Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Horst Schreiber analysiert in vier Geschichten von Opfern und Tätern die terroristische Seite des Nationalsozialismus und ihre Aufarbeitung nach 1945. Der Tiroler SS-Oberscharführer Josef Schwammberger leitete drei Lager in Polen. Er war sadistischer Exzesstäter, Massenmörder und Akteur des Holocaust. 1948 gelang ihm die Flucht aus dem Entnazifizierungslager "Oradour" in Schwaz nach Argentinien. 1990 konnte er in Stuttgart vor Gericht gestellt werden. Franz Hausberger, Bürgermeister von Mayrhofen 1968–1982, war Mitglied der 1. SS-Infanterie-Brigade, die in der Ukraine und Belarus tausende Jüdinnen und Juden erschoss. 1984 geriet eine touristische Werbefahrt von Hausberger und dem "Mayrhofner Trio" nach Miami Beach zum Fiasko, als seine Zugehörigkeit zur 1. SS-Infanterie-Brigade aufflog. 1940 erhängte die Gestapo in Kirchbichl zwei polnische Arbeiter der TIWAG wegen verbotener Beziehungen. Die einheimischen Frauen deportierte sie in die KZ Ravensbrück und Auschwitz. Die Abläufe in Kirchbichl waren im Gau Tirol-Vorarlberg das Modell für weitere Exekutionen wegen "Liebesverbrechen". Daher dokumentierte die Gestapo die Morde fotografisch. Acht russische und ukrainische Zwangsarbeiter wurden 1944 im Arbeitserziehungslager Reichenau erhängt. Sie hatten nach ihrer Flucht Widerstand organisiert und waren im Arzler Wald bei Imst in eine tödliche Auseinandersetzung mit Einheimischen geraten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 260
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Horst Schreiber
„Liebesverbrechen“, Zwangsarbeitund Massenmord
STUDIEN ZU GESCHICHTE UND POLITIK
Band 29herausgegeben von Horst SchreiberMichael-Gaismair-Gesellschaftwww.gaismair-gesellschaft.at
Horst Schreiber
„Liebesverbrechen“, Zwangsarbeit und Massenmord
StudienVerlag
InnsbruckWien
Von Tätern und Opfern – Eine Einleitung
„… weil sie sich mehrmals mit deutschen Frauen geschlechtlich eingelassen haben“ –Die Exekution von Stefan Widla und Jan Kosnik in Kirchbichl
„Das Verhalten der Frauen verletzte das gesunde Volksempfinden gröblichst und erregte öffentliches Ärgernis.“
Arrest in Kufstein und Innsbruck, Haft im KZ Ravensbrück und Auschwitz
Die Hinrichtung: „Die zwei Polen haben sich nicht zur Wehr gesetzt (…): sie waren gefesselt“
Fotografische Dokumentation der Hinrichtung
Ein Verhältnis, das die Moral der kämpfenden Truppe gefährdet
Mord im Arzler Wald –Die Hinrichtung der sowjetischen Widerstandsgruppe von Imst
Der Aufbau der sowjetischen Widerstandsgruppe
Die Leichenfunde
Alle Kirchenglocken läuteten: Das Begräbnis von Josef Hochkofler
Die Morde – der Tathergang
Flucht und Ergreifung
„Der ist schon hin“ – „Der ist auch schon hin“: Die Hinrichtung der sowjetischen Widerständler
Verscharren – Exhumieren – Beerdigen
Bestattung der Opfer
Der Tiroler Exzesstäter Josef SchwammbergerLagerkommandant von Rozwadów, Przemyśl und Mielec
Kommandant des Zwangsarbeitslagers Rozwadów
Kommandant des Ghettos Przemyśl: „Ich bin euer Gott. Wenn ich sage, du stirbst, dann stirbst du. Wenn ich sage, du lebst, dann lebst du.“
Lagerkommandant im Zwangsarbeiterlager Mielec
Verhaftung in Innsbruck
Ausbruch aus dem Lager Oradour – Flucht nach Argentinien
Die Auslieferung nach Deutschland
Die Urteilsverkündung
Josef Schwammberger in Haft: „Tapferkeit und Kameradschaft sind mit unserer Generation verblutet.“
Franz Hausberger –Von der SS-Mordbrigade ins Bürgermeisteramt von Mayrhofen
Die Massenmorde der 1. SS-Infanterie-Brigade
Im SS-Wachbataillon Nord-West zur Außenbewachung deutscher Konzentrationslager in Holland
Bürgermeister von Mayrhofen (1968–1986)
„Wir waren doch schneidige Soldaten“: Diskussion über die SS-Vergangenheit Hausbergers
Das Urteil im Presseprozess Hausbergers gegen die Österreichische Widerstandsbewegung
„Schickt den Nazi jetzt nach Hause“: Hausbergers missglückte Werbefahrt nach Miami Beach
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Der vorliegende Band umfasst je zwei Beiträge, die sich mit Opfern und Tätern im Nationalsozialismus beschäftigen. Thematisiert werden ein Tiroler Massenmörder und das Mitglied einer SS-Brigade, die Kriegsverbrechen beging, sowie die Hinrichtungen von Angehörigen einer sowjetischen Widerstandsgruppe im Arbeitserziehungslager Reichenau und von zwei polnischen Arbeitern wegen verbotener Beziehungen mit einheimischen Frauen in Kirchbichl.
Für drei Beiträge waren die Quellenbasis Akten der französischen Besatzungsmacht in Tirol. Sie dokumentieren zum einen die Fluchtgeschichte des Exzesstäters Josef Schwammberger. Er entkam 1948 aus dem Entnazifizierungslager „Oradour“ in Schwaz, um einer Überstellung nach Polen zu entgehen. Dort hätte ihm die Todesstrafe wegen der Ermordung unzähliger Jüdinnen und Juden gedroht. Zum anderen erschließen die Untersuchungen des obersten französischen Militärgerichts in Innsbruck zwei Ereignisse: erstens die Morde im Arzler Wald bei Imst zu Kriegsende. Eine Gruppe widerständiger russischer wie ukrainischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter hatte sich im Wald versteckt und war in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit Einheimischen geraten. Das Ergebnis waren drei Tote: Pawel Mikalow, Josef Hochkofler, Franz Grall. Zweitens die Erhängung der polnischen Arbeiter Stefan Widla und Jan Kosnik am 2. September 1940. Die Häringerinnen Annemarie Edenhauser und Hedwig Schwendter wurden wegen des verbotenen Umgangs mit ihnen in die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz deportiert. Die Abläufe in Kirchbichl waren im Gau Tirol-Vorarlberg das Modell für weitere Exekutionen von Polen und sogenannten „Ostarbeitern“ wegen Verhältnissen zu einheimischen Frauen.
Die beiden Tiroler, die in dieser Studie näher beleuchtet werden, sind Josef Schwammberger und Franz Hausberger: der eine Akteur des Holocaust, der andere daran tatverdächtig. Schwammberger war ein Kleinbürger im sozialen Abstieg. Der Nationalsozialismus gab ihm inneren Halt und Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Zugehörigkeit zur SS ein elitäres Selbstverständnis. Bis 1942 und in den Jahrzehnten nach dem Krieg blieb er stets eine unauffällige Persönlichkeit, die subalterne Positionen in NS-Organisationen einnahm oder von Gelegenheitsjobs lebte. Doch zwischen 1942 und 1944 übte Schwammberger Führungsfunktionen in deutschen Lagern in Polen aus, wo Jüdinnen und Juden gefangen waren. Dort war er Herrscher über Leben und Tod. Er pflegte den Lebensstil eines Diktators, raubte seine Opfer aus und ergötzte sich an ihrem Leid. Schwammberger peitschte aus und knüpfte auf, wen er wollte. Er machte seinen Hund scharf und hetzte Prinz auf die Gefangenen. Er knallte willkürlich Menschen nieder, so wie ihm gerade danach war. Zwei Jahre lang war Schwammberger ein sadistischer Massenmörder, der für den Tod Tausender verantwortlich war. Nach dem Krieg floh er nach Argentinien. Dort lebte Schwammberger unauffällig und angepasst, wie er es vor dem Krieg getan hatte. 1990 wurde er aus Argentinien ausgewiesen, 1992 in Stuttgart zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er bereute nichts. Die vielen Opfer, die gegen ihn aussagten, ließen ihn kalt. Die Festung Hohenasperg, das Gefängnis, in dem Schwammberger seine letzten Lebensjahre verbrachte, ist heute ein Museum. Seit 2017 dokumentiert es in seiner Dauerausstellung den Fall Schwammberger.
Die zweite Persönlichkeit, bei der es in der vorliegenden Publikation um Fragen von Täterschaft geht, ist Franz Hausberger. Er engagierte sich bereits als Minderjähriger in der illegalen Hitler-Jugend, mit 18 Jahren trat er der SS bei. Schließlich wurde er Mitglied der 1. SS-Infanterie-Brigade, jener Einheit, die mit zwei weiteren SS-Brigaden in der Ukraine zehntausende Jüdinnen und Juden erschoss, einen großen Teil der einheimischen Bevölkerung ermordete und ihre Dörfer niederbrannte. Die 1. SS-Infanterie-Brigade, in der Hausberger und auch der ehemalige FPÖ-Obmann Friedrich Peter dienten, hatte eine Vorreiterrolle: einerseits bei der systematischen Ermordung jüdischer Frauen und Kinder, „dem wesentlichen Element zur Durchsetzung der ‚Endlösung‘ in der Sowjetunion“,1 und andererseits beim Massenmord an der nichtjüdischen Zivilbevölkerung, getarnt als kollektive Bestrafung wegen behaupteter Unterstützung von Partisanentätigkeit. Fest steht: Die Vernichtungsaktionen der drei SS-Brigaden waren der Auftakt zum Holocaust in der Sowjetunion.
Franz Hausberger wurde nach dem Krieg erfolgreicher Kaufmann im Zillertal und langjähriger Bürgermeister von Mayrhofen (1968–1982). Seine SS-Vergangenheit holte ihn erst in den 1980er Jahren ein, als er mediale Aufmerksamkeit erregte und die Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen ihn ermittelte. Ihm wäre beinahe zum Verhängnis geworden, dass er sich während des Krieges in seinem Dorf der Massenmorde gerühmt und ein Foto herumgereicht hatte, auf dem er stolz neben gelynchten Juden posierte. Doch die Staatsanwaltschaft musste die Vorerhebungen gegen Hausberger einstellen. Es fehlten die Aussagen der Überlebenden, mit denen die Anklagebehörde ihm eine persönliche Schuld nachweisen hätte können. 1984 geriet eine touristische Werbefahrt von Hausberger und dem „Mayrhofner Trio“ nach Miami Beach zum Fiasko, als während des Aufenthalts seine Zugehörigkeit zur 1. SS-Infanterie-Brigade aufflog. Zwar gab es in Tirol durchaus kritische Stimmen, die einen allmählichen Mentalitätswandel im Umgang mit den NS-Verbrechen andeuteten. Doch generell offenbarten die Reaktionen, wie gering die Konsequenzen für Männer vom Schlag eines Hausberger Mitte der 1980er Jahre noch waren. Er selbst stufte sich als unschuldig ein und bezeichnete sich als schneidigen Soldaten.
Bei den beiden Beiträgen, die sich mit Opfern der NS-Diktatur auseinandersetzen, stehen das Schicksal von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen im Mittelpunkt, aber auch jenes von Tiroler Frauen, die wegen verbotenem Umgang mit Ausländern in Konzentrationslager kamen. Um die Abläufe und Ereignisse besser einordnen zu können, ist es vorab notwendig, die politischen Rahmenbedingungen und den historischen Hintergrund zu erläutern.
Zwei Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 richtete die deutsche Arbeitsverwaltung bereits Stellen ein, um polnische Arbeitskräfte für Deutschland zu rekrutieren, sowohl aus der Masse der Arbeitslosen als auch der Kriegsgefangenen. Im November 1939 waren bereits 20.000 zivile polnische Arbeitskräfte im Deutschen Reich.2 Hermann Göring wies die Arbeitsverwaltung an, „Einsatz und insbesondere ihre Entlohnung müssen zu Bedingungen erfolgen, die den deutschen Betrieben leistungsfähige Arbeitskräfte billigst zur Verfügung stellen“. Einerseits sollten sie die Industriearbeiterschaft ersetzen, andererseits die landwirtschaftliche Produktion sicherstellen.3
In Kirchbichl, wo Stefan Widla und Jan Kosnik arbeiteten, wurde 1938 der Bau des Innkraftwerks Kirchbichl in Angriff genommen. Anfang November 1939 waren hier an die 150 Arbeitslose aus Polen beschäftigt, Ende November 1939 waren ein Drittel der rund tausend Mann starken Arbeiterschaft an dieser Baustelle Ausländer, darunter 200 aus Polen.4
Im Laufe des Krieges war die Wirtschaft des Deutschen Reiches völlig abhängig von der Arbeitskraft der „Fremdvölkischen“, auch der Gau Tirol-Vorarlberg. Mit Stichtag 31. Dezember 1943 schufteten 28.482 ausländische Zivilpersonen und Kriegsgefangene im Gau, ein Jahr später waren es 31.872.5 Den größten Anteil stellten „Ostarbeiter“, also Angehörige der Sowjetunion (11.222), gefolgt von Italien (6.754), Polen6 (5.054) und Frankreich (3.192).7
Typisches Beispiel für die Ungleichbehandlung polnischer und sowjetischer Arbeitskräfte (Innsbrucker Nachrichten, 7.4.1942, S. 3)
Von allem Anfang an kritisierten NS-Behörden und der Sicherheitsdienst der SS ein allzu positives Verhältnis der bäuerlichen Bevölkerung und der Frauen zu Polen, der Kontakt bei der Landarbeit sei zu eng, die katholische Geistlichkeit zu freundlich.8 Derartige Klagen verstummten nicht. Der stellvertretende Gauleiter Herbert Parson rief alle Parteifunktionäre auf, aktiv zu werden:
„Immer wieder ist aus einzelnen Meldungen zu entnehmen, daß insbesondere die in der Landwirtschaft eingesetzten Kriegsgefangenen von den Arbeitgebern nicht wie Kriegsgefangene, sondern wie gleichberechtigte Volksgenossen behandelt werden.
Dies kommt z. B. darin zum Ausdruck, daß Kriegsgefangene mit dem übrigen Gesinde und mit der Bauernfamilie selbst an einem Tisch und oft sogar aus einer Schüssel essen.
Im Auftrage des Gauleiters mache ich erneut darauf aufmerksam, daß eine derartige Behandlung Kriegsgefangener nicht nur eine nationale Würdelosigkeit ist, sondern gegen die klaren und eindeutigen Bestimmungen über die Behandlung Kriegsgefangener schwerstens verstößt.“
Jeder Fall müsse umgehend dem zuständigen Funktionär der NSDAP und der Kanzlei des Gauleiters gemeldet werden. Die Hoheitsträger der NSDAP sollten sofort einschreiten und den „Volksgenossen“ klarmachen, dass sie mit einer Strafe zu rechnen hatten und die Kriegsgefangenen sofort abgezogen würden.9 Anfang November 1939 informierte das Reichspropagandaamt in einer Presseaussendung die Bevölkerung: „Der Feind bleibt auch in Gefangenschaft Feind und ist bei jeder Gelegenheit als solcher anzusehen.“10
Ab dem 25. November war der „verbotene Umgang“ in den „Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes“ verankert: „Wer vorsätzlich gegen eine zur Regelung des Umgangs mit Kriegsgefangenen erlassene Vorschrift verstößt oder sonst mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft.“ Die Verordnung vom 11. Mai 1940 ergänzte: „Sofern nicht ein Umgang mit Kriegsgefangenen durch die Ausübung einer Dienst- oder Berufspflicht oder durch ein Arbeitsverhältnis der Kriegsgefangenen zwangsläufig bedingt ist, ist jedermann jeglicher Umgang mit Kriegsgefangenen und jede Beziehung zu ihnen untersagt.“11
Nicht nur der Umgang mit Kriegsgefangenen, auch der mit den „Zivilarbeitern“ wurde reguliert. Am 8. März 1940 erschien ein Erlasswerk zur Regelung der Arbeits- und Lebensbedingungen der zivilen Arbeitskräfte aus Polen, die sogenannten „Polenerlasse“. Sie bestanden aus zehn Dokumenten und dienten als Vorbild für die zwei Jahre später erscheinenden „Ostarbeitererlasse“, die im Wesentlichen Arbeitskräfte aus der Sowjetunion betrafen und auch ihnen die Todesstrafe bei Geschlechtsverkehr mit einheimischen Frauen androhten.12 Das Paket der „Polenerlasse“
Wer kein deutsches Bargeld hatte, tat sich schwer, am Alltagsleben teilzuhaben. Die Verbote, denen Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeitskräfte unterlagen, waren mit der Zeit unüberschaubar. Gegen die Einhaltung der Bestimmungen verstießen auch Einheimische. Die Presse informierte wiederholt, dass Kontakte mit ausländischen Frauen und Männern über das absolut Notwendige im Arbeitsprozess hinaus bei Strafe untersagt waren. (Innsbrucker Nachrichten, 16.2.1942, S. 3)
„stellt in vieler Hinsicht einen Meilenstein in der Geschichte der nationalsozialistischen Ausländerpolitik dar. Es bildete den Auftakt zu einem immer geschlossener werdenden, nach Nationalitäten differenzierten Sonderrecht für ausländische Arbeiter und die Grundlage eines umfassenden Systems der Beaufsichtigung und Repression der polnischen Arbeiter.“13
Die polnischen Arbeitskräfte durften keine deutschen Gottesdienste, öffentliche Verkehrsmittel und Einrichtungen benutzen, vom „kulturellen Leben“ waren sie ebenso fernzuhalten wie von „Vergnügungsstätten“, deshalb herrschte ein nächtliches Ausgehverbot. Sie bekamen niedrigere Löhne, sollten in Baracken leben und bei „Arbeitsunlust“ in ein Arbeitserziehungs- oder Konzentrationslager eingeliefert werden, in schweren Fällen drohte sogar die Todesstrafe. Um die polnischen Arbeitskräfte jederzeit erkennen zu können, verpflichteten die NS-Behörden sie, auf der Kleidung ein aufgenähtes „P“ zu tragen. Nach dem Muster dieser ersten öffentlichen Kennzeichnung von Menschen in der NS-Zeit führte das NS-Regime im September 1941 den „Judenstern“ ein.14
Viele polnische Arbeitskräfte, aber auch „Ostarbeiter“, die später die Kennzeichnung „Ost“ am linken Oberarm jeder sichtbaren Kleidung tragen mussten, lehnten sich gegen diese Bestimmung in Tirol auf. Wegen nicht vorschriftsmäßigen Tragens der diskriminierenden Abzeichen hagelte es Geldstrafen bei den Landräten, während die Gestapo in Innsbruck rigoros durchgriff. Der reichsdeutsche Gestapo-Beamte Wilhelm Prautzsch ließ die Betreffenden festnehmen und in die Zentrale in die Herrengasse bringen. Dort misshandelte er die Aufgegriffenen. „Die Vorführung dieser Leute geschah nur zu diesem Zweck der Misshandlung“, bestätigte Grete Sesbacher, eine der Sekretärinnen bei der Gestapo.15 Einer der zentralen Punkte der „Polenerlasse“ war das Verbot von Geschlechtsverkehr und sonst jeder Form zwischenmenschlicher Beziehung. Ende Februar 1940 hatte Reichsführer-SS Heinrich Himmler bereits grundsätzlich erklärt:
„Wenn ein Pole mit einer Deutschen verkehrt, ich meine jetzt also, sich geschlechtlich abgibt, dann wird der Mann gehängt, und zwar vor seinem Lager. Dann tun’s nämlich die anderen nicht. (…) Die Frauen werden unnachsichtig den Gerichten vorgeführt und wo der Tatbestand nicht ausreicht – solche Grenzfälle gibt es ja immer – in Konzentrationslager überführt.“16
Die Bestimmungen zum „verbotenen Umgang“ vom März 1940 wurden im Mai noch erweitert. Nicht nur „jeder geschlechtliche Verkehr“, auch „jeder gesellschaftliche Verkehr (z. B. bei Festen, Tanz)“ war dazu angetan, „das gesunde Volksempfinden“ über Gebühr zu verletzen. Frauen, die dagegen verstießen, waren in Schutzhaft zu nehmen und für mindestens ein Jahr in ein KZ zu überstellen; ihr öffentliches Anprangern sollte polizeilich nicht unterbunden werden. Alle Gendarmerieposten und Bürgermeister erhielten diese Anordnungen.17 Das Merkblatt „Pflichten der Zivilarbeiter- und -arbeiterinnen polnischen Volkstums während ihres Aufenthaltes im Reich“ vom 8. März 1940 mussten von nun an alle polnischen Arbeitskräfte bei Arbeitsantritt unterschreiben, zumindest wurde es ihnen mündlich zur Kenntnis gebracht. Darin hieß es: „Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt, oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.“18 Diese Form der Information diente als „Rechtsgrundlage“ für die Sanktionen. Gestapo-Chef Werner Hilliges berief sich nach dem Krieg wiederholt darauf, dass Stefan Widla und Jan Kosnik, aber auch Stanisław (Stanislaus) Hujar (Huyar) genau Bescheid gewusst hätten, dass auf ein intimes Verhältnis mit Tirolerinnen die Todesstrafe stand:
„Zu erwähnen ist hierbei, dass sämtlichen polnischen Zivilarbeitern vor ihrem Arbeitseinsatz ausdrücklich und mit Unterschrift eröffnet wurde, dass auf Verkehr mit deutschen Frauen ausnahmslos die Todesstrafe stünde. Auch die drei festgenommenen Polen wussten, dass ihre Tat mit der Todesstrafe geahndet werden würde, wie sie selbst zugaben.“19
Eine erhalten gebliebene Erklärung vom Mai 1941 aus Wörgl, die Bauern oder Bäuerinnen unterschreiben mussten, die Zwangsarbeitskräfte zugeteilt bekamen, gibt Einblick in die praktische Umsetzung der rassistischen Arbeitskräftepolitik des Nationalsozialismus. Sie verpflichteten sich, alles zu unternehmen, um einen Geschlechtsverkehr zwischen einheimischen Frauen und „zivilen Kriegsgefangenen polnischer Nationalität“ zu verhindern oder gegebenenfalls die Intimität sofort zu melden. Bei Zuwiderhandeln drohte den Polen das Todesurteil, den Einheimischen ein Jahr Haft im KZ Dachau. Der Ausdruck zivile Kriegsgefangene ist so zu verstehen, dass die NS-Behörden unter dem Vorwand, dass Polen als eigenständiger Staat nicht mehr existierte, polnische Kriegsgefangene in den Zivilstatus überstellt hatten. So konnten völkerrechtliche Schutzvorschriften einfacher umgangen werden.20
Worauf Hilliges sich noch berief, war der Erlass des SS-Reichssicherheitshauptamtes an die Leitstellen der Staatspolizei vom 8. März 1940. Demzufolge waren polnische Arbeitskräfte im Falle des Geschlechtsverkehrs mit Einheimischen oder unsittlichen Handlungen sofort festzunehmen und dem Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS fernschriftlich zu melden, um eine „Sonderbehandlung“ zu erwirken. Damit war gemeint: Die regionale Gestapoführung musste die Anordnung von Berlin einholen, die „Täter“ zu erhängen oder im minderschweren Fall in ein Konzentrationslager zu deportieren. Das Reichssicherheitshauptamt forderte die Ämter der NSDAP auf, aktiv zu werden. Dem kamen in Kirchbichl der Ortsgruppenleiter, der Blockleiter und ein SS-Sturmbannführer diensteifrig nach. Das SS-Reichssicherheitshauptamt ordnete zudem ganz im Sinne der Vorstellungen Himmlers an, „die Auswirkungen einer berechtigten Empörung der deutschen Bevölkerung über ein derartiges schändliches Verhalten“ der Frauen nicht zu verhindern. Ihre öffentliche Diffamierung, kahlgeschoren mit einem Schild um den Hals durch die Ortschaft geführt zu werden, schätzte Berlin als außerordentlich abschreckend ein.21 In Bayern und anderen reichsdeutschen Gauen, aber auch in Oberösterreich fanden derartige Exzesse wiederholt statt.22 In Tirol ist kein derartiger Vorfall bekannt. Der Chronist von Kufstein, Fritz Kirchmair, erhielt zwar die Auskunft von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, dass Hedwig Schwendter und Annemarie Edenhauser einer derartigen Tortur ausgesetzt waren. Doch davon findet sich kein einziger Anhaltspunkt in den erhalten gebliebenen zeitgenössischen Quellen, den Aussagen der Betroffenen und den umfangreichen Erhebungen des französischen Militärtribunals nach dem Krieg.
Im Frühjahr 1940 startete die NSDAP eine Propagandakampagne, um die neuen Bestimmungen in der Bevölkerung bekanntzumachen. Alle Bauernhöfe, auf denen ausländische Arbeitskräfte beschäftigt waren, erhielten das Merkblatt „Wie verhalten wir uns gegenüber den Polen“ zum Unterschreiben:
„Haltet das deutsche Blut rein! Das gilt für Männer wie für Frauen! So wie es als größte Schande gilt, sich mit einem Juden einzulassen, so versündigt sich jeder Deutsche, der mit einem Polen oder einer Polin intime Beziehungen unterhält. Verachtet die tierische Triebhaftigkeit dieser Rasse! Seid rassenbewußt und schützt eure Kinder. Ihr verliert sonst euer höchstes Gut: Eure Ehre.“23
„Deutsche Frauen und Mädchen! Deutsche Männer! Wahret eure Würde gegenüber allen Fremdarbeitern“. Ab 1940 erhielten Ämter, Behörden und Parteidienststellen eine Fülle von Merkblättern, die das Verhalten gegenüber ausländischen Arbeitskräften regelten.
Merkblätter waren generell allen einheimischen Arbeitskräften und Unternehmen zu übergeben bzw. öffentlich anzuschlagen. Betriebs- und Lagerführer hatten die Einhaltung der Bestimmungen zu kontrollieren, in den Augen von Behörden und Gestapo waren viele von ihnen zu inkonsequent.24 Diese Unzufriedenheit drückte sich in einem „Merkblatt für das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern“ aus, das an alle Tiroler und Vorarlberger appellierte: „Unsere schöne Heimat braucht deutsche Kinder! Ihr werdet nicht wollen, daß einst die Kinder fremder Völker in eurem Land leben, denn dann wäre unser Kampf umsonst!“ Doch der „verbotene Umgang“ war ein Massendelikt, besonders zu kämpfen hatten Partei, Behörden und Gerichte mit der Einstellung gegenüber Franzosen. Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Innsbruck hielt in seinem Lagebericht im Sommer 1941 fest:
„Die Verfahren wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen haben eher zugenommen. Sie betreffen fast durchwegs den Umgang mit französischen Kriegsgefangenen und man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass bei der Bevölkerung eine strenge Beurteilung solcher Verfehlungen wohl bei Polen, nicht aber bei Franzosen gebilligt wird. (…) Die Verfahren betreffen durchwegs eine Annäherung an französische Kriegsgefangene durch Frauen in sexueller Beziehung.“25
Im Dezember 1941 ergänzte der Generalstaatsanwalt:
„Nach wie vor stellt das weibliche Geschlecht den überwiegenden Prozentsatz der Übeltäter. (…) Die Oberstaatsanwälte und ihre Sachbearbeiter sind auf Grund einer von mir erteilten Weisung bemüht, der falschen Ansicht, der unerlaubte Verkehr mit französischen Kriegsgefangenen sei nichts Verwerfliches, entgegenzutreten. Da aber nach mir zugekommenen Berichten die französischen Kriegsgefangenen tatsächlich eine bevorzugte Behandlung erfahren, ist es schwer, die Bevölkerung eines anderen zu belehren.“26
Tatsächlich betrafen drei Viertel der Verurteilungen von Frauen durch das Sondergericht Innsbruck wegen intimer Beziehungen französische, ein knappes Viertel serbische Staatsangehörige.27 Einheimische Männer kamen durchwegs ungeschoren davon. Dieser Befund deckt sich mit Forschungsergebnissen aus Oberösterreich.28
Das Oberkommando der Wehrmacht vereinbarte mit dem SS-Reichssicherheitshauptamt, polnische und sowjetische Kriegsgefangene bei Intimverkehr mit Einheimischen zu entlassen und sie der Gestapo zu überstellen. Wenn Rassegutachter sie nicht als eindeutschungsfähig einstuften, fällte ein Schnellgericht der Gestapo zwei Urteile: Deportation ins KZ oder Tod am Galgen. Waren Kriegsgefangene anderer Nationen betroffen, wurden sie – im Gau Tirol-Vorarlberg über das Stammlager XVIII C Markt Pongau – vor ein Feldkriegsgericht gestellt und zu Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt, in der Praxis waren es bis zu drei Jahren. Die Verhängung von Todesstrafen war die Ausnahme.29
Vorurteile gegenüber Franzosen waren in der Bevölkerung bei weitem nicht so ausgeprägt wie gegenüber Polen oder Angehörigen der Sowjetunion. Daher fiel die propagandistische Formel vom „Schutz des eigenen Blutes“ bei ihnen nicht so sehr auf fruchtbaren Boden. Die Gaupresse veröffentlichte einige Urteile des Sondergerichts. Sie sollten die Bevölkerung belehren, die Frauen an den Pranger stellen und abschreckend wirken.
In allen Gemeinden pflegte die NSDAP einen „Pressekasten“, in dem sie die ihr wichtig erscheinenden Nachrichten veröffentlichte. Von Berlin und aus dem Innsbrucker Gauhaus kamen Anweisungen, welche Informationen und Verlautbarungen unbedingt im Pressekasten auszuhängen waren, um sie „bis an den letzten Volksgenossen“ heranzutragen.30 Das Gauverfügungsblatt war ein wichtiges partei-internes Kommunikationsorgan für den vertraulichen Dienstgebrauch. Es enthielt alle Anordnungen aus dem Innsbrucker Gauhaus und wurde allen Hoheitsträgern der NSDAP zugesandt. Gauleiter Franz Hofer ordnete an, „alle Sondergerichtsurteile, die den Verkehr deutscher Frauen oder Männer mit Kriegsgefangenen oder Fremdvölkischen betrafen, in diesem Gauverfügungsblatt abzudrucken.31 Das Amt für Rassenpolitik übernahm daraufhin die Aufgabe, dem Blatt die Namen der Frauen, die „sich in verbotener Weise mit Kriegsgefangenen bzw. Fremdvölkischen eingelassen haben“, zur Verfügung zu stellen. Der Gaupresseamtsleiter wies die Ortspressebeauftragten an, die Verlautbarungen eine Woche lang im Pressekasten auszuhängen, sofern sie die eigene Gemeinde oder eine des Kreises (= Bezirks) angingen.32 Der Gauschulungsleiter beauftragte seine Untergebenen in den Kreisen, den Kreisleiter auf die Urteile aufmerksam zu machen und mit ihm gemeinsam „dafür zu sorgen, daß solche Vorkommnisse auch schulungsmäßig in richtiger Weise behandelt werden“.33
Links: Vierfache Mutter und Ehefrau eines Frontsoldaten: Hemmungslose Schändung der Ehre des deutschen Volkes (Innsbrucker Nachrichten, 19.11.1942, S. 3) – Rechts: Eine verheiratete Frau: „noch dazu mit einem Serben“ (Innsbrucker Nachrichten, 5.3.1943, S. 3)
„(…) wird zeitlebens den Vorwurf tragen müssen, als Verlobte und Schwester deutscher Soldaten einem fremdvölkischen Bastard das Leben gegeben zu haben.“ (Innsbrucker Nachrichten, 28.1.1943, S. 3)
Die Frauenwürde und die nationale Ehre beschmutzt (Innsbrucker Nachrichten, 19.2.1943, S. 6)
Die Nationalsozialisten äußerten nicht nur allgemeine Sicherheitsbedenken, wenn die Einheimischen sich nicht klar genug von den Ausländern abgrenzten. Sie fürchteten, außereheliche Verhältnisse deutscher Frauen würden die Stabilität der Familien gefährden und sich negativ auf die Kampfmoral der im Kriegseinsatz stehenden deutschen Soldaten auswirken. Vor allem ging es ihnen um die Verwirklichung ihrer rassistischen Bevölkerungspolitik, um die Vermeidung der Gefahr der „Rassenvermischung“ durch „minderwertige“ Volksgruppen und die Bedrohung der „Blutreinheit“ des deutschen Volkes. Die Rolle der deutschen Frau war es, so viele gesunde, deutsch-arische Kinder wie möglich auf die Welt zu bringen. Daher kam ihr eine besondere Rolle zu, die „Rassenreinheit“ zu gewährleisten. Schließlich galt der weibliche Körper als Einfallstor einer befürchteten Blutsvermischung, er sicherte die nationale Identität und somit die Ehre des deutschen Volkes. Diese rassistische Sexualmoral gegenüber Frauen war anschlussfähig an traditionelle christliche und moderne bürgerliche Moralvorstellungen, die ebenfalls eine positive Identifikation von Frauen mit sexueller Lust ausschlossen, ganz besonders in außerehelichen Beziehungen.34 Im Gau Tirol-Vorarlberg waren diese Traditionen besonders stark verankert. Frauen, die Verhältnisse zu Ausländern eingegangen waren, stellten staatliche und männliche Ordnungsvorstellungen in Frage. Daher fanden sich genügend Parteigenossen, Arbeitskolleginnen und Nachbarn, die zur Denunziation bereit waren. Ohne breite Unterstützung in der Bevölkerung hätte der verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern nicht aufgedeckt werden können. Viele kamen dem Aufruf des Regimes freudig nach, die Pflicht gegenüber der NS-Volksgemeinschaft zu erfüllen und Frauen anzuzeigen. Die Diktatur war deshalb so erfolgreich, normabweichendes Verhalten zu unterbinden und Widerstand geringzuhalten, weil die Bevölkerung sich selbst so wirksam überwachte, wie dies weder der Terrorapparat noch die Parteifunktionäre allein zuwege gebracht hätten. Dabei ging es häufig gar nicht um die Durchsetzung staatspolitischer Interessen. Sexualneid und sexuelle Projektionen waren ausschlaggebend dafür, dass das soziale Umfeld stellvertretend für den Ehemann Kontrolle ausübte. Die strenge Bestrafung war oft nichts weiter als die Rache der Gekränkten an Frauen, die den Fremden und den Feind bevorzugt oder zumindest attraktiv gefunden hatten. Diese Frauen sollten sich ihrer Sexualität schämen und beschämt werden.35 Umgekehrt war es undenkbar, dass die unzähligen deutschen und österreichischen Soldaten, die in den von ihnen eroberten Ländern Bordelle besuchten, Liebesund Sexualverhältnisse pflegten, vergewaltigten und hunderttausende Kinder zeugten, wegen dieses Massenverhaltens öffentlich gedemütigt worden wären. Die Soldaten durften vom Kusse Maruschkas singen, des allerschönsten Kindes „In einem Polenstädtchen“. Derartige Gesangsstücke waren Bestandteil eines Liederbuchs der Deutschen Wehrmacht.36 Die sexuellen Bedürfnisse von Männern galten als naturgegeben, deutsche Soldaten sollten ihre Sexualität ausleben können, um ihre Kampfkraft aufrechtzuerhalten. Eine Richtertagung im Mai 1943 in München gestattete sogar, was allem Anschein nach nicht zu verhindern war: „Geschlechtsverkehr mit andersrassischen Frauen“ an der Front.37
Die NSDAP veröffentlichte im Gauverfügungsblatt die Urteile des Sondergerichts Innsbruck mit den Namen der Frauen, die sich im NS-Juristendeutsch des „GV-Verbrechens“ schuldig gemacht hatten. Die Definition des Delikts „Geschlechtsverkehr“ war weit gesteckt. Bei einigen Frauen lagen Beweise vor, bei anderen lediglich Verdachtsmomente und Indizien. Für schärfste Verfolgungsmaßnahmen reichten romantische Schwärmereien und eine platonische Zuneigung, harmlose Liebeleien und eine bloße Bekanntschaft.
In Sierning bei Steyr berichtete die Gendarmerie, dass in der Bevölkerung nach der Hinrichtung eines Polen Stimmen laut geworden waren, die „auch die betreffende Frauenperson auf gleiche Art unschädlich“ machen wollten, „weil doch in den meisten Fällen und gerade auch in diesem Fall die Frauenperson die Hauptschuldige ist“.38 In Kempen, Nordrhein-Westfalen, stellten die Düsseldorfer Behörden fest, es herrsche „in der Bevölkerung Unmut darüber (…), daß nicht auch gegen das deutschblütige Mädchen vorgegangen werde“.39 Eine ähnliche Stimmung gab es auch im Raum Kirchbichl nach der Exekution von Stefan Widla und Jan Kosnik, wenn man den Berichten von Gendarmerie und von lokalen Nazis Glauben schenken kann. Die rigorose Bestrafung des sexuellen Kontakts zwischen deutschen Frauen und Ausländern war eine Konsequenz der rassistischen Politik des Nationalsozialismus, sie dürfte aber auch tatsächlich „dem Volksempfinden“ eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung entsprochen haben.
Das Sondergericht Innsbruck verurteilte Frauen wegen verbotenen Umgangs mit Ausländern zu Gefängnisstrafen von mehreren Wochen bis zu einem Jahr, abzusitzen in Innsbruck und im oberbayrischen Rothenfeld oder in den Jugendgefängnissen im niederösterreichischen Hirtenberg und in Frankfurt am Main. Zuchthausstrafen reichten von einem bis zu vier Jahren. Sie waren vor allem im bayrischen Aichach abzubüßen.40 Das Strafausmaß lag im Ermessen des Richters, der Spielraum bei seinen Entscheidungen war beträchtlich.41 Bereits die Veröffentlichungen in der Tiroler Presse und im Gauverfügungsblatt42 zeigen, dass Mütter, Ehefrauen und Schwestern von Frontsoldaten härtere Urteile zu erwarten hatten. Ebenso Frauen, die in einer verbotenen Beziehung schwanger wurden.
Im Konflikt um die Abgrenzung der Befugnisse von Gestapo und Justiz setzte sich die Gestapo durch, ausschlaggebend war das staatspolizeiliche Interesse bei der Bekämpfung der Gefahren, die sich aus dem massenhaften Einsatz ausländischer Arbeitskräfte ergaben. Die Gestapo konnte in hohem Maß selbst definieren, wann ein staatspolizeiliches Interesse bzw. ein „schweres Delikt“ vorlag.43 Waren bei den „GV-Verbrechen“ Polen oder „Ostarbeiter“ beteiligt, kam nur eine „Sonderbehandlung“ in Frage. Diese Fälle wurden vor keinem Gericht verhandelt. Die Gestapostellen erhielten von der Zentrale in Berlin in der Regel zwei Anordnungen: Hinrichtung oder Einweisung in ein Konzentrationslager. Die einheimischen Frauen deportierte die Gestapo ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Auffallend in Tirol ist, dass Hedwig Schwendter und Annemarie Edenhauser, aber auch Viktoria Müller44 und Therese Monz45, ihnen allen wurden sexuelle Beziehungen mit Polen bzw. einem „Ostarbeiter“ nachgesagt, ins KZ Auschwitz deportiert wurden, drei von ihnen waren vorher im KZ Ravensbrück. Über Therese Monz berichteten die Innsbrucker Nachrichten und auch die österreichweit erscheinende Kleine Volks-Zeitung: „Polenliebchen kommt ins Konzentrationslager“.46
Stefan Widla und Jan Kosnik waren nicht die Einzigen, die in Tirol wegen „verbotenen Umgangs“ erhängt wurden. Die Gestapo exekutierte Marian Binczyk am 22. Juli 1942 in Dölsach-Göriach, Michaïl Dzula, Angehöriger der ukrainischen Minderheit in Polen, am 1. August 1942 in Sillian.47
Ein weiterer Fall ist Stanisław Hujar, geboren am 29. Jänner 1914 in Burzenin48, einem kleinen Dorf rund 60 Kilometer südwestlich von Łódź, wohnhaft im Dorf Bronowice,49 das die deutschen Besatzer 1941 in die Stadt Krakau eingemeindeten.50 Er war ledig, römisch-katholisch und von Beruf Koch, in der Schreibstubenkarte des KZ Dachau ist auch Maurer angegeben,51 wohl die letzte Profession, die er beim Bau des Innkraftwerks Kirchbichl ausgeübt hatte. In der Chronik der Gendarmerie scheint Hujar irrtümlich als einer der Erhängten von Kirchbichl auf. Daher wurde er immer wieder mit Jan Kosnik verwechselt. Maria Westermair lernte Hujar am 12. November 1939 bei einem Spaziergang in Kufstein kennen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch privat wohnen, erst später musste er ins Lager Kirchbichl umziehen.52
Maria Westermair und ihre Schwester Berta trafen Hujar und seine Kollegen Kosnik und Widla mehrmals bei Tanzveranstaltungen im Café Auracher in Kufstein. Am 4. Mai 1940 verhaftete die Stadtpolizei sowohl Maria Westermair als auch Stanisław Hujar. Am 20. September erfolgte die Festnahme von Marias Schwester Berta, weil bei Jan Kosnik Fotos gefunden worden waren, die sie beide mit Bertas Schwester Mathilde zeigten. Nach 19 Tagen Haft in Innsbruck kam Berta frei.53 Hujar und Maria Westermair wurden zwei Monate im Gefängnis des Amtsgerichts Kufstein festgehalten. Am 1. Juli 1940 überstellte die Gestapo Westermair ins Polizeigefängnis nach Innsbruck, am 4. Juli fuhr sie ab ins KZ Ravensbrück. Da ihr und Hujar kein intimes Verhältnis nachgewiesen werden konnte, kam sie bereits am 20. August frei, wurde aber gleich bei ihrer Rückkehr noch im Zug in Kufstein festgenommen. Grund erfuhr sie keinen. Bis zum 20. September saß Maria Westermair im Innsbrucker Polizeigefängnis ein, dann war sie endgültig wieder in Freiheit.54
Obwohl die Gestapo nach den Verhören davon ausging, dass Stanisław Hujar und Maria Westermair keinen Geschlechtsverkehr hatten und „nur mehrfache andere Zärtlichkeit in Betracht“ kam,56 deportierte sie Hujar am 8. August 1940 ins KZ Dachau.57 Er kam dort am 10. August 1940 an.58 Die französischen Untersuchungsbehörden fanden in der Gendarmerie Kirchbichl ein Repertorium, in dem verzeichnet war, dass Hujar sich früher schon am Posten hatte einfinden müssen – wegen Arbeitsverweigerung und seiner Ablehnung, das stigmatisierende Polenabzeichen zu tragen.59 Nach der Überstellung von Hujar nach Dachau korrespondierten seine Schwester Anna, die im brandenburgischen Landkreis Uckermark arbeitete, und Berta Westermair noch einige Zeit miteinander. Berta schickte Anna die Kleidung von Stanisław, Anna berichtete Berta, dass der Bruder im Jänner 1942 im KZ Dachau verstorben war.60 Tatsächlich war er nur sechs Tage lang in Dachau interniert, am 16. August 1940 wurde er ins KZ Mauthausen überstellt. Am 22. Oktober 1941 kam Stanisław Hujar im KZ Gusen, einem Außenlager von Mauthausen, ums Leben.61
Maria Westermairs Schwester Berta mit Stanisław Hujar im Winter 1939/4055
Hedwig Schwendter und Annemarie Edenhauser überlebten die KZ Ravensbrück und Auschwitz. Edenhauser war aber gesundheitlich angeschlagen und lebte stets in materiell sehr bescheidenen Verhältnissen. Jahrelang musste sie darauf warten, als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden und finanzielle Entschädigung zu bekommen. Ihr über sechs Jahre laufendes Opferfürsorgeverfahren zeigt die Hürden, die Frauen wie sie zu überwinden hatten, um zu ihrem Recht zu kommen.
Inhaftierungsdokument des KZ Dachau 194062
Die zunehmend härteren Arbeitsbedingungen und Übergriffe des Terrorapparates – Folterungen, Hinrichtungen und Deportationen in Lager – ließen nicht nur die Zahl der Fluchten von Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitskräften steigen. Zu Kriegsende entstanden sogar Widerstandsbewegungen. Sie stellten letzten Endes zwar keine reale Gefahr für das NS-Regime dar, doch sie schürten Ängste vor großen Aufständen, die schon zu Beginn des Ausländerarbeitseinsatzes im Deutschen Reich aufgetaucht waren. Daher galt es aus der Sicht der NS-Diktatur mit aller Härte und Rücksichtslosigkeit vorzugehen, bevor das Millionenheer von Kriegsgefangenen und „Fremdarbeitern“ sich organisieren und losschlagen konnte.
Im Juni oder Juli 1944 hob die Gestapo Innsbruck eine französische Widerstandsbewegung und ihren vermutlichen Anführer Jacques Lenglet aus. Die Zahl der Verhafteten, die ins Lager Reichenau gebracht wurden, rund 100 Personen, unter ihnen 75 französische Staatsangehörige, war zwar beeindruckend. Bei den Verhören stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Großteil der Festgenommenen gar nichts mit dem Widerstand zu tun hatte. Der Leiter des Schutzhaftreferates der Staatspolizeistelle Innsbruck, Ludwig Tiefenbrunner, bezeichnete die Aktivitäten der Gruppe nach dem Krieg als eine „ganz harmlose Sache“.