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Joan Didion kann mit einem einzigen Satz eine Gesellschaft zum Einstürzen bringen Die Christians gehören zu den reichsten und mächtigsten Familien auf Hawaii. Inez Victor, verheiratet mit einem US-Senator, führt hier ein glanzvolles Leben: öffentlich an der Seite ihres Mannes, der als Präsidentschaftskandidat für die demokratische Partei antritt, und heimlich an der Seite ihres Geliebten, der sein Geld als Waffenhändler verdient. Hinter den Fassaden von Erfolg und Glamour nimmt eine Familientragödie ihren Lauf, bestimmt von Affären, Extravaganzen und Lebenslügen. »Über das goldene Land, in dem die Zukunft immer gut aussieht, weil sich niemand an die Vergangenheit erinnert.« Antje Rávik Strubel
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Demokratie
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.In unserem Hause sind von Joan Didion bereits erschienen:Blaue Stunden · Das Jahr magischen Denkens · Menschen am Fluss · Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben · Sentimentale Reisen · Süden und Westen · Woher ich kam · Das Letzte, was er wollte · Was ich meine · Slouching Towards Bethlehem · Das weiße Album · Play It As It Lays · Wie die Vögel unter dem Himmel · Im Land Gottes
Die Christians gehören zu den reichsten und mächtigsten Familien auf Hawaii. Inez Victor, verheiratet mit einem US-Senator, führt hier ein glanzvolles Leben: öffentlich an der Seite ihres Mannes, der als Präsidentschaftskandidat für die demokratische Partei antritt, und heimlich an der Seite ihres Geliebten, der sein Geld als Waffenhändler verdient. Hinter den Fassaden von Erfolg und Glamour nimmt eine Familientragödie ihren Lauf, bestimmt von Affären, Extravaganzen und Lebenslügen.»Über das goldene Land, in dem die Zukunft immer gut aussieht, weil sich niemand an die Vergangenheit erinnert.« Antje Rávik Strubel
Joan Didion
Roman
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
Ullstein
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List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH1. Auflage September 2024© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorenfoto: © Brigitte LacombeE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten
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ISBN978-3-8437-3241-3
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Vibrierende Klingen
Widmung
EINS
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ZWEI
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DREI
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VIER
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Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vibrierende Klingen
Ich entdeckte Joan Didion 2001, nach Abschluss meines eigenen Studiums. In einem Berliner Antiquariat fand ich einen Roman mit dem Titel »Demokratie«. Der Schutzumschlag war verlorengegangen, so dass ich keine Anhaltspunkte zum Inhalt hatte oder zur Autorin. Allein der Titel zog mich magisch an. Demokratie. So groß. So schlicht. So alles und nichts.
Der Roman begann mit einem Sonnenuntergang über Atollen im Pazifik, auf denen soeben Nukleartests stattgefunden hatten. Er begann mit einer erzählerischen Schärfe, die mich umwarf.
Ich kaufte das Buch.
Als ich es ausgelesen hatte, verstand ich folgendes: Didion erklärt uns nicht, was wir denken sollen. Sie erklärt nichts, schon gar nicht Gefühle. Didion zeigt sie. Offenbart sie. Seziert sie. Didion wirft Messer. Ihre Sätze zischen durch die Luft. Treffsicher landen sie im Holz, mit vibrierenden Klingen. Am Ende ergibt sich eine Form. Ein menschlicher Umriss. Didion zu lesen, kommt dem Gefühl gleich, am Holzbrett einer Messerwerferin zu stehen.
Demokratie verrät viel über ihr Schreiben. Der Roman verrät ihr Interesse an den Mustern, die eine Gesellschaft wie die amerikanische den Lebensläufen einprägt. Es verrät ihr Interesse an den Gelenken dieser Gesellschaft, an den Stellen, an denen es knirscht, wo die Verwachsungen und Risse deutlich werden, wo Psychogramme entstehen, die leicht als persönliches Schicksal missinterpretiert und in die eigene Verantwortung abgeschoben werden, als Ergebnis dieses strapaziertesten aller amerikanischen Stoßgebete: vom-Tellerwäscher-zum-Millionär.
Der Titel verrät auch etwas über Didions Nähe zum New Journalism, eine Schreibweise, bei der Fakten mithilfe literarischer Techniken erzählerisch präsentiert werden und der Standpunkt der Autorin offenkundig ist. Ihre Romane sind so geschickt konstruiert, dass die Trennlinie zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt. Ihre Erzählerinnen sind distanzierte Berichterstatterinnen, die sich mehr und mehr in ihr Thema verstricken. Die Bücher sind die Ergebnisse dieser (fiktionalen) Recherchen. Galt Truman Capotes Buch Kaltblütig noch als erster nichtfiktionaler Roman, dreht Didion das Ganze um: ihre Bücher sind Reportagen über Romane. Sie erfindet den Stoff, indem sie ihn mit journalistischem Handwerkszeug zerlegt. Denn für Didion ist die Wirklichkeit nichts anderes als Narration. Indem sie erzählt, als handele es sich um eine Recherche, führt sie die Wirklichkeit als Erfindung vor.
Didion begann selbst als Journalistin, sie schrieb Essays zur Hippie- und Frauenbewegung, sie schrieb Buch- und Filmrezensionen, später auch Drehbücher, sie schrieb Porträts von Westküstenikonen wie Georgia O’Keefe und John Wayne und demontierte Doris Lessing.
Ihre Texte sind beherrscht von dem, was ausgespart wird. Mit zwei, drei Sätzen entwirft sie eindringliche Szenen, im knappsten Dialog gewinnt sie die Essenz der Figur.
Oft stehen Frauen im Mittelpunkt, ihre Suche, ihr existentielles Ringen um Integrität, um eine aufrechte Haltung in einer zerfasernden Welt, die sich als illusorisch, als selbstbetrügerisch herausstellt. Es sind Selbstbetrügerinnen, die um ihren Betrug wissen.
Einem Buch über die Gattin eines Senators zur Zeit des Vietnamkriegs, deren Vater ein Mörder, deren Geliebter ein Waffenhändler ist in den Schattenräumen amerikanischer Politik den Titel »Demokratie« zu verleihen, verrät vor allem eins: Didions desillusionierten Standpunkt. Einen solchen Roman virtuos auf den Grenzen zwischen Farce, romantischer Liebesgeschichte und Tragödie anzusiedeln, verrät ihre schriftstellerische Größe. Ein Kritiker schrieb über sie: »Didion kann mit einem einzigen Satz eine ganze Gesellschaft zum Einstürzen bringen.«
Didion geht nicht davon aus, dass etwas ist, wie es scheint. Sie fragt danach, wie es ist. Wie es wurde, was es ist. Gefühliges spart sie aus. Vielleicht gelingen ihr gerade deshalb so anrührende Szenen. Anschaulich werden die Muster, in denen wir Menschen uns bewegen. Gefühle sind das Resultat solcher Muster, Gewebe aus Konventionen, Verhaltenskodizes, aus Ideologie und Moral. All das lagert sich in der Sprache ab, all das legt Didion frei, und auf diese Weise ist die Sprache ihr wesentlicher Gegenstand.
Sie misstraut ihr.
Über die Sprache entlarvt sie das, was man das Verrückte am Normalen nennen könnte: die vorbehaltlose Hingabe an die schönen Lügen, aus denen unser Alltag gestrickt ist.
Didion zu lesen, bedeutet, mir einer Sache nicht mehr so sicher zu sein.
Es bedeutet, mir nicht mehr sicher zu sein, um welche Sache es sich tatsächlich handelt.
Weil sie sich auflöst in Standpunkte. Meinungen. Theorien.
In Gerücht und Gerede. In fake news und Manipulationen.
Es bedeutet, sich daran zu erinnern, dass es diese Sache vielleicht gar nicht gibt. Oder woanders etwas anderes bedeutet.
Übrig bleiben vibrierende Klingen im Holz. Keinen Millimeter entfernt von der Haut. Die mich wachsam machen.
Ein Satz, der eine ganze Gesellschaft zum Einstürzen bringt.
Höchste Zeit, weiterzulesen.
Dieses Buch ist für Dominique und QuintanaUnd für Elsie Giorgi
Das Licht in der Morgendämmerung bei diesen Tests im Pazifik war etwas, das man gesehen haben muss.
Etwas, an das man sich erinnern muss.
Etwas, das dich beinahe denken ließ, du sähest Gott, sagte er.
Sagte er zu ihr.
Sagte Jack Lovett zu Inez Victor.
Inez Victor, die eine geborene Inez Christian war.
Er sagte: Der Himmel hatte dieses Rosa, dem kein Maler nahekommen konnte, einer der Detonationstheoretiker hat es versucht, ein ziemlich guter Sonntagsmaler, er hat es nie geschafft. Hat es nie eingefangen, nicht einmal annähernd. Der Himmel hatte dieses Rosa, und die Luft war nass vom nächtlichen Regen, mild und nass, und roch nach Blumen, roch nach den Blumen, die du dir ins Haar gesteckt hast, wenn du nach Schofield rausgefahren kamst, Gardenien, die Morgenluft roch nach Gardenien, obwohl es auf diesen Versuchsinseln nicht gerade viele Blumen gab.
Sie waren einfach bloß Atolle, die meisten.
Sandbänke eigentlich.
Zwei Wellblechhütten und so ein Landestreifen, den sie ausrollen, weißt du, den sie ausrollen wie eine alberne Badematte.
Das war wirklich eine Art Robinsonade da unten. Keiner der Beobachter flog runter, bis die Jungs von der Technik den Versuch aufgebaut hatten, und nichts anderes war ich, ein Beobachter. Mit von der Partie. Da für die Show. Du kennst mich. Manchmal kamen wir an, und das Wetter wurde schlecht, und wir warteten tagelang, saßen herum und knackten Kokosnüsse auf, einmal auf Johnston dauerte es drei Wochen, bis die Wetterleute zufrieden waren.
Wonder Woman Two war das.
Ich erinnere mich, dass ich dir erzählt hatte, ich sei in Manila.
Ich erinnere mich, dass ich dir ein kleines Souvenir aus Manila mitbrachte. In Wirklichkeit hatte ich es auf Johnston von einem Aufklärungsflieger gekauft, der von Clark eingeflogen war.
Drei Wochen Rumsitzen auf dieser gottverdammten Insel Johnston und auf das Wetter warten und dann nicht einmal ein Detonationswert, der der Rede wert war.
In der Zwischenzeit lebten wir im Wasser.
Fingen Hummer und kochten sie am Strand.
Spielten Rommé und erschlugen Mücken.
Spazieren gehen konnten wir nicht. Da war kein Platz zum Spazierengehen. Schreiben konnten wir auch nicht, die Kugelschreiberspitze ging glatt durchs Papier, man kapierte da unten schnell, warum auf diesen Inseln nicht viel geschrieben wurde.
Was du machen konntest: Du konntest reden. Dort unten hast du von jedem die persönliche Lebensgeschichte zu hören gekriegt, glaub mir, wenn du auf einer Insel sitzt, die anderthalb Meilen lang ist, und das meiste davon Landestreifen.
Diese Jungs von der Technik, von denen waren manche drei Monate unten.
Wurden ganz schön versaut, glaub mir.
Dann gaben die Wetterleute ihr O. K., und, Bingo, keine Geschichten mehr. Gegen drei Uhr morgens kletterten wir alle auf einen Frachter und fuhren ein paar Meilen raus und warteten auf das erste Licht.
Warteten auf den rosa Himmel.
Und dann natürlich der Versuch.
Nevada, die Aleuten, das war was völlig anderes.
Keiner hatte ein gutes Gefühl bei Nevada, obwohl in Mercury ein paar komische Dinge passierten, wie das eine Mal, als eine Livermore-Zündung losging und die Fotografen aus Los Alamos anfingen, wie verrückt den Livermore-Turm zu fotografieren – der immer noch stand, verstehst du, ein Zwei-Megatonnen-Apparat, und der Turm steht immer noch, das war das Komische daran –, und sich totlachten. Die Aleuten waren bloß Drecksarbeit, Arsch der Welt, wenn sie der Welt einen Einlauf machen wollen, stecken sie ihn in Amchitka rein. Die Versuche dort oben waren nützlich, weil sie schon Computer anstelle von Rechenmaschinen für die Analyse verwendeten, aber an einen Versuch auf den Aleuten würde sich niemand auch nur mit einem Hauch von Nostalgie erinnern, da war nichts komisch, eine Menge Kongressabgeordnete waren mit ihren Frauen und Töchtern da oben, ob du es glaubst oder nicht, große Sache für die Zivilisten, aber null Interesse, zero, gar keines.
Sagte er zu ihr.
Sagte Jack Lovett im Frühjahr 1975 zu Inez Victor (die eine geborene Inez Christian war).
Aber diese Tests im Pazifik, sagte Jack Lovett.
Diese Versuche um 1952, 1953.
Gott, waren die schön.
Du warst noch ein kleines Schulkind, als ich dort runterflog, stecktest dir Blumen ins Haar und fuhrst nach Schofield raus, verrücktes kleines Mädchen mit Inselfieber, man hätte mich ins Gefängnis stecken sollen. Es wundert mich, dass dein Onkel Dwight nicht mit einem Haftbefehl da draußen auftauchte. Es wundert mich, dass nicht der ganze verdammte Christian-Clan aufgescheucht wurde, um mich zu lynchen.
Schnee von gestern.
Lange her.
Seitdem hast du ein bisschen was von der Welt gesehen.
Du hast dich gut geschlagen.
Du hast alles mitgenommen, hast was erlebt.
Interessante Zeiten.
Als ich dich 1969 in Jakarta sah, habe ich dir gesagt, dass wir beide eine Nase für interessante Zeiten hätten.
Lieber Gott, Jakarta.
Arsch der Welt, südliches Ende.
Aber eines sage ich dir über Jakarta 1969, Jakarta 1969 übertraf Biên Hòa 1969.
»Hör mal, Inez, nimm, solange du kannst«, sagte Jack Lovett im Frühjahr 1975 zu Inez Victor.
»Hör mal, Inez, wer rastet, der rostet.«
»Hör mal, Inez, un regard d’adieu, wie wir in Saigon sagten, ein letzter Blick durch die Tür.«
»Ach Scheiße, Inez«, sagte Jack Lovett eines Abends im Frühjahr 1975, eines Abends im Frühjahr 1975 am Rand von Honolulu, eines Abends im Frühjahr 1975, als die C-130 und die C-141 schon die ganze Nacht zwischen Honolulu und Anderson und Clark und Saigon hin- und herflogen, dreißig Minuten Turnaround am Tan Son Nhut, landeten und luden und auf die Startbahn rollten, alles mit laufendem Motor, und die Angehörigen hinausschafften, die Dealer hinausschafften, das Geld hinausschafften, die Schoßtiere und die Barmädchen und die Porzellanelefanten hinausschafften: »Ach Scheiße, Inez«, sagte Jack Lovett zu Inez Victor, »Harry Victors Frau.«
Letzter Blick durch mehr als eine Tür.
Diese Geschichte ist schwer zu erzählen.
Nennen Sie mich die Autorin.
Machen wir den Leser mit Joan Didion bekannt, von deren Charakter und Vorgehen stark abhängt, wie interessant diese Seiten werden mögen, während sie an ihrem Schreibtisch in ihrem eigenen Zimmer ihres eigenen Hauses an der Welbeck Street sitzt.
So könnte Trollope diesen Roman beginnen.
Ich habe keinen eindeutigen Beginn, obwohl ich bestimmte Dinge im Kopf habe. Beispielsweise habe ich folgende Zeilen aus einem Gedicht von Wallace Stevens:
Die Palme am Ende des Geistes,Hinter dem letzten Gedanken, ragt emporIn der bronzenen Ferne.Ein goldgefiederter VogelSingt in der Palme, ohne menschlichen Sinn,Ohne menschliches Gefühl, ein fremdes Lied.
Denken Sie darüber nach.
Ich habe: »Farben, Feuchtigkeit, Hitze, genug Blau in der Luft«, Inez Victors ausführlichste Erklärung, warum sie in Kuala Lumpur blieb. Denken Sie auch darüber nach. Ich habe diese rosa Morgendämmerungen, von denen Jack Lovett sprach. Ich habe den Traum, wiederkehrend, in dem sich mein gesamtes Blickfeld mit einem Regenbogen füllt, in dem ich eine Tür ins tropische Grün hinein öffne (ich halte es für einen Bananenhain, die großen glänzenden Blätter schwer vom Regen, aber da keine Bananen an den Palmen zu sehen sind, dürfen Symbolisten sich entspannen) und zuschaue, wie sich das Spektrum in reine Farben aufteilt. Denken Sie lange genug über all diese Dinge nach, und Sie werden bemerken, dass mit ihnen tendenziell nicht nur die Relevanz von Persönlichkeit, sondern auch von Erzählen geleugnet wird, was sie nicht gerade zu idealen Bildern für den Beginn eines Romans macht, aber wir nehmen, was wir haben.
Karten auf den Tisch.
Ich begann zu einem Zeitpunkt meines Lebens über Inez Victor und Jack Lovett nachzudenken, als mir Gewissheit fehlte, als mir sogar ein Mindestmaß an Selbstbewusstsein fehlte, das alle Schreibenden beim Schreiben von Romanen für wesentlich halten, als mir die Überzeugung fehlte, als mir Geduld mit der Vergangenheit und Interesse an der Erinnerung fehlten; mir sogar das Vertrauen in meine eigene Technik fehlte. Eine (für mich) eindrückliche Aufgabe, auf die ich neulich in einem Lehrbuch für Studierende des Kreativen Schreibens stieß: »Didion beginnt mit einem ziemlich ironischen Hinweis auf ihren unmittelbaren Beweggrund, diesen Text zu schreiben. Versuchen Sie, diesen Trick als Einleitung zu einem Essay zu verwenden; Sie könnten den ironisch-aber-ernsten Ton Didions kopieren, oder Sie könnten versuchen, Ihren Essay witzig zu gestalten. Berücksichtigen Sie die grundlegendere Frage, welche Wirkung der Ort der Handlung hat: Wie benutzt Didion den Schauplatz als rhetorisches Mittel? Sie kommt immer wieder auf verschiedene Details des Schauplatzes zurück: wo und wie und mit welchem Effekt? Berücksichtigen Sie auch, wie Didion sich selbst in den Rahmen der Handlung einbringt: Atmosphäre entsteht. Wie?«
Schnee von gestern.
Wie Jack Lovett sagen würde.
Schnee von gestern, und brich alle Brücken ab.
Ich habe also keinen Aussätzigen, der jeden Morgen um sieben an die Tür kommt.
Keine Tropical Belt Coal Company, keine unmissverständliche einsame Gestalt auf dem Kamm des unveränderlichen Berges.
Im Grunde noch nicht einmal einen unveränderlichen Berg: Als Enkelin eines Geologen lernte ich früh, die absolute Veränderlichkeit von Bergen und Wasserfällen und sogar von Inseln zu akzeptieren. Wenn ein Berg im Ozean versinkt, sehe ich Gesetzmäßigkeit darin. Wenn eine 5,2 auf der Richterskala den Schreibtisch meines eigenen Zimmers in meinem eigenen Haus in meiner ganz persönlichen Welbeck Street ins Wanken bringt, tippe ich weiter. Ein Berg ist eine vorübergehende Anpassung an Druck, und das Ich ist vielleicht eine ähnliche Anpassung. Ein Wasserfall ist ein sich selbst korrigierendes Missverhältnis von Strömung und Struktur, und das ist, soweit ich weiß, Technik ebenfalls. Die Insel, auf die Inez Victor im Frühjahr 1975 zurückkehrte – Oahu, eine im Entstehen begriffene Landmasse entlang des Hawaiian Ridge –, ist ein vorübergehendes Gebilde, und jeder Regenfall oder jedes Beben im Pazifischen Becken ändert ihre Form oder verkürzt ihre Lebensdauer als Schnittpunkt des Pazifiks. In diesem Licht betrachtet, ist es schwierig, eindeutige Überzeugungen darüber aufrechtzuerhalten, was dort unten im Frühjahr 1975 oder vorher passierte.
Im Grunde habe ich schon viel von dem, was vorher passierte, verworfen.
Habe die meisten der Geschichten verworfen, die noch immer das Tischgespräch in jenem Teil der Welt bestimmen, in dem Inez Victor geboren wurde und wohin sie 1975 zurückkehrte.
Habe beispielsweise alle Geschichten über erwiesene Fälle von Typhus verworfen, den sich Seereisende während der ersten zehn Monate des Jahres 1856 einfingen.
Habe alle Berichte über irisierende Wolken verworfen, die über dem nächtlichen Meer vor den Kanarischen Inseln beobachtet wurden, über Guano-Felsen, die südöstlich der Falklandinseln gesichtet wurden, über Billardzimmer im alten Hotel Estrella del Mar an der chilenischen Küste, über ein spezielles Mittagessen mit gekochtem Rindfleisch, das 1859 auf Tristan da Cunha gegessen wurde, und über gewisse legendäre Pokerspiele, die 1860 am Isthmus von Panama stattfanden, einschließlich der Gewinne und Verluste jedes einzelnen Spielers (in Gold).
Habe die Geschichte vom trauernden Witwer verworfen, der sich ertränkte, als Land in Sicht kam.
Habe die Festlichkeiten zur Fertigstellung des ersten großen Bewässerungsgrabens auf der Nuannu Ranch in der Versenkung verschwinden lassen.