begriff ich, dass etwas nicht stimmte. Seine ganze Oberlippe war geschwollen, und ich weiß noch, dass ich nach Mama fragte. Aber er antwortete nicht, und Tante Solveig kam mit uns nach Hause. Immer wieder habe ich versucht, die Eindrücke von diesem Tag und den folgenden hervorzuholen, aber ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern. Papa mit der geschwollenen Oberlippe, Tante Solveig, die in Tränen ausbrach, Bodil, die unentwegt schrie, ohne dass jemand sie tröstete. An die Beerdigung habe ich überhaupt keine Erinnerungen, obwohl man mir erzählt hat, dass ich dabei war. Das Einzige, woran ich mich ganz sicher erinnere, ist, wie Papa mit Sara nach Hause kam und sagte, dass sie heiraten würden. Aber das war erst 1958. Alles dazwischen ist weg.»

«Ich verstehe.»

«Ein paar Jahre später, 1960 und 1964, bekamen Bodil und ich zwei Halbbrüder, Rune und Randolf.»

«Aber das mit dem Todespakt, wie Sie es nannten, wo haben Sie das her?»

«Von jemandem, dem ich später begegnet bin. Viele Jahre später. Von Hallvard Hagenes. Er war der Neffe des Mannes, mit dem Mama in den Tod ging, Johan Hagenes.»

«Hallvard Hagenes? Der Musiker?»

«Ja. Er spielt ebenfalls Saxophon. Aber jedenfalls … Er hat erzählt, was in seiner Familie geredet wurde, obwohl man auch dort nicht gerne darüber sprach.»

«Aber sie nannten es einen Todespakt?»

«Ja. Und es sprang mir ins Auge, als ich darüber nachdachte … Was sollte es sonst gewesen sein?»

«Tja… Wenn es die Polizei damals nicht in Frage gestellt hat, dann gibt es wohl keinen Grund für uns, das heute zu tun, so viele Jahre später. Aber …» Ich beugte mich vor. «So interessant das auch sein mag … Gibt es einen Grund für eine Verbindung zwischen dem, was 1957 passiert ist und der Tatsache, dass Ihre Schwester und ihr Mann jetzt verschwunden sind, so lange – sechsunddreißig Jahre später?»

«Nein, nein! Um Himmels willen. Ich versuche nur zu erklären, warum ich so besorgt bin.»

«Diese Hütte in Hjellestad, die Sie vorhin erwähnt haben, ist das dieselbe, in der sich Ihre Mutter und ihr Freund, wie Sie ihn nannten, aufhielten, in der letzten Nacht, bevor sie ins Meer fuhren?»

«Ja. Es ist dasselbe Haus.»

«Sie haben auch dafür einen Schlüssel, nehme ich an?»

«Ja.» Sie öffnete eine Schreibtischschublade. «Und für die Hütte in Ustaoset, falls es nötig sein sollte.» Sie zog einen Ring mit drei Schlüsseln hervor und zeigte mir zwei davon. «Das hier ist der für Hjellestad. Der hier ist für Ustaoset. Und der hier für den Geräteschuppen in Hjellestad.» Sie schob sie über die Tischplatte in meine Richtung.

«Und haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrer Schwester und ihrem Mann?»

Sie nickte. «Natürlich. Ich war darauf vorbereitet. Hier …»

Sie gab mir einen Briefumschlag. Ich öffnete ihn und schüttelte das Foto heraus. Es war eine Danksagungskarte mit einem Hochzeitsfoto. Die Frau hatte glattes, helles Haar, das im Nacken hochgesteckt zu sein schien. Ihre Züge waren klassisch und hübsch, etwas runder als die ihrer Schwester vielleicht, aber die Verwandtschaft war leicht zu erkennen. Der Mann war dunkelhaarig und glatt rasiert, auch die Augen waren dunkel. Das Foto war zu klein, als dass man bei beiden klarere Charakterzüge hätte herauslesen können.

«Ist dies Foto das Einzige, was Sie haben?»

«Ja, es war das Einzige, das ich gefunden habe. Wir machen nicht so oft Fotos in unserer Familie. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es uns daran erinnert, wie fragil so ein Familienfoto sein kann. Plötzlich fehlt jemand, ohne das irgendwer richtig erklären kann, warum.»

«Tja, ich verstehe. Aber – wie alt ist dieses Bild?»

«Sie haben 1983 geheiratet.»

«Zehn Jahre, mit anderen Worten. Aber vielleicht haben sie sich nicht so sehr verändert?»

«Ich glaube nicht, dass Sie Probleme haben werden, sie wieder zu erkennen.»

«Wir wollen es hoffen.»

Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. «Brauchen Sie noch etwas? Einen kleinen Vorschuss vielleicht?»

«Tja… Da Sie es nun schon erwähnen … Es liegen ein paar ungeduldige Rechnungen in meinem Büro, die jedes Mal, wenn ich reinkomme, die Zähne nach mir fletschen.»

«Fünftausend, ist das genug?»

«Das reicht auf jeden Fall für die ersten Tage. Spesen kommen noch dazu.»

«Natürlich. Sie brauchen einer Anwältin nicht beizubringen, wie man Rechnungen schreibt.»

«Ich hatte auch schon den Verdacht, ja.»

Sie bekam meine Kontonummer und versprach, den Betrag sofort zu überweisen. Sie hatte keine Ahnung, was sie auslöste. Die in der Bank würden einen Schock bekommen. Die Kurse an der Osloer Börse schossen augenblicklich in die Höhe. Sobald ich auf der Straße stand, nahm ich Kurs auf die nächste Bank. Ich musste versuchen, den Betrag abzuheben, bevor er von einem meiner Gläubiger geschluckt wurde.

4

Vor meinem Bürofenster war alles beim Alten.

Der Frühling hatte einen Schuss vor den Bug bekommen. Regenschauer drängten mit einer steifen Brise aus Südwest im Rücken über die Stadt herein. Die Knospen, die noch vor ein paar Tagen beim kleinsten Sonnenstrahl bereit gewesen waren, alle Hüllen abzuwerfen und sich uns allen zu zeigen, die sie sehen wollten, hellgrün und nackt, hatten sich wieder zusammengekrümmt und in sich selbst eingeschlossen. Oben auf Rundemanen lag noch immer eine Regenbogenhaut aus dünnem Schnee und starrte uns kalt an, als wollte sie uns sagen, wir sollten nicht zu ruhig schlafen. Noch immer konnten uns aus heiterem Himmel Frostnächte überraschen.

Auf meinem Anrufbeantworter war eine Meldung. «Hier ist Torunn Tafjord, ich bin freie Journalistin und versuche, Privatdetektiv Varg Veum zu erreichen. Ich rufe aus dem Hotel Idou Anfa in Casablanca an, es ist Freitagmorgen, 8.30 Uhr Ortszeit. Können Sie mich zurückrufen? Die Telefonnummer ist 002122200235.»

«Casablanca?», sagte ich zu mir selbst. Das klang wie ein schlechter Witz. Ich spielte die Meldung noch einmal ab und notierte mir die Nummer.

Torunn Tafjord? Irgendwo weit hinten auf meiner Festplatte meinte ich, den Namen abgespeichert zuhaben; wenn nicht woanders her, dann von den Autorenzeilen einiger Artikel in einer der so genannten «überregionalen Zeitungen» aus dem Zeitungsviertel in Oslo. Aber aus Casablanca?

Ich wählte die zwölf Ziffern und ließ es drauf ankommen. Nach dreimaligem Klingeln nahm sie ab. «Hallo?»

«Hier ist Varg Veum. Ich rufe aus Bergen an. Ist Rick da?»

Sie lachte leicht. «Nein, er ist abgereist, schon lange. Danke, dass Sie so schnell zurückgerufen haben.»

«Was kann ich für Sie tun?»

«Sie sind doch der Privatdetektiv, oder?» Ihre Sprache hatte einen unverkennbaren Einschlag von Sunnmøredialekt, den man besonders an den R’s erkannte, was meiner Erfahrung nach dafür sprach, dass sie aus Ålesund kam.

«Das kann ich wohl nicht verleugnen.»

«Dann hören Sie … Ein Kollege aus Bergen hat Sie mir empfohlen. Ove Haugland.»

«Ach, Ove … Wie geht’s ihm?»

«Gut, hoffe ich. Ich habe in der letzten Zeit nur am Telefon mit ihm gesprochen. Aber er war sich sicher, dass Sie mir helfen können.»

«Erzählen Sie mir erst, worum es geht.»

«Es geht um ein Schiff, das für eine Reederei fährt, die ursprünglich ihren Sitz in Bergen hatte.»

«Aha.»

«Die Reederei heißt Trans World Ocean.»

Ich streckte mich nach meinem Notizbuch, öffnete es und notierte. «Den Namen habe ich schon gehört.»

«Das Schiff heißt Seagull. Im Moment liegt es hier, in Casablanca, auf dem Weg von Conakry in Guinea zu irgendeinem Ort in Norwegen namens Utvik.»

«Utvik in Stryn oder Utvik in Sveio?»

Sie zögerte. «Genau da bin ich mir nicht sicher. Das war einer der Gründe, warum ich mich an Sie gewandt habe.»

«Sie wollen, dass ich herausfinde, um welchen der beiden Orte es sich handelt?»

«Ja.»

«Können Sie irgendwas über die Fracht des Schiffes sagen?»

«Noch nicht. Aber ich habe einen Verdacht.»

«Wollen Sie, dass ich das auch untersuche?»

Sie zögerte wieder. «Nur unter der Hand.»

«Und damit meinen Sie, ich soll nicht zu Trans World Ocean tapern, wo immer sie ihre Büros haben, und sie direkt ausfragen?»

«Ich fürchte, das wäre nicht so schlau.»

«Warum nicht?»

«Ich glaube, das würde ihnen nicht gefallen, und ich möchte gern vermeiden, dass sie Verdacht schöpfen, jemand könnte ihnen auf der Spur sein.»

Ich warf einen Blick in mein Notizbuch. Unter Trans World Ocean und Seagull hatte ich einen Namen geschrieben. «Sagen Sie, Frau Tafjord …»

«Sagen Sie doch bitte Torunn.»

«Haben Sie selbst jemals Kontakt zu Trans World Ocean gehabt?»

«Nein, nie.»

«Sagt Ihnen der Name Fernando Garrido etwas?»

«Nein. Sollte er das?»

«Ich weiß es nicht. Aber dies ist das zweite Mal im Laufe von ein paar kurzen Morgenstunden, dass ich den Namen Trans World Ocean höre. Solche Zusammentreffen machen mich immer etwas – wie soll ich sagen – unruhig?»

«Das kann ich gut verstehen. Worum ging es bei dem anderen Mal?»

«Das sollte ich vielleicht für mich behalten, bis auf weiteres.»

«Na gut. Aber was sagen Sie? Können Sie mir den Gefallen tun?»

Ich habe eine gestörte Persönlichkeit. Es fällt mir schwer, Frauen etwas abzuschlagen. Sie brauchten nicht einmal so nett zu fragen wie Torunn Tafjord. «Ich kann es versuchen», sagte ich. «Herauszufinden, ob es Utvik in Stryn oder in Sveio ist, sollte nicht so schwer sein. Bleiben Sie noch in Casablanca?»

«Nein, ich folge dem Schiff in Richtung Norden. Rufen Sie mich nicht an. Ich melde mich bei Ihnen.»

Das hörte ich nicht zum ersten Mal. So endete es meistens mit den Frauen in meinem Leben. Ruf mich nicht an, sagten sie. Ich melde mich … Und dann hörte ich nie wieder etwas von ihnen. «Sie erinnern sich, was Ilsa zu Rick gesagt hat», murmelte ich. «Wenn es nicht umgekehrt war.»

«Was denn?»

«We will always have Paris.»

«Und was meinen Sie damit?»

«Vergessen Sie nicht, anzurufen …»

Dabei ließen wir es bewenden. Immerhin das hatten wir: dieses Telefongespräch zwischen Bergen und Casablanca.

Nachdem wir aufgelegt hatten, jeder in seiner Stadt, schlug ich im Telefonbuch nach, um herauszufinden, wo die Büros lagen. Das Resultat verwunderte mich nicht sonderlich. Die neuesten Mitglieder der Bergenser Reedereibranche saßen nicht um Vagen herum, mit Aussicht auf den Skoltegrunnskaien und die großen Kreuzfahrtschiffe, die bald fast als Einzige dort noch anlegten, in der kurzen Sommersaison von Mai bis September. Die Büros der Trans World Ocean befanden sich in Kokstad, wo die Aussicht kaum etwas anderes zu bieten hatte als Nadelbäume, Industriegebäude und die Flugzeuge, die auf Flesland starteten und landeten.

Ich notierte mir die Adresse und nahm sie mit, als ich ging. Aber zunächst wollte ich in die entgegengesetzte Richtung.

5

Wenn man um diese Tageszeit nach Morvik in Åsane wollte, ohne festgelegte Rückfahrtzeit, dann konnte man nur eines tun. Ich ging in den Nedre Blekevei, um den Wagen zu holen; einen Toyota Corolla, 89er Modell, mit dem ich herumfuhr, während ich gleichzeitig versuchte, meine Versicherungsgesellschaft zu überreden, mir als Ersatz für den, der mir im Februar kaputtgegangen war, einen neuen zu bezahlen. Das war ein Ereignis, an das ich jetzt lieber nicht denken wollte. Es war ein besonders dramatischer Winter gewesen, sogar für meine Verhältnisse.

Ich folgte den Anweisungen von Berit Breheim. Das Haus, zu dem ich wollte, lag am Fuß eines steilen Hügels, an dem «Privatweg» stand, einen Steinwurf vom Meer entfernt und mit dem nächsten Nachbarn als Puffer zwischen ihm und dem Morvikveien. Das Nachbarhaus war so ein Typenbau mit weiß gekalkter Grundmauer und gebeiztem Paneel, von der Sorte, wie sie jedes zweite Lehrerehepaar baute. Ich warf einen Blick hinauf, als ich aus dem Wagen stieg. Ein Gesicht zog sich schnell zurück, aber nicht schnell genug, um meinem Blick zu entgehen.

Das Haus von Bodil Breheim und Fernando Garrido war stilvoller. Es hatte drei Stockwerke und war in einer Art neofunktionalistischem Stil gebaut: Kastenförmig, mit weiß gestrichener Holzvertäfelung. Nach Osten hin lag eine große Terrasse und an der Böschung im Norden des Hauses hatten Schneeglöckchen, weiße und blaue Krokusse und ein paar Büschel buttergelber Primeln längst das Terrain erobert. In den Berghang war eine Garage eingebaut. Ich versuchte, sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen.

Der Haupteingang bestand aus glatt poliertem Teak mit dunkelgrünen Bleiglasfenstern. Bevor ich den Schlüssel hervorholte, klingelte ich. Niemand kam, um zu öffnen. Mit einem Blick zum Nachbarhaus schloss ich auf.

Drinnen sah ich mich um. Die Halle war groß und hell. Das Tageslicht fiel durch große Dachfenster herein. An der Wand gegenüber hing ein hohes, schmales Bild, eine farbliche Explosion ohne klares Motiv. Eine Wendeltreppe führte in den ersten Stock, eine Schiefertreppe ins Untergeschoss.

Ich fühlte mich nicht wohl. Ein Haus zu betreten, in dem man eigentlich nichts zu suchen hat, dessen Bewohner einen nicht eingeladen hatten und wo man nie sicher sein konnte, was man darin finden würde, war mir schon immer zuwider gewesen.

Ich ging systematisch durch alle Zimmer, durch jedes Stockwerk. Ich begann im Untergeschoss, wo ich ein rustikales Wohnzimmer mit einer gut bestückten Bar vorfand, das zur Terrasse hin lag. Die zwei Schiebetüren konnten ganz geöffnet werden, wenn die Temperatur es zuließ. Im hinteren Teil lagen Besenkammern, ein Waschraum, zwei Toiletten, ein Duschraum und eine Sauna, alles dunkel und verschlossen. An den Haken hingen saubere Handtücher, und alles sah gepflegt und ordentlich aus.

Der Wohnraum im Erdgeschoss hatte die Größe eines Tennisplatzes. Die gesamte Wand zum Meer hin war aus Glas, eingerahmt von schweren, hellgrünen Samtgardinen, die man nachts vorziehen konnte, wenn man drinnen nackt auf dem Tisch tanzen wollte. Die Möbel waren solide genug, um das auszuhalten. Die Bilder an den Wänden zeigten dieselben starken Farben wie das in der Halle: Goldgelb, Ockergelb und Azurblau, mit einer sonnengetränkten südländischen Atmosphäre. Eine Stereoanlage von B&O von der exklusivsten Sorte schmückte eine kurze Wand, und ich konnte mit einem schnellen Blick durch den Raum feststellen, dass es mindestens vier Lautsprecher gab. Vom Fenster aus sah ich das Dach eines Bootshauses und einen schwimmenden Anleger aus Beton, der ins Meer hinaus ragte. Auf der anderen Seite des Fjordes lag Askøy und fing die Meeresdünung ab.

Die Küche zeugte von der gleichen teuren Eleganz und dem gleichen Preisniveau. Es war auf jeden Fall nicht Geldmangel, was Bodil Breheim und Fernando Garrido dazu veranlasst hatte, zu verduften. Hier könnten sie monatelang von dem leben, was ihnen der Verkauf ihrer Bratpfanne einbrächte.

Schließlich ging ich in den ersten Stock hinauf. Ich begann im Schlafzimmer, das zum Meer hinaus lag. Es enthielt ein großes Doppelbett, eine weiß gestrichene Spiegelkommode mit einem Stuhl davor, einen tragbaren Fernseher auf einem Beistelltisch am Fußende und zwei bequeme Lehnsessel in den Ecken, wo sie sitzen und den Anblick des Ganzen genießen konnten, wenn ihnen danach war. Ich ging weiter ins Gästezimmer, wo das Bett gemacht war, für den Fall, dass einer von ihnen die Nacht allein verbringen wollte. Zwei kleine Arbeitszimmer, beide mit Computer ausgerüstet, ein großes Badezimmer und zwei separate Toiletten vollendeten das Bild. Alles vermittelte den Eindruck aufgeräumter Perfektion.

Der letzte Raum, in den ich kam, war ein Kinderzimmer. Es lag auch zum Meer hinaus, und das Tagelicht strömte herein. An der einen Wand stand ein frisch bezogenes Kinderbett. An den Wänden hingen Bilder von Tieren und Blumen. Aber es waren nirgends Spielsachen zu sehen, gar keine Spur von dem Kind, was einmal hier gewohnt haben musste. Der ganze Raum hatte etwas merkwürdig Verlassenes und Trostloses, als gehörte er eigentlich gar nicht dorthin.

Aber sie hatte doch gesagt …

Ich holte meine allerletzte Investition hervor, ein Stück Fortschritt, zu dem ich schließlich nicht mehr hatte Nein sagen können. Die Tyrannei der Telefonzellen war vorbei. Alle netten Detektive hatten einen neuen Freund. Jetzt liefen wir stattdessen mit unförmigen Handys am Gürtel herum, bereit, beim ersten besten Piep! gezückt zu werden. Meins war ein Nokia 101, wog ca. 300 Gramm und hatte eine Reichweite, die täglich zunahm, im Takt mit dem Ausbau des Mobilfunknetzes. Jedenfalls erreichte es das Büro von Breheim, Lygre, Pedersen & Waagenes.

Mit Berit Breheim stand es schlechter. Sie war im Gericht und nicht erreichbar, leider, sagte eine Stimme, die ich meinte der älteren der beiden Sekretärinnen zuordnen zu können. Ich bedankte mich und unterbrach die Verbindung.

Ich ließ das leere Kinderzimmer bis auf weiteres für sich sprechen, als einzigen Störfaktor in diesem geschmackvollen und gut ausgestatteten Haus. Bevor ich ging, überprüfte ich, ob es möglich war, die Garage vom Haus aus zu öffnen. Das war es. Ich benutzte den automatischen Türöffner an der Wand in der Halle und draußen schwang das Tor auf. Aber die Garage war leer. Alles, was ich dort fand, war ein Satz Winterreifen an der einen Wand und ein Werkzeugschrank, der ebenso gut ausgestattet war wie der Rest des Hauses. Es roch nach Auto, aber das Werkzeug war nicht häufig gebraucht worden, das konnte ich sehen. Noch etwas, wonach ich Berit Breheim fragen musste: Hatten sie ein Auto, und wenn ja, wo war es dann?

Wenn ich nicht jemand anderen fragen konnte …

Ich machte die Garage wieder zu, schloss die Tür hinter mir ab und sah zum Nachbarhaus hinauf. Das Gesicht war wieder an seinem Platz, aber diesmal zog es sich nicht zurück. Ich nickte und gab ihm ein Zeichen, dass ich käme.

6

Er stand in der Tür und wartete, als ich den Schotterweg herauf kam. Vom ersten Moment an hatte ich den starken Eindruck, dass dieser Mann mit dem falschen Fuß in sein fünftes Jahrzehnt getreten war. Er war schlaksig und mager, sein Profil scharf und sein Lächeln nervös. Es wäre sicher durchaus charmant gewesen, hätte er sich die Mühe gemacht, es etwas zu polieren. Er hatte eine erloschene Zigarettenkippe im Mundwinkel und starrte mich aus dunklen, fast fiebrigen Augen an.

«Wer sind Sie?», fragte er. «Kommen Sie von der Polizei?»

«Nein, nein …» Ich streckte ihm die Hand entgegen. «Veum. Ich bin im Auftrag der Familie hier.»

Er gab mir seine, vorsichtig, als hätte er Angst davor, was ich damit anstellen könnte. «Sjøstrøm.»

«Ich frage mich … Ihre Nachbarn da unten, Bodil Breheim und Fernando Garrido. Wissen Sie, ob die verreist sind?»

Er sah mich misstrauisch an. «Tja… Ich habe sie jedenfalls seit Ostern nicht mehr gesehen.»

«Nein, eben. Und das Haus ist leer.»

«Sie haben – nachgesehen?»

«Ja.»

«Nein, wie gesagt … Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, muss – Mittwoch vor Ostern gewesen sein.»

«Und das ist bald anderthalb Wochen her.»

«Ja, das ist – eine Weile her.» Er sah an mir vorbei, wie um sich zu versichern, dass sie nicht in der Zwischenzeit aufgetaucht waren.

«Um ganz ehrlich zu sein, Sjøstrøm: Die Familie macht sich mittlerweile Sorgen. Sie haben mich beauftragt, Nachforschungen anzustellen. Könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?»

«Ich?»

«Ja, als nächster Nachbar haben Sie doch sicher das eine oder andere beobachtet, oder?»

«Doch natürlich, wenn ich etwas beitragen kann … Aber wollen Sie nicht reinkommen?»

«Gern, danke», sagte ich und folgte ihm ins Haus.

Der Kontrast zum Nachbarhaus war frappierend. Der Flur war dunkel und kalt. Ich folgte ihm eine Treppe hinauf und durch eine Tür ins Wohnzimmer. Durch die großen Fenster sah ich den oberen Teil des Nachbarhauses, das Meer dahinter und Askøy auf der anderen Seite des Fjordes. Ein verschlissener alter Sessel stand dem Fenster zugewandt. Neben dem Stuhl stand ein Tisch mit einem überfüllten Aschenbecher; zweifellos sein fester Beobachtungsposten.

Er hatte nicht immer allein gewohnt. In vieler Hinsicht war es ein halbes Haus, obwohl er versucht hatte, das zu kaschieren. Er hatte die Bilder an den Wänden umgehängt, aber helle Flecken verrieten, dass früher mehrere dort gehangen hatten. Wenn ich nach dem urteilte, was noch da war, dann hatte die Person, die ausgezogen war, den besseren Geschmack gehabt, es sei denn, sie wäre auch für die Hälfte, die noch da hing, verantwortlich gewesen. Das einzige Bild, das mir ins Auge fiel, war ein Druck, der einen Windjammer unter Segeln zeigte, vor einem Himmel voller ziehender grauer Wolken. Die Möbel füllten ungefähr die Hälfte des Raumes. Die Sitzgruppe bestand aus einem Sofa, und die Druckstellen auf dem Teppichboden verrieten, wo die anderen Teile gestanden hatten. Aber den Couchtisch hatte er behalten dürfen. Man konnte sich fast wundern, dass sie ihn nicht in der Mitte durchgesägt hatten, wo sie schon einmal beim Teilen waren.

Zwei einsame Esszimmerstühle und reichlich Platz gaben mir das Gefühl, wieder in der Tanzschule meiner Jugend zu sein, wo wir wie Schiffbrüchige an der Wand entlang gestanden hatten, mit einem Ozean zwischen den Mädchen und uns. In einem großen Aquarium schwamm ein einsamer Fisch herum. An dem Platz, wo früher eine Schrankwand gestanden hatte, hatte er ein Radio mit Plattenspieler und einen Stapel LPs aufgestellt. Den CD-Spieler und den Fernseher hatte sie offenbar mitgenommen. Ein kleiner Reisefernseher in einer Ecke war sein Fenster zur Welt. Typischerweise war er eingeschaltet und zeigte etwas, das mir wie eine brasilianische Seifenoper vorkam, ohne Ton, aber mit temperamentvollen Frauen, die auf dem kleinen Bildschirm heftige Ausbrüche mimten. Er machte keine Anstalten ihn abzuschalten, und während meines gesamten Besuchs glitt sein Blick in regelmäßigen Abständen dorthin, als wolle er sichergehen, dass er nichts Wichtiges verpasste.

«Sie haben brüderlich geteilt, wie ich sehe», kommentierte ich.

Er sah mich ärgerlich an. «Sie durfte wählen, wie sie es gewohnt war.»

«War sie so auch an Sie gekommen?»

Er schnaubte und stellte einen Esszimmerstuhl an den Couchtisch. Er selbst nahm auf dem Sofa Platz. «Was wollen Sie wissen?», fragte er und sah mich erwartungsvoll an.

«Wie schon gesagt … Wir sind wirklich nicht sicher, wie ernst die Sache ist. Aber Tatsache ist … Ihre Nachbarn sind seit Ostern verschwunden, und die Familie macht sich langsam Sorgen. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?»

«Zu denen da unten?» Er wurde rot im Gesicht. «Doch, das werde ich Ihnen geradeheraus sagen, Veum! Es war immer schlecht!»

«Aha. Gibt es dafür einen besonderen Grund?»

Mit schwerfälligen Bewegungen stand er auf, trat an das große Fenster und winkte mir, ihm zu folgen. «Da können Sie es sehen!» Er zeigte hinunter. «Als meine Frau und ich hier 1978 einzogen, lag da unten nur eine kleine Hütte. Wir konnten direkt auf den Fjord sehen. Man konnte jedes Schiff verfolgen, das vorbeikam. Ja! Es gibt Menschen, die Freude an solchen Dingen haben. Den Verkehr auf dem Meer zu verfolgen. Die Hurtigrute. Die Westamarane. Die Frachtschiffe. Aber dann – 1983 – übernahmen die da unten, rissen die Hütte ab, und im Laufe von wenigen Jahren hatten sie stattdessen diesen Wolkenkratzer gebaut. Weg war die Aussicht! Weg waren die Schiffe!»

«Aber Sie bekamen doch sicher eine nachbarrechtliche Ankündigung?»

«Ankündigung! Sie meinen, das hätten die nötig gehabt, was?» Er rieb die Handflächen gegeneinander. «Mit Geld kann man sich von allen Widerständen freikaufen. Das weiß doch jeder Idiot!»

«Na ja …» Ich ahnte, dass ich es hier mit einem klassischen norwegischen Nachbarschaftsverhältnis zu tun hatte. «Also mit anderen Worten … Ihr Verhältnis war nicht das beste?»

«Das kann ich Ihnen versichern. Sie sind, um es mal klar auszudrücken, ein paar richtige Arschlöcher, alle beide!» Damit wandte er dem Fenster den Rücken zu und ließ sich wieder auf das Sofa fallen.

Ich folgte ihm. «Aber nichtsdestotrotz … Zurück zu der Tatsache, dass sie jetzt verschwunden sind … Sie haben selbst gesagt, Sie hätten sie seit dem Mittwoch vor Ostern nicht mehr gesehen, war das nicht so?»

«Doch, Mittwoch muss es gewesen sein. Sie sind mit dem Auto weggefahren.»

«Genau. Ich habe gesehen, dass die Garage leer ist. Wissen Sie, was für ein Auto sie fuhren?»

«Einen BMW520, ziemlich neu.»

«So genau?»

«Von Autos verstehe ich etwas.»

«Farbe?»

«Dunkelblau.»

«Und haben Sie vielleicht auch die Nummer?»

Er dachte zwei Sekunden nach, dann gab er sie mir.

Ich schrieb sie in mein kleines Notizbuch. «Haben Sie gesehen, ob sie Gepäck dabeihatten?»

Er sah mich unzufrieden an. «Also, ich hänge mich ja nun nicht aus dem Fenster, um alles mitzukriegen, was da unten passiert!»

«Nein, nein. Also mit anderen Worten …»

«Nein, ich habe nicht gesehen, ob sie Gepäck dabeihatten.»

«Aber haben Sie gesehen, ob beide wegfuhren?»

Er zögerte einen Augenblick. «Das kann ich nicht genau sagen. Jedenfalls saß er am Steuer, da bin ich mir sicher.»

«Hatten Sie vielleicht selbst gerade Osterferien?»

«Nicht im gewöhnlichen Sinne. Ich bin Frührentner. Herz reimt sich auf Schmerz, wissen Sie. Ich hatte vor bald vier Jahren einen soliden Infarkt, und der Arzt war davon überzeugt, dass die Scheidung der Grund war.»

«Dann haben Sie mit anderen Worten reichlich Gelegenheit, zu verfolgen – was passiert?»

«Sie meinen …» Er nickte zum Fenster. «Da unten?»

«Auch das.»

«Doch, ja … Aber Buch darüber führe ich nun auch nicht gerade!»

«Nein, nein», sagte ich schnell. «So war es nicht … Aber es stimmt doch, dass Sie es waren, der die Polizei rief, als am Wochenende vor Ostern da unten Randale war?»

«Ja. Ich empfand es als meine Pflicht.»

«Was war das Problem? Laute Musik?»

«Musik! Das hätte ich wohl ausgehalten. Es war ein höllischer Streit. So, wie sie geschrien hat, hätte man meinen können, er wäre dabei, sie umzubringen.»

«Und Sie haben natürlich keine Ahnung, worum sich der Streit drehte?»

«Ach nein?» Er sah mich vielsagend an. «Was glauben Sie?»

«Na ja, das müssen ja nun wohl Sie beantworten, Sjøstrøm.»

«Ein anderer Mann, natürlich.»

«Den Sie beobachtet haben – hier?»

«Es ist kein Geheimnis, dass sie sehr …», er zeichnete wie zwei Kaninchenohren Anführungszeichen in die Luft, «… ‹allein› ist. Garrido ist viel unterwegs, kontrolliert Schiffe in der ganzen Welt, soweit ich es verstanden habe. Und dann kommt es vor, dass sie Besuch bekommt.»

«Aha…»

«Ich habe jedenfalls mindestens zwei verschiedene Männer da unten beobachtet, in Zeiten, als Garrido verreist war. Am Palmsamstag ist, so wie ich es interpretiere, Garrido unerwartet nach Hause gekommen, einen Tag zu früh.»

«Ach ja?»

«Ich konnte ihre Stimmen bis hier oben hören.»

«Sie sprechen immer noch von Samstagabend?»

«Nein, nein! Das hier war mitten am Vormittag. Ich habe auf die lauten Stimmen reagiert und bin ans Fenster gegangen. Da standen Garrido und dieser Typ vor dem Haus und haben sich angepöbelt. Keine Ahnung, worum es ging, aber sie waren sich auf jeden Fall nicht einig.» Er grinste breit, wie um zu sagen, dass es bessere Unterhaltung nicht einmal im Fernsehen gibt. «Und am selben Abend fing der Krach wieder an.»

«Aber da war der andere Mann längst weg, vermute ich.»

«Ja, ja! Es war kurz davor, dass Garrido ihn den Berg da raufscheuchte, das kann ich Ihnen versichern.»

«Dieser Mann … Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?»

Er schüttelte langsam den Kopf. «Eleganter Typ. Gut angezogen, mit einem gepflegten Bart und einem roten Ferrari, den er immer oben an der Hauptstrasse parkt, wenn er zu Besuch kommt.»

«Alter?»

«Tja… Ungefähr gleich alt wie sie. So Mitte dreißig.»

«Und er war oft da?»

«Na ja, oft … Er war jedenfalls schon ein paar Mal da gewesen. Was weiß ich? Vielleicht war er auch anderweitig gebunden.»

«Das war der eine Mann. Aber … Sie sagten, es gäbe noch einen?»

Er nickte. «Der andere spielt Saxophon.»

Ich richtete mich unwillkürlich auf. «Saxophon? Woher wissen Sie das?»

«Ich habe es gehört. Er hat für sie gespielt, wenn er da war.»

«Offenbar nicht besonders soft, wenn Sie es bis hier oben gehört haben?»

«Sie… Es war nachts, und ich schlafe immer mit offenem Fenster. Sogar im Februar. Und so groß ist der Abstand nun auch wieder nicht.»

«Nein. Im Februar dieses Jahres?»

Er nickte. «Ja.»

«Aber dieser Kerl … Wie sah er aus?»

«Das können Sie selbst herausfinden.»

«Sie haben ihn nur gehört?»

«Nein, aber ich weiß, wie er heißt.» Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: «Ich habe ihn in der Zeitung gesehen, auf dem Foto einer Band, in der er spielte.»

«Und Sie haben sich den Namen gemerkt?»

«Na, immerhin habe ich ihn ja wiedererkannt! Man weiß nie, was einem eines Tages nützt. So wie jetzt, zum Beispiel …»

«Vorausschauend von Ihnen. Und wie ist sein Name?»

«Hallvard Hagenes.»

Ein kalter Schauer rieselte zwischen meinen Schulterblättern herab. Zum Schein schrieb ich den Namen auf. Vielleicht hätte ich überrascht sein sollen. Aber aus irgendeinem Grunde war ich es nicht.

7

In richtig alten Zeiten hätte es mich eine gute Tagereise gekostet, von Morvik in Åsane nach Hjellestad in Fana zu kommen. Sogar mit dem Auto hätte ich damals, bevor Teile der Strecke in den achtziger Jahren zur Autobahn ausgebaut worden waren, einige Stunden auf kurvigen Straßen einplanen müssen. Jetzt fuhr man mit Autopilot, mit einer klitzekleinen Verzögerung bei der Mautstation im Helleveien, dann durch den Fløientunnel und auf der anderen Seite der Stadt wieder hinaus. Auf dem letzten Stück, nach der Abfahrt bei Blomsterdalen, erinnerte die Straße dennoch hässlich an alte Zeiten, und ich musste wieder auf ein vorsichtigeres Tempo herunterbremsen.

Im Jachthafen von Kviturspollen herrschte hektische Aktivität. Die Bootsmenschen hatten den Regenschauern und dem starken Wind getrotzt. Jetzt galt es, zum 1. Mai fertig zu werden, wenn alle Freizeitskipper hinausfuhren und gegen Steuererhöhungen demonstrierten, indem sie in einer Bootsprozession über den Byfjord segelten.

Ich hielt ein paar Mal an, um die Karte zu Berit Breheims Anweisungen zu konsultieren, bevor ich auf den kleinen, ausgeschilderten Parkplatz fuhr, nicht weit von Bergens Segelverein entfernt. Dann folgte ich der angegebenen Route durch den Wald zur Hütte. Der Weg war leicht zu finden, durch Blaubeergestrüpp und dunkelgrüne Mooskissen. Oben in den Bäumen sangen die ersten Sopranisten der Saison energisch ihre Arien. Zwischen den Baumstämmen hindurch konnte ich den Raunefjord und die Berge von Sotra schimmern sehen.

Dann tauchte die Hütte aus dem Wald auf, rot mit blau gestrichenen Fensterrahmen. Die Fenster wirkten dunkel und leer. Unter der Westterrasse waren kleine gefällte Birken gestapelt, und die Blumenbeete sahen zugewachsen und ungepflegt aus. Der kleine Geräteschuppen an der Ostseite schien ebenso verlassen.