Slouching Towards Bethlehem - Joan Didion - E-Book

Slouching Towards Bethlehem E-Book

Joan Didion

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Beschreibung

Gefeiert, ikonisch und unverzichtbar: Slouching Towards Bethlehem gilt als Wendepunkt der amerikanischen Literatur Joan Didions erste Essaysammlung ist ein unverzichtbares Porträt Amerikas in den Sechzigerjahren. Didion fängt die Orientierungslosigkeit eines Landes ein, das sich durch den sozialen Wandel selbst zerreißt. Ihre Essays beschreiben mehr als nur die mörderische Hausfrau, Pearl Harbor, Hippies oder ihren Heimatstaat Kalifornien; sie bieten eine umfassendere Vision von Amerika, die sowohl erschreckend als auch zärtlich, bedrohlich und einzigartig ist. »Eine reiche Darbietung der besten Prosa, die in diesem Land geschrieben wurde.« The New York Times Book Review

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Slouching Towards Bethlehem

Die Autorin

JOAN DIDION, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischenLiteratur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021.ANTJE RÁVIK STRUBEL lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Deutschen Buchpreis 2021 für Blaue Frau. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen, u. a. Virginia Woolf und Lucia Berlin.

Das Buch

In ihren bahnbrechenden Essays fängt Joan Didion die Orientierungslosigkeit eines Landes ein, das sich durch den sozialen Wandel selbst zerreißt. Auch Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung ist Slouching Towards Bethlehem ein unverzichtbares Porträt Amerikas in den Sechzigerjahren und »eine reiche Darbietung der besten Prosa, die in diesem Land geschrieben wurde.« The New York Times Book Review

Joan Didion

Slouching Towards Bethlehem

Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel Slouching Towards Bethlehem bei Farrar, Straus and Giroux.Der Ullstein Verlag dankt allen Rechteinhabern für die Erlaubnis, aus folgenden Werken zu zitieren:William B. Yeats: Die Gedichte. Neu übersetzt von Marcel Beyer,Mirko Bonné, Gerhard Falkner, Norbert Hummelt, Christa Schuenke.Herausgegeben von Norbert Hummelt. © 2005 Luchterhand Literaturverlag, München.Norman Mailer: The Deer Park. © 1955 G.P. Putnam’s Sons, New York.W. S. Merwin: »After Some Years«. © 1957 Harper’s Magazine, New York.Trotz intensiver Bemühungen war es nicht möglich, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Wir bitten diese, sich gegebenenfalls an den Verlag zu wenden.ISBN: 978-3-8437-2840-9© 1961, 1964, 1965, 1966, 1967, 1968 by Joan Didion© der deutschsprachigen Ausgabe:2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: © zero-media.net, München nach dem Cover der Originalausgabe von Lawrence RatzkinAutorinnenfoto: © Brigitte LacombeAlle Rechte vorbehalten.E-Book-Konvertierung powered by pepyrus

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Vorwort

1

     

Leben im Goldenen Land

Sie träumen einen Goldenen Traum

John Wayne: Ein Liebeslied

Wo die Küsse niemals enden

Genosse Laski, C.P.U.S.A. (M.-L.)

7000 Romaine, Los Angeles 38

Kalifornische Träume

Absurdes Heiraten

Slouching Towards Bethlehem

2     Persönliches

Vom Sinn, ein Notizbuch zu besitzen

Über Selbstachtung

Mir will dieses Monster nicht aus dem Kopf

Über Moral

Vom Nachhausekommen

3     Sieben Innenwelten

Notizen einer Tochter des Landes

Brief aus dem Paradies, 21° 1919’ N, 157° 5252’ W

Fels der Zeit

Küste der Verzweiflung

Guaymas, Sonora

Notizen aus Los Angeles

Das Spiel ist aus

Anhang

Dank

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für Quintana

The Second Coming

Turning and turning in the widening gyreThe falcon cannot hear the falconer;Things fall apart; the centre cannot hold;Mere anarchy is loosed upon the world,The blood-dimmed tide is loosed, and everywhereThe ceremony of innocence is drowned;The best lack all conviction, while the worstAre full of passionate intensity.Surely some revelation is at hand;Surely the Second Coming is at hand.The Second Coming! Hardly are those words outWhen a vast image out of Spiritus MundiTroubles my sight: somewhere in sands of the desertA shape with lion body and the head of a man,A gaze blank and pitiless as the sun,Is moving its slow thighs, while all about itReel shadows of the indignant desert birds.The darkness drops again; but now I knowThat twenty centuries of stony sleepWere vexed to nightmare by a rocking cradle,And what rough beast, its hour come round at last,Slouches towards Bethlehem to be born?

William Butler Yeats

Das Zweite Kommen

Drehend und drehend im sich weitenden KreiselKann der Falke den Falkner nicht hören;Alles zerfällt; die Mitte hält es nicht.Ein Chaos, losgelassen auf die Welt,Die Flut, bluttrüb, ist los, und überallErtränkt der Unschuld feierlicher Brauch;Die Besten zweifeln bloß, derweil das PackVoll leidenschaftlichem Erleben ist.Sicher steht eine Offenbarung an;Sicher steht jetzt das Zweite Kommen an.Das Zweite Kommen! Kaum daß das gesagt ist,Verwirrt ein Riesenbild vom Spiritus MundiMein Auge: Irgendwo im Sand einer WüsteRegt ein Geschöpf mit Löwenleib und Kopf vom Menschen,Sein Blick so starr und mitleidlos wie die Sonne,Langsam die Glieder, während rings die SchattenDer ungehaltenen Wüstenvögel wirbeln.Dann wieder Dunkelheit; doch weiß ich jetzt,Zweitausend Jahre schliefen wie ein Stein,Weil eine Wiege sie zum Albtraum zwang,Bloß welches derbe Tier, ist reif die Zeit erst,Schlurft bethlehemwärts, um zur Welt zu kommen?

William Butler YeatsDeutsch von Mirko Bonné

Vorwort

Vorwort

Dieses Buch heißt Slouching Towards Bethlehem, weil einige Zeilen aus dem Yeats-Gedicht, das vorn steht, seit mehreren Jahren in meinem Innenohr widerhallen, als wären sie dort chirurgisch eingepflanzt worden. Der sich ausbreitende Wirbelsturm, der Falke, der den Falkner nicht hört, der Blick leer und erbarmungslos wie die Sonne; das waren meine Bezugspunkte, die einzigen Bilder, vor denen vieles von dem, was ich sah, hörte und dachte, überhaupt irgendein Muster zu ergeben schien.

»Slouching Towards Bethlehem« ist auch der Titel eines Essays in diesem Buch, und dieser Essay, der aus einer Zeit stammt, die ich im Haight-Ashbury-Viertel von San Francisco verbrachte, war für mich der, den ich am dringlichsten schreiben wollte, und der, der mich als einziger mutlos machte, nachdem er veröffentlicht worden war. Es war das erste Mal, dass ich mich unmittelbar und ausdrücklich mit den Anzeichen einer Atomisierung der Gesellschaft beschäftigt hatte, mit den Beweisen, dass die Dinge auseinanderfielen: Ich ging nach San Francisco, weil ich mehrere Monate nicht in der Lage gewesen war zu arbeiten, weil mich die Überzeugung gelähmt hatte, dass Schreiben irrelevant war, dass es die Welt, wie ich sie verstanden hatte, nicht mehr gab. Um überhaupt wieder arbeiten zu können, musste ich mich mit dem Zerfall auseinandersetzen. Deshalb war dieser Essay für mich wichtig. Und nachdem er gedruckt war, sah ich, dass es mir nicht gelungen war, mich vielen der Menschen, die den Essay gelesen und ihn sogar gemocht hatten, verständlich zu machen, obwohl ich die Dinge doch unmittelbar und ausdrücklich gesagt zu haben glaubte. Es war mir nicht gelungen, ihnen klarzumachen, dass ich über etwas Grundsätzlicheres sprach als über eine Handvoll Kinder, die Mandalas auf ihrer Stirn trugen.

Discjockeys riefen bei mir zu Hause an und wollten (im Radio) über »den Abschaum« in Haight-Ashbury reden, und Bekannte gratulierten mir, dass ich den Artikel »gerade noch rechtzeitig« veröffentlicht hatte, weil »diese Spinnerei doch jetzt vorbei sei, fini, kaputt«. Vermutlich plagt alle, die schreiben, hin und wieder der Verdacht, dass da draußen niemand zuhört, aber damals schien es mir (vielleicht weil der Artikel für mich so wichtig war), als hätte ich noch nie Rückmeldungen bekommen, die so gründlich danebenlagen.

Fast alle Essays dieses Buchs wurden zwischen 1965 und 1967 für Zeitschriften geschrieben und meistens waren sie, um diese Frage gleich zu Beginn aus dem Weg zu räumen, »meine Idee«. Ich wurde gebeten, ins Carmel Valley zu fahren und über das Institut von Joan Baez zu berichten; ich wurde gebeten, nach Hawaii zu fliegen; ich glaube, man bat mich, über John Wayne zu schreiben; und um die kurzen Essays »Über Moral« und »Über Selbstachtung« baten mich The American Scholar und Vogue. Dreizehn der zwanzig Texte erschienen in The Saturday Evening Post. Häufig schreiben mir Leute aus Orten wie Toronto und wollen wissen (verlangen zu wissen), wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könne, für eine konservative Wochenzeitschrift wie The Saturday Evening Post zu schreiben; die Antwort ist ganz einfach. Die Post ist offen für das, was die Autorinnen und Autoren wollen, sie zahlt ihnen genug, damit sie es auch gut machen können, und achtet peinlich genau darauf, das Manuskript nicht zu verändern. Ich gebe für die Post hin und wieder eine Feinheit im Tonfall auf, halte das aber nicht für ein Verbiegen. Natürlich handeln nicht alle Texte in diesem Buch vom allgemeinen Zerfall, von Dingen, die auseinanderbrechen; das wäre ein großer und anmaßender Anspruch, viele der Texte sind klein und persönlich. Aber da ich weder das Auge einer Kamera bin noch dazu neige, Texte zu schreiben, die mich nicht interessieren, spiegelt, was immer ich schreibe, – manchmal ohne mein Zutun – doch meine Befindlichkeit wider.

Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch zu diesen Texten sagen könnte. Vielleicht, dass ich einige lieber mochte als andere, aber alle schwierig zu schreiben waren und mehr Zeit kosteten, als sie es vielleicht wert waren; dass ich beim Schreiben eines Textes immer an einen Punkt komme, wo ich in einem Zimmer sitze, das mit falschen Anfängen buchstäblich tapeziert ist, kein Wort mehr vor das nächste setzen kann und mir einbilde, ich hätte einen leichten Schlaganfall erlitten, der mich scheinbar unbeschädigt, aber in Wirklichkeit mit Aphasie zurückgelassen hat. Als ich »Slouching Towards Bethlehem« schrieb, war ich krank wie nie zuvor; der Schmerz hielt mich nachts wach, und so trank ich zwanzig, einundzwanzig Stunden hintereinander Gin mit heißem Wasser, um den Schmerz zu betäuben, und nahm Dexedrin, um den Gin zu betäuben, und schrieb. (Ich würde Sie gern glauben machen, dass meine Arbeit auf echter Professionalität beruhte, um die Abgabetermine einzuhalten, aber das entspräche nicht ganz der Wahrheit; es war auch eine unruhige Zeit, und die Arbeit wirkte auf die Unruhe wie der Gin auf den Schmerz.) Was gibt es sonst noch zu sagen? Ich bin nicht gut darin, Leute zu interviewen. Ich vermeide Situationen, in denen ich mit PR-Agenten reden müsste. (Das schließt Artikel über Schauspieler schon von vornherein aus, was mir durchaus entgegenkommt.) Ich führe nicht gern Telefonate und möchte nicht wissen, wie oft ich morgens auf dem Bett irgendeines Best Western Hotels saß und versuchte, mich dazu zu bringen, endlich den stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt anzurufen. Mein einziger Vorteil als Journalistin besteht darin, dass ich von so kleiner Statur bin, so unscheinbar und auf so neurotische Weise um Worte verlegen, dass die Leute anfangen zu vergessen, dass meine Anwesenheit ihren Interessen schaden könnte. Und sie schadet immer. Denn eines sollte man niemals vergessen: Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer.

1     Leben im Goldenen Land

Sie träumen einen Goldenen Traum

Diese Geschichte handelt von Liebe und Tod im Goldenen Land und beginnt im Ländlichen. Das San Bernardino Valley liegt nur eine Stunde östlich von Los Angeles am San Bernardino Freeway, ist aber in gewisser Weise ein fremder Ort: nicht das küstennahe Kalifornien der subtropischen Sonnenuntergänge und der milden Westwinde am Pazifik, sondern ein raueres Kalifornien, wo die Mojave-Wüste hinter den Bergen lauert, verwüstet vom heißen trockenen Santa-Ana-Wind, der mit hundertsechzig Stundenkilometern die Pässe hinabfegt, durch die Windschutzpflanzungen des Eukalyptus heult und an den Nerven zerrt. Der Oktober ist der Monat mit dem schlimmsten Wind, der Monat, in dem das Atmen schwerfällt und die Hügel sich selbst in Brand setzen. Seit April hat es nicht mehr geregnet. Jede Stimme wird zum Schrei. Es ist die Zeit der Suizide und Scheidungen und des prickelnden Grauens, wo auch immer der Wind weht.

Die Mormonen besiedelten einst dies unheilvolle Land und dann verließen sie es, aber als sie weggingen, war der erste Orangenbaum gepflanzt und in den nächsten Hundert Jahren lockte das San Bernardino Valley einen Menschenschlag an, der davon träumte, inmitten der Zauberfrüchte zu leben und in der trockenen Luft zu gedeihen, Menschen, die, was das Bauen, Kochen und Beten betraf, die Gepflogenheiten des Mittleren Westens mitbrachten und versuchten, sie diesem Landstrich einzupflanzen. Das ging auf merkwürdige Art und Weise vor sich. Dies hier ist das Kalifornien, in dem man leben und sterben kann, ohne jemals eine Artischocke gegessen zu haben, ohne je einem Katholiken oder Juden begegnet zu sein. Dies ist das Kalifornien, in dem es leicht ist, ein Bibeltelefon anzurufen, aber schwer, ein Buch zu kaufen. Dies ist das Land, in dem sich der Glaube an die wortgetreue Auslegung der Schöpfungsgeschichte unmerklich in den Glauben an die wortwörtliche Auslegung der Klausel Doppelte Abfindung verwandelt hat, das Land der toupierten Haare, der Caprihosen und der Mädchen, für die das große Versprechen des Lebens auf ein weißes Hochzeitskleid mit langem Schleier und die Geburt einer Kimberly oder Sherry oder Debbi hinausläuft, auf eine Scheidung in Tijuana und die Rückkehr an die Friseurschule. »Wir waren einfach nur verrückte Kinder«, sagen sie ohne Bedauern und schauen in die Zukunft. Die Zukunft sieht immer gut aus im Goldenen Land, weil sich niemand an die Vergangenheit erinnert. Dies ist das Land, in dem ein heißer Wind weht und die alten Gepflogenheiten irrelevant erscheinen, wo die Scheidungsrate doppelt so hoch ist wie im US-amerikanischen Durchschnitt und wo einer von achtunddreißig Menschen in einem Trailer wohnt. Hier ist die Endstation für all diejenigen, die von woanders hergekommen sind, für alle die, die es aus der Kälte, der Vergangenheit und den alten Gepflogenheiten vertrieben hat. Hier versuchen sie, ein neues Leben zu finden, und nach diesem neuen Leben suchen sie einzig dort, wo sie zu suchen gelernt haben: in Filmen und Zeitungen. Im Fall von Lucille Marie Maxwell Miller hat die Boulevardpresse diesem Lebensstil ein Denkmal gesetzt.

Stellen Sie sich zunächst die Banyan Street vor, denn in der Banyan ist es passiert. In die Banyan Street gelangt man, wenn man über den Foothill Boulevard in westlicher Richtung aus San Bernardino auf die Route 66 hinausfährt: am Santa-Fe-Rangierbahnhof und am Forty Winks Motel vorbei. Das Motel hinter sich lassend, das aus neunzehn gipsverputzten Tipis besteht: »SCHLAFEN SIE IN EINEM WIGWAM – ERHALTEN SIE MEHR FÜR IHR WAMPUM.« An Fontana Drag City und der Fontana-Kirche der Nazarener und am Boxenstopp A Go-Go vorbei, an Kaiser Steel vorbei, durch Cucamonga in Richtung der Restaurant-Bar Kapu Kai und einigen Cafés, wo sich die Route 66 und die Carnelian Avenue kreuzen. Vom Kapu Kai geradeaus über die Carnelian Avenue, eine Trabantenstadt namens »Forbidden Seas«, deren Flaggen im rauen Wind knattern. »VIERTAUSEND QUADRATMETER-RANCHES! SNACKBARS! TRAVETIN-EINTRÄGE! $ 95 ANZAHLUNG.« Das sind die Spuren fehlgeschlagener Vorhaben, das Strandgut des Neuen Kaliforniens. Aber nach einer Weile werden die Schilder auf der Carnelian Avenue weniger, und die Häuser sind nicht länger in den hellen Pastellfarben der Springtime-Hausbesitzer gestrichen, sondern werden zu den ausgeblichenen Bungalows von Menschen, die hier draußen ein paar Weinreben anbauen und sich ein paar Hühner halten, und dann steigt der Hügel stärker an, und die Straße windet sich hinauf, und auch die Bungalows werden weniger, und hier – verwahrlost, schlecht geteert, von Eukalyptusbäumen und Zitronenhainen gesäumt – liegt Banyan Street.

Wie so vieles in diesem Land hat auch die Banyan Street etwas Seltsames und Unnatürliches an sich. Die Zitronenhaine liegen tiefer, unterhalb einer ein- bis anderthalb Meter hohen Böschungsmauer, sodass man direkt in ihr dichtes Blattwerk schaut, zu üppig, zu glänzend, das Grün eines Albtraums; die abgefallene Rinde des Eukalyptus ist zu staubig, ein Brutort für Schlangen. Die Steine sehen nicht aus wie natürliche Steine, sondern wie die Trümmer eines längst vergessenen Aufruhrs. Es gibt Kohlenpfannen und eine verschlossene Zisterne. Auf der einen Seite der Banyan Street befindet sich das flache Tal, und auf der anderen Seite liegen die San Bernardino Mountains, ein dunkles Massiv, das sich zu hoch auftürmt, zwei, zweieinhalb, dreitausend Meter hoch, direkt über den Zitronenhainen. Um Mitternacht leuchtet auf der Banyan Street kein einziges Licht, und außer dem Wind im Eukalyptus und gedämpftem Hundegebell gibt es kein Geräusch. Vielleicht ist irgendwo ein Zwinger oder die Hunde sind Kojoten.

Lucille Miller fuhr in der Nacht des 7. Oktober 1964 vom rund um die Uhr geöffneten Mayfair Market die Banyan Street entlang nach Hause, eine Nacht, in der der Mond dunkel war und der Wind wehte und sie keine Milch mehr hatte, und es war etwa 00:30 Uhr, als ihr Volkswagen, Jahrgang 1964, plötzlich auf der Banyan Street zum Stehen kam, Feuer fing und zu brennen begann. Eine Stunde und fünfzehn Minuten lang lief Lucille Miller die Banyan Street auf und ab und rief um Hilfe, aber kein Auto fuhr vorbei, und keine Hilfe kam. Um drei Uhr an diesem Morgen, als das Feuer gelöscht war und die Beamten der kalifornischen Highway Patrol ihre Berichte verfassten, schluchzte Lucille Miller noch immer und redete zusammenhanglos, denn ihr Mann hatte im Volkswagen geschlafen. »Was soll ich bloß den Kindern sagen, wenn nichts übrig ist, nichts im Sarg«, sagte sie weinend zu der Freundin, die angerufen worden war, um ihr beizustehen. »Wie soll ich ihnen sagen, dass nichts übrig ist?«

Genau genommen war etwas übrig, und eine Woche später lag das, was übrig war, in der Draper-Aussegnungshalle in einem geschlossenen Bronzesarg, der mit rosafarbenen Nelken bedeckt war. Etwa zweihundert Trauergäste hörten Elder Robert E. Denton von der Seventh-Day Adventist Church of Ontario über die »Laune des Zorns, die unter uns ausgebrochen ist« sprechen. Für Gordon Miller, sagte er, würde es »keinen Tod, keinen Kummer, keine Missverständnisse mehr geben«. Elder Ansel Bristol sprach das »eigenartige« Leid der Stunde an. Elder Fred Jensen fragte: »Was nützt es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er seine eigene Seele verliert?« Es regnete leicht, ein Segen während der Trockenperiode, und eine Sängerin sang »Selig in Jesu Armen«. Der Gottesdienst wurde für die Frau des Verstorbenen auf Tonband aufgenommen, die wegen vorsätzlichen Mordes ohne Freilassung auf Kaution im San-Bernardino-County-Gefängnis saß.

Natürlich kam sie von woanders, kam aus der Prärie auf der Suche nach etwas, das sie in einem Film gesehen oder im Radio gehört hatte, denn dies ist eine Geschichte über Südkalifornien. Sie wurde am 17. Januar 1930 in Winnipeg, Manitoba, geboren, als einziges Kind von Gordon und Lily Maxwell, beide unterrichteten an einer Schule und beide gehörten sie der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten an, deren Mitglieder den Sabbat am Samstag einhalten, an eine apokalyptische Wiederkunft des Herrn glauben, einen starken Hang zum Missionieren haben und, wenn sie strenggläubig sind, nicht rauchen, nicht trinken, kein Fleisch essen, weder Make-up benutzen noch Schmuck tragen, auch keine Eheringe. Als Lucille Maxwell sich im Walla Walla College in College Place, Washington, einschrieb, die Schule der Adventisten, an der damals ihre Eltern unterrichteten, war sie eine von unauffälliger Schönheit und auffälliger Lebensfreude gekennzeichnete Achtzehnjährige. »Lucille wollte die Welt entdecken«, sagte ihr Vater rückblickend, »und ich nehme an, das hat sie getan.«

Die Lebensfreude schien für ein tiefergehendes Studium am Walla Walla College ungeeignet, und im Frühling 1949 lernte Lucille Maxwell Gordon (»Cork«) Miller kennen und heiratete ihn, einen vierundzwanzigjährigen Absolventen von Walla Walla und dem zahnmedizinischen Institut der Universität von Oregon, der als Sanitätsoffizier in Fort Lewis stationiert war. »Vielleicht könnte man es Liebe auf den ersten Blick nennen«, erinnert sich Mr Maxwell. »Bevor sie einander überhaupt offiziell vorgestellt wurden, schickte er Lucille anderthalb Dutzend Rosen mit einer Karte, auf der stand, dass er, selbst wenn sie nicht mit ihm ausgehen würde, hoffte, sie würde die Rosen hübsch finden.« Den Maxwells ist ihre Tochter als »strahlende« Braut im Gedächtnis geblieben.

Unglückliche Ehen ähneln einander so sehr, dass wir über den Verlauf dieser Ehe hier nicht allzu viel wissen müssen. Auf Guam, wo Cork und Lucille Miller lebten, während er seinen Armeedienst ableistete, mag es Probleme gegeben haben oder auch nicht. In der kleinen Stadt in Oregon, wo er seine erste private Praxis eröffnete, mag es Probleme gegeben haben oder auch nicht. Mit ihrem Umzug nach Kalifornien schien eine gewisse Enttäuschung verbunden gewesen zu sein: Cork Miller hatte Freunden gesagt, er wolle Humanmediziner werden, er sei in seinem Zahnarztberuf unglücklich und habe vor, ans College of Medical Evangelists der Siebenten-Tags-Adventisten in Loma Linda zu gehen, einige Meilen südlich von San Bernardino gelegen. Stattdessen kaufte er eine Zahnarztpraxis im westlichen Teil von San Bernardino County, und die Familie ließ sich dort nieder, in einem bescheidenen Haus in einer der Straßen voller Dreiräder und umlaufender Kredite und Träume von größeren Häusern, von besseren Straßen. Das war 1957. Im Sommer 1964 hatten sie sich zu einem größeren Haus in einer besseren Straße hochgearbeitet und besaßen die übliche Ausstattung einer Familie auf dem Weg nach oben: die 30 000 Dollar im Jahr, die drei Kinder für die Weihnachtskarte, das Panoramafenster, das Familienzimmer, die Zeitungsfotos, die »Mrs Gordon Miller, Ontario Heart Fund Chairman …« zeigten. Sie zahlten den üblichen Preis dafür. Und sie waren in der üblichen Scheidungsphase angelangt.

Es mochte generell ein schlimmer Sommer gewesen sein, alle waren mitgenommen von der Hitze, den angespannten Nerven, von Migräne und Geldsorgen, aber ihr Sommer begann besonders zeitig und war besonders schlimm. Am 24. April starb Elaine Hayton, eine alte Freundin, ganz plötzlich; Lucille Miller hatte sie am Abend vorher noch getroffen. Im Mai lag Cork Miller für kurze Zeit wegen eines blutigen Geschwürs im Krankenhaus und seine übliche Zurückgezogenheit wuchs sich zu einer Depression aus. Er sagte seinem Buchhalter, er habe es »satt, offene Münder anzuschauen«, und drohte damit, sich zu töten. Am 8. Juli hatten die üblichen Streitereien wegen Liebe und Geld im neuen Haus auf dem Grundstück an der Bella Vista 8488 die übliche Sackgasse erreicht, und Lucille Miller reichte die Scheidung ein. Innerhalb eines Monats schienen sich die Millers allerdings wieder versöhnt zu haben. Sie gingen zu einem Eheberater. Sie sprachen über ein viertes Kind. Es schien, als wäre in der Ehe die allseits bekannte Waffenruhe eingetreten, der Punkt, an dem sich so viele damit abfinden, ihre Verluste zu zählen und ihre Hoffnungen aufzugeben.

Aber die schwierige Phase der Millers sollte nicht so einfach vorbeigehen. Der 7. Oktober begann wie ein ganz gewöhnlicher Tag, einer jener Tage, wegen deren Eintönigkeit, deren kleinen Frustrationen die Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Die Temperatur in San Bernardino erreichte an jenem Nachmittag 39 Grad, und die Kinder der Millers waren wegen einer Lehrerfortbildung nicht in der Schule. Bügelwäsche war abzugeben. Ein Rezept für Phenobarbital abzuholen, man fuhr zu einem Waschsalon.

Am frühen Abend ein unangenehmer Unfall mit dem Volkswagen: Cork Miller überfuhr und tötete einen Deutschen Schäferhund und sagte hinterher, dass sich sein Kopf »zermatscht« angefühlt habe. Das sagte er oft. Bis zu diesem Abend hatte Cork Miller 63 479 Dollar Schulden gemacht, die Hypothek auf das neue Haus von 29 637 Dollar inbegriffen, ein Schuldenberg, der ihm erdrückend vorkam. Er war ein Mann, der seine Verantwortung mit Unbehagen trug und fast ständig über Migräne klagte.

Er aß an diesem Abend allein vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Später schauten die Millers John Forsythe und Senta Berger in See How They Run, und als der Film gegen elf zu Ende war, schlug Cork Miller vor, Milch zu kaufen. Er wollte heiße Schokolade. Er nahm eine Decke und ein Kissen von der Couch und setzte sich auf den Beifahrersitz des Volkswagens. Lucille Miller erinnert sich, dass sie über ihn hinweglangte, um die Tür zu verschließen, als sie rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Als sie den Mayfair Market verließen und lange bevor sie in die Banyan Street gelangten, schien Cork Miller eingeschlafen zu sein.

Es herrschte ein gewisses Durcheinander in Lucille Millers Kopf in Bezug auf das, was zwischen 00:30 Uhr, als das Feuer ausbrach, und 01:50 Uhr, als es gemeldet wurde, passiert war. Sie sagt, sie sei mit etwa 56 Stundenkilometern auf der Banyan Street in östlicher Richtung gefahren, als sie merkte, dass der Volkswagen heftig nach rechts zog. Das Nächste, was sie wusste, war, dass das Auto am Abhang stand, ziemlich nah an der Kante der Böschungsmauer, und hinter ihr schlugen Flammen hoch. Sie erinnert sich nicht daran, ausgestiegen zu sein. Sie erinnert sich daran, einen Stein ausgehebelt zu haben, mit dem sie das Fenster auf der Beifahrerseite einschlug, und dann die Böschungsmauer auf der Suche nach einem Stock hinabgeklettert zu sein. »Ich weiß nicht, wie ich ihn da herausholen wollte«, sagte sie. »Ich dachte einfach, wenn ich einen Stock hätte, würde ich ihn rausbekommen.« Das schaffte sie nicht und nach einer Weile rannte sie zur Kreuzung von Banyan Street und Carnelian Avenue. An der Ecke stehen keine Häuser, und es herrschte fast kein Verkehr. Nachdem ein Auto vorbeigefahren war, ohne anzuhalten, rannte Lucille Miller die Banyan Street zurück zum brennenden Volkswagen. Sie hielt nicht an, wurde aber langsamer und in den Flammen konnte sie ihren Mann sehen. Er war, sagte sie, »völlig schwarz«.

Beim ersten Haus auf der Sapphire Avenue, einen knappen Kilometer vom Volkswagen entfernt, fand Lucille Miller schließlich Hilfe. Dort rief Mrs Robert Swenson den Sheriff an und dann rief sie, auf Lucille Millers Bitte hin, Harold Lance an, den Anwalt und guten Freund der Millers. Als Harold Lance eintraf, nahm er Lucille Miller mit nach Hause zu seiner Frau Joan. Zweimal kehrten Harold Lance und Lucille Miller in die Banyan Street zurück und redeten mit den Beamten der Highway Patrol. Ein drittes Mal kehrte Harold Lance allein zurück und als er wiederkam, sagte er zu Lucille Miller: »Okay … du sagst jetzt nichts mehr.«

Als Lucille Miller am nächsten Nachmittag verhaftet wurde, war Sandy Slagle bei ihr. Sandy Slagle war die ernsthafte und loyale Medizinstudentin, die für die Millers auf die Kinder aufpasste und Teil der Familie war, seit sie 1959 die Highschool abgeschlossen hatte. Die Millers hatten sie aus einer schwierigen häuslichen Situation herausgeholt, und sie betrachtet Lucille Miller nicht nur »mehr oder weniger als Mutter oder Schwester«, sondern als »das wunderbarste Wesen«, das ihr je begegnet ist. In der Nacht des Unfalls war Sandy Slagle in ihrem Studentenwohnheim an der Loma-Linda-Universität, aber Lucille Miller rief sie früh am Morgen an und bat sie, nach Hause zu kommen. Als Sandy Slagle ankam, war der Arzt da und gab Lucille Miller eine Phenobarbital-Spritze. »Sie weinte, als sie einschlief«, erinnert sich Sandy Slagle. »Wieder und wieder sagte sie: ›Sandy, all die Stunden, in denen ich versucht habe, ihn zu retten, und was machen sie jetzt mit mir?‹«