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"Ich hatte das Pech, nicht in einer vorbildlichen Kinderdorf-Familie aufzuwachsen. Es ist mir sehr wichtig, dass meine Erfahrungen öffentlich gemacht werden, damit es anerkannt wird, was passiert ist, denn früher hat das keiner geglaubt und niemand hat sich darum gekümmert." Dieses Buch thematisiert Gewalt, Missbrauch und Verletzung, die Kinder und Jugendliche in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf erfahren haben. Horst Schreiber analysiert strukturelle Momente in der Geschichte dieser Organisation, die Repression und Gewalt möglich gemacht haben. Das mit der Gründung der Organisation eingeführte Betreuungskonzept stellte eine familiale Situation mit der traditionellen Hierarchie der Geschlechter nach. Der Dorfleiter repräsentierte die väterliche Ordnung und Sanktionsgewalt, die Kinderdorf-Mütter sollten mit ihrer Fürsorge eine heilende Kraft für das verlassene Kind darstellen. Auch wenn sich die Fremdunterbringung im SOS-Kinderdorf positiv von der Form des Heimes und der Pflegefamilie unterschied, so zeigt sich dennoch, dass zahlreiche Kinder erfahren mussten, ein zweites Mal "aus dem Nest" zu fallen. Zum Schutz seines guten Rufes war SOS-Kinderdorf bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche lange Zeit um Geheimhaltung bemüht. Viele Anzeichen für Missbrauch wurden systematisch ignoriert.
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Seitenzahl: 411
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Horst Schreiber
DEM SCHWEIGEN VERPFLICHTET
Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf
HerausgeberInnen:
Waltraud Kannonier-Finster, Horst Schreiber, Meinrad Ziegler
Die Buchreihe transblick veröffentlicht Arbeiten, die der sozialwissenschaftlichen
Aufklärung verpflichtet sind.
Ein Blick richtet sich auf Phänomene und Verhältnisse, die wenig beachtet oder im
Dunkeln gehalten werden.
Ein anderer Blick bietet Beschreibungen und Analysen, die eine unkonventionelle
Sichtweise auf das soziale Leben eröffnen.
transblick thematisiert gesellschaftliche Widerspruchserfahrungen und Dominanzverhältnisse und fragt, was wir als vernünftig, gerecht und der menschlichen Würde angemessen erachten.
transblick will Denkprozesse fördern und auf Handlungsperspektiven verweisen. Die Bücher sollen in Inhalt und Form aufregen und einem Transfer sozialwissenschaftlicher Sichtweisen in interessierte Öffentlichkeiten dienen.
transblick benutzt eine Sprache, die auch jenen Personen und Gruppen das Mitdenken und Mitreden ermöglicht, die außerhalb des akademischen Diskurses leben und handeln.
transblick soll Frauen und Männer ansprechen, die sowohl dem „Darüberhinaus“-Schauen als auch dem „Hindurch“- oder „Quer-durch“-Denken etwas abgewinnen können.
Horst Schreiber
DEM SCHWEIGEN VERPFLICHTET
Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf
StudienVerlag
InnsbruckWienBozen
© 2014 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
Internet: www.studienverlag.at
Umschlag und Kapitelblätter: Michael Holzer, www.michaelholzer.at, unter Verwendung einer Arbeit (o. J.) aus der kunstpädagogischen Werkstatt des Kinderdorfes Imst unter der Leitung von Evamarie Kallir.
Satz: Willi Winkler, www.neusehland.at
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5829-7
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.
Vorwort
Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler:Familiale Strukturen, Pädagogik und Rationalität
Einleitung
Das Konzept des SOS-Kinderdorfs
Die vier Prinzipien des SOS-Kinderdorfs – familienähnlicheErziehung kontra Massenerziehung
Ausbildung – Berufswahl – Nachbetreuung
Unterschiedliche Wahrnehmungen
Fremd und bedrohlich: Tendenzen der Ausschließungvon SOS-Kinderdorf-Kindern
Der Wunsch nach einer „normalen“ Familie
Enttäuschte Sehnsucht
Die Geschichte von Gerda, Franziska und Johanna Sillober:Ein exemplarischer Fall von Vertuschung
Medizinische Legitimation: Die Heilpädagogische Station Hinterbrühl
Monika Fitz: Aus dem Nest geworfen
Gründung und Funktion der Heilpädagogischen Station
Interaktion mit Kindern auf der Station
Die Abweisung und Entlassung von Kindern
Die Gutachten von Hans Asperger
Von der Heilpädagogischen zur Heilpädagogisch-Therapeutischen Station
Strukturelle Ursachen von Gewalt
Autoritäre Strukturen
Ausbildungsdefizite
Katholizismus und Sexualtabu
Ein Fazit
Anhang
Die Entwicklung von SOS-Kinderdorf Österreich/International
Anmerkungen
Archivalien
Literatur
Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler
SOS-Kinderdorf ist eine der größten karitativen Organisationen weltweit. Rund 50.000 Kinder werden in mehr als 2.000 Einrichtungen betreut, die sich in 133 Staaten befinden.1 Als Kernbereich der Aktivitäten von SOS gilt nach wie vor Einrichtung und Betrieb von Kinderdörfern. Seit der Eröffnung des ersten Kinderdorfes in Imst, Tirol, im Jahr 1950 sind in Österreich mehr als 7.000 Kinder in den Einrichtungen von SOS aufgewachsen. Mittlerweile sind die Kinderdörfer in ein breites Netz von weiteren sozialen Einrichtungen eingebettet: In Österreich gibt es elf Kinderdörfer, an einigen Standorten werden diese durch Kindergärten, Kinderwohngruppen ergänzt. Darüber hinaus stehen ein Medizinzentrum sowie sechs Beratungs- und sechs Nachbetreuungsstellen zur Verfügung. SOS engagiert sich auch in Arbeits- und Flüchtlingsprojekten. Seit 1993 arbeitet ein pädagogischer Fachbereich kontinuierlich an den Grundsätzen und Standards, kümmert sich um Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals und stellt Kontakt zur wissenschaftlichen Forschung her. Die hohe internationale Anerkennung von SOS findet im beratenden Status als NGO im Wirtschafts- und Sozialrat der UNO ihren Ausdruck.
Es waren vor allem zwei Konstellationen, die SOS-Kinderdorf von den historisch gegebenen Strukturen der staatlich organisierten Fürsorge unterschied. Erstens wurde die abweichende Praxis bei der Übernahme von Kindern in die Betreuung, also die spontane Hilfe in dringlichen Fällen, durch die Finanzierung aus Spendengeldern möglich.8 In den ersten Jahren verweigerte das Land Tirol dem neuen Projekt jede Hilfe. Wohlwollen und Unterstützung kamen in geringem Maß von einzelnen Gemeinden; den lokalen politischen Akteuren war das soziale Elend in ihrem Verantwortungsbereich bewusst und sie hofften auf Hilfe, auch wenn sich diese abseits der traditionellen und etablierten Institutionen entwickelte. Die etablierten österreichischen Hilfsorganisationen wie Caritas oder Pro Juventute sahen das SOS-Kinderdorf anfangs vor allem als eine unliebsame Konkurrenz und zweifelten an der Nachhaltigkeit und Professionalität der Initiative. Die Gründungsmitglieder entwickelten daraufhin eine Vielzahl von Initiativen des fundraising, die sich an die breite Bevölkerung, vor allem die Frauen, wandten. Sehr erfolgreich war eine Spendenaktion, bei der Frauen eingeladen wurden, sich mit einem Betrag von einem Schilling im Monat in eine Frauenring-Liste zur Förderung von SOS eintragen zu lassen. Mit Unterstützung der Druckerei Tyrolia wurde eine Aktion für den Verkauf von Weihnachtskarten durchgeführt, wobei die Karten wesentlich billiger waren als im regulären Handel. Auch eine Bausteinaktion erwies sich als hilfreich, weil sie durch die Beteiligung vieler Innsbrucker Kaufhäuser eine große Öffentlichkeit fand: Um das Spendenziel konkret zu vermitteln, waren Modelle von SOS-Kinderdörfern in den Verkaufsräumen ausgestellt. Nach kurzer Zeit konnte das aufwändige Direkt-Mailing erfolgreich auf eine Zeitung als Marketingprodukt, den „Kinderdorfboten“, umgestellt werden.
Die zweite Konstellation war das Betreuungskonzept der Kinderdörfer. Es bestand darin, für die Kinder in der sozialen wie räumlichen Struktur eine familiale Situation nachzustellen. Ein Kinderdorf bestand aus mehreren Einzelhäusern, in denen bis zu neun Kinder mit einer Betreuerin wie in einem Haushalt lebten. Die Betreuerin stellte eine Ersatzmutter dar. Sie hatte zölibatär zu leben, ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit den Kindern zu widmen. Der Gedanke war, dass mütterliche Fürsorge in einer geordneten Familienstruktur als große, heilende Kraft gegenüber den vom Leben in ihrem Herkunftsmilieu missachteten und verletzten Kindern wirken würde. Die männliche Position in der Simulation von Familie nahm der Dorfleiter ein. Als Ersatzvater repräsentierte er das Moment von Ordnung, Gehorsam sowie Sanktionsgewalt. Dieses – durch konservativ-patriarchale Denkweisen verzerrte – Modell von Familie bildete bei SOS viele Jahrzehnte den Kern des pädagogischen Konzeptes. Genauer formuliert, es führte dazu, dass man glaubte, auf fachliche Konzepte verzichten zu können. Dieser Verzicht zeichnete sich nicht von Beginn an ab. Maria Hofer und Hertha Troger aus der Gruppe der Gründerinnen waren ausgebildete Sozialarbeiterinnen. Es gibt viele Hinweise dafür, dass sie sich der Notwendigkeit von professioneller Qualifikation für Frauen in Projekten der Sozialarbeit bewusst waren.9 Beide Frauen trennten sich aber nach kurzer Zeit von SOS. Zugleich profilierte sich aus der Gruppe der Gründer und Gründerinnen ein einzelner Mann, Hermann
Gmeiner, als zentrale Figur der Organisation. Tatsächlich hat Gmeiner die Dynamik der Gründungsjahre sowie die Entwicklung der Organisation wesentlich geprägt. Seine kommunikativen Fähigkeiten, seine Überzeugungskraft und sein Umgang mit Medien und Öffentlichkeit waren wichtige Faktoren für den nachhaltigen Erfolg von SOS-Kinderdorf. Jedoch hat er mit der ihm eigenen Tatkraft und Begeisterungsfähigkeit auch das skizzierte Konzept des Kinderdorfs etabliert, das lange Zeit die Entwicklung von sozialpädagogischer Fachlichkeit in der Organisation behinderte.
In der vorliegenden Studie werden die Schwächen dieses Konzepts im Detail beschrieben und analysiert. Zwei davon sind besonders bedeutsam: die mangelnde Fachlichkeit des betreuenden Personals auf der einen Seite und die in dem Konzept eingebaute Geschlechterhierarchie zwischen den weiblichen Betreuerinnen in den familienähnlichen Wohngruppen und den männlich besetzten Leitungspositionen. Sie lassen sich als Gelegenheitsstrukturen für die Praktiken von Gewalt und Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen in Kinderdörfern lesen. Zugleich macht Horst Schreiber auch deutlich, dass sich die Fremdunterbringung in den SOS-Kinderdörfern positiv von der Form des Heimes und der Pflegefamilie unterscheidet. Das Kinderdorf ist ein grundsätzlich offenes Konzept, keine geschlossene Einrichtung wie ein Heim. Es werden nicht nur einzelne Kinder, sondern auch Geschwister in eine „Familie“ aufgenommen. Die Kinder sollen öffentliche Schulen besuchen und sich in das Leben der jeweiligen Ortsgemeinde integrieren. Die Arbeit der Betreuerin mit ihrer Kindergruppe ist strukturell auf Dauerhaftigkeit und die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung angelegt. Alle diese Merkmale waren in den Heimstrukturen der Nachkriegszeit nicht erfüllt. Untersuchungen über Pflegefamilien von den 1950er bis zu den 1970er Jahren haben ergeben, dass in dieser Form von Fremdunterbringung keineswegs bessere Verhältnisse herrschten als in den Heimen.10 Den meisten Zöglingen mangelte es an ausreichender hygienischer Versorgung, sie vermissten emotionalen und respektvollen Umgang in der Pflegefamilie, systematische Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch waren die Regel.
Was an dieser Stelle deutlich gemacht werden soll: SOS-Kinderdorf entwickelte sich in den 1940er und 1950er Jahren aus einer Basisinitiative junger und engagierter Frauen und Männer, die dieses Projekt mit Leidenschaft und Enthusiasmus vorantrieben. Die objektiven Bedingungen für eine Umsetzung und erfolgreiche Entwicklung der Idee von Kinderdörfern waren keineswegs günstig. Die Ausstattung der Häuser in Imst war einfach, die Führung der Haushalte mit den Kindergruppen litt unter chronischer Unterfinanzierung und die Gehälter der Betreuerinnen waren bescheiden. Die Fähigkeit zur Improvisation gehörte zu den täglichen Anforderungen; ebenso die Bereitschaft, mit der damit verbundenen Überforderung umzugehen. Dass die Idee dennoch funktionierte, kann nicht alleine als Ergebnis eines gewissenhaften Arbeitseinsatzes der Beteiligten erklärt werden. Es kommt der besondere Umstand hinzu, dass konkrete Menschen bereit waren, ihr Leben in den Dienst eines großen Ideals zu stellen.11 „Elternlose Kinder finden Mutter und Hei mat. Eine Idee hat nicht nur Boden, sie hat die Herzen gefunden, die alle Schwierigkeiten überwinden, die sich einem derartig riesigen Projekt (…) naturgemäß entgegenstellen“, so beschreibt die Tiroler Tageszeitung vom 3. Dezember 1949 dieses Ideal.12 Zu diesen „Herzen“, die bis zur Selbstaufopferung an dem Projekt arbeiteten, zählten nicht alleine die unmittelbaren Gründerinnen und Gründer von SOS, sondern auch die Frauen, die als Betreuerinnen in den Ersatzfamilien arbeiteten. Der hohe Einsatz ist nachvollziehbar: Die Arbeit als Betreuerin bedeutete nicht nur ein eigenes Einkommen, sie vermittelte Frauen die Möglichkeit, einer sozial anerkannten Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Im konservativen Tirol der Nachkriegsjahre war das keineswegs selbstverständlich. Soziale Arbeit war zu dieser Zeit von der bürgerlichen Frauenbewegung als spezifische „Kulturaufgabe der Frau“ etabliert. Jedoch wurde die professionelle Form der „sozialen Mütterlichkeit“ stets mit einer besonderen Ausbildung verbunden.13 Bei SOS glaubte man in den ersten Jahrzehnten auf diese Professionalisierung der Betreuungsarbeit in den Kinderdörfern verzichten zu können. Frauen, die die Position der „Kinderdorfmutter“ übernehmen sollten, brauchten keine spezifische Qualifikationen, nur die Bereitschaft, Fähigkeiten der mütterlichen Fürsorge einzusetzen, die als naturgegeben verstanden wurden. Vor diesem Hintergrund sahen viele Frauen ihren Lebenssinn darin, mit allen Kräften das ihnen eigene Arbeitsvermögen auf die soziale Welt zu übertragen und damit das soziale Elend von Kindern lindern zu können.
Allerdings stehen kulturelle Werte und Ideale oftmals in einer Spannung zur Realität. Dies gilt insbesondere für die Institution der Familie, die seit der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert zu einem nahezu mythischen Ort des Ausgleichs und der Stabilität angesichts ökonomischer Krisen und kultureller Verwerfungen geworden ist.14 Der modernen Idealisierung voraus geht die Umwandlung der Familie von einer primär wirtschaftlichen Einheit zu einem primär emotional konstituierten Beziehungsgefüge zwischen einem Elternpaar und seinen Kindern. Vielfach angereichert durch nicht verwandte Arbeitskräfte hatte sich die erweiterte Familie im Sinn einer Wirtschaftseinheit als ein relativ flexibles Gefüge dargestellt, das auch Notfälle und Notzeiten durch Austausch von Personen und andere Formen der Kooperation überstehen konnte. Demgegenüber erscheint die neue Kernfamilie, die in erster Linie als Gefühlseinheit funktioniert, als verwundbar, wenn durch Krieg, Unfall oder andere Unberechenbarkeiten des Lebens ein Mitglied der Familie ausfällt oder seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen kann. Unter diesem Gesichtspunkt weist Richard Sennett15 darauf hin, dass die moderne Kernfamilie im 19. Jahrhundert keineswegs als rational entwickelte Errungenschaft einer historischen Phase des gesellschaftlichen Wandels zu interpretieren ist, sondern sich als unbeabsichtigtes Zerfallsprodukt der Industrialisierung ergeben hat, das im Nachhinein von bürgerlichen Denkern vorwiegend männlichen Geschlechtes mit großem Aufwand legitimiert wurde. Die Argumentation, die bei der Wertschätzung der neuen Familienform zur Geltung kommt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Stärke der historisch neuen Form der Kleinfamilie würde sich aus dem einfachen Ordnungsmodell ergeben, in dem Mann, Frau und Kind einen festen Platz und eine feste Rolle haben. Innerhalb dieser Ordnung könne die Entwicklung der jeweiligen Persönlichkeiten gewährleistet werden. Insbesondere sei die Kernfamilie für die Kinder funktional, weil diese sich an wenigen, aber dauerhaften und verlässlichen Bezugspersonen und deren Erwartungen orientieren könnten. Das wird als Grundvoraussetzung für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit betrachtet.
Es ist unbestritten, dass Kinder für ihre Entwicklung mindestens eine Person benötigen, die ihnen unabhängig von konkreten, situativen Handlungen oder Fehlverhalten Zuneigung und Anerkennung entgegenbringt. Meistens, aber keineswegs notwendig, wird die Mutter diese Person sein. Wichtig sind die Erfahrungen des rückhaltlosen Anerkannt- und Umsorgt-Seins, die Kinder befähigen, Neugier für die äußere Welt zu entwickeln und sich mit Zuversicht in den Prozess der Erkundung dieser Welt zu stürzen.16 Die Familie ist keineswegs ein sozialer Ort, an dem diese Formen der Sorge und Anerkennung ungebrochen praktiziert werden. Familie war und ist eine außerordentlich ambivalente soziale Einheit und oftmals ein Ort der Verunsicherung und Missachtung von Personen, insbesondere von Kindern. Gerade das historisch gewachsene Moment der emotionalen Aufladung dieses sozialen Nahraumes ist damit verbunden, dass alle Beteiligten wechselseitig sich mit widerstreitenden Gefühlen von Liebe und Hass sowie mit überschießenden Erwartungen und unerfüllbaren Hoffnungen begegnen.
In den 1920er Jahren haben sich Reformpädagogen den Kopf darüber zerbrochen, mit welchen Methoden in den neu errichteten Heimen der staatlichen Fürsorge gearbeitet werden könnte. In diesem Zusammenhang stellte Siegfried Bernfeld fest, dass öffentliche Erziehungsanstalten das gemeinsame Problem hätten, über keine spezifischen Konzepte für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Anstalten zu verfügen.17 Die aktuelle pädagogische Praxis sei weniger das Resultat einer rationalen Erwägung, sondern orientiere sich vielmehr an den üblichen Methoden, die in anderen Einrichtungen der Erziehung zur Anwendung kommen, und kombiniere oder modifiziere diese. Bernfeld plädiert für Versachlichung bei der Entscheidung, welche pädagogischen Modelle jeweils übernommen werden sollten, und entwickelt zu diesem Zweck eine vergleichende Beschreibung jener Erziehungseinrichtungen, die häufig als Vorbild dienen.
In der Familie, so Bernfeld, ist charakteristisch, dass für das Kind die zentrale Aufgabe darin besteht, gegenüber den Autoritäten – in der Regel den Erwachsenen – Wohlverhalten zu zeigen.18 Es gibt nur vage Regeln, nach denen sich das Kind dabei richten kann, vor allem unterliegen sie ständigen Veränderungen. Wird etwa beim Spielen Lärm verursacht, so erregt das an einem Tag den Unwillen des Erwachsenen und zieht ein entsprechendes Gebot für das Verhalten nach sich. An einem anderen Tag gilt das Gebot jedoch nicht mehr und die Erwachsenen machen deutlich, dass sie ein anderes Verhalten wünschen. Das Kind kann sich in seinem Verhalten also nicht an bestimmten Regeln und Geboten orientieren, sondern lernt, sein Verhalten an dem jeweils eingeforderten Wohlverhalten auszurichten.
Unter diesem Gesichtspunkt muss dem Kind die soziale Ordnung in der Familie wie eine Willkürherrschaft in bestimmten Grenzen erscheinen. Allerdings gibt es einige Einschränkungen dieser Willkür: Erstens wirken Traditionen, nach denen die soziale Ordnung einer konkreten Familie konstruiert ist, stabilisierend auf die jeweils herrschenden Regeln. Zweitens ergibt sich aus der psychischen Struktur der Erwachsenen eine ungefähre Regelmäßigkeit ihrer Wünsche. Kinder wissen viel über die besonderen Wunsch- und Regelwelten der Erwachsenen, mit denen sie ständig zu tun haben. Und drittens ist der Grad an Abhängigkeit, den Erwachsene von den Kindern haben, von Bedeutung; dieser bestimmt die Bereitschaft, aus Liebe auf eigene Wünsche im Hinblick auf das Verhalten der Kinder zu verzichten.
Bernfeld betont, dass die Schwierigkeit für Kinder, soziale Ordnung in der Familie zu durchschauen, auch damit zusammenhängt, dass Autoritätsansprüche sich oftmals zugleich als Liebesansprüche darstellen. Nicht selten kann diesen Ansprüchen trotz des Ungehorsams gegenüber Geboten nachgekommen werden; ein anderes Mal werden dagegen die Ansprüche der Erwachsenen verletzt, obwohl sich das Kind um Folgsamkeit bemüht. Diese Vermengung von rationalen und emotionalen Momenten gilt auch für die Kinder. Verstöße gegen Regeln der sozialen Ordnung erleben sie immer auch als Liebeskonflikte. Selten können diese Konflikte für ein Kind nachvollziehbar gelöst werden. Da es wenig erkennbare Regeln und Grenzen gibt, werden alle Sanktionen als persönliche Missachtung und Verstoßung interpretiert. Das starke emotionale Moment in familiären Beziehungen ist eng mit der Tendenz zur Regellosigkeit verbunden. Aus diesem Grund charakterisiert Bernfeld den Typus von sozialer Ordnung, wie er in der Familie herrscht, als irrational.
In vielen Erziehungseinrichtungen besteht die pädagogische Praxis aus einer Mischung von familialer Disziplin und der militärischen Form der Disziplin.19 Was bedeutet „militärische Disziplin“? In Kasernen werden alle Handlungen jener, die der Befehlsstruktur unterworfen sind, mittels einer strengen formalen Ordnung eindeutig und exakt reglementiert. Dafür, dass die Regeln eingehalten werden, sorgen eine scharfe Überwachung und die Anwendung von harten Strafen. Die militärische Disziplin stellt eine rationale und einfache Zwangsherrschaft dar. In den Erziehungsanstalten kommt ihr Bedeutung zu, weil sie dazu beiträgt, die Irrationalitäten der familialen Disziplin zu korrigieren. Allerdings lässt sich die reine Zwangsherrschaft einer militärischen Disziplin in Erziehungsanstalten nur bedingt umsetzen. Dem rationalen Zwangsregime fehlt es an jeder pädagogischen Wirkung, es gibt keinen Platz für die Entwicklung einer „einsichtigen Ordnung“.20 Die militärische Disziplin kann sich leicht in eine Spirale der Gewalt verwandeln, wenn gegenüber jenen, die der Befehlsstruktur unterworfen sind, Haltungen der Abwertung und der Exklusion dominant werden. Das war in den Erziehungsheimen in den Nachkriegsjahrzehnten der Fall.
Bernfeld verknüpfte seine Hoffnungen für eine Verbesserung der Verhältnisse in Erziehungsanstalten mit einer dritten Form von Disziplin, der demokratischen Form.21 Deren Grundgedanke besteht darin, die Kinder und Jugendlichen an der Entwicklung der sozialen Ordnung teilhaben zu lassen. Demokratische Disziplin fordert Gehorsam gegenüber „selbstgegebenen Gesetzen“.22 In einer Ordnung, die der Familie nachgebildet ist, steht das Kind nicht den Geboten, sondern Personen gegenüber. Militärische Disziplin fordert Folgsamkeit gegenüber Regeln, die von Befehlsträgern gesetzt werden. In der Demokratie stehen Bürgerinnen und Bürger den eigenen Geboten gegenüber. Damit ist ein hoher Grad an Rationalität gesichert. Schon vor diesen Überlegungen Bernfelds hat der polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak auf der Grundlage praktischer Erfahrungen bei der Leitung eines Waisenhauses in Warschau eine Pädagogik entwickelt, bei der Kinder sehr früh mit Aspekten einer demokratischen Kultur vertraut gemacht werden.23 Zentrales Moment einer demokratischen Disziplin war das „Kameradschaftsgericht“.24 Dieses Verfahren, an dem die Kinder aktiv mitwirkten, regelte die Einhaltung und die kontinuierliche Verbesserung der Hausordnung. Es stellte eine demokratische Instanz zwischen Erzieher und Kind dar, die von beiden anzuerkennen war. Diese Institution, so die Überzeugung Korczaks, sollte auch die Erziehenden erziehen. Sie würde erstens dazu führen, Kinder in einer neuen Perspektive wahrzunehmen, als Menschen, die „nicht weniger, nicht ärmlicher, nicht schlimmer als die Erwachsenen“, sondern lediglich anders denken.25 Und zweitens zwinge das Verfahren dazu, jede Angelegenheit der Kinder ernsthaft und sorgfältig zu bedenken. Ein Gericht als demokratisch konstruierte Einrichtung zur Aufrechterhaltung der Ordnung beende jene Form des Despotismus, der in familialen Strukturen die Regeln darstellt: Alle Urteile über das Kind hängen vom guten Willen und von der guten und schlechten Laune der Erziehenden ab.26
Mit diesen wenigen Hinweisen auf historische Alternativen gegenüber dem ursprünglichen Konzept der SOS-Kinderdörfer lassen sich nicht zuletzt gesellschaftliche Konsequenzen unterschiedlicher Formen der Erziehung verdeutlichen. Auf der einen Seite finden wir das Bemühen, Kinder frühzeitig in die – zweifellos mühsame und aufwändige – Praxis einer demokratischen Kultur einzuüben. Auf der anderen Seite steht die Einführung der Kinder in eine patriarchale und autoritäre Kultur, in der sowohl die Hierarchie zwischen Kindern und Erwachsenen als auch jene zwischen den Geschlechtern als Repräsentation einer scheinbar natürlich gegebenen Ordnung herrschen.
Im Hinblick auf aktuelle pädagogische Konzepte kann abschließend noch ein Vergleich zwischen dem Modell der Kinderdorf-Familie und jenem der betreuten Wohngemeinschaft sinnvoll sein. Kinderdorf-Familien sind künstlich konstruierte Lebensformen, in der wenige Kinder mit einer erwachsenen Betreuerin zusammenleben. Betreute Wohngemeinschaften sind ebenfalls familiennah organisiert. Zwar leben in den meisten Einrichtungen die Kinder nicht mit den Erwachsenen zusammen, die Struktur fördert dennoch die Entstehung und Vertiefung einer persönlichen Beziehung zwischen den Kindern und den Pädagoginnen und Pädagogen. Diese Beziehungen gelten in der modernen Sozialarbeit als Grundlage für pädagogisches Handeln. Zugleich ist in der Theorie Sozialer Arbeit die Problematik dieser Beziehung bekannt. Im begrifflichen Rahmen Bernfelds ließe sich formulieren, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ausgebildet werden, um die Gefahren von Willkür und Irrationalität zu erkennen und zu handhaben, die im Rahmen einer Arbeit in der Logik familiennaher Beziehungen auftreten. SOS arbeitete lange Jahrzehnte in der Annahme, dass persönliche Beziehung in Form von mütterlicher Fürsorge bereits pädagogisches Handeln impliziere. Die Simulation von Familie wurde mit Fachlichkeit verwechselt. Heute sollte deutlich sein: Familie als solche ist noch kein Ort pädagogischen Handelns. In der Sozialen Arbeit brauchen wir die Rationalität des fachlichen Handelns, um die Gefahr zu kontrollieren, dass sich in familiennahen Beziehungsstrukturen ein Übermaß an Irrationalität ausbreitet und durchsetzt.
Hermann Gmeiner, Helene Didl, Maria Hofer, Josef Jestl, Ludwig Kögl, Franz Müller, Herbert Pfanner, Hertha Troger und Hedwig Weingartner gründeten 1949 den Verein „Societas Socialis“ (SOS), um das Kinderelend nach dem Krieg durch ein neues Modell der Fremdunterbringung zu bekämpfen. 1950 öffnete das erste SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol seine Tore. Waisenkinder und Sozialwaisen sollten unter familienähnlichen Bedingungen aufwachsen, die Massenerziehung in Heimen der Vergangenheit angehören. In den 65 Jahren seit seiner Gründung hat sich SOS-Kinderdorf zu einer weltumspannenden Organisation entwickelt, die einen guten Ruf und hohe Anerkennung für ihre Leistungen in der Fremdbetreuung von Kindern und Jugendlichen genießt. Der gelungene Teil dieses Modells ist einer breiten Öffentlichkeit in hohem Maße bekannt.
Wie es zu dieser Studie kam
Seit etwas mehr als vier Jahren haben Menschen, die in Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen, Konvikten, Bundeserziehungsanstalten, Behindertenheimen, auf privaten Pflegeplätzen, heilpädagogischen Kinderbeobachtungsstationen sowie in Kinder- und Jugendpsychiatrien untergebracht waren, ihr Schweigen gebrochen. Sie erzählen von ihren Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, die ihr gesamtes Leben nachhaltig negativ beeinflusst haben. Kinder- und Fürsorgeerziehungsheime hatten den öffentlichen Auftrag, sich um das Wohl armer, verwaister, verlassener, von der Norm abweichender oder straffälliger Kinder und Jugendlicher zu kümmern: sie zu einer bürgerlichen Ordnung zu erziehen sowie ihnen eine angemessene Bildung und Berufsqualifikation zu vermitteln, damit aus ihnen ein nützliches Mitglied der Gesellschaft wurde. Heime ersetzten bei den als „verwahrlost“ eingestuften Heranwachsenden die auf Strafen und Korrektion ausgerichteten Armen-, Arbeits- und Zuchthäuser. An deren Stelle sollte eine kompensatorische Erziehung im Mittelpunkt stehen, da die Eltern nach Meinung der Behörden nicht imstande waren, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Die Befürsorgung in den Heimen war ebenso als politisches Instrument gedacht, um die in den Augen der Obrigkeit immer aufsässiger werdenden Kinder und Jugendlichen der unteren Klassen zu isolieren und sie im Heim über eine harte Erziehung sowie klassen- und geschlechtsbezogene Ausbildung wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. In der Realität war in den meisten Heimen der Erziehungsalltag bis in die 1970er Jahre, fallweise sogar darüber hinaus, von systematischen Menschenrechtsverletzungen durchsetzt. Die Kinder und Jugendlichen wurden in einer kostensparenden Massenerziehung bürokratisch verwaltet und nicht als Individuen, sondern nur als Teil einer Gruppe wahrgenommen. Der auf sie gerichtete Blick war von vornherein stigmatisierend und vorurteilsbeladen. Ein dicht gesponnenes Netz an Regeln und Vorschriften unterwarf die Zöglinge einer Anstaltsroutine, die sie ihrer Privatsphäre beraubte. Jedes Abweichen von der Norm zog gewaltförmige Bestrafungen nach sich. Diese Phänomene struktureller Gewalt spielten sich an abgeschlossenen Orten ab, die von außen kaum kontrolliert wurden. Viele Kinder und Jugendliche mussten hungern, weil sie kurzgehalten wurden, wegen des Essensentzugs als Strafmittel oder weil sich die Kleinen nicht gegen die Großen durchsetzen konnten und die Erwachsenen tatenlos zusahen. Ein großer Teil der Jugendlichen erhielt keine Berufsausbildung, sondern mussten, oft nicht einmal sozialversichert, ihre Arbeitskraft kostenlos oder für einen geringen Lohn zur Verfügung stellen. Diese Ausbeutungsverhältnisse standen in der Tradition einer Erziehung zur Arbeit durch Arbeit und wurden von den Heimträgern als pädagogische Maßnahme gerechtfertigt. Schuften statt Lernen war Teil dieser ökonomischen Gewalt. Die Gewaltpraktiken in vielen Heimen zielten auf eine Entsolidarisierung der Kinder und Jugendlichen ab. Wer sich mit der Erziehungsmacht verbündete, verriet und verpetzte, bekam im Gegenzug kleine Privilegien, Aufmerksamkeit und manchmal sogar so etwas wie Zuwendung. Soziale Gewalt offenbarte sich ebenso in der Trennung von Geschwistern. Die physische und psychische Gewalt nahm in der Mehrzahl der Kinder- und Fürsorgeerziehungsheime eine Form und ein Ausmaß an, das alle Grenzen sprengte und weit jenseits dessen lag, was gesetzlich erlaubt war oder gar als pädagogisch vertretbar galt. Die Wahrscheinlichkeit, unter den Rahmenbedingungen allgegenwärtiger Gewalt zu verrohen, war hoch. In vielen Kinder- und Jugendgruppen galt das Faustrecht bei der Austragung interner Konflikte, ein ständiger Kampf um Hierarchien, Ressourcen, Privilegien und die Gunst der Erziehungsmacht. Die kleineren Kinder waren vielfach untertags dem Schrecken der Erwachsenen ausgeliefert, nachts setzte sich das Martyrium psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt in der Kinder- und Jugendgruppe fort. Rituale der Demütigung, der Lust an der Macht oder für die eigene Triebbefriedigung traten in den Heimen von Seiten der ErzieherInnen wiederholt in Form sexualisierter Gewalt auf. Die spezifische Situation in den Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen – Abschottung des Heims von der Außenwelt, mangelnde Kontrolle, die Stigmatisierung der Kinder und Jugendlichen, die kaum Gehör fanden und sich nur in seltenen Fällen an eine Vertrauensperson wenden konnten – erleichterte es den TäterInnen, Opfer zu finden. In der ständigen Angst und Bedrohung, in der ein großer Teil der Kinder leben musste, spiegelten sich terroristische Züge der Heimerziehung wider. Sie erfuhren Gewalt, losgelöst von jeglichem erkennbaren Sinn. Wenn das Kind aber keinen Zusammenhang zwischen einem eigenen Fehlverhalten und der Strafe zu sehen vermochte, war ihm auch die Möglichkeit genommen, die Strafe durch normgemäßes Verhalten zu vermeiden. Unberechenbarkeit erzeugte ein Gefühl der Ohnmacht, schwächte den Glauben an die Steuerbarkeit des eigenen Geschicks. Besonders litten Heimkinder darunter, dass sich kaum jemand um sie kümmerte, dass es nur von wenigen ErzieherInnen Zärtlichkeit, Zuwendung, Geborgenheit, Anerkennung oder Lob gab. Dieses Gefühl der völligen Einsamkeit, Verlassenheit und Schutzlosigkeit gehört zum Schlimmsten, was diesen Kindern und Jugendlichen widerfuhr. Erst in den 1970er Jahren setzten Reformen ein, besser ausgebildete ErzieherInnen mit einer kinderfreundlicheren Einstellung fanden in den Heimen Aufnahme, während sich eine engagierte Szene in der sozialen Arbeit zu formieren begann und neue Modelle der Fremdunterbringung erprobte.
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