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Systematische Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen standen bis in jüngerer Zeit auf der Tagesordnung in Heimen des Staates, der Länder und katholischer Orden in ganz Österreich. Als Mitglied der Opferschutzkommission der Stadt Innsbruck dokumentiert und analysiert Horst Schreiber erstmals die städtischen Heime, aber auch die Verhältnisse der Fremdunterbringung in den Säuglings- und Kleinkinderheimen Arzl und Axams, in Pflegefamilien und Landeseinrichtungen. ARMUT UND SOZIALE BENACHTEILIGUNG ALS URSACHEN DER HEIMEINWEISUNG Er zeigt die Ursachen der Heimeinweisung auf, die vielfach in Armut begründet lagen, und beschreibt die sozialen Hintergründe der Heimkinder und ihrer Familien. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Erziehungspersonal, den lange Zeit verheerenden Arbeitsbedingungen und der Frage, wie das gewalttätige Handeln so vieler zu erklären ist. BETROFFENE BERICHTEN VON IHREM LEID Auch die Betroffenen selbst kommen zu Wort: Sie erzählen von einem Aufwachsen im Abseits der Gesellschaft, ihrem täglichen Kampf gegen Übergriffe aller Art und vom Fortleben der Gewalt in ihren Körpern.
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Seitenzahl: 576
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Horst Schreiber
RESTITUTION VON WÜRDE
Kindheit und Gewalt in Heimen der Stadt Innsbruck
Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs,Neue Folge 57
Horst Schreiber
Kindheit und Gewalt in Heimen der Stadt Innsbruck
Mit einem Beitrag von Ulrike Paul
StudienVerlag
InnsbruckWienBozen
© 2015 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
Internet: www.studienverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7065-5783-2
Satz: Studienverlag/Karin BernerUmschlag: Studienverlag/hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
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Vorwort der Bürgermeisterin der Stadt Innsbruck
Einleitung
Zum Wohle der Kinder? Die Heime der Stadt Innsbruck
Die Jugendheimstätte Holzham-Westendorf
Die Kinderheime Mariahilf und Pechegarten
Außerhalb der akzeptierten Norm: Ursachen der Heimeinweisung
Wege ins Heim
Abgehängte des Wirtschaftswunders
Der stigmatisierende Blick auf die Kinder und ihre Familien
Erfahrungen in Heimen und auf Pflegeplätzen
In den Säuglings- und Kleinkinderheimen Arzl und Axams: Hospitalismus und Heimverwahrlosung
Auf Pflegeplätzen:Sexuelle Übergriffe – Knechte und Mägde ohne Bezahlung
In den Heimen der Stadt Innsbruck:Systemische und systematische Gewalt
In den Landeserziehungsheimen Tirols:Arbeitsausbeutung als pädagogische Maßnahme
Die soziale Realität der Ausgeschlossenen
Jenische Familien – Die Tradition der „residualen Armut“
Familien im Prozess der Stigmatisierung, Degradierung, Ignorierung
Berichte vom täglichen Überleben und vom Fortleben der Gewalt in den Körpern
Trotz alledem: „Ich hab’s geschafft“
Zwischen Kampf und Resignation
Heimerziehung: Trauma ohne Ende (Ulrike Paul)
„Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter“: Fünf Jahre Opferschutzkommission Innsbruck
Wie alles begann
Anerkennung, Respekt und Würde
Die Rückmeldungen der ZeitzeugInnen
Anhang
Grafiken und Tabellen
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Die AutorInnen
Liebe Leserinnen und Leser,
das Unrecht, das sich von der Nachkriegszeit bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts in österreichischen Kinderheimen ereignet hat, ist immer noch kaum zu begreifen. Leider war auch Innsbruck Schauplatz solcher Verbrechen an Minderjährigen. Was die jungen Menschen damals erfahren mussten, kann nicht wieder gut gemacht werden. Gerade deshalb ist es der Stadt Innsbruck ein großes Anliegen, in der Gegenwart Verantwortung zu übernehmen: Im Laufe der letzten Jahre wurden mehrere Projekte initiiert, um ehemalige Heimkinder beim Bewältigen ihrer Erlebnisse zu unterstützen.
Beim Versuch, das Geschehene aufzuarbeiten, ist einerseits dieses Buch und andererseits auch ein Theater entstanden: „Jetzt wird geredet. Heimerziehung im Namen der Ordnung“, ein Stück der Theatergruppe nachtACTiv, das auf die historische Aufarbeitung, Darstellung und die erinnerungskulturelle Vermittlung des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen in der öffentlichen Erziehung und Betreuung in unserer Stadt zwischen 1945 und 1990 abzielt. Außerdem entstand eine Homepage mit Interviews von Heimkindern, die auf bewegende Weise von den Schikanen, die sie in ihren jungen Jahren erleiden mussten, berichten.
Der wichtigste Bestandteil des Opferschutzprogramms war jedoch die 2011 gebildete Opferschutzkommission, bestehend aus den Mitgliedern em. Univ.-Prof. Dr. Heinz Barta, der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr.in Doris Preindl und Univ.-Doz. Dr. Horst Schreiber. Diese Kommission führte mit 125 ehemaligen Heimkindern Gespräche zur Verarbeitung ihrer Erinnerungen.
Eine persönliche und gemeinsame Aufarbeitung ist essentiell. Es ist wichtig, dass dieses Thema enttabuisiert und angesprochen wird. Ich möchte allen Involvierten für ihren Mut, sich zu melden und ihre Geschichte zu erzählen, danken. Es erfordert viel Kraft, über lang verdrängte traumatisierende Ereignisse zu sprechen und sich fremden Menschen zu öffnen und anzuvertrauen. Gleichzeitig möchte ich meinen herzlichen Dank allen MitarbeiterInnen des Opferschutzprogramms sowie allen Beteiligten an den unterschiedlichsten Projekten aussprechen – Sie leisten gute Arbeit!
Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, um eine Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern. Aber wir dürfen auch nicht in ihr leben, sondern müssen gemeinsam für eine bessere Zukunft sorgen.
IhreMag.a Christine Oppitz-PlörerBürgermeisterin der Stadt Innsbruck
Seit fünf Jahren laden die Mitglieder der Opferschutzkommission Innsbruck – der Experte im Zivil- und Schadenersatzrecht Heinz Barta, die Psychotherapeutin und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Doris Preindl sowie der Zeithistoriker Horst Schreiber – Menschen, die Zeugnis ablegen wollen, was ihnen in den städtischen Kinderheimen Holzham-Westendorf, Mariahilf und Pechegarten widerfahren ist, zu Gesprächen ein. Die Zuerkennung von finanziellen „Entschädigungen“ und Therapien ist ein zentraler Aspekt der Arbeit der Kommission. Dieses Buch ist diesen mutigen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gewidmet. Ihre dichten Beschreibungen über die Alltagspraxis der Heimerziehung sind wesentliche Dokumente für die Analysen der Wissenschaft, sie schließen die Lücken in den Akten der Behörden, der Justiz und Psychiatrie, sie geben Einblick darüber, was nicht in den Akten steht, wie sie Übergriffe auf Leib und Psyche erlebten und welche Nachwirkungen auf ihr Leben sich daraus ergeben haben. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen in Heimen des Staates, der Länder, Kommunen und katholischen Orden in ganz Österreich sind nicht nur in einer Diktatur und einem Unrechtsstaat geschehen, sondern auch nach 1945 bis in die jüngere Zeit hinauf: in einer Demokratie, in unserer Republik. Daher gilt, was der Historiker Wolfgang Benz zur Gewalt gegen Kinder in Heimen der ehemaligen DDR feststellt, zum überwiegenden Teil auch für Heime in Innsbruck, Tirol, Wien und in weiteren Bundesländern. Für die Behörden waren sie Fälle und Nummern, „über die sie Vermerke und Protokolle anfertigten, in der dürren Sprache amtlicher Täter und im verlogenen Idiom, das von Tätern immer benutzt wird, um Unrecht zu leugnen und zu kaschieren oder um in ideologischer Verblendung Misshandlung, Zwang und Demütigung als kulturelle Errungenschaft zu preisen. Deshalb sind die Berichte derer, die Opfer waren, unverzichtbar, um die Wirklichkeit zu erkennen.“1
Die Tatsache, ein Heimkind gewesen zu sein, genügte, um zeit seines Lebens stigmatisiert zu werden. Ein Heimaufenthalt war ein Ausgrenzungsmerkmal, das häufig dazu führte, dass die ehemaligen Heimkinder die negativen Außenbilder zu ihrer eigenen Sicht machten und die Fremdbewertung als Selbstbewertung übernahmen. Die Menschen berichteten vor der städtischen Kommission in ihrer Position als Opfer der Heimerziehung, aber eben auch als ZeugInnen für historische Verhältnisse. Es ging um die Anerkennung der Geschichten, der Erfahrungen und des erlittenen Leides, es ging um die Anerkennung der Persönlichkeit, die vor uns saß und Teile ihres Lebens offenbarte. Die Kommission hatte das Interesse, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Den Betroffenen vermittelte sie, dass es auf sie ankam, um die Geschehnisse dokumentieren zu können. Mit ihrem Heraustreten aus der Anonymität leisteten die ZeitzeugInnen einen wichtigen Beitrag für die Zivilgesellschaft, für die Prävention von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, für die Selbsthinterfragung in der aktuellen Kinder- und Jugendhilfe und für die Verbesserung der Strukturen, in denen Soziale Arbeit, aber auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie ihre Tätigkeiten entfalten. Dies trug die Möglichkeit in sich, das Selbstbewusstsein unseres Gegenübers zu stärken.
Nicht zuletzt soll dieser Bericht die Herangehensweise der Opferschutzkommission der Stadt Innsbruck und ihre Ziele verdeutlichen. Und er soll dokumentieren, wie die Betroffenen das Bemühen der Stadt, die Verantwortung für die Vergangenheitsschuld glaubwürdig zu übernehmen, wahrgenommen haben.
Inhaltlich steht in dieser Studie eine vergleichende Darstellung der Fremdunterbringung in den Kinderheimen Mariahilf, Pechegarten und in der Jugendheimstätte Holzham-Westendorf im Vordergrund. Das erste Kapitel zeichnet die Entwicklung der drei städtischen Kinderheime nach und erläutert, wie diese Heime entstanden und in den Besitz der Stadt Innsbruck gekommen sind. Die Zeit vor 1945 findet ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt Berücksichtigung. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Erziehungspersonal gewidmet, den lange Zeit verheerenden Arbeitsbedingungen und der Erörterung der Frage, wie das gewalttätige Handeln so vieler ErzieherInnen zu erklären ist. Am Beispiel von Westendorf verdeutlicht die Studie, mit welchem Typus von Erzieherin und Erzieher wir es zu tun haben. Wesentlich für die Einschätzung ihrer Qualifikationen und Motivationslagen waren Personalakten der Jugendheimstätte Holzham-Westendorf, die die Stadt Innsbruck bereits 1974 auflöste. Die Quellenlage zu den drei städtischen Heimen ist äußerst schwierig. Die Akten zu wichtigen Akteurinnen und Akteuren, allen voran jene über Heimleiter Franz Tatzel und die Heimleiterin Friederike Erbe, sind nur in Teilen oder überhaupt nicht mehr greifbar. Mit Hilfe von Gertraud Zeindl vom Stadtarchiv Innsbruck konnte ein bislang unentdeckter Aktenbestand der Magistratsabteilung V (Wohlfahrtsamt) aufgespürt werden. Die Protokolle des Wohlfahrtsausschusses der Stadt Innsbruck, die politische Entscheidungsprozesse offenlegen könnten, fehlen zur Gänze.
Der nächste Abschnitt erörtert die Ursachen der Heimeinweisung, diskutiert den Schlüsselbegriff der Verwahrlosung auf der Grundlage von empirischen Daten und arbeitet den sozialen Hintergrund der ehemaligen Heimkinder und ihrer Familien heraus. Zahlreiche biografische Skizzen führen in diese Darstellung ein. Das Kapitel analysiert Prozesse der sozialen Ausschließung. Es legt offen, wie Familien – auch in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs – um ihr materielles Überleben kämpften. Die Mittel und Methoden dieses Kampfes entsprachen nicht den bürgerlichen Normen. Für die Behörden ließen sich daraus ausreichend Gründe ableiten, um einen Prozess anzubahnen, an dessen Ende die Fremdunterbringung der Kinder stand. Eine Schlüsselfigur für die Einweisung von Kindern und Jugendlichen in ein Heim oder auf einen fremden Pflegeplatz war die Leiterin der Kinderbeobachtungsstelle des Landeskrankenhauses Innsbruck in Hötting. Maria Nowak-Vogl verfügte jahrzehntelang über die unangefochtene Autorität einer Expertin, die den Kindern und Jugendlichen eine krankhafte Abweichung von der Norm unterstellte. Mit dieser ihr zugeschriebenen Definitionsmacht verwandelte sie bestimmte Verhaltensweisen in „unverrückbare problematische Wesenseigenschaften“.2
Um ein umfassendes Bild der Prozesse der Ausschließung zu vermitteln, erschien es notwendig, auch die Verhältnisse der Unterbringung in den Säuglings- und Kleinkinderheimen, in Pflegefamilien sowie in Landeseinrichtungen, vor allem im Hinblick auf die „Arbeitserziehung“, einzubeziehen. Erst wenn die Gesamtsituation der Fürsorgeerziehung in den Blick kommt, wird die historische Aussichtslosigkeit der Lage für die Kinder und Jugendlichen erkennbar und erschließt sich die Realität von „Ausschließung“ als soziale Tatsache. Für dieses Kapitel bildeten Mündelakten des Jugendamtes Innsbruck, in die im Zuge der Tätigkeit für die Opferschutzkommission Einblick gewonnen werden konnte, die Grundlage; weiters Berichte der Betroffenen, die in den PatientInnenakten der Kinderbeobachtungsstation enthalten sind, und Schriftgut des Tiroler Landesarchivs, speziell der Abteilung Vb des Amtes der Tiroler Landesregierung, sowie die Berichte des Landeskontrollamtes in die Landeserziehungsheime.
Es gibt eine soziale Gruppe, deren Kinder die Fürsorgebehörden in besonders hohem Maß in die Heime abschoben. Ein historischer Exkurs widmet sich der Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung der Jenischen. Sie bildeten „ein Heer der Ausgestoßenen, die sich auf Wanderschaft begeben mußten, weil sie zu Hause nicht die Mittel fanden, ihre Existenz zu bestreiten. Mit der Zeit kam zur Not des Wanderns der Stolz der Wandernden, zur Verachtung der Vagabunden deren Selbstidentifikation als ‚fahrendes Volk‘.“3 Die Jenischen stehen in der Tradition einer Armut, die sie seit langer Zeit an den Rand gedrängt hatte und das Ergebnis kontinuierlicher Ausschlussprozesse ist. An ihrem Beispiel treten die Folgen der Armut und der Kontinuität rassistischer Vorurteile exemplarisch hervor. Sie verdeutlichen, wie prekäre Familienverhältnisse die Kinder der unteren Klassen über die Kinder- und Erziehungsheime führten.
Der andere Teil der Familien ehemaliger Heimkinder litt an einem Integrationsdefizit bei Arbeit und Wohnen, in der Erziehung und Kultur. Diese Konstellation machte sie sozial verwundbar. Ihre Ausgrenzung erlebten sie als einen Degradierungsvorgang im Vergleich zu ihrem früheren sozialen Status. Für sie bedeutete der Weg ihrer Kinder vom Herkunftsmilieu in das Milieu der Fürsorgeheime eine weitere Stufe in der Verlaufskurve des sozialen Abstiegs. Die Akteure in diesem Prozess der Abwertung und Ausgrenzung sind nicht konkretisierbar, bleiben anonym. Deshalb scheint uns der Begriff der „Niedertracht der Verhältnisse“ an dieser Stelle angemessen.
Das nächste Kapitel analysiert die soziale Lage der Betroffenen anhand der Wohnungsfrage bis Anfang der 1980er Jahre. Ein großer Teil dieser Randständigen lebte in der so genannten Bocksiedlung und in Barackenlagern, ihre Absiedelung war eine dramatische Erfahrung, da sie sich die Mieten in den Neubauten der Reichenau und des Olympischen Dorfes nicht leisten konnten. Die Stadt Innsbruck übersiedelte sie als „nicht wohnfähige, noch wohnfähige oder nur beschränkt wohnfähige“ Mietparteien in Substandardwohnungen. So konzentrierten sich die marginalisierten Familien wieder in bestimmten Wohngegenden, wo ihnen der schlechte Ruf nacheilte, der sie verdächtig machte und eine verschärfte Überwachung durch das Jugendamt nach sich zog. Die Protokolle des Gemeinde- und Stadtrates von Innsbruck stellten gerade für diesen Abschnitt eine zentrale Quelle dar.
In den Gesprächen mit den Mitgliedern der Opferschutzkommission, in schriftlichen Berichten, E-Mails, Telefonaten und vertiefenden Interviews haben Betroffene über ihr Leben nach den Aufenthalten im Heim Auskunft gegeben. Vier Menschen erzählen, wie sie es trotz anhaltender Probleme geschafft haben, ein gelungenes Leben zu führen. Ihnen schließen sich Ausschnitte aus Berichten von 25 Frauen und Männern an, die einen Einblick in die Problematik ihres Lebensalltags geben, der von den Nachwirkungen jener Verletzungen gekennzeichnet ist, die sich in Kindheit und Jugend unübersehbar in Körper und Psyche eingeschrieben haben. Bei der Rezeption dieser Dokumente sind zwei Dinge mitzudenken: Erstens sind zahllose Männer und Frauen an diesen Erfahrungen zerbrochen, leben nicht mehr, sind dabei zu resignieren oder haben sich bereits aufgegeben. Ihre Stimmen hören wir in diesem Bericht nicht. Zweitens ringen viele der Betroffenen, deren Aussagen uns hier erreichen, nicht nur mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen, sondern auch mit prekären Lebenslagen. In Zeiten der Wirtschaftskrise, explodierender Arbeitslosenzahlen und erbitterter Konkurrenz am Arbeitsmarkt sind ehemalige Heimkinder besonders gefährdet: Ein sozialer Abstieg kann wieder bevorstehen oder sich ausweiten, Handlungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven schätzen nicht wenige gering ein, Ängste verstärken sich. Das Gefühl der Entwertung und des Hinausfallens aus den Zusammenhängen sozialer Anerkennung und Wertschätzung begleitet sie ständig.
In diesen Abschnitten der Studie geht es darum, ein Panorama von aktuellen Handlungsweisen, Lebenslagen, Einstellungen und Sinnkonstruktionen der ZeitzeugInnen entstehen zu lassen. Auch der Beitrag von Ulrike Paul dient dieser Intention. Paul ist Psychotherapeutin und hat in verschiedenen Settings mit mehr als 60 Betroffenen gearbeitet. Sie legt jene Strukturen offen, die das Leben der Menschen nachhaltig negativ beeinflusst haben, und beschreibt Traumafolgestörungen sowie die Weitergabe von Traumata an die nächsten Generationen. Ihr Plädoyer zielt zum einen auf eine Bewusstmachung dieser transgenerationalen Aspekte in der Aus- und Fortbildung sowie in der Praxis der Sozialen Arbeit, zum anderen auf eine verstärkte professionelle Unterstützung dieser Familien als Chance zur Traumaverarbeitung.
Im Abschlusskapitel werden die Arbeit und die Herangehensweise der Opferschutzkommission Innsbruck vorgestellt, mit der sie den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Respekt zollen und ihre Würde achten wollte. Als tragendes Moment in diesem Prozess der Anerkennung sahen wir die persönliche Begegnung mit den Opfern der Heimerziehung. Auf die Zuerkennung von finanziellen „Entschädigungen“ und Therapien haben die Betroffenen der Heimerziehung einen moralischen Anspruch; für die Mitglieder der Kommission schließt dies eine Erwartungshaltung der Dankbarkeit kategorisch aus. Leistungen der Stadt Innsbruck, die an die Menschen flossen, konnten angesichts der Dimensionen der Kinderrechtsverletzungen in der Vergangenheit keine Wiedergutmachung darstellen, sondern in erster Linie eine Geste, die, spät aber doch, den Berichten der ehemaligen Heimkinder Glauben schenkt, das erlittene Unrecht anerkennt und den Beitrag der ZeitzeugInnen zu dessen Aufklärung würdigt. Wie die Menschen die Gespräche mit der Opferschutzkommission und deren Tätigkeit wahrgenommen haben, wird in der Zusammenfassung ihrer Reaktionen und Kommentare deutlich, die sie der Kommission auf deren Bitte um eine Rückmeldung zukommen haben lassen.
Die ehemaligen Heimkinder waren einer dreifachen Traumatisierung ausgesetzt: zunächst durch eine massive Vernachlässigung oder Trennung von ihren Bezugspersonen, dann durch ihre Einweisung auf einen Pflegeplatz oder ins Heim und schließlich durch das Ausbleiben ausreichender Hilfe und Anerkennung des erfahrenen Leides nach dem Heimaufenthalt. So hinderten die Nachwirkungen der Traumatisierung und die Ignoranz von Politik und Gesellschaft jahrzehntelang am Sprechen.4 Horst Schreiber interviewte deshalb 14 Frauen und Männer über ihre Kindheit und Jugend, die sie zwischen Anfang der 1950er und Ende der 1980er Jahre auf Pflegeplätzen, in Kinderheimen und Erziehungsanstalten der Stadt Innsbruck, des Landes Tirol, von katholischen Orden und anderswo verbracht hatten.5 Christian Kuen schnitt die 14 Video-Interviews unter Rücksprache mit den ZeitzeugInnen. Im Ergebnis entstanden ebenso viele Porträts und 18 thematische Zugänge zu den historischen Verhältnissen in der Heimerziehung und ihren Folgen. Sie sind auf einer eigenen Homepage – www.heimkinder-reden.at – zu sehen und zu hören. Christian Kuen und Horst Schreiber haben aus diesen vielstündigen Interviews eine Film-Dokumentation zusammengestellt,6 die sie im Jänner 2015 im Innsbrucker Leo-Kino der Öffentlichkeit präsentierten: „‚Jetzt reden wir!‘ Ehemalige Heimkinder erzählen“. Diese Form der Aufarbeitung machte den Positionswandel vom Opfer zum Zeitzeugen und zur Zeitzeugin offensichtlich, zeigte diese in ihrer Selbstdeutung und stellte einen weiteren Versuch dar, den ehemaligen Heimkindern jenen Respekt entgegenzubringen, der ihnen so lange vorenthalten wurde. Selbstmächtig erzählen die Betroffenen und verlassen die Opferperspektive. Unter der Leitung der Theaterpädagogin Irmgard Bibermann brachte die Gruppe nachtACTtiv Ende Oktober 2015 ein biografisches Theater auf die Bühne: „Jetzt wird geredet: Heimerziehung im Namen der Ordnung“. Die Inszenierung vermittelt, dass dem Schweigen ein Ende gemacht werden kann, weil die Opfer von damals sich mutig ihren schrecklichen Erinnerungen stellen und es wagen, sie zu veröffentlichen.
Die Video-Interviews im Internet, die Film-Dokumentation und das Theaterstück – alles Projekte, die mit Unterstützung der Stadt Innsbruck realisiert werden konnten – ergänzen die Tätigkeit und die Anliegen der städtischen Opferschutzkommission. Es braucht viele unterschiedliche Zugänge, die die Gewalt gegen Kinder in Heimen und auf Pflegeplätzen einer breiten Bevölkerung begreifbar machen und sie in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft heben. Auch die vorliegende wissenschaftliche Studie ist ein Baustein in diesem Sinn. Es handelt sich nicht um bezahlte Auftragsarbeit, sie versteht sich als Teil der Bemühungen um eine angemessene „Wiedergutmachung“ für die Menschen, die in den Kinderheimen der Stadt Innsbruck Gewalt erleiden mussten.
An alle Menschen, die den Mut fanden, sich an die Opferschutzkommission Innsbruck zu wenden: für ihre Offenheit, ihr Vertrauen und den Beitrag, den sie zur Aufklärung der Gesellschaft über die Gewalt an Kindern und Jugendlichen geleistet haben.
An meine KollegInnen in der Opferschutzkommission Heinz Barta und Doris Preindl: für die gute Zusammenarbeit und das engagierte Bemühen, die ZeitzeugInnen zu würdigen.
An Gertraud Zeindl und Christian Herbst: für ihre Hilfe bei der Quellenrecherche im Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck.
An Lukas Morscher, den Leiter des Stadtarchivs/Stadtmuseums Innsbruck: für die organisatorische Unterstützung bei der Veröffentlichung des Buches.
An die Stadt Innsbruck: für die rasche, unbürokratische Durchführung der Vorschläge der Opferschutzkommission und für die Förderung der Druckkosten sowie der filmischen und theatralischen Projekte zur Aufarbeitung der Gewalt in der Fürsorgeerziehung.
An Elfriede Sponring für ihr sorgfältiges Korrektorat, Kurt Höretzeder, Ines Graus und Karin Berner für die schöne Gestaltung des Buches und Christina Kindl-Eisank für die gute organisatorische Betreuung im Studienverlag.
An Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler: für die wissenschaftliche Supervision und das Lektorat sowie die Anregungen für die ästhetische Gestaltung des Buches – und nicht zuletzt für ihre selbstlose Freundschaft.
1893 wurde auf dem Anwesen der späteren Jugendheimstätte Holzham-Westendorf, Gut Deggenmoos, im Bezirk Kitzbühel ein Gebäude errichtet, das „obere“ Badl, in dem schließlich eine Kuranstalt ihren Platz fand.1 Am 1. November 1917 erwarb der Verein für Ferienkolonien in Innsbruck vom Badwirt Balthasar Riedmann um 54.000 Kronen die Liegenschaft mitsamt einem ausgedehnten Grundbesitz, um sie als Sommererholungsheim für Kinder aus Innsbruck zu nutzen.2 Im Kaufvertrag ist die Rede von einer Behausung, mit der das Recht, ein Gasthaus zu führen, verbunden war; weiters von Zugebäuden, einem Gartl und einem Anger, zu dem die Befugnis, ein Heilbad zu betreiben, gehörte. Zur Liegenschaft, die einen Kilometer vom Dorfzentrum und zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt ist, zählten Wald, Weiden, Äcker und Wiesen. Da der Verein für Ferienkolonien das so genannte „Badwirtsanwesen“ nur zwei Monate lang im Sommer nutzte, verpachtete sie die Liegenschaft mit Ausnahme des Gebäudes („das neue Badhaus“) und des Gemüsegartens an den Verkäufer, der das gesamte Jahr die Aufsicht innehatte, während der beiden Sommermonate für die Wirtschaftsführung im Haus verantwortlich war und auch die Milchversorgung der Ferienkinder sicherstellte.3
Nach dem „Anschluss“ löste der Stillhaltekommissar den Verein für Ferienkolonien in Innsbruck auf. Am 21. November 1938 wurde die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) grundbücherlicher Eigentümer, obwohl die Statuten des Vereins für Ferienkolonien im Falle der Vereinsauflösung eine Übertragung des Vermögens an die Stadtgemeinde Innsbruck vorgesehen hatten.4 Im August 1940 kündigte der Personalamtsleiter der NSDAP die Nutzung der Anlage als Heim für Südtiroler Umsiedler-Kinder an, Anfang Dezember dürfte es in Betrieb gegangen sein; schließlich fanden auch Kinder Aufnahme, die vor dem Bombenkrieg in Sicherheit gebracht wurden oder deren Eltern ausgebombt waren.5 Die offizielle Bezeichnung lautete „Jugendheimstätte der NSV in Holzham, Westendorf “.
Mit dem Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 wurden die NSDAP, ihre Wehrverbände, Gliederungen, angeschlossenen Verbände, Organisationen und Einrichtungen aufgelöst und das Vermögen als zugunsten der Republik Österreich verfallen erklärt. Am 4. März 1948 trug sich die Republik als Eigentümer des Besitzes der NSV in Westendorf grundbücherlich ein.6 Mit Beschlussprotokoll Nr.14 vom 9. August 1945 entschied die Tiroler Landesregierung, das NSV-Jugendheim Holzham-Westendorf samt allen dazugehörigen Grundstücken und dem noch vorhandenen Betriebskapital von 74.000 Reichsmark in die treuhänderische Verwaltung des Landes zu übernehmen und das Objekt als Jugendheimstätte weiter zu betreiben. Sie übertrug die Leitung und Verwaltung des Heims an das Landesjugendamt. Das Land stimmte für diese Übergangslösung, weil das Heim unbeschädigt war, keine Kosten anfielen und ein dringender Bedarf für ein „Auffangheim für eltern- und vaterlandslose Kinder“ bestand. Wesentlich war, dass der letzte Obmann des Vereins für Ferienkolonien, Anton Schuler,7 stellvertretender Magistratsdirektor der Stadt Innsbruck vor 1938, illegaler Nationalsozialist, stellvertretender Regierungsdirektor nach der NS-Machtübernahme und schließlich Regierungsdirektor der Abteilung I der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg,8 diesen Schritt befürwortete. Die wertvolle Liegenschaft bestand aus einem Wohnhaus, einem Hofraum mit Keller und Haus, Futterstall, Schießstand, Wald, Wiesen, Äcker und Weiden. Im März 1947 war das Betriebskapital aus der Zeit des Nationalsozialismus bis auf einen geringfügigen Restbetrag aufgebraucht. Die gesetzliche Grundlage zur Klärung des rechtsnachfolgenden Eigentümers war zwar noch nicht vorhanden, doch standen die Chancen gut, dass einer Übertragung des Besitzes an die Stadt Innsbruck, sofern sie dazu bereit war, nichts im Weg stehen würde. Der Verein für Ferienkolonien in Innsbruck hegte keine Absicht, sich wieder zu konstituieren, so dass entsprechend den Statuten das Vereinsvermögen der Stadt Innsbruck zufallen musste, die es „zu einem das Wohl der Schuljugend förderndem Zwecke zu verwenden hat“. Der Stadtrat beschloss am 13. April 1947 die Übernahme der zeitlich befristeten treuhänderischen Verwaltung des Vereinsvermögens und die Weiterführung des Heimbetriebs unter der Verwaltung des Leiters der Magistratsabteilung V (Wohlfahrtsamt), Franz Duregger. Zwei Tage später unterzeichnete das Amt der Tiroler Landesregierung die Bestellungsurkunde.9
Ob die Stadt das Heim weiterführen, verpachten, einem anderen Zweck zuführen oder wieder dem Land Tirol übertragen sollte, blieb längere Zeit Diskussionsgegenstand im Gemeinderat. Das Gebäude war als Sommerferienheim errichtet worden, nicht aber für einen ganzjährigen Betrieb. Einig waren sich alle Fraktionen, dass die Stadt ein Heim für die Fürsorgeerziehung benötigte, dass aber die Entfernung Innsbruck–Westendorf die finanziellen Kosten in die Höhe trieb und auch die Überwachung erschwerte. Zunächst fiel die Entscheidung, das Heim Holzham-Westendorf weiterzuführen und sich gleichzeitig nach einer Alternative in Innsbruck umzusehen. Die SPÖ bevorzugte zwar ein Heim in der Nähe der Stadt: „Das würde die Verwaltungskosten vermindern, auch könnte man die Erziehung besser überprüfen.“ Doch sie setzte sich am stärksten für die Weiterführung des Heims ein und forderte früh die Errichtung geeigneter Schulräume und einen Anbau für eine komfortablere Unterbringung der Kinder. Die SPÖ-PolitikerInnen gingen davon aus, dass das Heim Arbeiterkindern zugutekäme, die in schlechten Familienverhältnissen aufwuchsen. Ihr Verständnis von Erziehung unterschied sich nur graduell von der Auffassung der bürgerlichen PolitikerInnen mit ihrer Forderung nach einer Korrekturerziehung und ihrer Unterstellung von „Kinderfehlern“. Vizebürgermeister und Sozialreferent Hans Flöckinger (SPÖ) sah die Unterbringung von Kindern im Heim Holzham-Westendorf als Präventionsmaßnahme:
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