Wie die Vögel unter dem Himmel - Joan Didion - E-Book

Wie die Vögel unter dem Himmel E-Book

Joan Didion

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Beschreibung

Gibt es Unschuld in einer Welt voller Gewalt? Die Amerikanerin Charlotte Douglas hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich, ihre Tochter ist mit einer Guerillatruppe in den Untergrund gegangen. Dennoch ist Charlottes Vertrauen in die gutbürgerliche Welt durch nichts zu erschüttern. In der vagen Hoffnung, wieder mit ihrer Tochter vereint zu werden, reist sie in eine scheiternde mittelamerikanische Republik. Zwischen Dinnerpartys, Wohltätigkeitsarbeit und gedankenlosen Affären übersieht sie geflissentlich, was sich vor ihren Augen abspielt und droht, sie mit in den Abgrund zu reißen: Eine Spirale der sinnlosen Gewalt.  Ein bedeutender und zeitloser Roman über die schicksalhafte Verknüpfung von Politischem und Privatem. 

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Wie die Vögel unter dem Himmel

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der  Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Gibt es Unschuld in einer Welt voller Gewalt?

Die Amerikanerin Charlotte Douglas hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich, ihre Tochter ist mit einer Guerillatruppe in den Untergrund gegangen. Dennoch ist Charlottes Vertrauen in die gutbürgerliche Welt durch nichts zu erschüttern. In der vagen Hoffnung, wieder mit ihrer Tochter vereint zu werden, reist sie in eine scheiternde mittelamerikanische Republik. Zwischen Dinnerpartys, Wohltätigkeitsarbeit und gedankenlosen Affären übersieht sie geflissentlich, was sich vor ihren Augen abspielt und droht, sie mit in den Abgrund zu reißen: Eine Spirale der sinnlosen Gewalt. 

Ein bedeutender und zeitloser Roman über die schicksalhafte Verknüpfung von Politischem und Privatem. 

Joan Didion

Wie die Vögel unter dem Himmel

Roman

Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-3073-0© 1977 by Joan Didion© der deutschsprachigen Ausgabe: 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagfoto: Teresa Zabala/The New York Times/Redux/laifAutorinnenfoto: Brigitte LacombeE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Eins

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Sechs

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Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Eins

Widmung

Dieses Buch ist für Brenda Berger Garner, für James Jerrett Didion und auch für Allene Talmey und Henry Robbins

Eins

1

Ich werde Ihre Zeugin sein.

Das hieße übersetzt seré su testigo und wird in Ihrem Reiseführer nicht auftauchen, weil es für die besonnene Reisende keine nützliche Information ist.

Folgendes ist passiert: Sie verließ einen Mann, sie verließ einen zweiten Mann, sie ging mit dem ersten erneut auf Reisen; sie ließ ihn allein sterben. Sie verlor ein Kind an »die Geschichte« und ein anderes an »Komplikationen« (ich gebe in beiden Fällen die Versionen anderer wieder), sie glaubte sich in der Lage, diesen Ballast abzuwerfen, und kam nach Boca Grande, als Touristin. Una turista. So sagte sie es. Tatsächlich kam sie weniger als Touristin denn als Gast, aber diese Differenzierung hat sie nicht vorgenommen.

Sie hat nicht genügend differenziert.

Sie träumte ihr Leben.

Sie starb, hoffnungsvoll. Alles in allem. Nun kennen Sie die Geschichte. Natürlich gab es mildernde Umstände, das Wetter, rissige Bürgersteige und Perenterol, aber nur für die Lebenden.

Charlotte würde ihre Geschichte eine Geschichte der Leidenschaft nennen. Ich glaube, ich würde sie eine Geschichte der Täuschung nennen. Mein Name ist Grace Strasser-Mendana, geborene Tabor, und fünfzig meiner sechzig Jahre war ich eine Schülerin der Täuschung, eine besonnene Reisende aus Denver, Colorado. Meine Mutter starb eines Morgens an Grippe, als ich acht Jahre alt war. Mein Vater starb an Schusswunden, nicht selbst zugefügt, eines Nachmittags, als ich zehn Jahre alt war. Von diesem Nachmittag an lebte ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag allein in unserer Suite im Brown Palace Hotel. Ich bin seit 1935 in Äquatorial-Amerika und hatte nur zweimal Fieber. Ich bin eine Anthropologin, die das Vertrauen in ihre eigene Methode verloren hat, die nicht mehr daran glaubt, dass man Anthropos durch beobachtbares Handeln näherkommt. Ich habe bei Kroeber in Kalifornien studiert und mit Lévi-Strauss in São Paulo gearbeitet, mehrere Gesellschaften klassifiziert und ihre Riten und Auffassungen zu Ereignissen wie Geburt, Kopulation, Initiation und Tod katalogisiert, ich habe umfangreiche und hoch angesehene Studien zur Erziehung von Kindern weiblichen Geschlechts in Mato Grosso und entlang diverser Nebenflüsse des Rio Xingu vorgelegt, und auch danach wusste ich nicht, warum irgendeines dieser Kinder weiblichen Geschlechts überhaupt irgendetwas tat oder eben nicht.

Lassen Sie mich noch weiter gehen.

Ich wusste nicht, warum ich überhaupt irgendetwas tat oder eben nicht.

Daraufhin habe ich mich aus diesem Feld »zurückgezogen«, heiratete einen Pflanzer von Kokospalmen der Sorte San Blas Green hier in Boca Grande und begann ein Amateurstudium der Biochemie, einer Disziplin, in der es um die Erbringung von belegbaren Beweisen geht und »Persönlichkeit« nicht vorkommt. Mich interessiert es beispielsweise, zu erfahren, dass ein Persönlichkeitsmerkmal wie Angst vor dem Dunkeln unabhängig von Modellen der Kindererziehung in Mato Grosso oder in Denver, Colorado, existiert. Angst vor dem Dunkeln kann im Labor hergestellt werden. Angst vor dem Dunkeln ist eine Anordnung von fünfzehn Amino-Acids. Angst vor dem Dunkeln ist ein Protein. Ich habe dieses Protein einmal für Charlotte in einem Diagramm dargestellt. »Ich verstehe nicht ganz, warum es irgendeinen Unterschied machen soll, Protein dazu zu sagen«, sagte Charlotte, während ihr Blick heimlich zurückflatterte zu einem ramponierten Weihnachtskatalog von Neimann-Marcus, den sie an diesem Maimorgen in der Post hatte. Sie hatte jene Phase ihres Aufenthaltes erreicht, in der sie nur noch für die Post lebte, jeden Katalog anforderte, jeden Coupon ausfüllte, viele Briefe schrieb und ein paar Antworten erhielt. »Ich meine, ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«

Ich erklärte, worauf ich hinauswollte.

»Ich hatte nie Angst vor dem Dunkeln«, sagte Charlotte nach einer Weile, und dann, wobei sie das Foto eines kleinen Kindes im Strickkleid herausriss: »Das würde an Marin schön aussehen.«

Marin war das Kind, das Charlotte an die Geschichte verloren hatte und das zum Zeitpunkt seines Verschwindens achtzehn Jahre alt gewesen war, und so konnte ich daraus nur schließen, dass Charlotte kein Interesse daran hatte, weiter das zu verfolgen, worauf ich hinauswollte.

Außerdem, nur der Vollständigkeit halber, hatte Charlotte Angst vor dem Dunkeln.

Zeigen Sie mir die molekulare Struktur des Proteins, das Charlotte Douglas definierte.

In mindestens zwei von mehreren unschlagbar euphemistischen »Briefen aus Zentralamerika«, die Charlotte während ihres Aufenthaltes hier verfasste und erfolglos versuchte, an den New Yorker zu verkaufen, beschrieb sie Boca Grande als ein »Land der Kontraste«. Boca Grande ist kein Land der Kontraste. Boca Grande ist im Gegenteil schonungslos »das Gleiche«: die Kathedrale ist nicht im spanischen Kolonialstil erbaut, sondern aus gewelltem Aluminium. Es gibt eine örtliche Währung, aber der amerikanische Dollar ist gesetzliches Zahlungsmittel. Die Politik des Landes scheint zunächst voller Kontraste zu sein, mit dem »bunten« lateinamerikanischen Nebeneinander von guerrillos und Oberstleutnants, aber wenn die Panzer weggeschafft sind und der Flughafen wieder öffnet, hat sich in Boca Grande im Grunde nichts verändert. Es gibt keine bemerkenswerten Wasserfälle, keine interessanten Ruinen, keine eleganten Boutiquen (Charlotte ging so weit, die Ladenfront einer dieser Boutiquen zu mieten, aber mein Sohn Gerardo hat die Ladenfront für seine eigenen Zwecke benutzt, und seit den Oktoberkrawallen ist sie ein Lesesaal der Pfingstgemeinde), die eine aufregende kulturelle Ergänzung zum Voodoo in den Bergen bieten könnten.

Genau genommen, gibt es kein Voodoo in den Bergen.

Genau genommen, gibt es keine Berge, nur flaches Buschland und das reglose Meer.

Und das Licht. Das trübe Äquatoriallicht. Der Busch und das Meer reflektieren das Licht nicht, sondern sie absorbieren es, saugen es auf und leuchten dann morbide.

Boca Grande heißt das Land, und Boca Grande heißt auch die Stadt, als hätte der Ort schon die Fantasie der ersten Siedler vernichtet. Mindestens einmal im Jahr, gewöhnlich zum Jahrestag der Unabhängigkeit, finanziert die Boca Grande Intellectual Union nachmittags eine Debatte mit anschließender kostenpflichtiger Cocktailparty zur Frage, wer der erste Siedler gewesen sein mochte, doch die Argumente sind halbherzig, beliebig. Hier fehlen Informationen. Beweise bleiben unerfasst. Jedes Mal, wenn die Sonne an einem Tag in Boca Grande untergeht, scheint dieser Tag aus dem örtlichen Gedächtnis zu verschwinden, um neu erfunden zu werden, wenn es nötig ist, aber nie erinnert. Einmal bat ich den Bibliothekar der Intellectual Union, mir für Charlotte ein Geschichtsbuch von Boca Grande zu empfehlen. »Boca Grande hat keine Geschichte«, sagte der Bibliothekar, und er schien zufrieden, dass ich gefragt hatte, als hätten wir gemeinsam einen katechetischen Punkt des Nationalstolzes getroffen.

»Boca Grande hat keine Geschichte«, wiederholte ich Charlotte gegenüber, aber wieder verstand Charlotte nicht ganz, worauf ich hinauswollte. Charlotte bereitete zu jener Zeit einen »Brief« vor, der Boca Grande als »wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt der Amerikas« beschrieb. Es stimmte, dass Flugzeuge zwischen, sagen wir, Los Angeles und Bogotá oder New York und Quito manchmal in Boca Grande zum Auftanken zwischenlandeten und eine überhöhte Landegebühr bezahlten. Es stimmte ebenfalls, dass Passagiere auf solchen Flügen oft einen oder zwei Dollar in den Automaten am Flughafen hinterließen in der Zeit, die es zum Auftanken brauchte, aber Einnahmen aus einer Landegebühr und achtzehn Automaten schienen für mich keinen wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt auszumachen.

Ich wies Charlotte darauf hin.

Boca Grande exportiert Kopra, sagte Charlotte. In erster Linie deine.

Boca Grande exportierte tatsächlich Kopra, in erster Linie meine, und Boca Grande exportierte in etwa demselben Dollarvolumen auch Papageien, Anakondahäute und Makramee-Schals.

Was ich völlig übersehen würde, sagte Charlotte, sei das, was aus Boca Grande »werden könne«.

Ein »Brief« aus einer Stadt oder einem Land, erklärte ich, werde gewöhnlich als ein Tatsachenbericht über diese Stadt oder dieses Land verstanden, nicht im Sinne dessen, was es »werden könne«, sondern was es »war«.

Nicht unbedingt, sagte Charlotte.

Ein anderer von Charlottes Briefen beschäftigte sich mit dem »hoffnungsvollen Geist«, den sie in den favelas vermutete. In Boca Grande gibt es keine favelas, selbst das Wort ist portugiesisch. Es gibt Armut hier, aber sie ist absolut ununterscheidbar von Komfort. Wir wohnen alle in Betonhäusern. Charlotte wollte Farbe. In Bezug auf Farbe konnte ich ihr nur sagen, dass das Hotel del Caribe angeblich den größten Tanzsaal Zentralamerikas besaß, aber das stellte Charlotte nicht zufrieden. Das Licht auch nicht.

2

Nennen Sie das meinen eigenen Brief aus Boca Grande.

Nein. Nennen Sie es, wie ich Ihnen gesagt habe. Nennen Sie es mein Zeugnis von Charlotte Douglas.

Ein oder zwei Fakten über den Ort, an dem Charlotte starb und ich lebe. Boca Grande bedeutet »großer Mund« oder große Bucht und benennt das wichtigste physische Merkmal des Landes exakt als das, was es ist. Beinahe alles in Boca Grande nennt sich selbst exakt so, wie es ist, als würde jede Mehrdeutigkeit in der Benennung die Gegenwart ebenso spurlos versinken lassen wie die Vergangenheit. Der Rio Blanco sieht weiß aus. Der Rio Colorado sieht rot aus. Die Avenida del Mar führt am Meer entlang, die Avenida de la Punta Verde führt am Grünen Punkt entlang. Der Grüne Punkt ist wirklich grün. Genau betrachtet, kenne ich nur zwei Ortsnamen in Boca Grande, die an eine Idee oder ein Ereignis oder eine Person erinnern, die entweder an eine Vergangenheit der Eingeborenen oder an die der Kolonialzeit rühren.

Eine der beiden Ausnahmen ist »Millonario«.

Wie in Millonario Province.

So benannt, weil dort unsere Palmen wachsen und unsere Kopra gemahlen wird und der Vater meines Mannes der Reiche war, der millonario, der Hochstapler aus St. Louis namens Victor Strasser, der im Alter von dreiundzwanzig Jahren Geld in Missouri auftrieb, um Ölrechte zu kaufen, im Alter von vierundzwanzig Jahren nach einem gescheiterten Versuch, Sonora zu erobern, aus Mexiko floh, und im Alter von fünfundzwanzig Jahren nach Boca Grande kam. Nach seiner Genesung von der Cholera heiratete er eine Mendana und veräußerte ihrer Familie das Landesinnere von Boca Grande.

Victor Strasser starb mit fünfundneunzig, und in den letzten sechzig Jahren seines Lebens bestand er darauf, Don Victor genannt zu werden.

Ich nannte ihn Mr Strasser.

Es gibt Millonario, und es gibt außerdem »Progreso«. Eigentlich gibt es zwei Progresos, El Progreso primero und El Progreso otro. Das erste Progreso war der große Entwurf meines Schwagers Luis, das Spielzeug seiner fünfzehnmonatigen Präsidentschaft, seine neue Stadt, seine Hauptstadt, zwanzig aufeinander abgestimmte Glaspyramiden, durchschnitten von vier achtspurigen Boulevards, die alle in der Bucht aufgeschüttet und bis vor Kurzem durch einen Damm mit dem Festland verbunden waren. Die aufeinander abgestimmten Glaspyramiden wurden nie fertiggestellt, aber die achtspurigen Boulevards schon. Bis vor wenigen Jahren, als der Damm einstürzte, nahm ich meinen Lunch mit hinaus ins erste Progreso und aß dort allein zu Mittag, wobei ich an der Stelle eines geplanten Denkmals saß, an der alle vier leeren Boulevards zusammenliefen. Auf der Aufschüttung zwischen den Boulevards wuchs Bambus durch die großen Bechtel-Kräne, stillgelegt seit dem Tag, an dem Luis erschossen wurde. Luis war der letzte meiner Schwäger, der sich in eine so exponierte Position wie die des El Presidente brachte. Seit Luis bevorzugen sie für sich tendenziell das Verteidigungsministerium und überlassen die Präsidentschaft entbehrlichen angeheirateten Cousins. Nachdem Luis erschossen wurde, verstopften Wasserhyazinthen jahrelang die Abflusskanäle in Progreso, und nach einem Regen standen die Boulevards den ganzen Tag unter Wasser, der Wasserfilm schimmerte von Mückenlarven und regenbogenfarbenem Schlick aus rostenden Öltanks. Bis zum Kollaps ging ich vielleicht einmal die Woche dort hinaus und blieb fast den ganzen Nachmittag. Mir kommt es vor, als wäre ich der einzige Mensch in Boca Grande, dem der Kollaps des Progreso-Damms ungelegen kam.

Irgendwann nach dem Kollaps nahm Gerardo Charlotte im Boot mit nach Progreso.

Ich erinnere mich, dass ich Charlotte beim Abendessen fragte, ob sie Progreso primero als ebenso friedlich empfunden habe wie ich.

Charlotte fing an zu weinen.

Progreso otro, das Charlottes eher teleologische Sicht auf menschliche Siedlungen wohl noch radikaler herausgefordert haben dürfte, habe ich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Auch sonst niemand. Dieses zweite Progreso war eine weitere neue Stadt, im Landesinneren von einem amerikanischen Aluminiumkonzern auf Pachtland gebaut (unserem) während der hiesigen Bauxit-Schimäre. (Es gab Bauxit, ja, aber nicht so viel, wie die Geologen vorhergesagt hatten, nicht genug, um Progreso otro zu rechtfertigen.) Als die Minen geschlossen wurden, blieben eine Handvoll Ingenieure da und versuchten, irgendeinen wirtschaftlichen Nutzen aus den aluminiumhaltigen Lateritböden zu ziehen, die den Großteil des Vorkommens ausmachten, aber einer nach dem anderen bekam Fieber oder kündigte oder wechselte in die Konzernzentrale nach Venezuela. Die beiden letzten gingen 1965. Die Straße dorthin, deren Bau vierunddreißig Millionen amerikanische Dollar kostete, ist aus der Luft immer noch erkennbar, ziemlich deutlich, eine gerade Linie blasser Vegetation. Mein Mann wollte die Straße erhalten, sagte immer, dass das Landesinnere Dinge besäße, zu denen wir eventuell Zugang würden haben wollen, aber nachdem Edgar gestorben war, ließ ich sie zuwachsen. Was ich vom Landesinneren wollte, hatte mit Zugang nichts zu tun.

Edgar war der älteste der vier Söhne von Victor Strasser und Alicia Mendana.

Luis, der Bruder, der Edgar altersmäßig am nächsten war, war der, der im April 1959 auf den Stufen vor dem Präsidentenpalast erschossen wurde.

Sie werden erraten haben, dass ich in eine von drei oder vier zahlungskräftigen Familien in Boca Grande eingeheiratet habe. Genau genommen bewirkte Edgars Tod, dass ich die vermeintliche Kontrolle über neunundfünfzig Komma acht Prozent der Anbauflächen hatte und etwa zur gleichen Prozentzahl an den Entscheidungsprozessen in La Republica (neuerdings La Republica Libre) de Boca Grande beteiligt war. El Presidente trägt dieses Jahr eine Seglermütze. Die beiden jüngeren Strasser-Mendana-Brüder, Little Victor und Antonio, die beiden, die Edgar und Luis los mosquitos nannten, sind nur mit einem Fonds am Vermögen beteiligt, den ich aufgelegt habe. Victor und Antonio gefällt dieses Arrangement nicht besonders, auch ihren Ehefrauen Bianca und Isabel gefällt es nicht oder Luis’ Witwe Elena, aber so ist es. (Ein kleines Beispiel dafür, warum es so ist. Am Tag, als Luis erschossen wurde, flog Elena ins Exil nach Genf, eine theatralische Geste, allerdings unnötig, da der Coup schon vorbei war, noch ehe ihr Flugzeug die Startbahn verlassen hatte, und Little Victor die vorläufige Kontrolle über die Regierung übernommen hatte. Die Ehefrau jedes anderen lateinamerikanischen Präsidenten hätte sofort gewusst, dass ein Coup, bei dem der Flughafen offen blieb, ein zum Scheitern verurteilter Coup war, aber Elena hatte keinen Instinkt für das Leben als Frau eines lateinamerikanischen Präsidenten. Sie ist auch keine besonders geeignete Präsidentenwitwe. Wie auch immer. Einige Wochen später kam Elena zurück. Edgar, sein Vater und ich holten sie vom Flughafen ab. Sie trug eine getönte Brille und einen neuen Balenciaga- Mantel, grasgrün. Sie hatte einen farblich dazu passenden Papagei dabei. Sie hatte diesen Papagei nicht aus Boca Grande mitgenommen. Sie hatte den Papagei an diesem Morgen in Genf gekauft, für siebenhundert Dollar.) Jedenfalls gibt es in ganz Boca Grande nicht so viel Geld, wie ich laut dem Vorwurf von Victor, Bianca, Antonio, Isabel und Elena in der Schweiz versteckt haben soll.

Streichen Sie Bianca.

Bianca wirft mir nicht vor, Geld in der Schweiz versteckt zu haben, weil Bianca an der Sacré Cœur in New Orleans gelernt hat, dass sich Diskussionen über Geld nicht gehören. Streichen Sie auch Isabel. Isabel wirft mir nicht vor, Geld in der Schweiz versteckt zu haben, weil Isabel so selten hier ist und ihr Arzt in Arizona ihr gesagt hat, dass Diskussionen über Geld den Fluss transzendentaler Energie stören.

Ich lebe nur deshalb weiterhin hier, weil ich das Licht mag.

Und weil mich immer mal wieder die Bemühungen meiner noch übrig gebliebenen Schwäger beschäftigen, aus dem Roten Kreuz Profit zu schlagen.

Und weil meine Tage zu gezählt sind, um sie in New York oder Paris oder Denver zu verbringen und mir das Licht in Boca Grande vorzustellen, wie flach es ist, wie grell und still. Wie totenbleich am Mittag.

Eines zumindest habe ich mit Charlotte gemeinsam: Ich habe mein Kind verloren. Gerardo ist für mich verloren. Ich höre regelmäßig von ihm, sehe ihn viel zu oft, rede mit ihm über Politik und neue Filme und die Knospenfäule, die wir bei den Gehölzen im Landesinneren erleben, aber ich rede wie eine Bekannte mit ihm. In Boca Grande fährt er einen Alfa Romeo 1750. In Paris, wo er fünfzehn Jahre lang mit verschiedenen Studentenvisa immer wieder gelebt hat, fährt er Motorrad, eine Suzuki 500. Ich stelle mir Gerardo immer auf Rädern vor oder auf Ski. Ich mag ihn, aber inzwischen nicht mehr allzu sehr. Gerardo verkörpert viele der Misserfolge, die es auf dieser Seite der Welt gab, den Machismo, der eher eine Wunschvorstellung ist, die vernichtende Rührseligkeit, die Überzeugung, dass er aristokratischer Herkunft sein müsse; eine grundsätzliche Haltung, der ich nichts abgewinnen kann. Gerardo ist der Enkel von zwei amerikanischen Ölsuchern, die reich geworden sind, mein Vater mit Mineralien in Colorado und Edgars Vater mit Politik in Boca Grande, und dem irischen Kindermädchen und der mestiza aus dem Landesinneren, die sie jeweils heirateten. Trotzdem beharrt er weiter darauf, seine Linie bis zum Hof von Kastilien zurückverfolgen zu können. Auf dem Gebiet der Täuschung passen Gerardo und Charlotte gut zusammen.

Ich erzähle Ihnen das nur deshalb über mich, um meiner Stimme Legitimation zu verleihen. Wir fühlen uns erst wohl mit einer Geschichte, wenn wir wissen, wer sie erzählt. Sonst spielt es keine Rolle, wer »ich« bin: »Die Erzählerin« spielt keine Hauptrolle in dieser Erzählung, das würde ich auch nicht wollen.

Natürlich spielt Gerardo eine Hauptrolle. Darüber täusche ich mich nicht.

Anders als Charlotte träume ich mein Leben nicht.

Ich versuche, stärker zu differenzieren.

Ich werde sterben (und zwar ziemlich bald, an Bauchspeicheldrüsenkrebs), weder hoffnungsvoll noch mit dem Gegenteil dessen. Ich bin nur insofern an Charlotte Douglas interessiert, als sie in Boca Grande vorbeischaute, nur insofern, als sich mir die Bedeutung ihres Aufenthaltes weiterhin entzieht.

3

Laut Pass, Einreisevisum und internationalem Impfausweis wurde Charlotte Amelia Douglas in Hollister, Kalifornien, vierzig Jahre vor ihrer Einreise nach Boca Grande geboren, war zum Zeitpunkt dieser Einreise eine verheiratete Bürgerin aus San Francisco, Kalifornien, war einen Meter siebenundsechzig groß, hatte rote Haare, braune Augen, keine auffälligen Erkennungsmerkmale und war gegen Windpocken, Cholera, Gelbfieber, Fleckfieber, Typhus und Paratyphus A und B geimpft. Der Pass war vier Monate zuvor in New Orleans, Louisiana, erneuert worden und trug Einreisestempel und Ausreisestempel von Antigua und Guadeloupe, ungenutzte Visa für Australien und das British Solomon Islands Protectorate, ein mexikanisches Touristenvisum, abgestempelt in Mérida, ein Visum für und einen Einreisestempel von Boca Grande und keinen Hinweis darauf, dass die Besitzerin des Passes die Vereinigten Staaten in den vier Monaten nach Erneuerung des Passes noch einmal betreten hatte. Nationalität NORTE­AMERICANA. Art des Visums TURISTA. Beruf MADRE.

Mir schien es viele Ungereimtheiten in diesen Dokumenten zu geben, nicht zuletzt Charlotte Amelia Douglas’ Entscheidung, nach Boca Grande einzureisen, aber keines dieser Details fiel Victor auf, Little Victor, der angeordnet hatte, dass der Pass heimlich aus dem Safe des Hotel del Caribe entfernt wurde, weil dessen Nummer auf einer Liste des State Department der USA auftauchte, für Reisende, für die eine bestimmte Sonderbehandlung vorgesehen war.

4

Als Charlotte gerade erst nach Boca Grande gekommen war, wurde sie immer la norteamericana genannt. La norte­americana hatte die ganze Nacht fleißig in ihrem Zimmer im Caribe getippt, la norteamericana hatte um zwei Uhr morgens einen Arzt geweckt, um sich nach den Symptomen von Kinderframbösie zu erkundigen. La norteameri­cana hatte den Manager des Caribe darauf hingewiesen, dass er verrückt war, den Dienstmädchen zu erlauben, die Wasserkaraffen aus dem Hahn zu füllen. La norteamericana hatte einen Kellner im Jockey Club gefragt, ob es normal wäre, dass Marihuana in der Küche verwendet würde. La norte­americana war eines Nachts in einem dünnen Morgenmantel aus Baumwolle heruntergekommen, als der Generator des Caribe ausgefallen war, und hatte bis drei Uhr morgens allein im Dunkeln am Flügel gesessen und mit einer Hand wieder und wieder und in jedem erdenklichen Tempo die Melodie eines einzigen Liedes geklimpert. Diese Geschichte erzählte mir ein Nachtwächter des Caribe, der Bruder einer Frau, die für Victor und Bianca kochte, und er versuchte, das Lied zu summen, das la norteamericana wieder und wieder gespielt hatte. Das Lied hieß »Mountain Greenery«.

In diesen ersten Wochen, bevor einer von uns sie getroffen hatte, schien sie nur am Abend aufzutauchen. Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang konnte man sie durch das leere Casino im Caribe gehen sehen, wie sie den trägen Croupiers und den Polizeibeamten zunickte, die für das Casino abgestellt worden waren, und vor den Fenstern tief Luft holte, ganz so, als könnte die frische Luft tatsächlich durch die staubigen blauen Samtvorhänge dringen, die den Raum säumten. Sie inspizierte die Tische einen nach dem anderen, spielte aber nicht. Nach dieser rituellen Runde durch das Casino ging sie in die Lobby weiter, ihr Schritt beschwingt, zielstrebig. Später sah man sie allein auf der Terrasse des Capilla del Mar oder des Jockey Club essen, im Jockey Club immer am selben Tisch, dem Tisch unterhalb der Fotografie des venezolanischen Polo-Teams, das Boca Grande 1948 einen Besuch abgestattet hatte. Sie drehte die Beine eines stachligen Hummers zwischen ihren erstaunlich weißen Zähnen und las den Miami Herald, wobei sie die Kleinanzeigen ebenso aufmerksam las wie die erste Seite, beides gleichermaßen begierig und gründlich, während sie den stachligen Hummer aß.

Ich habe sie an einigen Abenden im Jockey Club gesehen und an anderen von ihr gehört. Wie so vieles Menschengemachte in Boca Grande ist auch der Jockey Club mehr Schein als Sein: ein aluminiumverkleideter Bungalow mit Kartentischen aus Rattan und einer Speisekarte in Französisch, die in der Küche in merkwürdige Gumbos übersetzt wird, die hauptsächlich auf Kochbananen und Reis basieren. Obwohl jede und jeder Reisende eine Gästekarte für den Jockey Club erhalten konnte, wenn man am Ticketschalter einer Fluggesellschaft darum bat, machten sich nicht viele die Mühe. Einst gab es einen Neun-Loch-Golfplatz, aber dann schwemmte es den Rasen auf, der sich daraufhin in einen Sumpf zurückverwandelte. Einst gab es einen künstlich angelegten Badesee, aber dann wurde der See von Süßwasserschnecken heimgesucht, die daraufhin wiederum von Schistosoma mansoni-Würmern heimgesucht wurden. Der See wurde erst trockengelegt, als eines von Antonios und Isabels Kindern an Magen- und Darmbluten litt wegen etwas, das in New Orleans als Schistosomiasis diagnostiziert wurde. Das Trockenlegen des künstlichen Sees blieb im Jockey Club nicht unkommentiert. Elena war dagegen. Elena hatte erst vor Kurzem ihre Mitgliedschaft im Jockey Club gekündigt, nachdem die Mitglieder, angeführt von Victor, ihren Antrag abgelehnt hatten, den Club in Le Cercle Sportif umzubenennen.

Elena stammt von der Küste Guatemalas, bevorzugt aber alles Französische. Elenas Kündigung blieb im Jockey Club nicht unkommentiert.

Kurzum.

Die Anwesenheit dieser verdächtigen norteamericana Abend für Abend am selben Tisch blieb im Jockey Club ganz sicher nicht unkommentiert. Im Grunde wäre es überall schwierig gewesen, Charlotte Douglas nicht zu bemerken. Da war die extreme und dünne Wackligkeit dieser Frau. Da war das hellrote Haar, das in der feuchten Hitze lockig wurde und ihr Gesicht umwallte und fast mehr Gewicht zu haben schien, als sie tragen konnte. Da war der große quadratische Smaragd, den sie anstelle eines Hochzeitsrings trug, da war die teure Kleidung, die in ihrer gerade noch erkennbaren Verwahrlosung (die Sicherheitsnadel, die den Saum des irischen Leinenrocks zerknitterte, der Verschluss, der die Sechshundertdollar-Handtasche nicht ganz schloss) eine ebensolche moralische Verwahrlosung preisgab, eine Verletzlichkeit oder Verlassenheit.

Und es gab diese Form von Exhibitionismus, pervers und manchmal witzig, bis er zu weit ging und den Beobachter ermüdete. Wenn Charlotte Douglas am Nachbartisch irgendwen Englisch sprechen hörte, griff sie ins Gespräch ein, schlug Touren vor, Sehenswürdigkeiten, die man nicht verpassen durfte. Weil es in Boca Grande weder herkömmliche »Sehenswürdigkeiten« gab noch Touristen, nur den gelegentlichen Geologen oder CIA-Mann, unterwegs zu der einen oder anderen ungreifbaren AID-Mission, endeten diese Begegnungen gewöhnlich in obskuren sexuellen Missverständnissen und Fassungslosigkeit. Nach dem Essen kehrte sie allein zum Hotel zurück, wobei sie ihre Schritte mit Bedacht setzte und ein Tuch, das im heißen Abendwind flatterte, festband und noch einmal neu band, scheinbar so auf das Tuch konzentriert, als wäre sie sich der Schlaglöcher im Gehweg und der Stellen, an denen Müll in den Rinnstein schwemmte, nicht bewusst. An der Rezeption des Caribe fragte sie in einem holprigen, aber fehlerfrei einstudierten kastilianischen Spanisch, das der Nachtwächter Mühe hatte zu verstehen, ob Nachrichten gekommen seien. Wie Victor berichtet wurde, gab es nie irgendeine Art von Nachricht.