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Horst Schreiber

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Beschreibung

Horst Schreiber entwirft ein neues, überaus facettenreiches Bild der Endzeit nationalsozialistischer Herrschaft in Tirol. Der Autor beschreibt die Attraktivität und das Grauen des Krieges, Leid und Trauer an der Heimatfront sowie das Kriegsende in den Bezirken und die Befreiung Innsbrucks. Als der Mythos von Hitler verblasst war, regierte das Regime nur noch mit Terror gegen die eigene Bevölkerung. Das Buch untersucht den Blick der Einheimischen auf die US-amerikanischen und französischen Besatzer, auf Tirolerinnen mit intimen Beziehungen zu den ausländischen Befreiern, auf Flüchtlinge und Vertriebene, denen man vorwarf, was man selbst tat: Plündern. Horst Schreiber legt die Erfahrungen unzähliger Menschen offen. Sie zeigen, wie unterschiedlich Verfolgte und Befreite, Täter und Beteiligte, Soldaten und Kriegsgefangene, Frauen und Kinder das Ende des Nationalsozialismus und die Zeit nach dem Krieg erlebten.

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Horst Schreiber

Endzeit

Veröffentlichungen desInnsbrucker Stadtarchivs,Neue Folge 69

INNS’BRUCK

STUDIEN ZU GESCHICHTE UND POLITIK

Band 26

herausgegeben von Horst SchreiberMichael-Gaismair-Gesellschaft

www.gaismair-gesellschaft.at

Horst Schreiber

Endzeit

Krieg und Alltag in Tirol 1945

Michael Wagner Verlag

INHALT

EINLEITUNG

1939: MÖGLICHKEITEN

Anton Beck: Sozialer Aufstieg in der Leibstandarte SS Adolf Hitler

Hermann Gmeiner: Identifikation mit der Wehrmacht

Kriegsverbrechen und Widerstand

1943: ANGST

Stalingrad, Tunisgrad und die Juden

Die Italiener: ein »Schweine- oder Lumpenvolk«

Jugendliche an die Flak

Sirenen, Bomben, Luftschutzstollen: Krieg in Tirol

1944: BESCHWÖRUNG

»Dieser Ausbruch von Leid, die Schreie des Elends«

»Auch im Kriege vergessen wir unseren Sozialismus nicht!«

»Haben Sie Löwenzahn zum Salat schon versucht?«

»Wie lange können wir das noch durchhalten?«

»Das Schicksal erhielt uns unsern Führer!«

1944: MOBILISIERUNG

»Zehn Millionen deutscher Frauen stehen in der Arbeit – Was tust du?«

Die Aufgabe der Schule: Den Krieg gewinnen

Jugend und Frauen: Jede freiwillige Meldung ein Beitrag zum Sieg

Das letzte Aufgebot: »Bei uns in Tirol heißt es: Wir kapitulieren nicht, wir schießen!««

Resignation und Hoffnung, Panikmache und Hass

1945: ERSCHÖPFUNG

Durchhalteparolen

Sehnsucht nach Frieden – der Krieg ist verloren

Angstpropaganda

Ein Leben im Bunker

Das Ende der Volksgemeinschaft

1945: TERROR

Sondergericht und Volksgericht

Folter in der Herrengasse – Exekutionen in der Reichenau

Die »Feigheits-Seuche«: Jagd auf Deserteure

Militärgerichtsbarkeit: Erschießungen am Paschberg

Todesmarsch jüdischer KZ-Häftlinge aus Dachau

1945: DAS KRIEGSENDE IN DEN BEZIRKEN

Lienz

Landeck

Kitzbühel

Kufstein

Schwaz

Reutte

Imst

Innsbruck-Land

Innsbruck

1945: NACH DEM KRIEG

Erfahrungen und Perspektiven

Soldaten

Befreier und Besatzer

Wir und die anderen

ANHANG

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Fünfundsiebzig Jahre nach der totalen Niederlage des Deutschen Reiches liegt erstmals eine Studie vor, die die Endzeit des Nationalsozialismus in Tirol analysiert, den Schwerpunkt auf den Alltag der Menschen legt, ihre Wahrnehmungen und Reaktionen, kollektiv oder individuell, miteinbezieht und in den Gesamtprozess des Untergangs der NS-Diktatur einbettet.

Um die Mikroebene des Handelns auszuleuchten, musste die bisherige Forschungsliteratur in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt und eine literarischere Darstellung als üblich gewählt werden, die die traditionelle, nüchterne Wissenschaftssprache ergänzt und fallweise auch durchbricht. Es galt, Tagebücher und Briefe zu durchforsten und vielfältige Formen der Erinnerungen und Interpretationen in alten wie neuen Dorf- und Heimatbüchern zu heben. Chronistinnen und Chronisten steuerten wertvolle Quellen bei, besonders die Chronisten Bibliothek Mötz. Von unschätzbarem Wert war die Sammlung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, die zahlreiche Dokumente aus und über Tirol aufbewahrt.

Die Tirolerinnen und Tiroler waren über den Ausbruch des Krieges nicht erfreut, die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs waren noch lebendig und die Angehörigen der NS-Volksgemeinschaft wollten die Vorteile und Angebote der Diktatur ungestört nutzen, auch wenn ihre verbrecherische Seite von Anfang an sichtbar war. Das Regime verzichtete auf Jubelfeiern, seine Erzählung war die des Krieges, der dem Deutschen Reich aufgezwungen worden war. In den ersten Jahren nahmen viele Soldaten den Krieg als Reiseunternehmen wahr, als Gelegenheit, die Welt kennenzulernen, die Besatzungszeit zu genießen, intime Beziehungen mit Frauen des Feindes einzugehen und Pakete mit allerlei Kostbarkeiten nach Hause schicken zu können. Die Blitzsiege der Wehrmacht erzeugten eine euphorische Stimmung in Tirol und an der Front, Hitler stieg zu einer geradezu gottähnlichen Erscheinung auf, die Zustimmung zum Nationalsozialismus war schwindelerregend hoch. Von all dem ist im ersten Kapitel die Rede. Es zeigt am Beispiel von Anton Beck und Hermann Gmeiner die Möglichkeiten, die NS-Herrschaft und Krieg boten. Der eine ergriff mit dem Eintritt in die Leibstandarte SS Adolf Hitler die Chance, tiefer Armut und Perspektivenlosigkeit zu entgehen. Der andere identifizierte sich mit seinem Soldatendasein, mit tiefempfundener Kriegskameradschaft und mit Deutschland als Vaterland, obwohl er dem National-sozialismus fernstand. Bereits im Feldzug gegen Polen waren Tiroler Soldaten an Kriegsverbrechen beteiligt. Einzelne verweigerten sich dem, bis hin zum Bruch mit dem Regime und der Wehrmacht.

Das zweite Kapitel thematisiert die verheerenden militärischen Niederlagen in Stalingrad und Nordafrika, aber auch den Massenmord an italienischen Soldaten nach dem Frontwechsel Italiens. Im Dezember 1943 war es dann soweit. Der Krieg erreichte Tirol, von nun an fühlte sich ein großer Teil der Bevölkerung seines Lebens nicht mehr sicher. So wie Otto Spero, der nach einem Bombenangriff auf sein Flakgeschütz in Innsbruck den Tod vieler Kameraden beklagte, dachten viele: »Machtlos stand ich am Friedhof und traurig war ich auch. Ich stellte mir die Frage, wie viele Menschen werde ich noch sterben hören, sehen, und wann werde ich dran sein, schon morgen, in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr vielleicht?«

Das dritte Kapitel (Beschwörung) verdeutlicht das Bemühen des NSRegimes, die Angehörigen der Volksgemeinschaft an die Errungenschaften des Nationalsozialismus zu erinnern. Es erneuerte seine Zukunftsversprechen und stellte ein goldenes Zeitalter nach gewonnenem Krieg in Aussicht. Dennoch verdüsterte sich die Stimmung zusehends, tiefe Zweifel am Endsieg erfassten in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 sogar Kernschichten der nationalsozialistischen Anhängerschaft. Das Attentat auf Hitler gab zwar dem verblassenden Führer-Mythos wieder Auftrieb, allerdings nur mehr kurzfristig. Männer, Frauen, Alte und Junge erfüllten weiterhin ihre Pflicht, wenngleich immer mehr mit immer weniger Begeisterung und Zuversicht. In Tirol hungerten ausländische Zwangsarbeitskräfte und Gefangene des Arbeitserziehungslagers Reichenau. Die Einheimischen fanden ihr Auslangen, nicht zuletzt deshalb, weil anderswo Menschen elend zugrunde gingen und der systematische Lebensmittelraub in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten den Tirolerinnen und Tirolern zugutekam. Aufwändig inszenierte Heldengedenkfeiern, Weihestunden für die Gefallenen, provisorisch errichtete Kriegerdenkmäler und Heldenbücher konnten mit zunehmenden Kriegsjahren über den Verlust der Ehemänner, Söhne, Verwandten und Bekannten immer weniger hinwegtrösten. Auch Jahrzehnte nach dem Krieg sind manchem Tiroler, der damals noch Kind war, »die Schreie des Elends« schmerzlich gegenwärtig, wenn die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen eintraf.

Im Sommer 1944 rückten die Alliierten so schnell vor, dass das Deutsche Reich kurz vor seinem Zusammenbruch stand. Das vierte (Mobilisierung) und fünfte Kapitel (Erschöpfung) zeigen, wie es diese tiefe Krise überwand, welche Verschiebungen damit im Zentrum der nationalsozialistischen Macht einhergingen, auf welche propagandistische Mittel das Regime setzte und in welch schockierendem Ausmaß es die Bevölkerung zu mobilisieren verstand. Ohne Zwangsarbeit ging gar nichts mehr und auch nicht ohne die Arbeitskraft und den militärischen Einsatz Minderjähriger. Nicht nur die Loyalität der Soldaten im Feld verlängerte einen längst verlorenen Krieg, sondern auch der enorme Beitrag von Frauen an der Heimatfront, ob sie ihn nun freiwillig oder unfreiwillig leisteten. Die Mobilisierung der letzten Reserven verlangte der Bevölkerung zeitweise Unmenschliches ab. Das Leben in Tirol wurde immer mühseliger, nervenzehrender, freudloser und schließlich, unter dem Eindruck des Bombenkrieges, geradezu unerträglich.

In der letzten Phase der nationalsozialistischen Herrschaft ging die Solidarität deutlich zurück, die Volksgemeinschaft zeigte tiefe Risse, immer mehr rückten die eigenen Interessen in den Vordergrund, auch unter denjenigen in der Partei, die die Volksgenossinnen und Volksgenossen auf einen Kampf bis zum Äußersten einstimmten. Nun führte das Regime den Tirolerinnen und Tirolern vor Augen, dass eine Niederlage im Krieg Versklavung bedeuten würde, die Ausrottung durch das internationale Judentum. Die NS-Diktatur und die von ihr gelenkte Presse brachten alle Kriegsereignisse in Zusammenhang mit diesem antisemitischen Deutungsrahmen: Die Juden mussten vernichtet werden, bevor sie Deutschland vernichteten, daher blieb nichts Anderes übrig, als den Krieg so lange zu führen, bis er gewonnen war.

Die Nationalsozialisten verließen sich in der Endphase nicht auf Angstund Durchhalteparolen, geschweige denn auf ihre längst verlorene Anziehungskraft. Das einzige Mittel, das ihnen noch ein Überleben sicherte und das Kriegsende hinauszögerte, war der nackte Terror. Das sechste Kapitel legt diese Gewaltherrschaft in der Provinz auf allen Ebenen offen, in der Gerichtsund Militärjustiz, in der Partei und Gestapo bis hin zum Todesmarsch jüdischer KZ-Häftlinge aus Dachau durch einzelne Ortschaften Tirols.

Die letzten Tage des Krieges, in denen es hierzulande noch zu Bodenkämpfen kam, zogen die Regionen Tirols in sehr unterschiedlichem Maß in Mitleidenschaft. Darauf geht das Kapitel über das Kriegsende in den Bezirken ein. Auch wenn auf einheimischer und gegnerischer Seite noch zahlreiche Tote zu beklagen waren, stand der Ausgang der Gefechte im Vorhinein fest. Die deutsche Armee war im Prozess des Zerfalls, die Kräfte, die Tirol noch verteidigen sollten, waren schwach und schlecht motiviert, Ausrüstung und Kriegsgerät nur noch mangelhaft vorhanden und die von Gauleiter Franz Hofer mit viel Aufwand und Inszenierung zusammengestellten Standschützen ohne Kampfmoral. Eine Alpenfestung, in der sich deutsche Elitesoldaten mit modernen Waffen zurückgezogen hätten, bereit zum erbitterten Widerstand, existierte nur am Reißbrett. Der Gauleiter unternahm mehrere Versuche, mit den Amerikanern in Kontakt zu treten, um einen Deal auszuhandeln, der sein politisches Überleben und das seiner Familie sicherte. Das Hirngespinst einer Alpenfestung war einer davon. Hofers Verhalten zu Kriegsende wird in diesem Kapitel einer detailreichen Analyse unterzogen.

Der Anteil des Tiroler Widerstandes an der Befreiung Innsbrucks war im Vergleich zur Entwicklung in anderen deutschen und österreichischen Städten etwas Besonderes. Voraussetzung dafür war der Einmarsch der Alliierten, ohne deren militärische Macht hätte die Widerstandsbewegung im Land nicht handeln können. Unter diesen Rahmenbedingungen ergriffen Männer wie Karl Gruber, Ludwig Steiner oder Werner Heine die Initiative und nutzten die Chance zu einer Machtübernahme im letzten Augenblick, als das NS-Regime sich bereits in Auflösung befand und seine Anführer dabei waren, zu flüchten. Der Umfang und die Qualität der widerständigen Aktivitäten von drei Agenten im Dienst des US-amerikanischen Geheimdienstes sind erst seit kurzem durch die Forschung von Peter Pirker ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gelangt. Der Tiroler Deserteur Franz Weber sowie Fred Mayer und Hans Wijnberg, beide jüdischer Herkunft, leisteten einen gewichtigen Beitrag für die Befreiung der Landeshauptstadt.

Das letzte Kapitel reflektiert die Bedeutung des Kriegsendes im internationalen Kontext und präsentiert aus dem regionalen Raum Beispiele von Individuen und Kollektiven, deren Erfahrungen und Perspektiven unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist eine Gefangene des Konzentrationslagers Ravensbrück, die niemand abholte, da sind Jenische, auch Roma, Sinti und wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgte, die überlebt hatten, jedoch weiter gedemütigt und diskriminiert wurden, als ob die NSHerrschaft nie zu Ende gegangen wäre. Nicht zu vergessen die Deserteure und alle von Militärgerichten Verurteilte: Kurze Zeit waren sie nützlich, um die kritische Haltung von Tirolern gegenüber dem Nationalsozialismus und der Wehrmacht zu betonen und den Anspruch Österreichs auf Freiheit und Unabhängigkeit zu legitimieren. Doch es dauerte nicht lange, bis sie verachtet wurden, gebrandmarkt als Feiglinge und Verräter. Ebenso wenig Anerkennung fanden die Frauen von Widerstandskämpfern. Sie blieben Außenseiterinnen im Dorf, die für sich und ihre Lieben ums tägliche Überleben kämpfen mussten. Breiten Raum nehmen jüdische Opfer ein: Die Handvoll, die sich in Tirol verbergen konnte, Vertriebene, die als alliierte Soldaten hier kurz Halt machten, Überlebende, die in einem der vielen Lager knapp dem Tod entronnen waren. Einen Neubeginn in Innsbruck wagten wenige, die meisten blieben der alten Heimat fern oder kehrten ihr bald den Rücken. Für ihr Leben gezeichnet waren sie alle. Was vielen Kriegsheimkehrern zuteilwurde, blieb ihnen verwehrt. Niemand lud sie zur Rückkehr ein, kein Fest erwartete sie mit klingendem Spiel, kein Bürgermeister präsentierte sie stolz am Balkon des Rathauses.

Viele Jugendliche, die begeistert in der Hitlerjugend mitgemacht hatten, für den Nationalsozialismus eingetreten oder als Luftwaffenhelfer herangezogen worden waren, zeigten sich nach dem Krieg vielfach orientierungslos und sprachlos, dafür umso leistungsbereiter. Ihr Idealismus schien entwertet und missbraucht. So wandten sie sich von Politik ab und konzentrierten sich auf Ausbildung, Berufskarriere und Familiengründung. Wettbewerbsorientierung und Leistungswille hatten diese Jugendlichen bereits in der Staatsjugend erlernt. Für Kinder der unteren Klassen, die als Waisen, wegen der fehlenden väterlichen Kontrolle und Verstößen gegen bürgerliche Normen von Besitz, Arbeit und Sexualität in Erziehungsheime eingeliefert wurden, endete die Diktatur auch 1945 nicht. Noch Jahrzehnte waren sie terroristischer Gewalt und systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Für eingefleischte Nationalsozialisten und Führerinnen des Bundes deutscher Mädel brach mit dem Untergang des Dritten Reichs eine Welt zusammen. Die Selbstmordrate stieg, unschuldig verfolgt fühlten sich alle, Verantwortung für ihr Handeln übernahm niemand.

Die Tiroler Soldaten waren in der Wehrmacht gut integriert. Die Gebirgsjäger genossen ihren Elitestatus und die Anerkennung ihrer kriegerischen Heldentaten im hohen Norden. Nach dem Krieg pflegten sie ihre Kameradschaft weiter und beschwiegen, was ihren Ruhm beschmutzen konnte. Ein Teil dieser Soldaten hatte Glück gehabt. Auf verschiedenem Weg gelang es ihnen, einer Gefangennahme zu entgehen oder nur kurze Zeit in der Fremde festgehalten zu werden. Unzählige atmeten auf, weil der Krieg endlich zu Ende war, einige von ihnen auch deshalb, weil die Diktatur hinweggefegt worden war. Ihr Lebensgefühl drückte der spätere Bischof Reinhold Stecher aus: »Ich bin ein Gefangener und habe mich seit Jahren nicht so frei gefühlt wie jetzt.« Eine andere Einstellung, repräsentativ für eine weitere Gruppe ehemaliger junger Wehrmachtssoldaten, brachte Hermann Gmeiner auf den Punkt: »Wir sind durch einen Krieg gegangen, und wir sind in diesem Krieg reif geworden. Wir haben den Zusammenbruch einer Welt erlebt, an die wir junge Menschen irgendwie doch geglaubt hatten. Ich möchte nicht auch verzweifeln. Ich möchte arbeiten und etwas leisten.«

Überaus dominant war das Erleben völliger Demütigung und Machtlosigkeit. Die einst so stolze, unbesiegbar erscheinende Armee war zu Kriegsende nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Sie war schließlich dem guten Willen und den Launen des Feindes ausgesetzt – besiegt, entehrt, entmannt. Die Soldaten konnten nur noch darauf hoffen, nicht so behandelt zu werden, wie Wehrmacht, SS und das deutsche Besatzungsregime die behandelt hatten, in deren Hand sie nun waren. Für viele dieser Soldaten war der Krieg noch lange nicht zu Ende. Die einen starben in der Gefangenschaft, die anderen mussten Jahre ausharren, sei es unter gut erträglichen oder unmenschlichen Bedingungen, bis auch ihnen die Stunde der Freiheit schlug.

Wie der Blick der Einheimischen auf die fremden Soldaten aussah, die sich zu tausenden in Tirol aufhielten, kommt in diesem letzten Kapitel ebenso zur Sprache wie die Frage sexueller Gewalt und intimer Beziehungen zwischen Amerikanern, Franzosen und Marokkanern einerseits und Tiroler Frauen andererseits. Zwar gab es in Tirol keine Massenvergewaltigungen, wohl aber zahlreiche sexuelle Übergriffe. Ein Teil der Besatzungssoldaten wusste die materielle Not in der Bevölkerung zu nutzen, um sexuelle Vorteile daraus zu ziehen. Die Grenzen zwischen Hilfsbereitschaft, Zustimmung auf Augenhöhe und rücksichtsloser Ausbeutung waren fließend. Tiroler Frauen, die Verhältnisse mit amerikanischen und französischen Soldaten hatten, waren rufschädigenden Denunziationen und Repressalien aller Art ausgesetzt, auch seitens anderer Frauen. Noch unerbittlicher in ihrer Aggressivität, moralisierender in ihren Vorwürfen und larmoyanter in ihren Anklagen verratener Liebe und Treue waren Männer, ehemalige Wehrmachtssoldaten, die ihr eigenes Sexualverhalten mit anderen Maßstäben beurteilten: die Liebschaften und Bordellbesuche in den besetzten Gebieten, die vielen sexuellen Grenzverletzungen und Vergewaltigungen. Überall dort, wo sich die Wehrmacht aufgehalten hatte, hinterließ sie eine Heerschar unehelicher Kinder, um die sich die meisten Tiroler und deutschen Soldaten ebenso wenig kümmerten wie die Mehrzahl der ausländischen Besatzungssoldaten um ihre Kinder in Tirol.

Hunger und Wohnungsnot überschatteten die anbrechenden Zeiten des Friedens. Damit verbunden war eine der größten Herausforderungen nach dem Mai 1945: Die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen und Vertriebenen, Zwangsarbeitskräften und Deutschen, die nun zu unerwünschten Fremden erklärt wurden. Wie Einheimische die Fremden wahrnahmen, welche Haltung sie gegenüber den tausenden Jüdinnen und Juden zeigten, die sich auf dem Weg in eine neue Heimat zeitweise in Tirol aufhielten, und in welcher Rolle und Verantwortung sie sich selbst sahen, behandelt der letzte Teil der Ausführungen dieses Buches.

Mein Dank für die Unterstützung zum Zustandekommen dieses Buches gilt dem Land Tirol und der Stadt Innsbruck, dem National- und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich, dem Team des Stadtarchivs Innsbruck, Matthias Egger, Niko Hofinger und Lukas Morscher, Stefan Dietrich vom Medienbüro / Telferblatt der Marktgemeinde Telfs, Helmut Hörmann von der Chronisten Bibliothek Mötz und Günter Müller vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Sabine Pitscheider vom Wissenschaftsbüro Innsbruck, dem Tiroler Landesarchiv, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Museum im Ballhaus Imst, SOS-Kinderdorf Innsbruck, zahlreichen Gemeindearchiven, Chronistinnen und Chronisten Tirols, namentlich: Thomas Albrich, Ludwig Auer, Johann Bachler, Franz Bode, Erwin Cimarolli, Hermann Delago, Reinhold Divisek, Ursula Falger, Peter Fischer, Günter Flür, Christoph Haidacher, Adolf Höpperger, Gisela Hormayr, Josef Kalser, Michael Keuschnick, Ursula Kirchner, Martin Kofler, Richard Lipp, Stefan Lorenz, Alois Lucke, Rudi Manesch, Christian Mathies, Anja Moschen, Sabina Moser, Stefan Mühlberger, Helmut Muigg, Willi Pechtl, Peter Pirker, Anne Saskia Schmutterer, Sabine Schuchter, Wolfgang Schwaiger, Peter Seeber, Wido Sieberer, Monika Singer, Roland Sila, Johann Steiner, Friedrich Stepanek, Franz Treffner, Eva Wallnöfer, Hans Walser, Manfred Wegleiter, Dietmar Wieser, André M. Winter, Franz Ziernhöld und Jakob Zott.

Innsbruck, April 2020Horst Schreiber, _erinnern.at_

1939: MÖGLICHKEITEN

In Leisach war die Freude groß, als die Nazis kamen. Der »Pfeifer Michl«, ein junger Schmied voll Lebenslust, aber arbeitslos, stanzte aus Groschenstücken unzählige kleine Hakenkreuze, die man anstecken konnte. Einer Sache war er sich mehr als sicher, die Zeiten des Wohlstandes waren für die paar Hundert Menschen in seinem winzigen Osttiroler Dorf zum Greifen nahe. Als der Krieg ausbrach, erhielt er als einer der ersten Männer von Leisach die Einberufung. Den Polenfeldzug überstand Michl, dann fiel er im Jahr 1941 in Norwegen. »So erging es auch vielen anderen aus der Gemeinde«, hält Josef Kalser im Heimatbuch von Leisach fest.1

Nach der Machtübernahme habe das NS-Regime ja Positives geleistet, Arbeit gebracht, Straßen, Brücken und Bahnen gebaut. In Serfaus hätte man nicht daran gedacht, wieder aufs Schlachtfeld ziehen zu müssen. »Einmal war der Pfarrer bei uns im Haus«, berichtet Erna Westreicher, »und sagte, dass es keinen Krieg geben wird – zwei Tage später ist aber der Krieg ausgebrochen.2 Im kleinen Dorf Mils bei Imst war es genauso, kaum jemand jubelte, die Menschen zeigten sich ernst und zurückhaltend, oft gar niedergeschlagen. Sie wollten keinen Krieg, sie wollten den wirtschaftlichen Aufschwung genießen.

Dollfuß und Schuschnigg hatten gespart, die Sozialausgaben gekürzt, so das Budget in Ordnung gebracht, Devisen und Gold angehäuft; aber es gab keine Arbeit, die Bauern waren verschuldet, die Gewerbetreibenden und Angestellten fürchteten den sozialen Abstieg, die Touristiker und Industriellen schielten neidisch nach Deutschland, wo hohe Profite lockten. Dann kamen die Nationalsozialisten, stahlen Gold und Devisen aus der Nationalbank, finanzierten große Beschäftigungsprogramme. Sie beraubten die Juden, verfrachteten die gefährlichsten Gegner und alle, die aufmuckten und sich nicht anpassten, in Gefängnisse und Konzentrationslager. Ebenso arme Menschen, die den Mund aufmachten, aufbrausten, nicht dort arbeiten wollten, wo die Nazis sie hinstellten oder einfach, weil sie einer Gruppe angehörten, die missliebig war, Jenische etwa oder »Zigeuner«. Die zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gehörten, bestätigten sich das gegenseitig in pompösen Aufmärschen, hysterischen Gruppenerlebnissen, bei klingendem Spiel, anschließenden Besäufnissen und sonstigen Lustbarkeiten, nicht nur in Tirol, auch bei den vielen Fahrten in die Provinzen Deutschlands oder sogar zum Reichsparteitag nach Nürnberg. Wer heiratete, bekam ein Darlehen, je mehr Kinder man hatte, umso weniger musste man zurückzahlen, ab dem vierten gar nichts mehr. Auch Kinderbeihilfen gab es erstmals, die Geburtenraten explodierten. Wer kein Ehetauglichkeitszeugnis erhielt, da rassisch minderwertig, erbkrank, behindert oder weil der Altersunterschied zu groß war, der Mann zu jung, die Frau zu alt, durfte nicht heiraten, bekam keine Förderungen, wurde zwangssterilisiert oder im Schloss Hartheim bei Linz ermordet. Unproduktive und Wertlose sollten der Volksgemeinschaft nicht zur Last fallen, die eingesparten Kosten der arbeitsfähigen, fleißigen und kriegstüchtigen Mehrheit zugutekommen. Die Wirtschaft boomte; in kürzester Zeit waren die Arbeitslosen verschwunden und bald fehlten sogar Arbeitskräfte. Das Deutsche Reich rüstete auf, es wollte Weltmacht werden, Lebensraum im Osten erobern. Hitler hatte es in seinem Pamphlet »Mein Kampf« angekündigt, aber kaum jemand hatte es geglaubt. Der Ausschnitt aus dem Gedicht einer Frau aus Assling, viele Jahre nach dem Krieg verfasst, bringt die Stimmung vieler Menschen und ihre Haltung zum Nationalsozialismus auf den Punkt:

»Plötzlich, über Nacht, waren wir das Großdeutsche Reich

Dann gab es Essen und Arbeit sogleich.

Und wir Kinder wurden landverschickt,

für kurze Zeit war das wirklich ein Glück.

Der Nationalsozialismus bietet vielen Tirolerinnen und Tirolern materielle Vorteile, verfolgt aber alle, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören. (Foto: Vogel: Erblehre, 44)3

Doch dann kam wieder Not und Krieg,

am Anfang glaubte man noch an den Sieg

aber, es kam anders als wir geglaubt,

wir wurden all unserer Hoffnung beraubt.«4

Auch in Mils bei Imst hatten die meisten den Friedensversprechungen Hitlers vertraut. Vielleicht eine Handvoll Menschen hatte Lust, in den Krieg zu ziehen. Das elende Sterben für Gott, Kaiser und Vaterland war noch allzu gut im Gedächtnis. Die Mehrheit jubelte Hitler 1938 und auch 1939 zu, weil es ihr besser ging. Nun war die Stimmung verhalten, die Sorgen drückten auf die Laune der Menschen. Doch bald traten die Bedenken in den Hintergrund, erfasste auch sie ein patriotischer Taumel. Die Siegesmeldungen in der Zeitung, im Radio und in der Wochenschau machten viele trunken vor Begeisterung. Die Partei organisierte Feiern: im Dorf, in der Bezirksstadt und in Innsbruck. Der Krieg war noch weit weg und in Mils waren noch wenige Folgen zu spüren, erinnert sich ein Zeitzeuge.5 »Glaubten wir erst, nach dem Polenabenteuer wieder heimkehren zu können, so erwies sich das als großer Irrtum«, stellt der Mieminger Karl Miller-Aichholz fest. Dennoch hatte die Fortsetzung des Krieges auch ihre Vorteile. Wer konnte sich damals einen Urlaub leisten, wer hatte schon viel mehr gesehen als das Goldene Dachl? »Der Krieg brachte uns einen schönen Teil in der Welt herum«, betont Karl Miller-Aichholz, um sogleich hinzuzufügen, was zum Stehsatz seiner Generation wurde: »die schönste Zeit unserer Jugend ging verloren«.6 Doch vorerst erlebten viele Tiroler Soldaten den Krieg als Reiseunternehmen, als Möglichkeit, den Eiffelturm und die Fjorde kennenzulernen, die Akropolis in Athen und den Marienpalast in Kiew. Selbst nach dem Krieg schwärmten viele über die ungeahnte Chance, die sich auftat, mehr von der Welt zu sehen. Für Gymnasialschüler, so ein Lehrer 1950, war es eindrucksvoll, die Stätten des alten Hellas und des altrömischen Raumes zu besichtigen, von dessen Kunst und Kampffeldern sie im Unterricht in den Epen Homers und bei den griechisch-römischen Historikern gelesen hatten.7 Die Soldaten verglichen ihren Dienst in der Wehrmacht mit Betriebsausflügen und Ferienreisen, die Wehrmacht mit einem Reisebüro, manche sprachen vom Reisebüro Hitler.8

Musterung von Männern aus Ellmau, März 1939 (Foto: Chronik Ellmau)

Mit Kriegsbeginn hatten die Wehrmachtssoldaten ihre ausgedehnten Einkaufstouren in ganz Europa begonnen. Angehörige der Wehrmacht verfügten über den höchsten Sold aller Armeen, noch dazu werteten die deutschen Behörden die Landeswährungen zugunsten der Reichsmark ab und Reichskreditkassenscheine erlaubten Einkäufe mit unbegrenztem Kredit. Dies alles verschaffte den Besatzungssoldaten Zugang zu den Genüssen der fremden Länder und zu Bekanntschaften mit Frauen. Auch die Familie profitierte, schwere Pakete erreichten die Lieben in der Heimat. Dort, wo sie stationiert waren, kauften die Soldaten die Läden leer.9 Konrad, der Lieblingsonkel von Franz Vogelsberger, brachte, wenn er auf Heimaturlaub war, den Kindern nicht nur kleine krumme Finnendolche mit, sondern auch eine ganz besondere Köstlichkeit: weiße Schokolade. Hatten sie seit langer Zeit keine Schokolade mehr gegessen, so war ihnen bis dahin weiße Schokolade nicht einmal ein Begriff gewesen.10 Man brauche sich nur zu nehmen, was das Herz begehrt, schrieb ein Soldat aus Frankreich nach Hause.11 Der kleine Landser konnte also, unabhängig von seiner politischen und ideologischen Einstellung, an der Ausbeutung Europas teilhaben, durch legalen Einkauf und Mitnahme von Kriegsbeute bis hin zu organisierter krimineller Betätigung in kleinem und großem Umfang.12

Rekruten aus Telfs am Tag ihrer Musterung. Ihr Jahrgang 1924 hatte die meisten Gefallenen. (Foto: Sammlung Stefan Dietrich)

Ausbildung am Geschütz in Kufstein, September 1939 (Foto: Chronik Ellmau)

Soldat zu werden und in den Krieg zu ziehen eröffnete ungeahnte Möglichkeiten. Ein Arbeiter wie Anton Beck13 entkam seinem kargen Leben, das zuvor nur erträglich war, wenn man sich einreden ließ, dass Arbeit adeln würde. Dieser Adel verschaffte weder Zutritt zur gesellschaftlichen Mitte noch Anerkennung im Bauerndorf oder in den bürgerlich dominierten Städten. Armut blieb, was sie in den Augen der Mächtigen immer war. Schmach und Schande, ein Makel, ein selbstverschuldeter Zustand der Faulen, Undisziplinierten und Unfähigen. Der Eintritt in die SS und die Bewährung als Elitesoldat verschafften Anton Beck alles, wonach er sich gesehnt hatte. Und auch für andere war der Krieg eine Chance, ein positiv empfundenes Erlebnis von Führung und Gefolgschaft, eine Zeit erfolgreicher Erprobung und tiefempfundener Kameradschaft; in der Netzwerke entstanden, die sich nach dem Krieg als überaus vorteilhaft herausstellten. Junge Männer wie Hermann Gmeiner waren weder Nationalsozialisten noch Militaristen. Dennoch waren sie dem Nationalsozialismus nützlich und im Krieg unentbehrlich. Sie identifizierten sich mit der Deutschen Wehrmacht und kämpften lange Jahre tapfer und hochmotiviert. Gmeiner hatte noch keinen festen Platz im Leben, suchte nach Sinn, hatte jugendbewegt eine heroische Zukunft vor Augen, träumte von großen Dingen und noch größeren Taten, fern von seinem als gewöhnlich und banal empfundenen Alltag. Der Krieg war schrecklich, aber vorerst auch ein weites Feld vielfältiger Gelegenheiten und Optionen. Der Krieg konnte dem eigenen Leben eine neue Richtung weisen, die Gegenwart abwechslungsreicher und die Zukunft heller leuchtend erscheinen lassen.

Postkarte an die Eltern mit der Mitteilung: »Erinnerung an ein paar heitere Stunden im Luna-Park in Paris«. Vier Jahre später fiel Hermann Kurz (l.) aus Ischgl. (Foto: Cimarolli: Ischgl, 241)14

ANTON BECK: SOZIALER AUFSTIEG IN DER LEIBSTANDARTE SS ADOLF HITLER

Anton Beck wuchs bei seinen Großvätern auf, zunächst auf einem Bauernhof, dann in einem Mietshaus in Kirchbichl, das der Firma Perlmoser gehörte, in der der Großvater väterlicherseits als Elektromeister beschäftigt war.15 Die Mutter Barbara starb, als er gerade fünf Jahre alt war, Vater Johann verdingte sich als Holzarbeiter, dann auf dem Straßenbau. Die meisten Familienmitglieder schliefen in einem Zimmer, meist waren sie arbeitslos. Aber sie hatten zu essen, viel Polenta, weil er billig war und der Großvater aus Italien stammte. Der Höhepunkt der Kindheit war die Teilnahme an einer Ferienaktion der sozialdemokratischen Kinderfreunde, vier Wochen lang konnte Anton in Innsbruck verbringen, Mozartstraße 4, erinnert er sich. Der Vater heiratete ein zweites Mal, immer wieder stand er ohne Beschäftigung da, der Familie ging es nicht gut. Die Stiefmutter war Köchin, ihre Kochkunst fand keine Betätigung. Auf den Tisch stellte sie weiterhin nur Polenta oder Reissuppe. Zum Spielen mit anderen Kindern blieb kaum Zeit, Anton musste von klein an überall anpacken, wo es nötig war. Die Hausaufgaben erledigte er nebenbei, dennoch war er ein guter Schüler, sollte nach den Vorstellungen des Lehrers in die Hauptschule gehen, allein, es fehlte das Schulgeld dafür. In der Familie gab es zu viele Esser, inzwischen war seine Schwester Paula auf die Welt gekommen, Anton kam wieder zum Großvater auf den Bauernhof. Vor der Schule mistete er im Stall aus, nach der Schule ging er dem Opa zur Hand, bei der Heuernte, der Getreideernte, der Kartoffelernte, bei der Holzarbeit und beim Schnapsbrennen. Er durfte neben ihm am großen Tisch sitzen, zu essen gab es Hausmannskost, am Sonntag Fleischknödel. Kleider hatte er kaum mehr, als er am Leib trug, eine Dreiviertelhose aus Leinen, im Winter trug er Holzschuhe, im Sommer ging er barfuß zur Schule. Geld kannte er nicht, er hatte Verpflegung und Unterkunft, eine Lehre nach Beendigung der Schulpflicht war nicht im Bereich des Möglichen. So ging er mit seiner Oma, der Tante und seinem Großvater mit, als dieser den Hof verkaufte und das Gasthaus Kastengstatt erwarb, dazu ein kleines Feld. Es zu bestellen und auch die beiden Kühe zu versorgen, war seine Arbeit. Zuletzt zog er wieder zu seiner Familie, weil der Vater inzwischen bei einer Baufirma in Kirchbichl als Maurer untergekommen war. Doch die Hoffnung, Anton Beck als Lehrling unterzubringen, ging nicht auf.

Dann kam der Anschluss. Er war noch keine siebzehn Jahre, als er, ein Meter zweiundachtzig groß, in Wörgl zu einer Musterungsstelle der SS ging, motiviert von attraktiver Werbung auf breitflächigen Plakaten und von seinem Vater, einem alten Sozialdemokraten und Schutzbündler, der meinte: »Bua, da gehst Du hin, vielleicht nehmen sie Dich, dann sind wir die Sorge um einen Arbeitsplatz los.« Ihn, den Armenhäusler, nahm die Leibstandarte SS Adolf Hitler. Von Bruckhäusl nach Berlin. Er und die anderen drei Tiroler taten sich in der 11. Kompanie schwer, in ihr tummelten sich junge Männer aus allen Gauen Deutschlands. Wir »verstanden fast keinen und sie uns fast auch nicht«, erinnert sich Anton Beck. An den 1. Mai 1938 denkt er gerne zurück, es war unvorstellbar: Zahltag: »Das erste Mal mit 17 Jahren Geld auf der Hand, das mir gehörte«. Die Verpflegung in der Kaserne war »einfach Spitze«, dennoch kaufte er sich mit Genuss für zehn Pfennig das Stück zusätzlich Streuselkuchen. Seine Einheit, das Garderegiment, hatte umfangreiche Geländeausbildung, sehr viel Exerzieren, von früh bis spätabends. Einer für alle, alle für einen, so war die Kameradschaft, hebt Beck hervor. Mit dem Stubenältesten hielt sie ein Leben lang. Er wohnte in Mühlheim an der Ruhr, dort, wo der Tiroler Gauleiter Franz Hofer nach dem Krieg lebte und arbeitete. Häufig tat Beck Dienst in der Reichskanzlei, in weißen Koppeln, weißen Handschuhen, schwarzer Uniform. Mehrmals sah er Hitler von ganz nahe. Beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps der ganzen Welt hielt er Wache vor dem Arbeitszimmer des Führers: »1 Stunde ohne sich zu bewegen, da standen wir 2 Stunden – ging alles nur mit hartem Training.« Auch in Nürnberg, beim Reichsparteitag, marschierte er mit seiner Kompanie bei der Parade mit. Er schwärmt: »Es war für einen damaligen jungen Buam ein gewaltiges Erlebnis im Paradeschritt an Adolf Hitler vorbeimarschieren zu können.« Ganz Bruckhäusl bestaunte ihn, als er auf Heimaturlaub war, in der schwarzen Uniform mit dem Ärmelstreifen »Leibstandarte Adolf Hitler«, viele Fotos wurden aufgenommen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er wer, sahen Menschen zu ihm auf, hatte er Bedeutung – und war materiell abgesichert. Dann der Kriegsausbruch, er an vorderster Front, am 19. September verwundet, Lazarett, Feldzug im Westen, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Jugoslawien, Russland – Mariupol, Asowsches Meer, Charkow. Dazwischen kurze Genesungsurlaube und Besuche in der Heimat. Verlobung im März 1943, Hochzeit im Februar 1944 in Wörgl: in Uniform am Standesamt, in der Kirche mit Anzug. Und das, obwohl er ausgetreten war, er hatte eine Genehmigung des Bischofs: »Heute sagt jeder, das gibt es nicht, damals als Angehöriger der Waffen-SS und gottgläubig in der Kirche zu heiraten. Es war möglich.«

Warschau 1940, aufgenommen von Rudi Oberhauser, Soldat aus Ellmau (Foto: Chronik Ellmau)

Anton Beck absolvierte eine Ausbildung für Waffen und Munition in Prag, die er für seine neue Truppeneinheit brauchte, die 12. SS-Panzer-Division Hitlerjugend, in die bis Ende Dezember über 21.000 Hitlerjungen eingezogen wurden. Ihre Grundausbildung erhielten sie im belgischen Beverloo. Beck betreute die Jugendlichen ab Juli 1943 im Bataillonsstab, zuständig für Waffen und Munition. Es fehlte an Material und Führern mit Kampferfahrung, viele erhielten nur eine Kurzausbildung, bevor sie an die Front geworfen wurden. Den Kader der Division stellte die Leibstandarte von Beck, die im Laufe des Krieges zu einer SS-Panzer-Division umorganisiert worden war. Die Panzer-Division Hitlerjugend bekämpfte ab April 1944 im Norden die französische Résistance, dann die Alliierten nach ihrer Landung in der Normandie bei Caen. Im Kessel bei Falaise vernichtete der Gegner die Division fast vollständig. Was folgten, waren schwere Abwehrkämpfe der überlebenden Einheiten, immer wieder aufgefüllt mit neu zugeführten Soldaten, die Teilnahme an der Ardennenoffensive, die Verlegung in den Raum von Köln, Düren und Greuenbrück, wo Anton Beck den Besuch seiner Frau erhielt und die Erlaubnis, sie sicher nach Tirol zu geleiten. Dann rückte er wieder zu seiner Division nach Ungarn ein, die im Kampf gegen die Rote Armee fürchterliche Verluste erlitt. Sein letzter Einsatzort war Lilienfeld in Niederösterreich. Anfang Mai bekam er einen Sonderauftrag für Tirol, den er aber nicht mehr ausführen konnte. Er scheiterte in Jochberg, zwei Feldgendarmen informierten ihn, die amerikanischen Truppen hielten sich bereits in Kitzbühel auf. Beck schlug sich zu seiner Familie durch und war, gerade vierundzwanzig Jahre alt geworden, wieder dort, wo er auf der sozialen Hierarchie vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gestanden hatte: ohne Vermögen und Besitz, Ausbildung und Beruf, Stellung und Ansehen. So begann er als Kraftfahrer in der Firma, in der sein Vater beschäftigt war. Bis die Amerikaner ihn abholten und zwei Jahre lang gefangen hielten, zuerst in Lagern in Deutschland, dann in Österreich. Anton Beck war ein unerschrockener Soldat, risikobereit und einsatzfreudig. Er war einer dieser jungen Männer, die, sozial unbehaust, am Rande der Gesellschaft trotz harter Arbeit ein elendes Leben führten, ohne Aussicht, weiterzukommen. Der Nationalsozialismus änderte das. Im Beitritt zur SS sah Beck seine Chance, die er nutzte. Viele beneideten ihn, wegen seiner schmucken Uniform und seiner Nähe zu Hitler. Die Zugehörigkeit zur SS verhalf zu Ansehen und sozialem Aufstieg. Im Krieg kamen Ruhm und Ehre hinzu; dass er, jahrelang an vorderster Front in schwerste Kämpfe verwickelt, den Krieg überlebt hatte, glich einem Wunder. Seine Erzählungen über den Krieg bleiben abstrakt, objektiviert, steril. Menschen kommen kaum vor, auch über die blutjungen Hitlerjungen, die er ausbildete und anführte, äußert er sich nicht. Mit der Bevölkerung habe er nie Kontakt gehabt. Nur in einer Hinsicht bezieht Anton Beck Stellung. Er nimmt für sich und seine Kameraden in Anspruch, anständig geblieben zu sein. Bei einem Gegenstoß an der Ostfront sah er die Grausamkeit der Russen. Bis zu zweihundert Soldaten hätten sie bestialisch hingerichtet, nackt ausgezogen, die Knochen gebrochen, die Augen ausgestochen, die Zunge abgeschnitten, die Geschlechtsteile verstümmelt: »Ein deutscher Soldat hätte das nie gemacht.« Zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erinnerungen flimmerten gerade die Bilder des Krieges im Kosovo über den Bildschirm, die Zeitungen waren voll der Berichte und Fotos des Grauens. Vergewaltigungen, Kinder töten, alte Leute zusammentreiben und erschießen, »das gab es bei uns sicher nicht, ich kenne keinen Fall. Vergewaltigung mit anschließender Geschlechtskrankheit wäre schon als Selbstverstümmelung hingestellt worden.«

Alleine im Raum Charkow, wo Beck kämpfte, ermordeten SS und Wehrmachtseinheiten zehntausende Zivilisten – Frauen, Männer, Kinder, ein großer Teil jüdisch –, auch sowjetische Verwundete und Gefangene in hoher Zahl. Die wie Beck zunächst als Wachsoldaten ausgebildeten SSMänner sind für ihre aufopfernde Kriegsführung bekannt, für bemerkenswerte militärische Erfolge, mit hohen Menschenverlusten teuer erkauft. Bekannt sind sie aber auch für ihre Kriegsverbrechen, an der Ostfront wie an der Westfront. Sie machten Jagd auf Jüdinnen und Juden, erschossen britische Kriegsgefangene und französische Zivilisten. Dasselbe gilt für die SS-Panzerdivision Hitlerjugend, in der belgischen Stadt Malmedy exekutierten sie US-Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, im belgischen Dorf Wereth schwarze GIs.16 Bereits in den ersten Tagen des Krieges beging die Leibstandarte SS Adolf Hitler schwere Kriegsverbrechen in Polen. Am zweiten Kriegstag wies sie die ihr unterstellten Kompanien an, »bei Schießen der Bevölkerung die gesamte wehrfähige männliche Bevölkerung standrechtlich [zu] erschießen«.17 Die Leibstandarte liquidierte in mehreren Ortschaften zahlreiche Menschen, allesamt am Krieg Unbeteiligte, und brannte viele Häuser nieder: in der Stadt Bolesławiec (Bunzlau), in den Kleinstädten Wieruszów und Piaski und in den Dörfern Żdżary und Mieleszin.18 Am 3. und 4. September 1939 ermordete die SS-Einheit von Beck gemeinsam mit dem Wehrmachts-Infanterieregiment 95 in der Kleinstadt Złoczew mit Handgranaten, Maschinengewehrsalven und Bränden, die sie gelegt hatten, um die zweihundert Einwohner und Flüchtlinge, Polen und Juden, Männer, Frauen und Kinder.19

Gefangene französische Soldaten 1940, unter ihnen Afrikaner aus den Kolonien Frankreichs (Fotograf: Rudi Oberhauser; Chronik Ellmau)

HERMANN GMEINER: IDENTIFIKATION MIT DER WEHRMACHT

Auch die Kriegserinnerungen von Hermann Gmeiner, dem Mitbegründer des SOS-Kinderdorfes, das in Imst in Tirol seinen Anfang nahm, bleiben fast völlig frei von Schilderungen deutscher Kriegsverbrechen. Sie entsprechen dem traditionellen Erzählverhalten der Mehrheit der Kriegsteilnehmer und entpolitisieren, entideologisieren und entkriminalisieren die Erlebnisse in der Wehrmacht.

Gmeiner wuchs, früh mutterlos, auf einem Bergbauernhof in Alberschwende auf, erst spät konnte er mit der Unterstützung Geistlicher aufs Gymnasium wechseln; mangels Lateinkenntnissen saß der Sechzehnjährige in einer Klasse mit Zwölfjährigen. Die demütigende Erfahrung kompensierte er mit Sportlichkeit, sein studentischer Fleiß hielt sich in Grenzen, er philosophierte lieber und übte sich in Hypnose. Nietzsche und die Heilige Schrift gibt er als seine »Lebenslehrer« an.20 In der Hitlerjugend fiel Gmeiner negativ auf, er trat für den Glauben ein, anscheinend ein Grund, um ihn auszuschließen.21 Fest verwurzelt im katholisch-konservativen Milieu, deprimierte ihn die Machtübernahme der Nationalsozialisten zutiefst. Doch die auf Führung, Kraft und Stärke aufgebaute Bewegung beeindruckte ihn auch: »Freilich bin ich dann in der folgenden Zeit durch die Macht der Propaganda ebenso beeinflußt worden und sah das Unglück dann nicht mehr so wie ich es in dieser ersten Nacht sah und wie es in Wirklichkeit war. (…) Hier aber erlebte ich erstmalig eine Macht, die über einen hereinfallen kann, ohne daß man sich wehren kann.«22 Die Einberufung in die Wehrmacht im Februar 1940 eröffnete dem Zwanzigjährigen neue Perspektiven und sie entband ihn der Sorge um die Existenz. Er träumte schon lange von großen Taten, wollte die Welt verändern, wusste aber nicht wie und womit. Er war froh, die Schule verlassen zu können, den »behäbigen Kleinstadtfrieden«, seine kleine, enge Welt, in der nichts passierte und sich keine Wende abzeichnete. So erschien ihm der Krieg als Lebensbewährung, als eine Zeit der Prüfungen; diesen Weg wollte er als Mann gehen und nie verzagen. Zudem: »Ich wußte, es muß sein. Man kann nichts machen.« Er war sich sicher, alles heil zu überstehen, er glaubte fest daran, der Krieg halte »eine ganz bedeutende Aufgabe« für ihn bereit, er träumte von Kameradschaft und Aufopferung mit ihm als anerkannten Helden, der die anderen führt.23 »In diesem Sinne wollte ich einfach diesen Krieg mitmachen. (…) Ich habe mir immer die Frage gestellt: Haben die Mitmenschen Dich gern, bejahen sie dich. Kannst Du sie beherrschen im Sinne des Guten.«24 Gmeiner rückte in die Kaserne Landeck zu den Gebirgsjägern ein und meldete sich freiwillig an die Front. Er wollte sich in der Gefahr auszeichnen.25 Der Krieg war für ihn eine Zeit der Reife und der Mannwerdung, die Entwicklung hin zu einem Tatmenschen mit Entschlusskraft, Organisationstalent und Verantwortungsübernahme. Gmeiner war ein Haudegen, ein Draufgänger, jemand, der sich zum Führer entwickelte und sich als solcher für seine Leute vorbehaltlos einsetzte, ihr Vertrauen gewann. Seine suggestiven Fähigkeiten baute er aus, er erprobte die Wirkung einer bestimmten Art des Händedrucks, die Wirkung eines tiefen, durchdringenden Blicks.26 Die Welt des Militärs war ihm zunächst fremd, er fühlte sich einsam, fand nichts, das er zu seiner Sache machen hätte können. In Norwegen sinnierte er, inmitten einer tiefen Lebenskrise, über die Aufnahme des Studiums der Theologie. Gemeinsam mit seinem Kriegsfreund legte er ein Gelübde ab, keusch zu leben und Priester zu werden.27 Im Krieg, den er als »naturgegeben« ansah, entdeckte Gmeiner Sinn, »außer der Pflege der Kameradschaft, der Bemühung um Hilfsbereitschaft, gegenseitige Rücksichtnahme und Harmonie in der Schicksalsgemeinschaft, der wir vorübergehend angehörten«: für andere da zu sein und sie zu führen.28

Christus und Hitler schlossen sich nicht gänzlich aus. Gmeiner strebte nach einer Welt der Liebe ohne Leid, Not und Hass, war aber von der Notwendigkeit überzeugt, die große Masse des Volkes bedürfe einer Führung mit durchschlagender Macht, ihre Überzeugungen durchzusetzen.29 Nach einer Verwundung, insgesamt wurde er fünfmal verletzt und mehrfach ausgezeichnet, meldete sich Gmeiner ein zweites Mal freiwillig, nun zu einem Hochgebirgsbataillon. Er lechzte nach Heroischem, absolvierte eine Ausbildung zur Eroberung des Kaukasus, war enttäuscht, dass er am Elbrus zu spät kam, die deutsche Fahne wehte dort bereits. Gmeiner schwärmte von seinen Kameraden, »ein ganz phantastisches Menschenmaterial von jungen Leuten, von jungen Idealisten, die den Bergen zulieb, der Natur zulieb sich für dieses Hochgebirgsbataillon gemeldet haben.«30 Er führte eine Gruppe an, einmal bezeichnete er sich als Spähtruppführer, ein anderes Mal gab er an, dreißig Mann Infanterie mit einigen Panzern und Geschützen angeführt zu haben. Gmeiner stand dem Nationalsozialismus prinzipiell distanziert gegenüber. Die der Siegespropaganda glaubten, erkannten seiner Meinung nach nicht, zu Schachfiguren degradiert worden zu sein: Alle waren sie Opfer, Verführte und Verkaufte. Nicht sein Verdienst sei es gewesen, dass er nach den überwältigenden militärischen Anfangserfolgen keinen Siegesrausch hatte; der frühe Tod des Bruders in Frankreich habe ihn davor bewahrt und ihm den »verlogenen Heroismus« vor Augen geführt. »Alles in mir lehnte sich gegen seinen Tod und erst recht gegen die Forderung auf, die Trauer um ihn mit Stolz und vaterländisch verbrämtem Pathos zu tragen.«31 Gmeiner, zum Unteroffizier befördert und zum Offiziersanwärter ernannt, war zutiefst froh, dass er kein Parteimitglied war, glücklich und stolz, dass er »allen diesen nazistischen Organisationen nicht angehört« hat.32 Doch als Begründung gab er seine Erfahrungen in der Offiziersschule in Wiener Neustadt an, wo er die »häßlichste Zeit« des ganzen Krieges verbrachte und schikaniert wurde, »von ehrgeizigen, blöden, völlig primitiven Offizieren, die niemals draußen an der Front waren.«33 Da war er aus anderem Holz geschnitzt. Er schrieb seinem Freund, dem späteren Kaplan von Maria Wörth, er ziehe in die Schlacht ins fruchtbare Kubantal, das in seiner Schönheit Südtirol gleiche, »mit meinem Gott und der Kraft meiner Seele. Ich gehe allein, da ich muß, gehe auch um Pflicht fürs Vaterland zu stehen.«34 Zwei Jahre nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion war sich Gmeiner bewusst, der Krieg war verloren.35 Er habe sich verzweifelt und niedergeschlagen gefühlt, als er vom Krieg gegen die UdSSR erfuhr. Trotzdem fand er an diesem Unternehmen Gefallen. Noch bevor er an der Front war, sah er sich schon »im Bereitstellungsraum für den Krieg gegen den Kommunismus.«36 Wie die Mehrheit der österreichischen Soldaten diente Hermann Gmeiner aus Überzeugung in der Wehrmacht, trotz seines Glaubens, seiner humanistischen Vorstellungen und konservativen Grundhaltung. Und wie sie kämpfte er für Deutschland als Vaterland. Ende 1942 erklärte er sich seinem geistlichen Freund in einem Brief aus dem Lazarett: »Um großen Menschen unserer Zeit gerecht zu werden, um mein eigenes Herz und meine Stärke zu prüfen, habe ich zweimal freiwillig zuvorderst am Feinde gestanden. Ich tat es nicht zum Spiel, nicht aus Abenteuerlust noch aus Ehrsucht. Nein! Aber ein Recht muß man sich verschaffen unter den Menschen – das Recht des Deutschen, das Recht des Mutigen u. Kämpfers, um dann einmal unter anderem die Wahrheit seines Wortes auch mit dem eigenen Ich verbürgen zu können. Es gibt nichts Ekelhafteres auf Erden als Feigheit. Wer feig ist, hat noch nie eine Tugend besessen.«37 Für Gmeiner war es widerlich und unkameradschaftlich, nicht jederzeit einsatzbereit zu sein. Pflichterfüllung, Ehrgefühl und Gruppensolidarität, verbunden mit deutschen Vaterlandsgefühlen, machten aus Gmeiner einen begeisterten Soldaten. Ludwig Stadelmann, Weggefährte und Biograf, zitiert Gmeiner, der ihm 1943 mitgeteilt habe: »Und man muß eben auch erproben, wie weit der eigene Mut reicht. Ein Feigling wird später einmal im Frieden gewiß nichts taugen. Denn wie er sich jetzt auf Kosten der andern vor dem Kampf drückt, mangelt es ihm dann sicher an der nötigen Zivilcourage.«38 Die Dankbarkeit, Treue und Kameradschaft seiner Soldaten, für die er sich ungeachtet der Gefahren immer einsetzte, gaben Gmeiner viel, noch lange nach dem Krieg schwärmte er davon. Sich selbst sah er als Führer, seinen Rang gab er als Leutnant an: »Ich kann wohl einfach sagen, daß mich damals der kleine einfache Soldat geehrt und geliebt hat. Ich war sehr beliebt, man hat mich sehr gern gehabt. (…) Ich habe gerade im Kriege erlebt, wie ein Mensch, ein Mann, der für die anderen da ist, für die anderen denkt, die anderen gern hat, die anderen bejaht, wie er eines Tages selber bejaht wird und wie man alles empfängt, wie man alles, wie einem alle alles geben, wie einem geholfen wird, wie man stark wird. (…) Aus dieser Gesetzmäßigkeit heraus war der Krieg für mich gar nicht so ein Greuel, war für mich eigentlich gar nicht so häßlich.«39

Hermann Gmeiner (Foto: SOS-Kinderdorf Innsbruck)

Erstmals in seinem Leben konnte er sich beweisen, ragte er hervor, erhielt er offene und öffentliche Anerkennung, fühlte er eine Bestätigung seines Sendungsbewusstseins, auserkoren zu sein, etwas Großartiges zu leisten. Die Soldatenkameradschaft bedeutete für Gmeiner, Gutes zu tun und Gutes zurückzubekommen, diese für ihn so positive Erfahrung verleitete ihn zum absurden Vergleich mit der Bergpredigt. Das von Christus geforderte »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« erlebe man mit den Kameraden an der Front: »Der Krieg war für mich einfach unabänderlich. Ich war damals noch klein und ich habe gar nicht daran gedacht, daß ich diese Dinge ändern hätte können. Sie waren da, sie waren gegeben, es war Schicksal, es mußte sein. Ich wollte nur eines: In diesem Geschehen menschlich sein, in diesem Geschehen gut sein, in diesem Geschehen so viel helfen und so viel Leid abwenden als möglich ist. (…). Ich habe mit meinen Leuten manchen Angriff, manche Kriegshandlung, manche harte Kriegshandlung begehen müssen. Sie geschah immer aber nur in der Selbstverteidigung, wo diese nicht mehr notwendig war, war für mich als Offizier und als Führer die Feindschaft, der Angriff zu Ende.«40 So entwirft Gmeiner das Bild eines sittlichen Krieges, die große Nachkriegserzählung von der sauberen Wehrmacht, der Reinheit und dem Idealismus seiner Generation. 1976 ehrte ihn der Kameradschaftsbund mit der Goldenen Verdienstmedaille. Gmeiner schilderte fast nie konkret den Schrecken des Krieges, die vielen menschenleeren jüdischen Dörfer, an denen er vorbeigekommen sein muss, das bejammernswerte Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener, ihr Dahinvegetieren und Verhungern, ihren Tod in Massenexekutionen, die Erschießungen der Zivilbevölkerung, den Partisanenkampf. All dies blieb Frontsoldaten, selbst wenn sie daran unbeteiligt waren, nicht verborgen. Im April 1944 war Gmeiner mehrere Tage in Lublin, wo ein Drittel der Bevölkerung deportiert worden war und in dessen Vorort Majdanek ein Konzentrations- und Vernichtungslager stand.

Nur in einem Bereich griff Gmeiner Verbrechen deutscher Soldaten auf, er attackierte die Unmoral Verheirateter, das sexuell übergriffige Verhalten älterer Wehrmachtsangehöriger gegenüber Frauen und stellte dem den reinen Idealismus seiner Generation gegenüber: »Und so habe ich eigentlich im Kriege erlebt, wie entsetzlich arm Egoisten sind. Auch entsetzlich arm die Sexualegoisten waren, die verheirateten Männer, die bei jeder Gelegenheit, wenn es nur möglich war, die älteren Herrn, die Frau brauchten. Es kam auch zu Vergewaltigungen. Es war immer wieder der Sexus. Wogegen bei uns Jüngeren, damals war für uns alles damals so, daß wir [ein] ganz anderes höheres Bild hatten, ein höheres Bild von der Frau, ein höheres Bild von der Liebe, ein höheres Bild vom Staat, ein höheres Bild vom Soldaten, ein höheres Bild von der Religion. Und ohne daß wir nur im leisesten NS gewesen wären – und wenn wir es auch gewesen wären – wir waren als junge Generation damals große Idealisten und sehr sauber und sehr rein.«41

KRIEGSVERBRECHEN UND WIDERSTAND

Tiroler waren in allen Waffengattungen bis hin zur Waffen-SS vertreten und kämpften an allen Kriegsschauplätzen, besonders viele als Gebirgsjäger in der 2., 5. und 6. Gebirgs-Division.42 Die 5. Gebirgs-Division nahm an der Eroberung Griechenlands teil, auch an der Landung in Kreta, ebenso die 6. Division, die zuvor noch in Frankreich in Schlachten verwickelt war. In Griechenland waren die Massaker zahllos, vor allem die 1. Gebirgs-Division, in der deutlich weniger Nord-, aber viele Südtiroler vertreten waren, beging schauderhafte Kriegsverbrechen.43 Nach ihrem Einsatz in Griechenland wurde die 5. Division an die Ostfront überstellt, wo sie 1942/43 bei Leningrad kämpfte, das die deutsche Armee so lange einschloss, bis eine Million Menschen verhungert waren. Dann kam sie bei Montecassino südlich von Rom zum Einsatz, im Sommer 1944 dann an der italienisch-französischen Grenze in den Westalpen. Die 2. Gebirgs-Division war bereits im Polenfeldzug aktiv. In ihrem Gedenkbuch ist von der seltsamen Fügung des Schicksals die Rede, dass Soldaten aus den österreichischen Bergen 1939 die Wege beschritten, die sie schon im Ersten Weltkrieg gegangen waren. Nichts habe sich geändert, nicht das Elend in den niedrigen Hütten, die Armut in den schmutzigen Dörfern und auch nicht die vernachlässigten Städtchen und schlechten Wege.44 Die Gebirgsjäger waren hochmotiviert, sie hatten die Gelegenheit, Siege dort zu erringen, wo es den Vätern versagt geblieben war. Leutnant Franz Pontalti unterstrich, dass es im ehemaligen österreichischen Kronland Galizien am Fluss San in Südostpolen an der ukrainischen Grenze war, wo die »Söhne der Tiroler Berge« wiederholt mit Kosaken gekämpft hatten. Doch dieses Mal hätte es nur drei Stunden bis zur Überschreitung des Flusses benötigt und »wieder stürmten unsere Gebirgstruppen, gleich den Kaiserjägern in einem einmaligen Siegeslauf unaufhaltsam vorwärts.«45 Wachtmeister Schöpf von der 2. Gebirgs-Division hielt den schnellen Erfolg der Wehrmacht in Polen für eine einmalige Leistung in der Menschheitsgeschichte und »wir Soldaten der Ostmark sind stolz, mit dabei gewesen zu sein.«46 Häuser wurden »in Brand geschossen und das dürre Strohdach, das viele ausgetrocknete Holz brannte lichterloh, schaurige Fackeln menschlicher Armut in Dürftigkeit.« So beschreibt der Soldat Hans O. die Kriegsführung der 2. Gebirgs-Division in Polen.47 Er schildert, wie die Soldaten die polnische Bevölkerung wahrnahmen, feindselig und heimtückisch, als Angehörige eines primitiven Volkes.48 In Galizien demütigten Einheiten der 2. Gebirgs-Division orthodoxe Juden, drückten ihnen Kübel und Besen in die Hand, hießen sie Häuser und Straßen zu säubern.49 Die in Südpolen eingesetzten Truppen waren für den Kampf in Ortschaften und Wäldern nur unzureichend geschult. Das Oberkommando der Wehrmacht hatte sie vor Kriegsbeginn gewarnt: vor der Hinterlist und Tücke der Polen, vor der Minderwertigkeit der Juden und Slawen.50 Das Misstrauen gegenüber der polnischen Bevölkerung war groß, überall schienen hinterhältige Gegner zu lauern und Zivilisten aus den Häusern zu schießen. Diese Wahnvorstellung nährte auch die Taktik der polnischen Armee, offenen Schlachten auszuweichen und den Kampf in den Ortschaften und im unwegsamen Gelände zu suchen.51 Die Wehrmacht rückte zügig vor, bestritt wenige Gefechte mit der polnischen Armee und terrorisierte die Zivilbevölkerung. Auf dem Weg von der slowakischen Grenze brandschatzten Einheiten der 2. Gebirgs-Division, wiederholt führten sie Erschießungen Wehrloser durch. Nicht nur Häuser brannten sie willkürlich nieder, oft genug auch die Menschen, die dort wohnten, glaubten sie doch Partisanen in ihnen zu erkennen.52 Im Bericht »Tiroler schwere Gebirgsartillerie im Polenfeldzug« nimmt ein Kanonier dazu Stellung: Sie »entgingen ihrem Schicksal und der gerechten Strafe nicht und wurden mit ihren Häusern ein Raub der Flammen«.53 In Nowy Sącz (Neu Sandez) stießen die Gebirgstruppen auf heftigen Widerstand polnischer Soldaten. Dieser Widerstand erbitterte, die Furcht vor Heckenschützen aus der Bevölkerung stieg. Die Gebirgsjäger erschossen verdächtige Personen umgehend und setzten deren Häuser in Brand. Auf ihrem weiteren Marsch waren solche Erschießungen und Brandstiftungen für die Einheiten der 2. Gebirgs-Division bereits Routine.54 In verblüffender Offenheit schildert ein Gefreiter des Gebirgsjäger-Regiments 137 unter dem Kommando von Georg Ritter von Hengl den inzwischen selbstverständlichen Vorgang des Tötens Unbeteiligter und der Einäscherung von Dörfern. Er lastete den Tod eines Vorgesetzten einem Zivilisten an. Daraufhin schritt er mit seinen Kameraden zur Bestrafung: »Wir zündeten das Gebäude an und warteten ab, bis die Zivilisten heraus kamen. Ich erschoss sie und dann mussten wir uns zurückziehen durch ein fürchterliches Feuer.«55 Ein Tiroler Gebirgsjäger wollte mit seinen Leuten plündern, doch es kam anders, ist dem Bericht »Wie ein Tiroler um sein Nachtmahl kam« zu entnehmen: »Es wird dunkel und da kommen wir zu einer Ortschaft. Eigentlich waren es nur drei Häuser an einer Hügellehne. Das eine hat so ausgesehen, dass ich mir gedacht hab, da drinnen gibt’s Milch und Butter und Kas, da wirst was ›requirieren‹. Auf einmal kracht’s aus dem Haus, ganz deutlich seh’ ich das Mündungsfeuer. Nun haben wir dagegen bald ein Mittel g’habt. Zuerst einmal zwei, drei Handgranaten eini, und da haben halt die Häuseln immer gleich brennt. So war’s auch da und wieder war es nichts mit dem Kas!«56

Überfahrt Tiroler Wehrmachtsangehöriger nach Norwegen um 1941 (Foto: Sammlung Wolfgang Schneeberger – TAP)

Stolz präsentieren sich Tiroler Soldaten im Wehrmachtseinsatz in Südnorwegen, Mai 1942 (Foto: Sammlung Wolfgang Schneeberger – TAP)

Der Krieg in Polen war kurz. Nach wenigen Wochen glaubten die Tiroler an eine Rückkehr in ihre Heimatgarnisonen. Hinter vorgehaltener Hand sprach man sogar von aufgestellten Triumphbögen und anderen Ehrbezeichnungen, welche die alpenländische Bevölkerung für die siegreichen Edelweißsoldaten vorbereitet habe.57 Dennoch soll die Stimmung in der Truppe aufgeräumt, ja begeistert gewesen sein, als es nach Norwegen ging und nach 1.200 Kilometern Fußmarsch schließlich Narvik eingenommen wurde. Nach einem Jahr ruhiger Besatzung brachen die Gebirgsjäger der 2. Division noch weiter nördlich auf, ans Eismeer, in die Tundren Lapplands, zum Feldzug gegen die Sowjetunion, um mit finnischen Streitkräften den einzigen eisfreien Hafen im Feindesland zu erobern, ein Unternehmen, das an der Liza knapp scheiterte. Dort, bei Kirkenes und Petsamo, löste Ende Oktober 1941 die 6. Gebirgs-Division sowohl die 3. als auch die stark dezimierte 2. Division an der Front ab, die Divisionen standen abwechselnd im direkten Kampfeinsatz gegen die Rote Armee.

Eduard Dietl, Ferdinand Schöner und Georg Ritter von Hengl waren die federführenden Kommandeure an der Eismeerfront. Generalmajor Schörner, Kommandeur der 6. Gebirgs-Division, war, so Nikolaus von Falkenhorst, der Wehrmachtsbefehlshaber im besetzten Norwegen, ein rücksichtsloser Mann. Er scheute nicht davor zurück, mit den »schärfsten Mitteln« durchzugreifen, um überall eine »musterhafte Ordnung« herzustellen. Daher war er mehr gefürchtet als beliebt.58 Ende Jänner 1942 ernannte ihn das Oberkommando der Wehrmacht zum Generalleutnant und Kommandeur des Gebirgskorps Norwegen, General Dietl zum Oberbefehlshaber der Armee Lappland und Generalmajor Georg Ritter von Hengl bzw. Generalleutnant Christian Philipp zu den neuen Kommandeuren der 2. und der 6. Gebirgs-Division.59 Schörners Ernennung löste unter den Soldaten Bestürzung aus, die Regimentskommandeure zitterten vor ihm. Denn er war, laut dem späteren Kommandierenden des letzten Aufgebots in Tirol, Karl Ruef, hart und unerbittlich gegen alles Schlappe und Weiche (…) Plötzlich war die friedliche Etappe ebenfalls zur Front geworden, zur Front des Generals Schörner«.60 In einem seiner Sonderbefehle versicherte er, hart genug zu sein, »um jede mangelnde Initiative, jede Art von Pflichtverletzung oder gar Feigheit vor dem Feind mit der Härte der Kriegsgesetze zu bestrafen. Im Entscheidungskampf von Weltanschauungen spielt unser individuelles Leben gar keine Rolle«.61 In einem anderen Sonderbefehl betonte er die Bedeutung des Offiziers als Träger der nationalsozialistischen Erziehung, seine nationalsozialistische Lebensauffassung müsse grundsätzlich und kompromisslos sein. Der Soldat siege nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit seiner Weltanschauung.62

Roland Kaltenegger, der die Heldentaten der Kriegsveteranen pflegt, rückt die Personalentscheidungen der Heeresführung ins rechte Licht: »Denn mit dem Dreigestirn Dietl – Schörner – von Hengl wurden jene Generale auf den Schild gehoben, die in vorbildlichem Maße im Sinne der nationalsozialistischen Kriegsführung auf die Truppe einwirkten. Dass der ›Sieger von Athen‹ [Schörner] den ›Helden von Narvik‹ [Dietl] beerbte und dass der (…) SA- und SS-Ausbilder Christian Philipp wiederum dem ›Eisernen Ferdinand‹ als Kommandeur der 6. Gebirgsdivision folgte, war ebenso wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass der (…) SS-Offizier von Hengl bevorzugt zum Kommandeur einer Gebirgsdivision unter den Fittichen von Dietl und Schörner ernannt wurde. Für die Eismeerkämpfer sollte sich diese personelle Maßnahme jedoch nicht als ein Nachteil erweisen, denn mehr als an den anderen Frontabschnitten der Ostfront waren sie hier auf Gedeih und Verderb auf ihre Führer angewiesen. Und je näher diese zum Nationalsozialismus standen, je mehr kamen sie auf diese Weise in den Genuss von Privilegien und Sonderzuwendungen der Partei, der Organisation Todt (OT) oder des Reichsarbeitsdienstes (RAD).«63

Der Korpsgeist der Einheiten der Gebirgsregimenter war groß, das Selbstverständnis elitär. Vorgesetzte wie Schörner stärkten diese Auffassung, schürten Feindbilder, hetzten, um die Truppe zusammenzuschweißen, sprachen von Angehörigen der Sowjetarmee als Abschaum der Menschheit, von unangebrachten menschlichen Gefühlen ihnen gegenüber. Hitler sah im Dezember 1943 die Notwendigkeit, Offiziere und Unteroffiziere der Wehrmacht stärker mit der nationalsozialistischen Ideologie zu durchdringen.64 Daher schuf er im Oberkommando der Wehrmacht einen NS-Führungsstab, der Führungsoffiziere ausbilden sollte, die die parteipolitische Ausrichtung der Wehrmacht voranzutreiben hatten: mit politischem Unterricht, regelmäßiger Behandlung militärpolitischer Tagesfragen und Interpretation der Kriegsereignisse aus nationalsozialistischer Sicht. Das Entscheidende war, den richtigen Mann zu finden, es brauchte die besten Leute. Hitler fiel sofort ein Mann ein: »Der Schörner – das ist ein Fanatiker!« Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, pflichtete Hitler begeistert bei: »Ja, er ist Fanatiker und reißt die Leute mit. Ich möchte nicht erleben, wie er, wenn er nach vorn hinkommt, mit den Leuten umgeht, die nicht mitziehen, und die Leute beseitigt, die ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Wenn man ihn für ein paar Monate hätte!« General Schörner war bereit, für kurze Zeit die Position eines Chefs des NS-Führungsstabes einzunehmen, um das Unternehmen auf Schiene zu bringen. »Damit die Sache aber erst einmal in die richtige Form kommt, braucht man einen Fanatiker, und das würde er wunderbar machen«, betonte Keitel.65 Für Schörner war die Aufgabe des Nationalsozialistischen Führungsoffiziers in den Einheiten der Wehrmacht klar definiert. Er musste die politische Erziehung zum fanatischen Soldaten des Nationalsozialismus aktivieren, weg vom traditionellen Soldatenbild, hin zum weltanschaulichen Kämpfer.66 Nachfolger Schörners im Führungsstab wurde Georg Ritter von Hengl, der als Kommandierender noch eine führende Rolle bei Kriegsende in Tirol spielte.

Blick des Ellmauer Soldaten Rudi Oberhauser auf Minsk, die zerstörte Hauptstadt Weißrusslands, 1941 (Foto: Chronik Ellmau)

Menschen wie David Holzer aus Schlaiten in Osttirol, geprägt vom katholischen Glauben in einer österreichgesinnten Familie des christlichsozialen Lagers, verweigerten sich dieser Barbarei. Er war ein vorbildlicher Soldat, dem sein Kompaniechef wohlgesonnen war, aber auch ein Mensch, der nicht wegschauen konnte, wenn er Unrecht sah. In Wien beobachtete er die Vorbereitungen eines sogenannten Judentransports, es war kaum auszuhalten für ihn, wie »ah so, ah so junge Leute, Dirndln, ah so junge Dirndln, so miserabel behandelt« wurden.67 Als Gebirgsjäger an der Eismeerfront wiederum erlebte er die Hinrichtung von sechzig sowjetischen Kriegsgefangenen aus Vergeltung für die Flucht von sechs Gefangenen. »Ich hab das bemerkt, dass da heute etwas Anormales passiert. Das hat mich so schockiert, dass sie die Gefangenen da unschuldigerweise« erschießen.68 Mitmenschlichkeit, Unrechtsbewusstsein, Empörung über die Untat und Mitgefühl mit den Ermordeten waren größer als der Korpsgeist und die Treue zu den Kameraden. Er wollte nicht mehr mitmachen und desertierte bei nächster Gelegenheit im Frühsommer 1943. Alois G. aus Kartitsch im Bezirk Lienz tat es ihm zu Kriegsende gleich, auch er ein tapferer, zunächst überzeugter Soldat, zweiunddreißig Monate an der Front, in der Sowjetunion wie in Polen, wo er den Gestank verbrannter Leichen nahe einem Vernichtungslager roch. Dort bekam er mit einem Kameraden den Befehl, zwei Zivilisten und drei Soldaten zu erschießen. Sie führten die Russen hinaus, schossen über sie hinweg und ließen sie laufen. Ein anderes Mal sollte sein Trupp einen russischen Arzt exekutieren, sie weigerten sich, daraufhin gab der Zugskommandant persönlich dem Gefangenen den Genickschuss. Je länger der Krieg dauerte, umso klarer erkannte Alois G. dessen verbrecherischen Charakter.69 In Polen war er Zeuge widerwärtiger Brutalitäten. Juden mussten Gräben ausheben, wurden sadistisch gequält, dann erschossen, die Gräben zugemacht: »Ob sie noch gelebt haben oder nicht, und zugeschüttet. Es war grausam. Es war unmenschlich.«70 Alois Dobler aus Plangeross im Pitztal war siebzehn Jahre alt, als er vom Plangerosser Berg nach Imst zur Stellungskommission gehen musste. Er wollte unabkömmlich gestellt werden, da er im Heu helfen musste, der »Schuachter«, Bürgermeister von St. Leonhard, meinte verächtlich: »Oh je, den könnt ihr ruhig holen, da sind Vetter und Basen genug zuhause.«71 Im Frühjahr 1944 war Dobler in Kroatien: »Auslöschung, Ausrottung und keine Gefangenen machen, war die Devise der Nazis. Wir hatten sogar einen kroatischen Hauptmann. So einen rigorosen Menschen habe ich in meinem Leben nie mehr kennengelernt. Er war ein übler Mensch. Alles, was ihm im Weg war, hat er umgelegt. Du kannst dir nicht vorstellen, in welche Lage wir jungen Leute gebracht wurden. Er wollte mich vor das Kriegsgericht zerren, weil ich mich geweigert habe einen Buben zu erschießen. (…) Man kann doch einen wehrlosen Menschen nicht umbringen! Das sagt mir mein Gewissen.«72

Links: Klagenfurt 1942. David Holzer (1923–2015) war Gebirgsjäger, tapferer Soldat und schließlich Deserteur. (Foto: Privatarchiv Peter Pirker) Rechts: Walter Krajnc (1916–1944) war eine Ausnahme unter Tiroler Soldaten. Er unterstützte den französischen Widerstand, das kostete ihm das Leben. (Foto: Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck)

Tiroler Soldaten, die, wie der Buchdrucker Erich Ranacher aus Lienz, Angehöriger des Gebirgsjäger-Ersatz-Regiments 139 am Kaukasus, noch einen Schritt weitergingen und Widerstand leisteten, sind rare Ausnahmen. Ranacher und Maria Peskoller aus Dölsach kamen am 23. Dezember 1944 in Graz durch das Fallbeil ums Leben. Peskoller, weil sie als Kommunistin eine zentrale Figur des Widerstandes in Villach war, mithalf, eine Partisanengruppe aufzubauen, und Deserteure versteckte. Ranacher, weil er einer dieser Fahnenflüchtigen war, denen Peskoller Unterschlupf gab und die gemeinsam mit Wehrdienstverweigerern und ausländischen Zwangsarbeitern, von Peskoller unterstützt, Sabotageakte plante.73 Der Jurist Walter Krajnc aus Hall wiederum, von Anfang an antinationalsozialistisch eingestellt und deshalb beruflich benachteiligt, arbeitete während seiner Stationierung als Funker in Avignon für die französische Résistance und leitete Informationen nach London weiter. Als er aufflog, verurteilte das Militärgericht ihn zum Tode, seine Funkkameraden erschossen ihn am 29. Juli 1944.74